Agoniten - Schicksal des heiligen Priesters - Angela Planert - E-Book
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Agoniten - Schicksal des heiligen Priesters E-Book

Angela Planert

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Beschreibung

Aufgewachsen im Regenwald muss der junge Elyian gegen seinen Willen die Priesterschule in Pachacamo besuchen. Nach seiner Weihe zum Priester der Baukunst zieht er mit seinem Großvater, einem angesehenen Baumeister, nach Campopamac, um eine Arena für Wettkämpfe zu errichten. Immer wieder offenbaren sich ihm geheimnisvolle Visionen, die er als Quetzal, einem Paradiesvogel aus Guatemala, erlebt. Wie durch ein Wunder überlebt er eine Katastrophe und wird fortan als Heiliger angesehen. Nach dem Tod seines Großvaters verbringt er viele Monde an der Stätte seines Wirkens, um das gemeinsam begonnene Werk zu vollenden. Eines Tages muss er gegen einen geheimnisvollen Fremden zu einem Wettkampf der besonderen Art antreten und landet auf dem berüchtigten Opferstuhl der Agoniten.

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BEGEGNUNG
INHIBIT
AUFBRUCH
VERÄNDERUNG
SCHULE
SCHWERE LAST
AUSZEICHNUNG
HOHE RAT
ERKENNTNIS
HAUS DES MONDES
FATALE VISION
ZURÜCK
ERDBODEN
NEUE WEGE
NACHT DER MONDE
DAS TRIBUNAL
DER STACHEL
SEEREISE
CAMOPAMAC
DER FREMDE
DAS OPFER
ERFÜLLUNG
ROTE MONDSTEINE
ENDLICH
KRAFT DES MONDES
DISZIPLIN
UNGEWISSHEIT
HOFFNUNG
ENTSCHEIDUNG
KAYROS
KAIROYAN

 

 

 

Agoniten

 

Fünfter selenorischer Roman

von

 

Angela Planert

 

Schicksal des heiligen Priesters

 

Impressum

© 2021 Angela Planert

16540 Hohen Neuendorf Fr.-Herder-Straße 3

www.Angela-Planert.de

2. Auflage

 

Lektorat: Birgit Maria Hoepfner

www.textewerkstatt.de

Covergestaltung: © Florian Witkowski

www.fw-grafikdesign.de

 

Illustration Jujoweh

 

Tolino Media

 

Alle Rechte vorbehalten. Insbesondere sind inbegriffen: das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video (auch einzelner Text- und Bildteile) sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

Der Quetzal

 

Die Tolteken, sowie später die Azteken jagten den Quetzal,

um ihm die prächtigen Schwanzfedern herauszureißen.

Diese dienten den Priestern als Kopfschmuck.

Es war jedoch bei Todesstrafe verboten,

den Vogel zu töten.

 

Der Quetzal verkörpert in dieser Geschichte das Krafttier, des jungen Priesters Elyian. Durch den Vogel lernt er seinen Weg

über das höhere Selbst zu erkennen.

Er beginnt die Ereignisse nicht nur mit den

Augen in seinem Kopf zu sehen,

sondern mit seinem Herzen.

 

 

Agoniten

Agon (altgriechisch für „Kampf, Wettkampf“)

»Selene« die griechische Mondgöttin

(altgriechisch Σελήνη »Mond«) 

dient als Namensgeberin,

dieser Buch-Reihe.

 

In der Welt der zwei Monde, des Weißen und des Roten, wachsen die mittelalterlich anmutenden selenorischen Romane mit

wechselnden Protagonisten, bekannten Orten

sowie untereinander verbundenen Ereignissen zu einem gewaltigen

Epos heran.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

BEGEGNUNG

Elyian wagte nicht, sich zu bewegen. Die grüne Mamba züngelte mit ihrer Zunge in seine Richtung. Sie hatte ihn bemerkt. Bewegungslos verharrte er in seiner unbequemen Position, seine Hände stemmten sich mit gestreckten Armen auf den dicken Ast, während seine Beine in schwindelnder Höhe in der Luft hingen. Sein leicht nach vorn gebeugter Oberkörper verschaffte ihm den Vorteil, das Gleichgewicht etwas zu verlagern. Doch seine Kraft ließ schon merklich nach. In diesem Atemzug schien ihm das Zirpen der Grillen wie ein Hohngelächter. Lange konnte er in dieser Stellung nicht mehr ausharren. Augenblicklich hielt Elyian den Atem an, als das Reptil sich über seine linke Hand schlängelte. Ihr Kopf, damit ihre gefährlichen Giftzähne, entfernte sich weiter über kleinere Äste auf einen benachbarten Baum. Noch einen Moment wartete er, bis seine Arme vor Anstrengung zu zerreißen drohten. Tief einatmend schwang er das rechte Bein über den Ast, rutschte ein Stück zurück und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm. Das war knapp!

 

Mit einem Gefühl des Stolzes strich er wohl zum hundertsten Mal über seine neue Hose. Herrlich geschmeidig fühlte sie sich an. Erst kürzlich hatte er eine Würgeschlange erlegt und ihr die Haut abgezogen. Seine Mutter hatte ihm daraus eine Hose genäht und sie am Abend zuvor fertiggestellt. Elyian schloss die Augen. Auch am Vortag hatte er zum wiederholten Male einen Versuch gestartet, sie über seinen Vater auszuhorchen. Elyian wusste weder seinen Namen noch wie er ausgesehen hatte. Warum sie wohl nie über ihn reden wollte? Womöglich war er ein schlechter Mann und Mutter sehnte sich danach, ihn zu vergessen, was er durch seine Fragen verhinderte. Vielleicht war er gestorben und Mutter schmerzte sein Verlust. Welche Möglichkeiten ihm in den Sinn kamen, er konnte nur vermuten, weshalb seine Mutter dieses Thema mied.

Ein süßlicher Duft stieg Elyian in die Nase. Fast ein wenig betörend roch es. Er öffnete die Augen und schaute sich um. Drei Bäume weiter entdeckte er die große, weiße Blüte einer Bromelie. Zwei Kolibris schienen darüber zu schweben. Elyian erkannte nicht die einzelnen flinken Flügelschläge der kleinen Vögel, die es ihnen ermöglichten, auf der Stelle zu fliegen. Während er sie beobachtete, fiel ihm die Erzählung des alten Mannes aus dem Dorf ein.

»Dieser Krieger war so gewandt, dass seine Gegner seinen Bewegungen kaum folgen konnten. Wie ein Kolibri fliegt, so behände reagierte er und erledigte einen nach dem anderen. Sein Sieg im Agon brachte seiner Familie hohes Ansehen.«

Zu gern hätte Elyian die Kriegsschule besucht, um auch ein angesehener Krieger zu werden, doch dafür müsste er seinem Zuhause den Rücken kehren. Als der Wind das Blätterdach hin und her wiegte, blendeten ihn vereinzelte Sonnenstrahlen; das holte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Hier oben in den Baumkronen vergaß er oft die Zeit. Jetzt sollte er sich beeilen, nach Hause zu kommen. Mutter mochte es nicht, wenn sie auf ihn wartete. Zügig kletterte er den Baum hinunter und rannte den schmalen Pfad zurück. Gelegentlich sprang er über dicke Äste, die über seinem Weg hingen. Dabei fühlte er sich so lebendig, so glücklich. Auf der Lichtung blieb er kurz stehen. Der Anblick des heimischen Strandes, der am Fuß des dicht bewachsenen Berges vor ihm lag, überwältigte ihn wie jedes Mal. Nach seinem Empfinden zählte er zu den schönsten Orten zwischen dem weißem und rotem Mond. Niemals wollte er diesen Ort vergessen. Dieser Gedanke stimmte ihn nachdenklich. Solange er sich erinnern konnte, lebte er hier mit seiner Mutter. Es gab keinen Grund fortzugehen, zumal seine Mutter ihn ohnehin nicht zur Kriegsschule schicken würde.

Plötzlich hielt er inne. Fußspuren führten durch den weißen Sand zur vertrauten Bambushütte, die nah am Ufer auf Pfählen gebaut war. Eindeutig handelte es sich um große, mit Ledersohlen bedeckte Füße. Gehörten die Spuren einem Krieger oder gar seinem unbekannten Vater? Elyian spürte sein Herz schneller schlagen. Langsam, mit einem heftigen Kribbeln im Bauch, ging er auf die Hütte zu und stieg die kleine Leiter nach oben. Er sah seine Mutter, wie sie sich mit einem Mann unterhielt. Sie bemerkte Elyian nicht.

»Seit jeher habt Ihr Euch den heimischen Bräuchen

entsagt ...«

»Aber, Esra!« Energisch fuhr der Fremde ihr ins Wort. Er stand mit dem Rücken zum Eingang. Elyian sah nur sein braunes Gewand und seine struppigen, grauen Haare.

»Ich würde heute nicht vor Euch stehen, wenn Ihr Euch allem gebeugt hättet.«

Elyian war inzwischen hinter den Mann getreten, erst jetzt sah Esra auf. Sie riss ihre Augen auf, als habe sie mit seinem Erscheinen nicht gerechnet.

 

»Mutter, wer ist das?« Dieser schlanke Fremde wirkte seiner Mutter gegenüber sehr vertraut, dabei hatte er sich seinen Vater wesentlich jünger vorgestellt. Der Unbekannte drehte sich um und musterte ihn von oben bis unten. Er war einen Kopf größer als Elyian.

»Geh fischen, Elyian.« Ihre Stimme zitterte auffallend.

»Aber, Mutter, ich …«

»Geh, Elyian!«, zischte Esra energisch. Elyian gehorchte. Der ungewöhnlich barsche Ton seiner sonst so liebevollen Mutter verunsicherte ihn. Wer konnte dieser Fremde sein, wenn nicht sein Vater? Für Elyian war sein Vater wie ein geheimnisvoller Mythos. Das Erscheinen dieses Fremden und das Verhalten seiner Mutter warfen nicht nur viele Fragen auf, sondern machte ihm auch Angst. Deshalb versteckte sich Elyian im Buschwerk dicht bei der Hütte, um zu lauschen.

