Felis Vigor - Qualvolle Experimente - Angela Planert - E-Book
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Felis Vigor - Qualvolle Experimente E-Book

Angela Planert

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Beschreibung

Durch qualvolle Rituale gekennzeichnet, kann Nurel aus der Gefangenschaft fliehen. Sämtliche Erinnerungen sind vollkommen gelöscht. Er ist mit seinen Kräften am Ende, als ihn drei Argusaner finden. Seine animalischen Fähigkeiten machen ihm schnell bewusst, dass er anders ist als seine Retter Jasur und Unasuh. Auf dem langen Weg nach Selarun beginnt Nurel, den beiden Freunden zu vertrauen. Im Haus der Argusaner angekommen, lernt er sie zu schätzen. Eines Tages ist Nurel spurlos verschwunden. Erst nach langer Zeit entdeckt Unasuh Nurels Schwert bei einem Waffenhändler und schöpft neue Hoffnung …

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Fund
Anders
Zweifel
Selarun
Veränderung
Qualen
Heimkehr
Fieber
Besuch
Hoffnung
Katastrophe
Pirat
Gefangen
Verlies
Ziel
Neuanfang
Umdenken
Kämpfer
Begegnung
Jagd
Flucht
Mondsteine
Gefühle
Rache
Nathan
Vision

 

 

 

Felis Vigor

 

Dritter selenorischer Roman

von

 

Angela Planert

 

Qualvolle Experimente

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum © 2021 Angela Planert

16540 Hohen Neuendorf, Friedrich-Herder-Straße 33

www.Angela-Planert.de

2. Auflage

Lektorat: Jane Krüger

www.mademoiselle-cake-liest.blogspot.de

 

Covergestaltung: © Florian Witkowski

www.fw-grafikdesign.de

 

Tolino Media

 

Alle Rechte vorbehalten.

Insbesondere sind inbegriffen: das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video (auch einzelner Text- und Bildteile) sowie der Übersetzung in andere Sprachen

.

 

 

 

Felis Vigor

(Kater Lebenskraft)

»Selene« die griechische Mondgöttin

(altgriechisch Σελήνη »Mond«) 

dient als Namensgeberin,

dieser Buch-Reihe.

 

In der Welt der zwei Monde, des Weißen und des Roten, wachsen die mittelalterlich anmutenden selenorischen Romane mit

wechselnden Protagonisten, bekannten Orten

sowie untereinander verbundenen Ereignissen zu einem gewaltigen

Epos heran.

 

 

Fund

Verkohlte Baumstümpfe ragten aus der schwarzen Erde empor. In der Luft lag ein beißender Geruch nach verbranntem Holz, nach Ruß und nach Tod. Eine bizarre Erscheinung leuchtete am Firmament: Der große rote Mond stand exakt hinter dem kleineren weißen. Ein roter Kreis zog sich um den weißen Mond herum. Beide strahlten in voller Größe und schienen auf ein am Boden liegend, ächzendes Geschöpf. Vierzehn leuchtende rote Mondsteine lähmten den nackten, abgemagerten Körper. Nur Fetzen einer zerschlissenen Hose bedeckten den blutverschmierten Leib.

Plötzlich tauchte aus dem Schatten der Dunkelheit ein kräftiger Mann in einem roten Anzug und roten Stiefeln auf. Seine buschigen Augenbrauen und seine große Nase wirkten fast furchterregend. Geheimnisvoll glänzten seine hellbraunen Augen. „Eine äußerst denkwürdige Nacht, mein lieber Nurel! Leider wirst du heute auf die Mondsteine verzichten müssen. Ich benötige sie für einen ganz besonderen Schüler.“ Der Mann schnürte einen Strick um das linke Handgelenk seines Gefangenen. Das andere Ende des Seils befestigte er an einem dicken Baumstumpf. Als er die rechte Hand ergriff, zuckten sacht Nurels Finger. „Du wirst doch keinen Widerstand leisten?“, lachte der Fremde. Auch das rechte Handgelenk wurde vom Rumpf gestreckt an einem Stumpen festgebunden. Die Fußgelenke fesselte der Unbekannte fest zusammen und knüpfte das Seilende ebenfalls um einen restlichen Baumstamm. „So wird es unterhaltsamer für dich!“ Er band ein Tuch über die Augen seines Opfers, sammelte die roten Mondsteine in seine Tasche und verschwand in den Schatten der Nacht.

„… mein lieber Nurel“, hatte der Fremde ihn genannt. Nurel war sich nicht bewusst, wer diese Gestalt war. Er hatte keine Kenntnis darüber, wie er in diese Situation geraten und schon gar nicht, wer er selbst war. Er hatte lediglich diesen Namen: Nurel.