»Warum schickst du ihn fort?«, hörte Elyian den Mann nach einem Moment der Stille.

»Ihr befindet Euch im Irrtum. Eure Vermutung ist trügerisch.« Die letzten Worte flüsterte sie nur noch.

»Wegen ihm bist du fortgegangen?« Seine Stimme klang, als habe er einen Verdacht. »Hast du etwa geglaubt, ich würde dich verstoßen?«

»Vater, bitte!« Seine Mutter bezeichnete den Fremden als Vater? Dieser Unbekannte war also sein Großvater und nicht sein Vater, wie er anfangs vermutet hatte. Elyian schloss seinen Mund und schluckte.

»Esra! Du musst nichts erklären. Es ist nicht zu übersehen, wer der Vater des Jungen ist.«

Elyian hielt vor Spannung den Atem an. Endlich würde sich das Geheimnis um seinen Vater lüften. Es blieb still in der Hütte, bis seine Mutter erneut sprach: »Er ist nicht Euer Enkelsohn. Er ist nicht mal mein Fleisch und Blut, aber das darf er niemals erfahren, Vater. Niemals!«

Elyian schnappte nach Luft. Was behauptete seine Mutter da? Sie verleugnete ihn!

Esras Stimme hörte sich an, als sei sie sehr bewegt. »Er sollte, so wie ich damals, nach den heimischen Bräuchen mit seiner toten Mutter lebendig begraben werden. Um sein Leben zu retten, floh ich mit ihm. Das halbe Dorf war mir auf den Fersen. Schreiend rannten sie mir nach, man dürfte nur entwöhnte Kinder ihrer Mutter entreißen.« Esra senkte auffallend ihre Stimme. »Ich liebe Elyian wie meinen eigenen Sohn. Er ist so ... anders …«

»Esra!« Ihr Vater klang erleichtert.

Was genau sich in der Hütte abspielte, vermochte Elyian nicht zu bestimmen.

»Zum weißen Mond betend, habe ich immer gehofft, dich zu finden.« Der Vater seiner Mutter fuhr nach einer kleinen Pause fort: »Warum bist du nicht zu mir gekommen? Beim weißen Mond, was habe ich mir all die Zeit für Sorgen um dich gemacht. Hast du eine Vorstellung …«

»Bitte vergebt mir, Vater! Euch und Eurem Ansehen zuliebe musste ich mit Elyian fernbleiben. So versteht doch.«

»Oh, Esra! In was für einem Land leben wir nur?« Er seufzte laut. »Aber jetzt wirst du mit mir zurückkehren, nicht wahr?«

»Die große Stadt Pachacamo ist gewiss nichts für einen Jungen wie Elyian.«

»Du bist nicht vor mir geflüchtet.« Sein Großvater flüsterte, Elyian konnte ihn in seinem Versteck dennoch verstehen. »Pachacamo hat dich vertrieben.«

»Beim weißen Mond verzeiht mir, Vater.« Ein Hocker scharrte über den Bambusboden der Hütte. »Damals bin ich nur wegen deiner Mutter geblieben, weil sie ihre Heimat nicht verlassen wollte. Nach ihrem Tod versuchte ich, uns Ansehen und Ruhm zu verschaffen.«

»Das ist Euch wohl geglückt«, hörte er seine Mutter mit ehrlicher Anerkennung sagen.

Elyians Gedanken schweiften ab und überschatteten das weitere Gespräch. Diese niederschmetternden Erkenntnisse musste er verdauen. Er war ein fremdes, ein angenommenes Kind, das seiner leiblichen Mutter in den Tod hatte folgen sollen. Neugeborene, deren Mütter starben, waren dazu verurteilt zu verhungern, weshalb man die Säuglinge lebendig mit der toten Mutter begrub. Esra hatte es trotz allem geschafft, ihn davor zu bewahren, ihn sogar ohne Muttermilch aufzuziehen. Aber wie war ihr das gelungen?

Jetzt war ihm natürlich auch klar, warum sie nie über seinen Vater sprach. Sie kannte ihn gar nicht, wusste wahrscheinlich nicht einmal, wie er ausgesehen und welchen Stand er im Dorf eingenommen hatte. Er könnte ein Krieger gewesen sein oder ein Jäger, der das Dorf mit Fleisch versorgte. Doch das würde er wohl nie erfahren.

Tief in seinen Überlegungen versunken, ging Elyian zum Strand hinunter. ›Ich liebe Elyian, wie meinen eigenen Sohn. Er ist so anders …‹, hatte seine Mutter gesagt. Was meinte sie nur damit? In dem Dorf, das fünf Tagesreisen von hier entfernt lag, sahen die Bewohner weder anders aus als er noch war ihm eine Eigenart aufgefallen. Vermutlich lebten sie aus diesem Grunde so abgeschieden. Selbst vor ihrem Vater hatte sich seine Mutter zurückgezogen, und das nur seinetwegen.

Ja, sie musste ihn wirklich sehr gern haben. Aber warum durfte er nicht wissen, dass er ein fremdes und nicht ihr eigenes Kind war? Diese Tatsache änderte nichts an ihrer Beziehung, an seiner Achtung und Liebe zu seiner Mutter.

Elyian rannte ins Wasser. Das Schwimmen erleichterte ihm, seine Gedanken zu ordnen. Er kraulte weit aufs Meer hinaus, tauchte am Riff nach Muscheln und Krebsen. Wie er gehofft hatte, begannen sich seine Überlegungen zu klären. Welche Gründe seine Mutter auch immer hatte, ihm die Wahrheit vorzuenthalten, dieser Mann war sein Großvater. Ob er nun mit seiner Mutter blutsverwandt war oder nicht. Elyian vertraute ihr und ehrte sie, besonders, nachdem er jetzt wusste, was sie für ihn getan hatte. Mit diesem Bewusstsein kehrte er zum Strand zurück. Esra stand mit ihrem Vater vor der Hütte im Sand und beobachteten ihn.

»Komm her, Elyian.« Sie streckte ihm lächelnd die Arme entgegen. Ja, das war seine Mutter. Er folgte ihrer Aufforderung und ließ sich für einen Augenblick in den Arm nehmen, genoss dieses wunderbare Gefühl von Geborgenheit.

»Das ist dein Großvater!«

»Elyian. Es freut mich sehr, dich kennenzulernen.« Sein Großvater legte die rechte Hand auf Elyians Schulter und neigte sich lächelnd zu ihm.

Elyian fühlte sich von den grünen Augen seines Großvaters magisch angezogen. Bisher war ihm kein Geschöpf mit einer derartig intensiven Augenfarbe begegnet. »Die Freude ist ebenso auf meiner Seite, Nestor.«

Überrascht riss sein Großvater seine Augen auf und zog dabei die Augenbrauen hoch. »Nestor?«

»Gewiss seid Ihr Nestor, der weise Ratgeber der großen Stadt Pachacamo.«

»Nein, Elyian.« Er lachte kurz. »Ich bin Baumeister, kein Nestor.«

Dieses Wort ließ Elyian aufhorchen. »Baumeister?« Sofort entstand in ihm eine Vermutung, die sein Herz schneller schlagen ließ. »Ihr seid der außergewöhnliche Carsian?«

Sein Großvater schmunzelte. »Ich bin nicht außergewöhnlicher, als alle anderen es sind.«

»Aber Eure Werke! Jeder rühmt Euch bis zu den Monden. Man erzählt sich, dass Ihr die Pläne Eurer Bauwerke vom Gott des weißen Mondes erhaltet.« Elyian konnte es kaum glauben. Vor ihm stand der große Carsian. Carsian, der begabte Baumeister, über den er schon so viel gehört hatte und den er insgeheim für seine Begabung verehrte.

Carsians freundliche Miene verschwand. Ernst, fast grimmig wirkten nun seine Gesichtszüge. »Weißt du, Elyian«, er presste seine Lippen aufeinander. »Die Pläne meiner Werke entstehen in meinem Kopf, gewiss nicht von einem Gott.«

Elyian bemerkte die abfällige Betonung der letzten Worte. »Aber die Bewohner im Dorf denken das. Sie verehren den Gott des weißen Mondes. Ihr denn nicht?«

»Und du? Welche Meinung über diesen Mond und seinen Gott vertrittst du?«

Elyian fühlte sich verunsichert. Die Gespräche aus dem Dorf über diesen Gott hatten ihn stets gefesselt, doch Carsian teilte diesen Glauben offensichtlich nicht. »Ich weiß nicht. Diese Frage hat mir noch niemand gestellt.«

Seine Mutter legte ihre Hand auf seine Schulter. »Dein Großvater wird heute mit uns speisen. Es sollte etwas ganz Besonderes sein.«

»Gewiss, Mutter.« Elyian war bewusst, dass er für ein außergewöhnliches Mahl zu sorgen hatte. Beglückt über diese ehrenvolle Aufgabe holte er seinen Speer und Bogen aus der Hütte und begab sich auf die Jagd.

 

»Er kennt nur die Bewohner des Dorfes. Sie haben mehr Einfluss auf ihn, als ich bisher bemerkt habe.« Esra schaute ihrem Sohn nach, wie er im Wald verschwand. Schneller, als ihr lieb war, wuchs Elyian zu einem jungen Mann heran.

»Ich glaube - ich ahne, warum du dich mit ihm zurückgezogen hast«, flüsterte Carsian.

Esra fragte sich, welche Gedanken ihren Vater wohl bewegten.

Carsian blickte seiner Tochter in die Augen. »Ich werde versuchen, Euch auf einem Schiff unterzubringen. Auf den Kairos Inseln seid ihr besser aufgehoben.«

»Kayros, Euer Geburtsort.«

Carsian nickte und richtete seinen Blick aufs Meer.