Nur langsam ließen die Schmerzen nach, die seinen gesamten Körper plagten. Jeder Bewegungsversuch war von einer beißenden Kälte begleitet, die seine Beschwerden verschlimmerten. Er begann zu zittern. Seine ausgestreckten Arme waren so straff auseinander gebunden, dass es ihm nur unter Schmerzen möglich war, seinen Oberkörper zu bewegen. Nurel hatte diesen Fremden nicht gesehen. Diese Mondsteine hatten seinen ganzen Körper so gelähmt, dass er nicht mal in der Lage war, die Augenlider zu öffnen. Was er wohl verbrochen hatte, dass man ihn derart folterte? Die Seile an den Hand- und Fußgelenken waren eng zusammengeknotet. In seiner Verzweiflung versuchte er, sich aus den Fesseln zu winden, doch er spürte nur, wie die derben Stricke ihm die Haut abscheuerten. So sehr er auch zerrte und zog, Nurel konnte sich nicht befreien. Plötzlich zuckte er zusammen. Sein Herz begann zu rasen. Er nahm eine weiche Pfote auf seinem Bauch wahr. Dann folgte eine zweite, die sich tief in seinen Unterleib drückte. Eine schnuppernde kalte Nase glitt ihm über den Rumpf. Was mochte das für ein Getier sein? Für eine Katze waren die Tatzen zu groß und zu schwer, ein Wolf besaß doch eher lange Krallen. Nurel sah seine letzte Stunde gekommen. Starr vor Angst wagte er kaum, zu atmen. Eine raue Zunge fuhr ihm mehrfach die Brust entlang. Eine Pfote verschwand von seinem Körper. Für einen Augenblick hoffte Nurel, dieses Tier würde sein Interesse an ihm verlieren. Im nächsten Moment spürte er ein schmerzhaftes Reißen in seinem Leib, als würden Messerklingen ihm die Haut durchtrennen. Nurel schrie auf, mehr erschrocken als vor Schmerz. Erneut empfand er ein mächtiges Reißen auf seiner Brust, dann schien das Tier tatsächlich davonzujagen. Nurel atmete tief durch. Sein frisches Blut würde mit Sicherheit die Wölfe anlocken, damit wäre sein Schicksal besiegelt. Überrascht stellte er fest, dass der Strick an seinem linken Handgelenk etwas nachgab. Merklich war der Stamm oder der Pfahl, an dem es befestigt war, lose. Er sammelte all seine Kraft und zerrte kräftig an den Fesseln. Um ein Stöhnen zu unterdrücken, presste er die Lippen aufeinander. Er benötigte einige Versuche, bis er wahrhaft den lockeren Pfahl aus der Erde ziehen konnte und seine Hand befreit hatte. Zuerst streifte Nurel die Augenbinde ab, knotete danach seine rechte Hand frei und schließlich die Fußgelenke.

Ein markerschütternder Schrei aus der Ferne hallte durch die Nacht.

Nurel schaute sich um. Offenbar war er nicht der Einzige, der gequält wurde. Ringsherum erblickte er verkohlte Baumstümpfe, Reste eines niedergebrannten Waldes so weit er sehen konnte. Direkt über ihm standen die beiden Monde und leuchteten auf ihn herab. Sein Rumpf, die Gliedmaßen, alles war blutverschmiert. Doch bis auf die Abschürfungen seiner Fesseln und die Wunden der Tierkrallen konnte er keine Verletzungen entdecken. Warum sollte man ein Geschöpf mit Blut besudeln? Welche Bedeutung hatte das? Wenn er überleben wollte, musste er hier schnellstens verschwinden. Energisch stand er auf. Seine Beine wollten ihn kaum tragen. Kraftlos und zitternd setzte er einen Fuß vor den anderen. Das Gehen fiel ihm entsetzlich schwer, als wäre er schon sehr lange nicht mehr gelaufen. Was war nur mit ihm geschehen? Wie sollte er diesem Mann entkommen? Bestimmt würde er seine Fußspuren verfolgen. Nur gab es weit und breit kein Gestrüpp, mit dem man die Fußstapfen hätte verwischen können. Schwerlich kam er vorwärts und fiel letztlich zu Boden. Nurel versuchte, aufzustehen. Die schwarze Erde klebte nun auf seinem Körper, vermischte sich mit dem Blut auf seinem Bauch. Er musste weiter! Seine Arme schienen kräftiger zu sein und so kam ihm der Gedanke, sich auf allen Vieren fortzubewegen. Auf Händen und Knien ging es wesentlich rascher voran. Ohne sich umzudrehen, krabbelte er, so schnell er konnte, vorwärts. Auch als ihm vor Müdigkeit, vor Erschöpfung die Augen zufielen, zwang er sich, nicht anzuhalten.

 

Eine wohltuende, fast vergessene Wärme nahm Nurel auf seinem Rücken wahr. Für einen Moment schwelgte er in diesem Gefühl, welches sich so unglaublich gut anfühlte. Doch dann fiel ihm dieser Mann, seine Flucht ein. Er musste weiter! Sofort! Er hob seinen Kopf, um sich zu orientieren. Ein grelles Licht schmerzte in seinen Augen, nur schemenhaft erkannte er Silhouetten, vermutlich von den Baumstümpfen oder Sträuchern. Für einen Augenblick machte er sich seiner ausweglosen Lage bewusst: Seine kraftlosen Beine würden ihn nicht lange tragen, das helle Licht ließ ihn beinah erblinden und sein knurrender Magen und sein kratzender Rachen trugen nicht gerade zu einem erfolgreichen Entkommen bei. Aufgeben kam allerdings gar nicht infrage. Nurel rappelte sich hoch, tappte mit zusammengekniffenen Augen mühsam voran. Sein wachsender Durst begann in seiner Kehle zu schmerzen und seine Knie zitterten mit jedem Schritt mehr. Es kostete ihn unglaublich viel Disziplin trotz allem weiterzugehen. Woher kam nur diese übertriebene Helligkeit, an die sich seine Augen einfach nicht gewöhnen wollten? Plötzlich schritt sein rechter Fuß ins Leere und bevor Nurel reagieren konnte, fiel er in die Tiefe. Er spürte, wie er unsanft irgendwo aufkam, sich mehrfach überschlug, bis es dunkel um ihn wurde.

 

„Was für ein barbarischer Anblick!“ Jasur hielt sein Pferd an.

„Dem Mond sei gedankt! Der rote Meister ist besiegt! So etwas wird in der kommenden Zeit hoffentlich nicht mehr vorkommen.“ Auch Unasuh brachte sein Tier neben seinem Kameraden zum Stehen. Er fuhr mit der Hand von der Stirn über sein schwarzes Haar bis zu seinem langen Zopf hinunter.

„Wie abgemagert er ist.“ Kasur trabte langsam an den beiden vorbei, während er nur einen flüchtigen Blick zu dem toten Jungen warf. „Bestimmt ist er verhungert!“

Jasur rutschte vom Sattel. „Er war fast noch ein Kind!“ Er kniete sich zu ihm, betrachtete mitfühlend den geschundenen Körper. „Wir sollten ihn nicht achtlos liegen lassen.“

„Du hast Recht, begraben wir ihn!“ Unasuh stieg ebenfalls von seinem Pferd.

Jasur legte die leblosen Hände auf den Bauch des Jungen. Kaum merklich regte sich der Brustkorb. „Beim weißen Mond, er atmet! Schnell, Kasur, gib mir dein Wasser!“

Kasur warf ihm seinen Beutel zu. Vorsichtig hob Jasur den Kopf des Jungen und flößte ihm das Wasser ein. Gierig leerte der Junge den Vorrat. „Komm schon, junger Freund, öffne deine Augen! Du hast nichts mehr zu befürchten!“

Der Junge blinzelte, drehte den Kopf dann zur Seite.

Unasuh hockte sich dazu. „Die Sonne blendet ihn! Gewiss kennt er nur die Dunkelheit.“

„Ja, das scheint mir auch so. Wir nehmen ihn erst mal mit uns!“, bestimmte Jasur. Er nahm den Jungen auf seinen Arm, hob ihn auf den Sattel und stieg zu ihm aufs Pferd. „Halt deine Augen geschlossen. Sicher wird einige Zeit vergehen, ehe du dich wieder an das Sonnenlicht gewöhnt hast.“ Jasur legte seinen Arm um den Jungen, da er offenbar so schwach war, dass es ihm nicht mal gelang, aufrecht zu sitzen.

„Reiten wir weiter!“, entschied Unasuh. Nach einer Weile lenkte er sein Pferd neben das von Jasur und sah zu dem Jungen hinüber. „Wir müssen deine Wunden reinigen, sonst entzünden sie sich. Welches Tier hat dich so zugerichtet?“

„Weiß nicht“, nuschelte er müde.

Unasuh wusste nur den Kopf zu schütteln. Was dieses ausgemergelte Kind auch verbrochen haben mochte, nichts konnte so furchtbar sein, wie das, was man ihm angetan hatte. Unasuh war neugierig, zu erfahren, welches Schicksal dieser Junge hinter sich hatte. Schweigend trabten die drei durch die schwarze Wüste, die einst ein dichter Wald gewesen war. Vamun, der rote Meister, hatte Felder, ja ganze Dörfer samt ihren Einwohnern und zahlreiche Waldstriche vernichtet. Aber das war nun vorbei. Dieser Bösewicht war endgültig besiegt, die Prophezeiung hatte sich erfüllt. Die Angst vor Vamuns grausamer Macht verglimmte langsam - wie der Funken eines Feuers, der am Nachthimmel erlosch. Unasuh, Jasur und Kasur waren Boten der Argusaner, die diese frohe Kunde nach Selarun tragen durften.

 

Endlich, die Sonne begann gerade unterzugehen, erreichten sie das Ende der Zerstörung. An einem herrlichen Waldsee hielten sie an. Während die eine Uferhälfte sich schwarz verbrannt, mit verkohlten Baumstümpfen zeigte, wurde das andere Ufer von einem unberührten Wald mit Moos und Farnen umsäumt. „Ein guter Platz für ein Lager!“ Unasuh rutschte aus seinem Sattel. Der Boden schien unter seiner Last leicht zu beben. „Kasur und ich werden uns nach einem Mahl umsehen.“

„Ich werde Feuer machen und mich um den Jungen kümmern.“ Jasur stieg ebenfalls von seinem Pferd, hob dann seinen hageren Begleiter herunter und stellte ihn prüfend auf seine nackten Füße. Unasuh und Kasur verschwanden unterdessen im Unterholz.

„Du solltest als Erstes baden gehen, um das Blut und die Erde von deinem Körper zu waschen. Du kannst doch schwimmen?“, fragte Jasur zur Sicherheit.

„Schwimmen?“, blinzelnd sah ihn der Junge an. Seine Knie zitterten, als er einen Fuß vor den anderen setzte. Jasur hob ein paar Zweige für das Lagerfeuer auf, beobachtete dabei den Jungen, wie er auf das Wasser zulief, ohne eine Reaktion von Scheu oder Unschlüssigkeit zu zeigen. Beim nächsten Schritt fand Nurel keinen Boden mehr unter den Füßen und tauchte in eine dunkle, kalte Tiefe ein. Obwohl es sich furchtbar anfühlte, kam ihm diese Empfindung vertraut vor, sodass er keine Notwendigkeit sah, diese zu verlassen. Grob packte ihn eine Hand an den Schultern und zog ihn an die Wasseroberfläche.