»Ihr werdet uns begleiten, nicht wahr?«

Ihr Vater drehte seinen Kopf zur Seite. »Esra«, er seufzte tief. »Ich denke, mein Schicksal ist es, hier Baumeister zu sein. In der großen Stadt von Pachacamo ist die Seele deiner Mutter verankert mit ihren Ahnen.« Jetzt wandte er seinen Blick auf seine Tochter. »Dein alter Vater würde eine Rückkehr nach Kayros nicht verkraften. Zu lange bin ich schon fort.«

Esra schaute auf das Meer. »Kayros«, flüsterte sie, dabei spürte sie auf ihren Lippen ein Schmunzeln, welches durch ihre Sehnsucht hervorgezaubert schien. »Die sichelförmige Burg aus sandsteinfarbenen Mauern wölbt sich mit dem Innenbogen schützend um die Stadt. Zu beiden Spitzen erheben sich runde Türme und in der Mitte des Außen- und Innenbogens ragt jeweils ein weiterer Turm empor. Der Außenbogen trotzt mit seinen mächtigen rauen Sandsteinen der Brandung des Meeres, und im Turm des Innenbogens befindet sich der Eingang. Ein herrlich angelegter Park mit einem Wasserbecken und drum herum ein duftendes Blumenmeer befindet sich im Innenhof. Gepflegte kleine Sträucher säumen die mit glatten hellbraunen Mosaiksteinen gepflasterten Wege. Ein paradiesischer Garten, der zum Träumen einlädt. «

»Beim weißen Mond, Esra! Man könnte meinen, du wärest dort gewesen.«

»Habt Ihr vergessen, wie oft Ihr mir von Kayros erzählt habt? Seit meiner Kindheit träumte ich davon, diese Stadt endlich zu sehen.«

»Das hast du mir nie verraten.« Darüber schien ihr Vater sehr erstaunt zu sein.

Esra wollte antworten, als ein Schwarm aufgescheuchter Hornschnabelvögel kreischend die Baumkronen verließ und über dem Strand einen Bogen flog. »Ich sollte Feuer machen. Elyian wird bald zurück sein.«

»Ich finde, er hat beträchtliche Ähnlichkeit mit diesem jungen Kapitän, der dir damals den Kopf verdreht hat. Wie hieß er nur?« Carsian runzelte nachdenklich die Stirn.

»Das ist lange her, Vater. Ich habe ihn längst vergessen.« Esra bemühte sich, gleichgültig zu klingen.

»Ich weiß nicht. Warum kann ich dir nicht glauben?« Carsian sah zu seiner Tochter. »Wie alt ist Elyian?«

»Der Tag seines Partus wiederholte sich bereits zum vierzehnten Mal.«

Carsian kratze sich am Kinn. »Vierzehn Mal.«

»Würdet Ihr mir beim Holzsammeln behilflich sein?«

»Gewiss doch.« Ihr Vater begann nach Brennmaterial zu suchen, während sie dünnes Astwerk und Rindenstückchen auf einer alten Feuerstelle platzierte. Mit flinken Drehungen eines Zweiges zwischen ihren Händen brachte sie das Reisig zum Qualmen, bis die ersten Flammen züngelten.

Carsian reichte ihr ein Bündel dickerer Äste, wobei er ihre Hand für einen Augenblick festhielt. »Dich endlich gefunden zu haben, ist ein unverhofftes Geschenk.« Er lächelte kurz und ging erneut in den Wald zurück. Esra schluckte. Ihr wurde deutlich, wie sehr sie ihren Vater mit ihrem Verschwinden damals gekränkt haben musste. Dennoch, ihr wohlbehütetes Geheimnis durfte niemand erfahren, zu groß war die Gefahr, das Wichtigste in ihrem Leben zu verlieren.

 

Lautlos erschien Elyian neben ihr. Über seiner linken Schulter hing ein lebloser Affe, eine Schlange und in seiner Rechten baumelten zwei hasenähnliche Tiere. »Ist das außergewöhnlich genug für meinen besonderen Großvater?« Ein eigenartiger Unterton lag in seiner Stimme.

»Du klingst so zynisch? Was missfällt dir?«

»Werden wir mit Großvater nach Pachacamo gehen?«

Esra erhob sich. Ihre Finger fuhren zärtlich über Elyians Wange; erst jetzt wurde es ihr bewusst. »Fühlst du dich mit mir zu einsam?«

»Das wollte ich damit nicht sagen, Mutter.« Elyian legte seine Jagdbeute neben die Feuerstelle. »Nur was kann ich hier noch lernen, was ich nicht schon weiß?«

Esra hielt den Atem an. Ihr Sohn hatte recht, war er doch auffallend wissbegierig und begabt dazu.

Er richtete seinen Blick aufs Meer und streckte seinen Arm zum Horizont. »Immer wenn ich aufs Meer sehe, spüre ich etwas in mir, was ich nicht mit Worten auszudrücken vermag.«

»Elyian?« Seine Sehnsüchte durften auf keinen Fall Nahrung bekommen. »Solange du nicht zur Kriegsschule willst, wofür du ohnehin noch viel zu jung bist ...«

»Aber, Mutter!« In seinem Blick funkelte Protest. »Auserwählte kommen bereits nach der siebenten Wiederholung ihres Partus‘ zur Kriegsschule. Ich würde fleißig lernen und könnte alles aufholen, um ...«

»Elyian!« Der Wunsch ihres Sohnes schien sich im Laufe der Zeit zu einem konkreten Ziel zu formen, und diese Debatten mit ihm wurden zunehmend energischer. Der Gedanke, Elyian eines Tages nicht mehr bei sich zu wissen, ihn nicht beschützen und behüten zu können, zerriss ihr das Herz. Sie nahm ihn bei den Schultern. »Glaub mir, das ist nichts für dich!«

Carsian hatte das Gespräch offenbar mit angehört, und er schien sich genötigt, sich einzumischen. »Strenge Regeln, harte Strafen und barbarischer Gehorsam sind die Grundzüge der Kriegsschule in Pachacamo. Du darfst weder deine eigene Meinung vertreten noch etwas Persönliches besitzen. Am Ende stehen sich die Besten im Agon gegenüber und der siegreiche Gewinner wird nach den heimischen Bräuchen ...«

»... zu Ehren des Gottes des weißen Mondes geopfert.« Elyians Augen leuchteten, als er den Satz für seinen Großvater beendete.

Esra warf sich die Hände auf den Mund.

»Es ist demütigend, wie sie die jungen Geschöpfe dort behandeln« Carsian erhob seine Stimme.

»Aber ein Opfer darzubringen«, Elyian straffte seine Schultern, »würde Mutter unglaubliches Ansehen verschaffen!«

»Beim weißen Mond, Elyian! Ich will dich!« Sie strich ihm über die Wange. »Kein Ansehen unter den Monden kann dich ersetzen. Woher hast du nur diesen Unsinn?« Seine Ansichten konnten nur im Dorf entstanden sein, welches sie lediglich drei oder vier Mal im Jahr besuchten. Esra war entsetzt über seine Worte, mehr noch über den offensichtlich starken Einfluss der Dorfbewohner. Allein die Vorstellung, Elyian auf dem Opferstuhl zu sehen, raubte ihr den Atem. Es musste ihr gelingen, ihm dieses Lebensziel auszureden.

Carsian wandte sich an seine Tochter. »Jungen in seinem Alter brauchen eine starke Führung, eine feste Hand.«

In diesem Augenblick war Esra dankbar, dass ihr Vater jetzt hier war und sie unterstützte. Vielleicht war es ihm sogar möglich, Elyians Leidenschaft für die Baukunst zu fördern. Sie fragte sich jedoch, ob damit ihr Geheimnis in Gefahr war? »Lass uns bitte morgen darüber reden. Dieser Tag sollte deinem Großvater gewidmet sein.« Esra nahm Elyians Hand.

Er nickte. Seine bebenden Nasenflügel verrieten seine Empörung. Beinah ein wenig trotzig zog er seine Hand zurück und begann, seine Beutetiere auszunehmen, um sie anschließend auf einen Spieß über dem Feuer zu garen.

INHIBIT

Elyian erwachte zu einer für ihn ungewöhnlichen Zeit. Es war dunkel, die Sonne war noch nicht einmal zu erahnen und doch spürte er eine ungewohnte Unruhe in sich wachsen. Eigenartige Gefühle hatte das Erscheinen seines Großvaters in ihm hervorgebracht. Ohne seine Mutter oder Carsian zu wecken, schlich er aus der Hütte. Der feine, kühle Sand schmiegte sich um seine nackten Füße. Wie sehr er diese Empfindung mochte, vor allem, wenn es so eine warme Nacht wie diese war. Eine gespenstische Windstille herrschte, die das Zirpen, Schnalzen und schrille Pfeifen der nachtaktiven Tiere im Wald besonders lautstark zum Strand heruntertrug. Wie ein glatter Spiegel lag das nächtliche Meer zu Elyians Füßen. Der weiße Vollmond warf seinen Lichtschein auf die Wasseroberfläche. Ein Stück weiter reflektierte die schmale Sichel des roten Mondes ihr Bild auf das Wasser. Eine unerklärliche Anziehung ging von diesem Anblick aus, sodass Elyian sich seinen Gedanken hingab.

Der Wunsch, die Kriegsschule zu besuchen, zu lernen und ein Ziel vor Augen zu haben, wuchs zu einem heftigen Verlangen in ihm heran. Warum seine Mutter so dagegen war, konnte er nicht verstehen. Was gab es denn Sinnvolleres, Erstrebenswerteres als den Sieg im Agon? Aufgrund seines Alters würde er vermutlich ohnehin nicht mehr zu den besten Kriegern aufsteigen können. Dafür hätte er die Schule viel früher besuchen müssen. Wenigstens blieb ihm die Alternative, als Krieger zur See zu fahren. Das Meer übte eine starke Faszination auf ihn aus, als wäre er selbst ein Teil des riesigen Ozeans. War das vielleicht sogar der Grund, warum er sich manchmal unvollständig fühlte? In der großen Stadt Pachacamo gab es genügend Möglichkeiten, um seinem Leben eine Richtung zu geben.