„Offenbar kannst du nicht schwimmen.“ Ein schlanker, groß gewachsener Mann setzte ihn ins flache Wasser. „Wie ist dein Name?“

Ihm gelang nur ein Flüstern: „Nurel.“

„Nurel!“ Er nickte ihm freundlich zu. „Ich bin Jasur. Sag, was hatte Vamun mit dir vor? Warum hat er dich derart misshandelt?“

„Vamun? Wer ist das?“ Nurel fiel erst jetzt auf, dass er seine Augen nicht mehr vor dieser Helligkeit schützen musste. Klar und deutlich konnte er seine Umgebung erkennen.

„Der rote Meister! Vamun!“ Jasur schien zu überlegen. „Aber wer, wenn nicht Vamun, hat dich dann so gequält?“

Nurel sah sich Jasur an. Er hatte eine sympathische Erscheinung, große dunkelbraune Augen, hellbraunes schulterlanges Haar, eine schmale gerade Nase und einen Vollbart.

„Du kannst vor Kraftlosigkeit kaum laufen. Deine Hände und Füße verraten eine lange Gefangenschaft, deine Augen erzählen von unzähligen Tagen der Dunkelheit. Wer, außer Vamun, würde das einem anderen antun?“

Nurel fand lediglich die letzte Nacht, die Begegnung mit dem Tier, seine Flucht in seinem Gedächtnis. Wie sollte er Jasur diese vielen Fragen beantworten? Im Grunde wusste er nicht mal, ob ›Nurel‹ wirklich sein Name war. Eine merkwürdige Hitze schien in seinem Inneren mit jedem Atemzug heftiger zu glühen. Am besten ging er ins kühle Wasser zurück. Als er aufstand, wurde ihm entsetzlich schlecht. Heftiger Schwindel drohte ihn zu Boden zu werfen. „Nurel?“, hörte er Jasur wie aus weiter Ferne fragen.

 

Langsam nahm er seinen Körper wahr, streckte seine Glieder und öffnete die Augen. Nurel fühlte sich viel besser. Er setzte sich auf. Sein Blick fiel auf die drei Begleiter, die sich offenbar gut um ihn gekümmert haben mussten. Sein Körper war sauber, die Wunden der Tierkrallen mit blutstillenden Blättern versorgt. Als Nurel aufstand, schaute er zum See. Auf der Wasseroberfläche spiegelten sich die beiden Monde. Der weiße Mond war nicht mehr voll, stand etwas außerhalb des roten Mondes. Nurel lief ein paar Schritte am Ufer entlang. Das Zittern in seinen Knien schien ihm heute ein wenig erträglicher. Im seichten Wasser beobachtete er einen Fisch auf Nahrungssuche. Wie durch eine unerklärliche Anziehung ging Nurel bedächtig in die Hocke, griff dann blitzartig ins Wasser. Fast ein wenig über sich selbst erschrocken, starrte er auf den zappelnden Fisch in seiner Hand.

„Ich habe noch nie ein Geschöpf mit deinen Reflexen getroffen“, hörte er Jasur hinter sich. „Wer hat dir das beigebracht?“

Nurel wusste nicht, was er antworten sollte, drehte sich zu seinem Begleiter um. „Ich - ich kann Eure Fragen nicht beantworten.“ Er musste Jasur seine Lage erklären, das war er ihm schuldig. „Ich erinnere mich nur an diesen Mann. Er kam, um mich zu fesseln. Bald darauf spürte ich dieses Tier auf meinem Bauch. Letztlich gelang es mir, mich zu befreien und zu fliehen. Diese Helligkeit machte mich blind und so stürzte ich einen Abhang hinunter. Ich verdanke Euch mein Leben!“

„Ein Mann fesselte dich? Wie sah er aus?“, Jasur sah ihn intensiv an.

Nurel schüttelte den Kopf. „Mir waren die Augen verbunden.“

„Und was war mit diesem Tier?“, forschte Jasur weiter.

„Ich konnte es doch nicht sehen. Nur seine Pfoten nahm ich auf meinem Körper wahr, dann seine Krallen. Vor Schmerz schrie ich auf und es lief davon.“

Jasur schien in seinem Gesicht etwas zu suchen. „Ich möchte dir gern Glauben schenken, Nurel. Aber du willst mir weismachen, dass du Vamun nicht kennst, obwohl du sein Brandzeichen trägst?“

„Sein Brandzeichen?“ Nurel verstand nicht, wovon Jasur sprach.