Elyian hockte sich in den Sand und beobachtete die Monde am Himmel. Der Horizont begann, sich zu verändern. Ein zarter, orangefarbener Lichtschein erschien über dem Meer, damit verblassten die Gestirne der Nacht. Während das rege Zirpen, Schnalzen und Pfeifen der Nachttiere langsam verstummten, begrüßten die Vögel den Tag mit einem immer lauter werdenden Gesang, mit ihrem lebhaften Geschnatter, Gurren und Trällern. Mitten in dem morgendlichen Konzert nahm er ein Geräusch von schwerem Atem wahr. Versuchte sich da jemand an ihn heranzuschleichen? Seine Mutter hatte es längst aufgegeben, sich ihm unbemerkt zu nähern.

Elyian hielt seinen Blick auf das Meer gerichtet. »Euch einen gesegneten Morgen, Großvater.«

»Oh! Du bist äußerst wachsam. Wodurch habe ich mich verraten?« Carsian setzte sich neben ihn in den Sand.

Elyian sah keine Notwendigkeit, auf seine Frage einzugehen. »Würdet Ihr mich mit nach Pachacamo nehmen?« In Begleitung ihres Vaters ließ ihn Mutter vielleicht gehen.

»Was glaubst du, wird dich dort erwarten?« Großvaters Stimme klang tief und wirkte auf Elyian beruhigend.

»In der großen Stadt gibt es gewiss einen Platz für mich, um etwas zu lernen.« In seiner Vorstellung sah er sich auf einem Schiff und fühlte wie der Wind ihm ins Gesicht blies. »Ich könnte die Kriegsschule besuchen und danach das Meer bereisen. Es zieht mich auf eine ganz besondere Weise an.«

»Und deine Mutter?«

Elyian blickte Carsian in die Augen. Dieses intensive Grün fesselte ihn zu sehr. »Ich denke, es wird Zeit, dass ich auf eigenen Füßen stehe.«

»So? Glaubst du das wirklich?« Carsian rieb seine Lippen aufeinander. »In Pachacamo leben zahlreiche Geschöpfe eng beieinander. Sieh dich um! Du bist hier frei aufgewachsen. Dich in Pachacamo einzugewöhnen, wird dir schwerfallen.« Carsian legte eine kurze Pause ein, die Elyian nutzte, um über die Worte nachzudenken. »Weißt du, Elyian, die Gesetze der großen Stadt werden von den ›Kindern des weißen Mondes‹ bestimmt.«

»Kinder des weißen Mondes?« Diesen Begriff hatte Elyian in Büchern gelesen, nur hinter den Sinn war er bisher nicht gekommen. »Was bedeutet das?«

»Viele der Einwohner besitzen die Fähigkeit, mithilfe der Mondkräfte zu heilen. Allerdings gibt es unter ihnen leider viel zu viele, die ihre Begabung missbrauchen und anderen damit Schaden zufügen.«

»Wenn sie heilen können, wie können sie jemand schaden?« Das war töricht. Wollte sein Großvater ihn einschüchtern, ihm sein Ziel ausreden?

»Beim weißen Mond, Elyian! Du solltest diesen Gestalten wirklich aus dem Weg gehen.« Carsian klang ernst. Er räusperte sich. »Ich habe deiner Mutter den Vorschlag gemacht, dass sie mit dir nach Kayros segelt. Ich bin mir sicher, dass du dich dort wohlfühlen wirst. Zum einen lernst du das Meer kennen und zum anderen kehren zumindest meine Nachkommen in meine Heimat zurück.«

»Ihr stammt aus Kayros?« Elyian hatte im Dorf viel über diese Stadt und seine Bewohner gehört, was ihn immer sehr interessiert hatte.

Carsian nickte. »Was denkst du über meine Pläne? Möchtest du eine Seereise unternehmen?«

Was für eine Frage! »Natürlich möchte ich das!«

»Dann kann ich mich auf dich verlassen, dass du auf deine Mutter achtgibst?«

»Auf Mutter achtgeben? Ihr macht Euch lustig über mich.«

Carsian lachte herzhaft. Seine Falten an den Augenwinkeln machten ihn sympathisch. »Ich weiß, das ist schwierig.«

»Ich würde Eure Anwesenheit begrüßen. Gewiss könntet Ihr mich in die Baukunst einweisen. Ich würde auch fleißig lernen.« Elyian bemerkte, wie gut ihm die voreilig ausgesprochene Idee gefiel, zumal ihm schon so manche Idee im Kopf herumspukte.

»Gegen deinen Wissensdurst müssen wir tatsächlich etwas unternehmen.« Carsian lächelte. Dazu fiel Elyian der Mann mit den Büchern ein, der behauptete, er könne seinen Wissensdurst nicht stillen. »Im Dorf gibt es einen Mann. Er ist im Besitz einiger Bücher, die er mir ausgeliehen hat.« Viel Interessantes hatte er aus den Schriften erfahren, doch nun lechzte er nach mehr. »Ich habe sie alle mehrmals gelesen. Es würde mir viel bedeuten, eines Tages ein unbekanntes Buch zu lesen.«

 

Carsian sah seinen Enkel von der Seite ins Gesicht. Elyians Verlangen nach Wissen wollte er gerne unterstützen. Er musste ihn aus dieser Einsamkeit befreien. »Wovon erzählten diese Bücher?«

»Fünf von ihnen beschrieben den weißen Mond und seinen Gott. Drei befassten sich mit der Herrscherfamilie der Kairos Inseln.«

Carsian konnte es kaum glauben, dass sich hier jemand dafür interessierte. »Von der Kairoyan Familie?«

»Richtig, aber die besten Bücher waren in einer Geheimschrift geschrieben.«

»Geheimschrift?« Vermutlich handelte es sich um ein Buch aus einer anderen Sprache.

»Es war unglaublich. Ich habe einige Mal vergeblich versucht herauszubekommen, wie man diese Schrift lesen muss. Eines Tages schien es mir wie eine Eingebung. Ich begriff plötzlich das System dahinter und verstand, diese Zeichen zu deuten. Anfangs schrieb ich die entschlüsselten Runen in den Sand, um mir einen Überblick zu verschaffen.«

»Kannst du mir die Schrift beschreiben?« Nach einer anderen Sprache hörte sich das für Carsian dann doch nicht an.

»Sie besteht aus einem kleinen Kreis, einer Sichel sowie einem Halbmond. Durch Drehung und verschiedene Zusammensetzungen der drei Symbole gibt es jede Menge Möglichkeiten, diese Rune zu verwenden.«

Das war unmöglich!

Der Junge wollte sich wichtigmachen. »Und das willst du verstanden haben?« Carsian bemerkte Elyians empörtes Gesicht.

Er erhob sich protestierend. »Ihr glaubt mir wohl nicht?«

»Diese Zeichen nennt man selenorische Schriftzeichen. Es braucht sehr viel Zeit, um sie zu lernen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du sie zu lesen vermagst.«

Die zweifelnden Worte seines Großvaters verletzten Elyian! Stolz warf er seinen Kopf in den Nacken. »Gewiss habt Ihr Hunger. Ich werde Euch ein würdiges Mahl besorgen.« Seine Stimme klang rau und unpersönlich.

Carsian stand eiligst auf. »Verzeih, Elyian. Es liegt mir fern, dich zu kränken.« Tat er dem Jungen vielleicht unrecht?

Abweisend kehrte Elyian ihm den Rücken zu, verschwand in der Hütte, um kurz darauf mit seinem Bogen in das dichte Buschwerk einzutauchen. Carsian blieb nachdenklich zurück. Ihm fehlte die Vorstellung, dass man selenorische Schriftzeichen ohne jegliche Anleitung verstehen konnte. Versuchte Elyian bei ihm Eindruck zu machen? Dieser Junge war wie ein ausgetrocknetes Flussbett. Sehnsüchtig wartete er auf den Regen, der ihm das segensreiche Wissen vermitteln würde. Hier lebte er isoliert, kannte nur diese paar Bücher aus dem Dorf.

»Euch einen gesegneten Morgen, Vater«, rief ihm seine Tochter entgegen.

»Esra!« Er drehte sich zu ihr um. »Du bist so wunderschön wie einst deine Mutter.«

Suchend blickte sie sich um. »Habt Ihr heute Morgen Elyian gesehen?«

»Er wollte zur Jagd.« Esra konnte das Missverständnis bestimmt aufklären. »Ich glaube, ich habe ihn verletzt.« Mit dem fragenden Gesicht seiner Tochter sah sich Carsian in der Pflicht weiterzusprechen. »Er behauptet, selenorische Schriftzeichen lesen zu können. Ist das wahr?«

Esra nickte. »Ich weiß nicht, wie er das angestellt hat. Aber es stimmt. Er kann diese Schrift lesen. Erst kürzlich hatte er sich bemüht, es mir zu erklären. Um ehrlich zu sein, war mir das zu kompliziert.«

»Unglaublich!« Carsian packte ihre Hände. »Elyian scheint mir äußerst begabt zu sein. Hier kann er seinen Wissensdurst nicht stillen. Ihr müsst nach Kayros segeln. Dort kann er es mit seinen Fähigkeiten zu hohem Ansehen bringen. Die Kairoyan Familie steht solchen Geschöpfen aufgeschlossen gegenüber. Esra! Bitte geh mit ihm fort, diese Zurückgezogenheit tut ihm nicht gut.«

Sie versuchte zu lächeln. »Ja, Vater. Das ist mir inzwischen bewusst geworden. Ich wollte ihn nur aus der großen Stadt fernhalten.«

»Das weiß ich, und das war für seine Entwicklung auch gut. Jedoch werde ich ab heute alles Weitere in die Hand nehmen. Elyian wird vorerst als mein Enkel in Pachacamo seinen Platz erhalten, bis ich einen vertrauenswürdigen Kapitän gefunden habe, der euch nach Kayros bringt.« Er rieb sich die Stirn. » Wir müssen uns lediglich einen Namen sowie eine Herkunft für deinen erfundenen Ehemann ausdenken. Dein Mann könnte bei einem Sturm auf See ums Leben gekommen sein.«

 