„Was ist das sonst?“ Jasur packte Nurels linken Oberarm, drehte ihm die Außenseite zu. „Das Brandzeichen erhalten Vamuns Schüler nach einer Prüfung. Es ist eine Auszeichnung. Hast du Vamun nicht gehorcht? Hat er dich deshalb gefoltert?“

Nurel starrte auf eine hässliche, breite Narbe in Form eines V. Vor Entsetzen ließ er den Fisch in seiner Hand auf den Boden fallen. „Ich - ich kann mich nicht erinnern, nur an die letzte Nacht.“

Jasur lachte kurz: „Die letzte Nacht? Die letzten zwei Tage hattest du hohes Fieber, wir verweilen seit drei Tagen hier an diesem See und warten auf deine Genesung.“ Jasur ergriff Nurels Schultern. „Du warst sehr krank, Nurel!“

„Verzeiht!“ Diese Erklärung beschämte ihn. Diese Männer hatten sich offenbar viel mehr um ihn gekümmert, als er bisher geahnt hatte. „Ich - ich habe Euch aufgehalten.“

Jasur ließ ihn los. „Sieh dich an, Nurel! Du bist auffallend abgemagert, deine Beine haben nicht einmal genug Kraft, um dich vorwärts zu tragen. Im Sonnenlicht bist du völlig blind. Würden wir dich allein zurücklassen, wären wir nicht besser, als Vamun es war!“

Bestimmt erwartete man jetzt etwas von ihm. „Was verlangt ihr dafür?“

„Was wir dafür verlangen?“, Jasur lachte. „Wir sind Argusaner! Wir bringen die Nachricht über Vamuns Tod nach Selarun. Begleite uns in diese große Stadt und du wirst bei uns ein gutes Zuhause finden.“

„Argusaner?“, grübelte Nurel.

„Wir könnten dir das Schwimmen beibringen und viele andere Dinge.“

Nurel spürte Misstrauen in sich wachsen. Er wusste nichts über Argusaner, nichts über sich oder seine Vergangenheit. Woher sollte er wissen, wohin er gehen konnte? Nur weil diese Männer vorgaben, sein Leben gerettet zu haben, musste er ihnen ja nicht gleich vertrauen. „Wie kann ich meine Schuld begleichen?“

Jasur lächelte: „Vielleicht kannst du eines Tages mein Leben retten. Komm und schlaf noch ein wenig. Morgen müssen wir wirklich weiter.“

 

Die ersten Sonnenstrahlen weckten Jasur. Er legte seine Hand auf Nurels Brust. „Wach auf! Wir brechen auf!“ Nur einen Moment später erwachten auch die anderen beiden. Nurel richtete sich blinzelnd auf. Nur schemenhaft erkannte er drei Männer.

„Dir einen gesegneten Morgen! Ich bin Kasur!“ In seiner Stimme lang ein merkwürdiger Ton, als würde er sich über ihn lustig machen.

„Dem Mond sei gedankt. Es geht dir besser!“, hörte er eine tiefe Stimme, die definitiv nicht Jasur gehörte. „Mein Name ist Unasuh!“

Nurel sah einen kleinen Schatten vor sich, konnte ihn aber nicht zuordnen. „Euch einen gesegneten Morgen! Ich stehe in eurer Schuld!“ Es half nichts, diesen Schatten in Augenhöhe anzustarren, es war für ihn unmöglich zu sagen, was es sein könnte.

„Einem jungen Geschöpf das Leben zu retten, ist uns eine Ehre.“ Dieser Unasuh hatte eine anmutige Ausstrahlung, das gefiel Nurel.

„Darf ich unserem jungen Freund auf das Pferd helfen?“ Vermutlich hielt ihm dieser Unasuh die ganze Zeit die Hand hin und er Tölpel erkannte sie nicht. Nurel streckte ihm seine Rechte entgegen und tatsächlich packte eine große Hand zu.

„Habt Dank“, sagte Nurel leise.

Unasuh hob ihn spürbar auf den Sattel, dann nahm er seine Rechte. „Niemand von uns wird dich peinigen. Hab Vertrauen, Nurel.“

Diese Worte ließen Nurel misstrauisch werden. Bisher hatte er keine neuen Erkenntnisse gewonnen, wer sein Freund und wer sein Feind war. Konnte er diesen Argusaner wirklich vertrauen?

„Lass gut sein, Unasuh!“, erklang Jasur nah und Nurel bemerkte, wie er zu ihm auf das Pferd stieg. Eine wärmende Decke legte sich über seine nackte Haut.

„Sobald wir in Selarun sind, bekommst du etwas zum Anziehen.“

 

Im schnellen Galopp ging es vorwärts. Die Zeit verging, ohne dass auch nur ein Wort gesprochen wurde. Zwischen den Pferdehufen hörte Nurel ein entferntes Gepolter. „Ein eigenartiges Geräusch! Was ist das?“ Nurel richtete sich lauschend auf, versuchte, es zuzuordnen.

Jasur zügelte sein Pferd, dann blieb es stehen. „Was meinst du? Ich kann nichts Außergewöhnliches wahrnehmen!“

„Ich höre das Rauschen der Bäume“, Unasuh schien für einen Moment ebenfalls zu lauschen, „das Zwitschern der Vögel.“

„Seine Phantasie wird ihm einen Streich spielen!“, bestimmte Kasur.

Nurel fühlte sich von seinen Begleitern nicht ernst genommen. „Hört doch, es kommt näher!“

„Es tut mir leid, hier ist nichts Besonderes.“ Jasur machte eine kleine Pause. „Los, weiter!“ Er trieb sein Pferd an.

Nurel verstand nicht, warum nur er dieses Gepolter hörte. Wenn er wenigstens etwas sehen könnte. Das grelle Licht schien ihm direkt in sein Gesicht, womit er nicht mal irgendwelche Silhouetten erkannte. Nur manchmal glaubte er seitlich, den Schatten eines Baumes bestimmen zu können. Das Geräusch wurde immer lauter und deutlicher.