Elyian hatte einen jungen Rehbock aufgespürt. Das wäre ein Festmahl für seinen Großvater. Damit würde er ihn beeindrucken können und ihm beweisen, wozu er fähig war. Lautlos pirschte er sich an das Tier heran, hob langsam seinen Bogen und legte ruhig einen Pfeil auf die Sehne. Während er den Bogen spannte, zielte er mit der Pfeilspitze auf die Brust des Tieres dicht hinter den Vorderläufen, um direkt ins Herz zu treffen. Doch noch bevor er die Sehne lösen konnte, stob der Bock davon, gleichzeitig flogen die Vögel kreischend aus den Baumwipfeln empor. Enttäuscht entspannte Elyian seinen Bogen und ließ ihn samt Pfeil sinken. Plötzlich knackte ein Stück hinter ihm ein Ast. Hastig fuhr er herum. Zwischen dem Buschwerk entdeckte er fremde Männer. Das sirrende Geräusch von mehreren losgelassenen Sehnen trieb ihn in die Flucht. Ohne nachzudenken, rannte Elyian nun in dieselbe Richtung wie kurz zuvor der Rehbock. Nur einen Augenblick später durchfuhr ein mächtiger Schmerz seine rechte Schulter. Jede Erschütterung seiner eiligen Schritte verstärkten seine Beschwerden. Er spürte, wie ihm etwas Warmes über die Brust herunterlief. Sein Blickfeld begann zu schrumpfen, der Wald schien sich um ihn herum zu drehen. Sein Atmen klang keuchend, sein Pulsschlag dröhnte in seinen Ohren. Seine Knie wurden weich und brachten ihn ins Torkeln; er stolperte und sank zu Boden.

 

»Warum bist du weggerannt? Hast du was angestellt?«, donnerte eine tiefe Männerstimme von oben auf ihn herab. »Wer bist du? Sprich!«

»Elyian«, hörte er sich leise antworten. Seine Schmerzen hatten sich durch den Sturz verschlimmert, zogen in seinen rechten Arm bis zu den Fingerspitzen und in seine Brust hinein.

»Wer sind deine Eltern?«

Langsam drehte Elyian den Kopf, was ihn viel Kraft kostete. Vor ihm baute sich ein groß gewachsener Krieger auf. »Esra ... Mutter.« Lichtfunken rasten auf ihn zu. Der Krieger, seine Umgebung, alles um ihn herum verzerrte sich. Im Hintergrund glaubte er, fünf oder mehr Gestalten zu erkennen.

»Wer ist dein Vater?« Diese durchdringende Stimme hallte merkwürdig in seinen Ohren wider. Eine unbewusste Kopfbewegung rief augenblicklich Schwindel und Übelkeit hervor.

»Vermutlich nur ein Inhibit!«, drang die Aussage wie aus weiter Ferne zu ihm. »Tötet ihn!«

»Carsian«, Elyian wurde schwarz vor Augen. »Großvater.«

 

Schwerfällig begannen Elyians Gedanken sich in Gang zu setzten. War er tot? Nein. Er atmete, verspürte einen quälenden Durst und nahm seinen Körper sehr schmerzvoll wahr. Seine Handgelenke waren auf dem Rücken zusammengebunden, auch an seinen Fußgelenken presste sich ein rauer Strick in seine Haut. Die Männer mussten ihn gefangen genommen haben. Aber warum? Was war geschehen? In seiner Schulter spürte er nur noch einen leichten Druck, die Schmerzen waren verblasst. Beim Versuch, die Augen zu öffnen, bemerkte er eine bedrückende Enge um seinen Kopf, die sich bis zur Nasenspitze hinzog. Ein merkwürdiges Kribbeln, begleitet von einem leichten Brennen, lag auf seinen Augenlidern, die sich nicht öffnen ließen. Sein Herzschlag pochte laut in seinen Ohren. Er erinnerte sich an die letzten Worte, die er vernommen hatte. Der Mann hatte ihn als ›Inhibit‹ bezeichnet.

Ihm fiel es wie Schuppen von den Augen. Ein Kind außerhalb der gesetzlichen Verbindung zwischen Mann und Frau aufzuziehen, dies wusste er aus Erzählungen aus dem Dorf, wurde nicht geduldet. Seine Mutter hatte ihn in der Einsamkeit versteckt, um sein Leben zu schützen. Bisher hatte es keinen Anlass gegeben, darüber nachzudenken, doch mit dem Erscheinen seines Großvaters, dem ständigen Ausweichen seiner Mutter, wenn es um seinen Vater ging, wurde ihm deutlich, dass er ein Inhibit war! Ein Geschöpf ohne Recht auf Leben.

Diese Erkenntnis schmerzte mächtig in seinem Inneren. Diese Krieger waren gewiss im Auftrag des Hohen Rates der Stadt Pachacamo unterwegs. Solange Elyian denken konnte, gab es hier in dieser Gegend keine Krieger, aber Carsian, sein Großvater, stand unter dem Schutz des Hohen Rates. Wie ein Schatten folgten sie dem Baumeister.

»Gebt ihm einen Schluck Wasser«, befahl vermutlich der Anführer. Unsanft fiel sein gefesselter Körper rückwärts auf den Boden. Ein dumpfer Schmerz durchdrang erneut seine Schulter und zog bis in seine Brust hinein. Ein sehr seltsames Gefühl. Wassertropfen benetzten seine Lippen. Gierig begann Elyian zu trinken. Endlich zeigte man Erbarmen.

»Das reicht!«, brummte jemand neben ihm.

Dürstend formte er seinen Mund, denn seine Kehle schmerzte noch immer.

In weiter Ferne hörte er seine Mutter nach ihm rufen. Plötzlich herrschte eine bedrückende Stille, offensichtlich lauschten die Männer ebenfalls.

Erneut hallte der Ruf nach ihm durch den Wald. Elyian überlegte, was er tun sollte. Die Krieger würden auch seine Mutter bestrafen. Sie war in Gefahr! Wie erstarrt lag er vor Angst um seine Mutter auf dem Boden, spürte nun genau den Pfeilschaft, der mittendurch seine Schulter ragte.

»Wir warten hier auf sie«, flüsterte eine Männerstimme.

Ihr Rufen kam näher. »Elyian? Antworte!«

Nein! Seine Mutter durfte diesen Kriegern nicht in die Hände fallen. Es lag an ihm, sie zu warnen.

Er nahm einen tiefen Atemzug und schrie so laut er konnte: »Flieh, Mutter! Fl …« Geräuschvoll stöhnte Elyian auf, als er an dem Pfeil in seinem Körper in die Höhe gezogen wurde. Eine große, raue Hand hielt ihm den Mund zu, presste sich dabei auf seine Nasenlöcher.

»Du hast kein Recht zu leben. Du hast kein Recht zu atmen«, zischte ihm der Anführer ins Ohr. »Sei still oder du stirbst!« Die Hand in seinem Gesicht schien seinen Kiefer zusammenzudrücken. Panik stieg in ihm hoch. Verzweifelt versuchte Elyian, sich gegen die Hand auf seinem Mund zu wehren, um wenigstens ein wenig Luft zu erkämpfen. Unerwartet ließ man ihn los. Röchelnd und hustend sank er auf die Knie. Seine auf dem Rücken gebundenen Handgelenke und die Bewegung des Pfeils in seiner Schulter lösten dumpfe Beschwerden aus. Er versuchte, tief und gleichmäßig zu atmen.

»Elyian?« Seine Mutter war ganz in der Nähe.

Die Krieger verhielten sich auffallend ruhig. Leise Schritte, die sich durch Knacken der Äste auf den Waldboden verrieten, kamen auf sie zu.

 

»Beim weißen Mond!« Esra blieb fast das Herz stehen, als sie Elyian, den sie an seiner Schlangenhose erkannte, mit diesem grauenvollen Helm aus Ton sah. Eine Pfeilspitze lugte dicht unter seinem Schlüsselbein hervor. Sein Blut war über die Brust heruntergelaufen und angetrocknet. »Was hat er verbrochen?«

»Er ist ein Inhibit!« Der athletische Krieger packte Elyian an die Gurgel. »Seid Ihr die Mutter?«

»Er ist kein Inhibit!« Ihren Sohn in der Gewalt der Krieger zu sehen, schnürte ihr die Kehle zu. »Sein Vater starb noch vor seiner Geburt. Die Ehezeremonie wurde auf dem Schiff vollzogen. Ein furchtbarer Sturm brachte uns in Seenot. Ich überlebte als Einzige das Unglück.« Genau vor diesem Augenblick hatte sie sich all die Zeit gefürchtet. »Er hat ein Recht zu leben. Ich schwöre es beim weißen Mond!« Elyian atmete flach. Auch ohne seinen Gesichtsausdruck zu sehen, wusste sie, dass er große Angst hatte. »Lasst ihn frei!«

»Ist es wahr, Ihr seid Carsians Tochter?« Der Krieger löste den Griff von Elyians Hals.

Sie nickte eifrig. »Wenn Ihr es wünscht, befragt ihn selbst.« Ein Segen, dass ihr Vater gerade jetzt zur Stelle war.

Der Krieger blies brummig seinen Atem aus, wandte sich an seine Begleiter. »Ihr wartet hier. Ich werde mich von dieser Behauptung überzeugen.« Grob packte er den Pfeil, der in Elyians Schulter steckte, und rüttelte daran. »Du rührst dich nicht vom Fleck.«

Entsetzt warf Esra die Hand über ihren Mund, um nicht laut aufzuschreien, denn ihren Sohn so leiden zu sehen, zerriss ihr das Herz. Elyian stöhnte kurz auf, biss dann tapfer die Zähne aufeinander. Esra kämpfte gegen das Verlangen an, ihren Sohn nicht allein zurückzulassen. Ihr Vater besaß genug Ansehen und Einfluss, um für Elyian ein gutes Wort einzulegen und seine Freilassung zu erwirken. Flüchtig sah sie zurück, betete innerlich für einen glimpflichen Ausgang. Mit dem Anführer an ihrer Seite lief sie über den schmalen Pfad den Hang hinunter. Das Zirpen der Grillen und das Rufen der Hornschnabelvögel erschienen ihr in dieser Situation wie ein Gelächter. Sie war töricht gewesen zu glauben, den herrschenden Gesetzten entkommen zu können.

Ein Stück weiter kam ihnen ihr Vater entgegen. »Esra?« Er musterte den Krieger. »Was ist geschehen?«

»Verzeiht, großer Baumeister!« Der Anführer verneigte sich.

»Sie haben Elyian!« Esra war zu aufgewühlt, um die Lage sachlich wiederzugeben.

»So?« Carsian klang ruhig, fast gelassen. »Was wirft man dem Enkelsohn des großen Baumeisters vor?«

»Dann ist es wahr?« Der Krieger neigte seinen Kopf. »Wir glaubten, einen Inhibit entdeckt zu haben, großer Baumeister.«

»Elyian wird eines Tages mein Amt fortführen.« Er straffte die Schultern. »Beim übernächsten vollen weißen Mond wird man uns in Pachacamo erwarten.«

Der Anführer verneigte sich. »Wir werden Euch mit Freuden in Pachacamo begrüßen, großer Baumeister.« Er drehte sich um und stieg den Weg wieder hinauf.

Esra wollte ihm nachgehen, doch Carsian hielt sie am Arm fest. »Hab Geduld. Sie lassen ihn zurück.«

Besorgt rieb sich Esra über den Mund. Ihre Angst erreichte eine Intensität, die ihr den Atem zu rauben schien. Zweifelnd wanderte ihr Blick zwischen ihrem Vater und dem Krieger hin und her.

 

Wortlos entfernten sich die schweren Schritte der Krieger, nachdem man seine Fußfesseln gelöst hatte. Äste knackten, Buschwerk raschelte. Noch immer verharrte Elyian auf dem Boden kniend. Er konnte nicht bestimmen, ob alle Männer gegangen waren, ob einer ihn beobachtete und nur darauf lauerte, ihn zu demütigen oder gar zu töten. Aus Angst, jemand würde erneut an dem Pfeil in seiner Schulter zerren oder ihm den Mund zuhalten, wagte er nicht aufzustehen. Selbst wenn er versuchte wegzulaufen, mit auf dem Rücken gefesselten Handgelenken und verdeckten Augen käme er nicht weit. Deutlich nahm er die Tonschicht auf seinem Kopf wahr, die wie ein schwerer Helm fest auf dem Schädel vom Hinterkopf bis zum Nasenrücken haftete. Nur die Ohren waren ausgespart. Seine Anspannung war so enorm, dass er heftig zu zittern begann. Sein quälender Durst und die Sorge um seine Mutter machten die Situation unerträglich. Was passierte jetzt mit ihm?

Erneut vernahm er Äste knacken und Blätterrascheln, diesmal jedoch aus einer anderen Richtung. Es waren eilige, leichte Schritte. Er schrecke zusammen, als er spürte, wie seine Fesseln durchtrennt wurden.

»Hab keine Angst, gleich bist du frei.« Die sanfte Stimme seiner Mutter wirkte augenblicklich beruhigend auf ihn.

Er nahm seine Arme nach vorn, wodurch ein mächtiger Schmerz seine rechte Schulter durchfuhr und er ungewollt aufstöhnte. Er bemerkte, wie Finger seine Wangenknochen dicht an der Tonschicht in seinem Gesicht berührten.

»Nicht!« Carsian klang bestürzt. »Beim weißen Mond! Lass das.«

»Ich wollte nur ...«, hörte er seine Mutter.

»Kannst du gehen?« Carsian legte eine Hand auf Elyians linke Schulter.

Elyian nickte.

»Vater! Er sieht doch gar nicht, wo er hintritt«, empörte sich Esra.

»Wenn du möchtest, dass dir dein Sohn jemals wieder in die Augen sieht, dann müssen wir die Tonschicht mit Bedacht entfernen. So wie ich diese Barbaren kenne, haben sie darunter ätzende Rindenfasern gelegt.« Carsians Stimme bebte. Er drängte Elyian an den Armen zum Aufstehen. »Spürst du ein Kribbeln auf deinen Augenlidern?«

Und wie er das spürte. Elyian versuchte zu antworten, bewegte seine Lippen, jedoch gelang ihm kein Laut. In seiner Hilflosigkeit nickte er erneut.

»Dachte ich mir.« Carsian atmete tief. »Höre mir jetzt gut zu, Elyian. Unter keinen Umständen darfst du deine Augen öffnen. Verstehst du mich? Unter gar keinen Umständen!«

Mit einer Kopfbewegung stimmte er zu.

»Wir werden dich zum Meer bringen. Das Salzwasser löst die Rinde und den Ton. Aber beim weißen Mond halte deine Augenlider geschlossen.«

Das Brennen in seinem Gesicht wurde zunehmend stärker. Der Durst plagte ihn noch immer. Sein Mund formte das Wort ›Wasser‹ doch auch diese Bitte blieb nur ein stiller Gedanke. Er streckte die Arme nach vorn, um sich vorwärts zu tasten.

Esra ergriff seine Linke. »Ich führte dich.«

»Kommt jetzt.« Carsian schien vorauszugehen. »Die Rinde muss schnellstens runter.«

 

Endlich spürte Elyian den feinen Sand zwischen den Zehen. Der Geruch von Salz und Seetang kroch ihm in die Nase. Er hörte deutlich die Wellen, wie sie sacht am Ufer ausliefen.

»Du wirst dich auf der Wasseroberfläche tragen lassen.« Carsian drängte ihn mit der Hand auf dem Nacken Richtung Meer. »Esra, du stützt ihn am Rücken, damit er nicht untergeht, derweil werde ich mich um die Tonschicht kümmern.«

Nach einigen Schritten durchs Wasser wollte Elyian wie gewohnt seine Arme ausbreiten, während er sich mit den Füßen vom Grund abstieß. Der Pfeilschaft, der in seiner rechten Schulter steckte, schränkte seine Beweglichkeit jedoch erschreckend ein, und Elyian drohte für einen kurzen Augenblick seitlich unterzugehen.

Zwischen den Schulterblättern und dicht über seinem Gesäß nahm er die schmalen Hände seiner Mutter wahr. »Hab keine Angst, ich halte dich!«

Ohne den Griff seines Großvaters am Nacken wäre sein Kopf vermutlich wie ein Stein auf den Meeresboden gesunken.

»Nicht dagegen ankämpfen, Elyian!« Carsian drückte seinen Kopf bis zu den Ohren unter Wasser. »Je mehr sich von der Tonschicht aufweicht, desto besser. Hab Vertrauen, ich achte darauf, dass du atmen kannst.«

Bereits nach einigen Momenten bemerkte Elyian, wie die Tonschicht immer schwerer wurde und einen unangenehmen Druck auf seinen Schädel ausübte. Sein Herzschlag stieg an, seine Atemzüge wurden flach.

»Ruhig, Elyian. Wir geben auf dich acht«, hörte er seine Mutter, die durch das Meerwasser in seinen Ohren nur dumpf zu verstehen war.

»Einen Augenblick noch. Der Ton beginnt, weich zu werden.« Auch Carsians Stimme klang leise, »gleich hast du es überstanden.« Jetzt hob er seinen Kopf ein Stück aus dem Wasser, worauf sich das Gefühl des schwerer werdenden Tons verstärkte. »Vergiss nicht, deine Augen geschlossen zu halten. Du darfst sie nicht öffnen. Hörst du?«

Vergeblich suchte Elyian nach einem hörbaren Laut. Beim Versuch, mit diesem drückenden Helm zu nicken, erwachte plötzlich ein starker Bewegungsdrang, der sein Herz zum Rasen brachte.

»Beim weißen Mond! Nicht die Augen öffnen!«, bekräftigte sein Großvater.

Elyian gelang es kaum, sich ruhig zu verhalten. Endlich bemerkte er, wie Carsians Finger am aufweichenden Ton an seinem Hinterkopf kratzten. Eigenartige Empfindungen krochen in ihm hoch. Plötzlich hatte er den Eindruck, nach oben zu schweben. Für einen Augenblick sah er sich selbst auf der Wasseroberfläche, er erkannte, wie Carsian die Tonschicht unter Wasser auseinanderriss und den Helm von seinem Kopf und Gesicht löste. Dabei entdeckte Elyian auch die Pfeilspitze, die aus seiner Schulter ragte. Die Haut drum herum sah seltsamerweise unverletzt aus. Ihm kamen die Worte seines Großvaters in den Sinn, denen er vorhin nicht hatte glauben wollen: »Viele der Einwohner besitzen die Fähigkeit, mithilfe der Mondkräfte zu heilen. Allerdings gibt es unter ihnen leider viel zu viele, die ihre Begabung missbrauchen und anderen damit Schaden zufügen.«

Diese Krieger hatten die Verletzung geheilt, ohne das Geschoss zu entfernen. Musste er von nun an mit diesem Pfeil in seiner Schulter leben?

»Denk an deine Augenlider!« Carsians Mahnung drang wie aus der Ferne zu ihm. »In diesem Moment ist es besonders wichtig.« Er zog die faserigen Rindenstücke von der Stirn sowie von der Augenpartie. Darunter leuchtete die Haut feuerrot, teilweise war sie sogar blutig.

Geräuschvoll atmete seine Mutter ein. »Beim weißen Mond!« Sie schnappte mehrfach nach Luft.

Elyian, der sich immer noch über seinem Körper schwebend wahrnahm, begann diese Empfindungen von Wohlbehagen und Schwerelosigkeit zu genießen.

»Wir drehen dich jetzt auf den Bauch, um den Pflanzensaft abzuspülen.« Fast liebevoll spülte Carsian mit der linken Hand Elyians Schläfen ab, während die Rechte seinen Kopf stützte. »Das Meerwasser wird brennen, aber es unterstützt auch die Heilung.« Er hielt kurz inne. »Elyian?«

»Er rührt sich nicht!« Esra sah ihren Vater mit weit aufgerissenen Augen an.