„Seht, dort vorn, ein Pferdekarren!“, rief Kasur.

„Willst du die Räder schon aus weiter Entfernung vernommen haben?“ Jasur klang sehr skeptisch, weshalb Nurel ihm eine Antwort schuldig blieb. Er hielt Nurel wahrscheinlich für einen Lügner. Jasur zügelte sein Pferd.

„Argusaner?“, erklang eine fremde, dunkle Stimme, die vermutlich dem Kutscher gehörte.

„So ist es! Wir bringen die erlösende Botschaft über Vamuns Tod nach Selarun“, erklärte Jasur höflich.

„So bin ich meines Weges sicher. Keine Waldstrolche, keine roten Krieger mehr. Habt Dank für eure frohe Kunde! Die Monde mögen uns gnädig sein!“ Polternd setzte sich der Karren in Bewegung.

„Du hast scheinbar ein sehr feines Gehör. Verzeih, dass wir an dir zweifelten“, entschuldigte sich Unasuh neben ihm. „Jasur hat uns von deinem Fischfang heute Nacht erzählt. Welche Fähigkeiten stecken noch in dir?“

Nurel wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Einen Fisch zu fangen, war schließlich nichts Ungewöhnliches und was konnte er für die jämmerlichen Ohren dieser Geschöpfe?

„Nur deine Augen wollen sich nicht ans Tageslicht gewöhnen, nicht wahr?“, fragte Unasuh. „Wie lange hast du in der Dunkelheit verbringen müssen?“

Nurel bemühte sich, in Unasuhs Richtung zu sehen, er blinzelte. „Ich weiß es nicht.“

„Los! Weiter!“, bestimmte Kasur.

Den Tag über ritten sie voran, gönnten sich nur einmal eine kurze Rast. Bald wurde es kühler und Nurels Sehvermögen kehrte allmählich zurück.

Jasur hielt das Pferd an. „Wir werden hier unser Lager aufschlagen!“ Die anderen taten es ihm gleich. Nurel wollte sich auf seine Weise für die Pflege erkenntlich zeigen. Er sprang als Erster vom Pferd. „Das Abendmahl ist meine Aufgabe!“ Bevor einer seiner Begleiter reagieren konnte, war Nurel im dunklen Wald verschwunden.

 

Kasur stieg ab. „Ich darf gespannt sein, was er uns mit seinen bloßen Fingern auftischen will. Pilze und Beeren?“ Er lachte.

Unasuh schüttelte den Kopf: „Ich würde nicht so schnell urteilen. Vamun hat stets begabte Kinder zu seinen Schülern auserwählt. Obwohl ich mich frage, ob er für seine Jagd wirklich schon kräftig genug ist.“

„Ich werde uns ein Feuer machen“, beschloss Jasur und begann, Holz zusammenzusammeln. Nach einer Weile saßen die drei zweifelnd vor den tanzenden Flammen.

„Und wenn er gar nicht mehr wiederkommt?“, überlegte Kasur.

Unasuh blickte sich suchend um: „Er ist schließlich nicht unser Gefangener. Wenn er nicht bei uns bleiben will, ist es seine Entscheidung!“ Von Nurel war weder etwas zu sehen noch zu hören.

„Habt ihr mal daran gedacht, dass er nur den Unwissenden spielt? Dass er vielleicht Vamuns Untaten weiterführen wird?“ Kasur sah in die Runde.

„Was für eine unsinnige Erwägung. Er wäre beinah verhungert. Außerdem geben mir die Fesselmahle an seinen Händen und Füßen ganz andere Überlegungen.“ Jasur rieb sich über die Stirn.

Plötzlich zuckten die drei Argusaner gehörig zusammen. Wie vom Himmel gefallen, stand Nurel zwischen Jasur und Unasuh. Keiner hatte ihn kommen hören. In Nurels Händen baumelten vier leblose Kaninchen. Mit einer zweifelnden Miene erhob sich Kasur, hob Nurels Arm in die Höhe, um sich die Tiere anzusehen. Ungläubig sah er abwechseln den Jungen und seine Beute an.

„Was ist? Mögt ihr kein Kaninchenfleisch?“, fragte Nurel verunsichert.

„Unsinn!“ Unasuh nahm Nurel die Tiere aus der Hand. „Natürlich lieben wir Kaninchenbraten!“ Er zog ihnen nacheinander das Fell ab. Dabei konnte er keinen Messerstich, keine Verletzung ausmachen. Beim dritten Tier fiel es ihm dann auf: „Du hast ihnen das Genick gebrochen?“

Nurel schaute auf: „Wie - hätte ich sie sonst töten sollen?“ Er wirkte sehr nachdenklich. Unasuh überlegte, ob Nurel langsam klar wurde, dass er etwas Besonderes war?

„Meine Anerkennung, du bist ein ausgezeichneter Jäger!“ Jasur nickte Nurel zu.

Kasur lachte: „Aber nur nach Sonnenuntergang.“

Unasuh warf ihm einen mahnenden Blick zu. Es war nicht recht, den Jungen mit seiner Beeinträchtigung zu deprimieren. „Das gibt ein Festmahl!“ Unasuh hatte die Beute auf einen Holzspieß gezogen und hielt sie über das Feuer. „Kaninchenfleisch habe ich schon lange nicht mehr verspeist.“

„Argusaner - was bedeutet das?“ Nurel sah Jasur an.