»Verdammt, Elyian!« Carsian knetete seine Wange. »Elyian?«

Unerwartet fand Elyian sich in seinem Körper wieder, nahm das Reißen in seinem Gesicht erneut wahr. Die Versuchung, nach diesem rätselhaften Erlebnis aufzuschauen, war groß.

»Dem weißen Mond sei Dank,« Carsian atmete erleichtert aus. »Halte die Augenlider unbedingt geschlossen. Nun stell dich auf.« Sein Großvater half ihm auf die Beine.

»Bitte«, flüsterte Elyian, »ich habe Durst!«

Er spürte die schmale Hand seiner Mutter auf der Schulter. »Ich hole dir Wasser.«

»Denke an deine Augen«, mahnte Carsian. »Jetzt holst du tief Luft und tauchst dein Gesicht so oft und so lange wie möglich unter. Schüttle dabei den Kopf, um diesem Pflanzensaft abzuspülen.«

Elyian gehorchte. Das kühle Meerwasser brachte augenblicklich Erleichterung, doch im nächsten Moment spürte er ein starkes Brennen und unangenehmes Stechen auf seiner Haut. Nach Atem ringend, richtete sich Elyian wieder auf.

»Ich weiß, es brennt fruchtbar!« Carsian drängte ihn am Nacken wieder unter die Wasseroberfläche. Mehrmals wiederholte Elyian das Untertauchen, schnappte nur zwischendurch nach Luft. Langsam ließ das heftige Reißen in seinem Gesicht nach.

»Sehr gut!« Carsian schob ihn an den Strand. »Solange du kannst, halte deine Augen geschlossen.«

Elyian nahm Atemgeräusche vor sich wahr und hörte wie jemand durch den Sand ging. »Hier!« Esra legte den Wasserschlauch in seine linke Hand. Mit den ersten Tropfen, die seine trockene Kehle benetzten, bemerkte er den auffallend erfrischenden Geschmack des Wassers. Ihm wurde bewusst, wie wertvoll Trinkwasser war und dass es ihm bisher nie daran gefehlt hatte, obwohl er dafür weit gehen musste. Gierig leerte er den Vorrat.

»Nun müssen wir den Pfeil entfernen«, flüsterte Carsian, als würde er ein Geheimnis aussprechen. »Setzt dich!«

Während er sich auf dem Sand niederließ, fragte sich Elyian, ob er seinen Arm jemals wieder zur Jagd oder zum Schwimmen gebrauchen konnte.

»Ich werde den Schaft mit den Federn abtrennen. Wenn wir ihn dann nach vorn durchstoßen, halten wir die Wunde möglichst klein.« Sein Großvater war ein weiser Mann. Gewiss wusste er, was in einer solchen Situation zu tun war.

Esra umschlang von hinten seinen Oberkörper, winkelte dabei seinen rechten Arm an und drückte ihn gegen seine Rippen. »Du musst jetzt tapfer sein, Elyian.«

Der enge Kontakt zu seiner Mutter gab ihm ein sicheres Gefühl, obwohl er ahnte, dass es gleich unangenehm werden würde.

»Bist du bereit?«, erkundigte sich Carsian, der hörbar zu seiner Rechten hockte.

Elyian nickte. Er war dankbar, dass sein Großvater ihn von diesem Geschoss befreite.

»Gut. Ich breche das Stück ab.« Kaum hatte Carsian die Worte zu Ende gesprochen, durchfuhr ein dumpfer, aber schmerzvoller Druck seine Schulter. Geräuschvoll atmete Elyian ein.

Seine Mutter fuhr ihm ermutigend durchs nasse Haar, ohne seinen Arm loszulassen. »Sobald der Pfeil raus ist, gönnen wir dir Ruhe.« Fest drückte sie seinen Körper an sich.

»Weiter!«, sagte Carsian. Im selben Atemzug breitete sich ein mächtiger Schmerz vom Schlüsselbein aus, der den gesamten Arm durchzog. Elyian biss die Zähne aufeinander und quetschte den Wasserschlauch in seiner Linken zusammen. Ungewollt stöhnte er auf, als die nächste Schmerzattacke seine Schulter und seinen Arm durchdrang. Es schmerzte wesentlich heftiger, als er das Eindringen des Pfeils am Morgen in Erinnerung hatte. Keuchend rang er nach Atem. Endlich ließen seine Beschwerden etwas nach.

»Du hast es überstanden«, flüsterte seine Mutter ihm ins Ohr und löste die Umarmung.

»Wir bringen ihn in die Hütte.«

Beim Aufstehen bemerkte Elyian, wie seine Knie nachgaben. Starker Schwindel drohte ihn zu Boden zu ziehen. Haltsuchend fuhr er mit der linken Hand durch die Luft.

»Langsam, Elyian!« Sein Großvater packte ihn am unverletzten Oberarm. »Kannst du gehen?«

Elyian nickte, auch wenn er sich seltsam kraftlos fühlte.

»Meine Achtung! Du bist sehr tapfer. Ich besorge einige Heilkräuter für dein Gesicht.« Offenbar wandte er sich an seine Mutter. »Bereite ihm einen stärkenden Tee. Ich werde bald zurück sein.«

»Komm, ich bringe dich rein«, seine Mutter führte ihn.

Schon ein Stück weit entfernt, rief Carsian erneut. »Halte deine Augen weiterhin geschlossen.«

Bleierne Müdigkeit erschwerte Elyian den Weg über die Leiter in die Hütte. Seine Mutter half ihm in die Hängematte, wo er sich erleichtert ausstreckte. Ihren Kuss auf seiner Wange, die streichelnde Hand auf seinem Kopf nahm er nur noch wie aus weiter Ferne wahr, während er in einen erlösenden Schlaf sank

AUFBRUCH

Ein schmerzliches Pochen in seiner Schulter begleitete ihn ins Erwachen, damit verstärkte sich das Brennen in seinem Gesicht. Seine Augenlider ließen sich nur einen winzigen Spalt öffnen, durch den er kaum etwas erkennen konnte. Offenbar war die Haut stark geschwollen. Mit der linken Hand strich er vorsichtig seinen Wangenknochen entlang. Er zuckte zusammen, als sein Handgelenk zurückgezogen wurde.

»Es wird heilen. Hab Geduld.« Seine Mutter drängte seine Hand behutsam zurück. »Dein Großvater hat einen heilenden Balsam aufgetragen.« Sie streichelte seinen Arm. »Möchtest du Tee?«

Mit dieser Frage wurde sich Elyian seines Durstes bewusst. Er nickte.

Die streichelnde Hand rührte sich nicht von der Stelle und doch führte ihm jemand eine Holzschale an den Mund. Vermutlich war es sein Großvater.

»Wie fühlst du dich?«, fragte seine Mutter fürsorglich.

Ein süßlich herber Geschmack breitete sich auf seine Zunge aus. Elyian schluckte. »Warum haben sie mich nicht getötet?«

»Dem weißen Mond sei Dank, dass deine Mutter dies zu verhindern wusste«, hörte er Carsian sagen.

Elyian drehte den Kopf zur Seite und wandte sich seiner Mutter zu, wobei er die Augen geschlossen hielt.

»Die Behauptungen mit der Ehezeremonie auf dem Schiff und das mit der Seenot waren gelogen, nicht wahr? Ich bin ein Inhibit!«

Carsians empörte Stimme klang nah bei ihm. »Diesen eigenwilligen Gesetzen darfst du keine Beachtung schenken.« Er räusperte sich. »Wären wir in Kayros, würde niemand wagen, ein Kind bei lebendigem Leib zu begraben.« Jetzt schien er in der Hütte umherzulaufen. »Wir werden in der großen Stadt erwartet. Dort wird sich ein Segelschiff finden, mit dem ihr in meine geliebte Heimat segeln werdet.«

Die Zurückhaltung seiner Mutter bestätigte Elyian in seiner Vermutung. »Also ist es wahr.« Welche Erzählung seiner Mutter sollte er nur glauben?

»Das ist nicht wahr, Elyian!« Seine Mutter knetet seine Hand. »Du hast wie jeder andere hier das Recht zu leben.«

Wahrscheinlich hatte die Aussage mit dem Sturm nur dazu gedient, um den Kriegern Einhalt zu gebieten. Die Schilderung, die seine Mutter Carsian erzählt und er belauscht hatte, entsprach wohl eher der Wahrheit. Ohne Esra wäre er als Säugling lebendig begraben worden. In seiner lebhaften Fantasie malte er sich diese Szene aus, wie die Erde sich auf seinem Gesicht verteilte und ihm letztlich die Luft zum Atmen raubte. Schnell löste er dieses Bild in seiner Vorstellung auf. Die Fürsorge seiner Mutter, ihre sanftmütige Geduld, mit der sie ihm alles beigebracht hatte, verdrängten seine Zweifel, ob eine Frau für ein fremdes Kind tatsächlich so viel Liebe aufbringen konnte. Esra hatte ihm ermöglicht, in ihrer Obhut geborgen aufzuwachsen. Er wollte versuchen, sie glücklich zu machen. Sie sollte stolz auf ihn sein. »Ich hätte gern noch eine Schale Tee.«

»Die sollst du bekommen.« Carsian schritt hörbar durch die Hütte und kehrte mit einer vollen Schale des stärkenden Tees zu ihm zurück.

 

Elyians verätzte Gesichtshaut heilte schnell ab, sein Schultergelenk schien ihm dagegen weiter Beschwerden zu bereiten. Esra fiel auf, wie schreckhaft ihr Sohn seit der Begegnung mit den Kriegern war. Diese Erkenntnis machte ihr erneut deutlich, wie falsch es wäre, ihren feinfühligen Jungen in die Kriegsschule zu schicken. Fatalerweise hatte sie den Einfluss darauf verloren. In Pachacamo würde vermutlich der Hohe Rat ihrem Vater vorschreiben, welchen Weg Elyian einzuschlagen hatte. Esra suchte vergeblich nach einem Ausweg, ihren Sohn aus Pachacamo fernzuhalten. Ihre Bemühungen, Elyian ein freies, ungezwungenes Leben zu ermöglichen, waren mit dem Erscheinen ihres Vaters, viel mehr mit Auftauchen der Krieger, gescheitert. Jetzt blieb ihr nur noch die Hoffnung, dass sich Elyian mit den Gepflogenheiten dieser Stadt arrangierte, zumindest bis Carsian ein Schiff für sie gefunden hatte, um diesem Land den Rücken zu kehren.

Von großen Zweifeln gepeinigt brach Esra mit ihrem Vater und Elyian einige Tage später nach Pachacamo auf. Auf dem ersten Teil ihres Weges durch den tropischen Regenwald erreichten sie ein Dorf. Dort ging ihr Vater geradewegs auf eine Hütte zu. Am Eingang schaukelte im Wind ein kleines Holzschild ›Tuchmacher‹. »Für Pachacamo braucht ihr angemessene Bekleidung.« Er ließ Esra und Elyian den Vortritt in die Tuchmacherhütte.

Der Tuchhändler besaß für eine Siedlung dieser Größe eine ungewöhnlich umfangreiche Auswahl an gewebten Stoffen, die sorgfältig zusammengelegt auf einem Tisch lagen. Esra strich fasziniert über ein Tuch aus grün gemustertem Hanf. Früher, bevor Elyian in ihr Leben kam, hatte sie auf hübsche Kleider und reichverzierte Gürtel Wert gelegt. Bisher hatte sie diese Dinge nicht vermisst, doch jetzt, da sie die herrlichen Stoffe vor sich sah, begann sie, ihr Interesse an prächtiger Kleidung wiederzuentdecken. »Das ist wunderschön!«

»Wie wahr!« Der Verkäufer breitete es auseinander. »Dies zählt zu meinen kostbarsten Stoffen. Meine Tochter hat es gefertigt.«

»Wenn es dir gefällt«, Carsian strich ihr über den Rücken, »so soll es dir gehören.« Er wandte sich dem Händler zu. »Gold trage ich keines bei mir, aber mein Vorrat an Kakaobohnen sollte dafür reichen.«

Der Tuchhändler lachte, »für Gold werdet Ihr in dieser Gegend keine Anhänger finden. Eure Kakaobohnen sind mir willkommen.« Er hob den Stoff in die Höhe, um ihn zusammenzulegen.

Dabei entdeckte Esra darunter ein hellbraunes Gewebe. »Das ist genau das Richtige für Elyian.« Sie faltete es auseinander und drehte sich zu ihrem Sohn um. »Was ...« Erschrocken fuhr sie herum, als er nicht mehr hinter ihr stand. »Elyian?« Esra warf das Tuch auf den Tisch und eilte vor die Hütte. »Elyian?«

»Wir sind gleich zurück«, rief Carsian dem Händler zu und folgte seiner Tochter nach draußen. »Er kann nicht weit sein.«

Vor ihrem geistigen Auge sah sie Elyian wieder neben den Kriegern, wie das Blut an seinem Körper hinunterlief.

Carsian klang ruhig. »Er wird etwas Interessantes gefunden haben.«

Aufmerksam schaute sie sich vor der Tuchmacherhütte um. Elyian war das kostbarste Geschenk in ihrem Leben. Ihm durfte nicht noch einmal etwas Schreckliches widerfahren. Ihr Herz schlug wie wild. Sorgsam wanderte ihr Blick über den Versammlungsplatz des Dorfes, um den sich zahlreiche Hütten reihten.

Nirgends war Elyian zu sehen. Zwischen den wenigen Leuten, die unterwegs waren, müsste er ihr doch sofort auffallen. »Elyian?« Rufend lief sie über den Platz.

»Esra«, rief Carsian sie zurück.

»Hast du ihn gefunden?« Sie hörte, wie ihre Stimme zitterte, während sie auf ihren Vater zuging.

»Noch nicht.« Er wies auf eine Bambushütte nahe dem Tuchmacher. »Doch ich denke, er wird dort sein.« Das halbrunde Dach bestand aus großen Rindenstücken. Über dem niedrigen Eingang hing eine Holztafel, die mit selenorischen Schriftzeichen bemalt war.

Esra schnappte hörbar nach Luft. Eiligst schritt sie auf die Hütte zu. Beim Eintreten fiel ihr ein Stein vom Herzen, erleichtert schloss sie für einen Moment die Augen. Ihr Sohn hockte im Schneidersitz auf einer Bastmatte, auf seinem Schoß ein Buch.

»Elyian«, flüsterte sie aus einer Mischung von Erleichterung und Vorwurf.

Aufgeschreckt schaute er auf. »Mutter, sieht nur!« Ihm schien gar nicht der Gedanke gekommen zu sein, man könnte ihn vermisst haben. Aufgeregt erhob er sich, um ihr ein Buch zu zeigen, das er entdeckt hatte. »Geheimnisse der Mondkräfte.«

»Wir haben dich gesucht, Elyian.« Ihre Worte klangen jetzt eher liebevoll als tadelnd.

In diesem Moment betrat Carsian die Hütte. »Elyian!« Ermahnend erhob er seine Stimme. »Du wirst lernen müssen, dich folgsam zu verhalten.«

Elyian hob langsam seinen Kopf und stieß seinen Atem aus, dabei ließ er das Buch auf seinen Schoß sinken. Elyians Blick fixierte Carsians Augen, seine Nasenflügel bebten vor Zorn. Es schien, als kämpften ihre Blicke miteinander.

»Deine Mutter hat Stoff für dich ausgesucht. Geh mit ihr«, befahl ihm Carsian mit einem Unterton, der keinen Widerspruch zu duldete.

Elyian öffnete seinen Mund, um etwas zu erwidern, schluckte dann aber seinen Protest hinunter.

»Wir haben uns gesorgt.« Esra ergriff das Buch, gab es dem Eigentümer zurück und schob Elyian aus der Bambushütte hinaus.

 

Mit dem neuen Stoff im Gepäck setzten sie ihren Weg durch den dichten Urwald fort. Elyian konnte nicht verstehen, was Carsian an seiner Schlangenhose auszusetzen hatte, der Blutfleck von seiner Schulterverletzung war längst ausgewaschen, und so viel Stoff war, seinem Geschmack nach, nur unnützer Ballast. Carsians Tadel hatte ihn schwer gekränkt. Wie ein unmündiges Kind hatte sein Großvater ihn zurechtgewiesen, noch dazu vor den Augen des Buchhändlers. Warum konnte er ihm nicht mit der gleichen Achtung entgegentreten, wie es auch seine Mutter tat? Augenblicklich zweifelte er, ob Pachacamo wirklich das richtige Ziel für ihn war.

Bei Einbruch der Dunkelheit schlugen sie ihr Lager auf. Während seine Mutter im Lichtschein des Lagerfeuers ihre Gewänder nähte, spannte sein Großvater die drei Hängematten zwischen die Bäume. Nachdenklich zog sich Elyian zum Schlafen zurück, nur einschlafen konnte er aus unerklärlichen Gründen nicht. Mit geschlossenen Augen lag er da und dachte an die Schilderungen seiner Mutter zurück. Wer war er und wer waren seine leiblichen Eltern gewesen?

»Seid bitte nicht so streng mit ihm«, hörte er nach einer Weile seine Mutter flüstern.

»In der großen Stadt muss er gehorsam sein. Wenn er sich dort nicht einordnen kann«, Carsian stockte. »Du weist selbst noch gut genug, welche Sitten in Pachacamo herrschen. Es hat sich seit deinem Verschwinden nichts geändert.«

»Ich werde es ihm erklären.«

Carsian räusperte sich. »Es wäre …«, hörbar schluckte sein Großvater. Nach einer kleinen Pause fuhr er fort. »Ein Mann an deiner Seite würde vieles einfacher gestalten.«

»Vater!« Esra senkte ihre Stimme. »Verlangt Ihr etwa von mir, aus Vernunftgründen ein Eheversprechen einzugehen?« Esra klang fast entsetzt.

»In meinem Umfeld gibt es einige sehr angesehene Männer, die alles für eine hübsche Frau an ihrer Seite tun würden.« Sein Großvater sprach leise.

»Aber Ihr wolltet mich mit Elyian nach Kayros zurückschicken.«

»Beim weißen Mond!« Sagte er bestimmend. »Sieh doch die Notwendigkeit. Die Seemänner werden sich ungeschoren auf dich stürzen. Dein Sohn wird spärlich dagegen etwas unternehmen können. Ein gesetzlicher Mann an deiner Seite sichert euch Schutz.«

 

Esra schluckte diesen Vorschlag hinunter. Bisher hatte sie darüber nicht weiter nachgedacht. Innerlich musste sie ihrem Vater recht geben.

»Auch für Elyian wäre eine solche Verbindung von Vorteil.« Ihr Vater stand auf. »Eine strenge Hand würde ihn dienlich beeinflussen.«

»Was habt Ihr an ihm auszusetzen?«

»Esra! Ich habe an ihm nichts auszusetzen. Er ist mir in den paar Tagen sehr ans Herz gewachsen, ob er nun mein leiblicher Enkelsohn ist oder nicht.« Unruhig schritt Carsian auf und ab. »Du hast ihn nachsichtig und frei erzogen. Für Kayros ist das förderlich, für Pachacamo jedoch bedrohlich! Das ist dir doch bewusst?«

Sie packte ihre Näharbeit in den Tragekorb zurück. »Ich wollte nie in diese Stadt zurückkehren. Gewiss war es ein Fehler, ihn von allem fernzuhalten.« Sie erhob sich und betrachtete ihren Sohn, seine rosige, abheilende Gesichtshaut, das Wundmal der Pfeilverletzung. Elyian war ihr wichtiger als ihr eigenes Leben. »Wird er seine Schulter jemals wieder gebrauchen können?«

»Das will ich hoffen.« Carsian nahm sie in den Arm. »Wir sollten uns jetzt ausruhen.« Er warf etwas Holz auf die Glut, bevor sie sich schlafen legten.