„Argusaner bedeutet Wächter. Wir studieren seit vielen Generationen die Prophezeiungen, die in den Büchern stehen. Viele dieser Schriften haben wir zusammengetragen und unser Wissen immer weitergegeben. In Selarun existiert eine umfangreiche Bibliothek.“

„Vielleicht kann er ja gar nicht lesen“, stichelte Kasur.

„Alle Schüler Vamuns können lesen!“ Jasur warf seinem Begleiter einen strafenden Blick zu. „Warum stellst du eine solche Behauptung auf?“

„Prophezeiungen? Was steht darüber geschrieben?“ Nurel wandte sich merkwürdigerweise an Kasur, als wolle er den Grund herausfinden, wieso sich Kasur ihm gegenüber so feindselig verhielt.

Kasur machte eine wegwerfende Handbewegung: „Das würdest du doch nicht verstehen!“

Provokativ setzte sich Nurel neben Kasur, sah ihm eingehend in die Augen: „Was missfällt Euch an meiner Anwesenheit?“

„Ich traue dir nicht über den Weg! Du bist eigenartig!“

Jasur erhob sich energisch. „Es ist genug, Kasur!“

Nurel stand auf. „Nun weiß ich wenigstens, wie Ihr über mich denkt!“

 

Anders

Nurel wurde deutlich, dass er anders als diese drei Geschöpfe war. Womöglich war das der Grund, warum dieser rot gekleidete Mann ihn gefoltert hatte. Er sollte jetzt, da er wieder bei Kräften war, seinen eigenen Weg suchen. Er wandte sich um und ging. „Warte, Nurel!“ Jasur eilte ihm nach. „Nur weil mein Bruder dich nicht mag, heißt es ja nicht gleich, dass wir ebenso über dich denken.“

„Euer Bruder?“ Nurel wunderte sich sehr. „Ihr - Ihr seid so verschieden.“

„Ich weiß“, seufzte Jasur. „Bitte komm zurück. Ich bewundere deine Fähigkeiten und werde sie nicht verurteilen. Ich hätte dabei kein gutes Gefühl, dich hier im Wald allein zurückzulassen.“

„Eure Sorge ehrt mich!“ Nurel zögerte einen Moment. „Dank Eurer Pflege komme ich nun ohne Euch zurecht.“

„Unasuh mag dich, das solltest du doch bemerkt haben.“ Jasur stellte sich ihm in den Weg. „Warme Kleidung und vernünftiges Schuhwerk könnte dir der Weg schon wert sein. Sollte es dir dennoch bei uns nicht gefallen, ist es dir freigestellt, deinen eigenen Weg zu gehen!“

Nurel war versucht, abzulehnen. Der Gedanke, frei und unbeschwert durch die Wälder zu streifen, gefiel ihm gut. Sein Blick fiel auf seine nackten Füße. Jasurs Angebot mit den Schuhen war verlockend. Eine feste Sohle, die vor spitzen Steinen und Dornen schützt, schien ihm ein überzeugendes Argument. „Ich habe Hunger!“, entschied sich Nurel.

„Wo bleibt ihr? Die Kaninchen sind gar!“, rief Unasuh vom Feuer.

Jasur legte seine Hand auf Nurels Rücken: „Es wäre ein Jammer, sie kalt werden zu lassen.“

Kasur sah seinen Bruder strafend an, als die beiden zum Lagerfeuer zurückkehrten.

Unasuh reichte den ersten Braten Nurel. „Möge der weiße Mond unsere Mahlzeit segnen und uns bis Selarun sicher begleiten.“

Nurel konnte es mit einem Mal kaum abwarten und biss gierig ein Stück Fleisch ab. Nur aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie Kasur ihn dabei beobachtete. In dem Moment, in dem Kasur seinen Mund aufmachte, um offenbar etwas zu sagen, räusperte sich Jasur. Nurel versuchte, darüber hinwegzugehen, zu köstlich schmeckte ihm der Kaninchenbraten. Akribisch knabberte er sämtliche Knochen ab, um jede noch so kleine Fleischfaser zu vernichten.

Unasuh, der erst sein halbes Kaninchen verzehrt hatte, lachte: „Du hast einen vom Mond gesegneten Appetit!“ Nurel leckte sich die Lippen sauber. Derartig Schmackhaftes hatte er schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gegessen. Oder doch? Er wusste es ja nicht, vielmehr war es dieses Gefühl, lange kein Fleisch mehr zwischen den Zähnen gehabt zu haben. Nurel hielt plötzlich inne. Deutlich spürte er, wie sie beobachtet wurden, auch meinte er, Gefahr wahrzunehmen. Um dieser Empfindung nachzugehen, stand er hastig auf.

„Was ist?“, wunderte sich Jasur.

Tatsächlich, weit hinten an einer Rotbuche erkannte Nurel eine Gestalt. „Da ist jemand!“

Kasur folgte Nurels Blick und lachte: „Huh! Das böse Waldmonster!“ Er schüttelte den Kopf. „Du Narr! Es ist viel zu dunkel, um dort jemanden wirklich erkennen zu können!“

Nurel warf Kasur nur einen flüchtigen Blick zu, visierte die Gestalt unter der Buche an und rannte auf ihn zu.

 

„Nurel? Sei vorsichtig!“ Jasur stand hastig auf und griff nach seinem Schwert. Der Junge war unbewaffnet, wie töricht, einfach darauf loszulaufen.

Kasur hielt ihm am Arm fest. „Er will sich doch nur wichtig machen. Lass ihn, Jasur!“ Geistesgegenwärtig eilte stattdessen Unasuh hinterher, seine Waffe griffbereit. Das Blätterdach des Waldes war zu dicht, als dass das Mondlicht hier viel nützte. Es war wirklich sehr düster. Nur vage waren die Baumstämme auszumachen. Vor ihm knackte ein Ast. Ein lautes, kräftiges Fauchen wie von einem Luchs folgte.

„Nurel?“, rief Unasuh besorgt. Bewegte sich dort hinten nicht ein dunkler Schatten? Es könnte eine große Gestalt sein. Unasuh war sich nicht sicher, denn nun schien der Kerl auf der Stelle zu verharren. „Wer seid Ihr?“ Unasuh zog sein Schwert aus der Scheide. Unerwartet sprang gut ein paar Schritte von ihm entfernt Nurel von oben herab und machte eine blitzartige Handbewegung. Unasuh erschrak. Als er dann wieder zu dem Schatten sah, glaubte er, jemanden in der Ferne verschwinden zu sehen. Er wandte sich Nurel zu. „Du hast mich zu Tode erschreckt! Wo kommst du auf einmal her?“

Nurel drückte ihm einen Pfeil in die Hand, bevor er an ihm vorbei ging. „Der war für Euch bestimmt!“

Unasuh lief ihm Richtung Lagerfeuer nach. Er verstand nicht, was Nurel mit seiner Aussage andeuten wollte. Er eilte ihm nach, hielt ihn an der Schulter fest. „Wo hast du den Pfeil her?“ Nurel sah zur Seite.

Nun kam Jasur dazu. „Was ist geschehen?“

Unasuh nahm seine Hand zurück. Er schüttelte verständnislos den Kopf und reichte Jasur den Pfeil: „Nurel wird es gewiss erklären können.“

„Ein Pfeil? Wo kommt der her? Hast du ihn gefunden?“

Jasur sah auf den Pfeil, dann in Nurels Gesicht.

 

Nurel hatte plötzlich ein ganz blödes Gefühl im Magen. Er hätte den Pfeil einfach ins Gebüsch werfen sollen, statt ihn Unasuh vor die Nase zu halten. Die Sache mit dem Fisch oder der Kutsche war ja vielleicht noch unter besondere Fähigkeiten einzuordnen, aber das schien für Unasuh unerklärlich. Ob es nur Zufall war?

„Wovor fürchtest du dich?“, fragte Jasur. Er beugte sich ein Stück zu ihm herunter, versuchte Nurel in die Augen zu sehen. „Also? Wen hast du gesehen?“

Nurel pochte das Herz bis zum Hals. Er fühlte sich wie ein Tier, das man während der Jagd in die Enge drängt.

Jasur ergriff Nurels Schultern: „Es ist keine Schande, anders zu sein. Allerdings ist es hin und wieder besser, seine Begabungen zu verstecken. Unasuh und ich sind deine Freunde, Nurel, vor uns musst du dich nicht fürchten. Erzähl bitte, was geschehen ist!“

„Dort hinten sah ich einen Mann. Irgendetwas hat mich erschreckt und da bin ich auf den Baum geklettert“, Nurel sprach leise, ihm war noch immer nicht wohl in seiner Haut.

„Und weiter! Was passierte dann?“ Jasur ließ seine Schultern los.

„Ich sah, wie der Fremde einen Bogen spannte und auf Unasuh zielte. Da sprang ich herunter und fing ihn ab.“

„Ihn ab?“, wiederholte Jasur kopfschüttelnd. „Etwa den Pfeil?“ Er klang fast, als würde er lachen.

Nurel nickte kurz, sah ihm dabei in die Augen, die im Mondlicht aufblitzten.

Für einen Moment wirkte Jasur wie erstarrt, er schluckte und begann, sich das Geschoss genauer anzusehen. „Widerhaken! Vamun verwendete solche Pfeile.“ Unruhig blickte er in die Dunkelheit, dränge Nurel derweil zum Lager zurück.

„Ihr zweifelt an meinen Worten?“, vermutete Nurel.

„Gewiss nicht“, gab Jasur zu. „Deine Fähigkeiten sind schon sehr außergewöhnlich. Vamun hatte zahlreiche Anhänger und vermutlich hat wenigstens einer von ihnen reges Interesse, dich zurückzubekommen! Hast du das Gesicht des Mannes erkennen können?“

Nurel schüttelte den Kopf. Plötzlich erschienen vor seinem geistigen Auge merkwürdige Bilder: Ein lebloses Tier lag auf seiner Brust, er spürte das Herz des Tieres schlagen, im nächsten Moment war alles voller Blut und die Schmerzen dieser Mondsteine waren gegenwärtig.

„Nurel?“ Jasur rüttelte an seinen Schultern. „Nurel? Du zitterst ja! Beruhige dich! Ich wollte dir keine Angst machen. Bleib an unserer Seite, dann brauchst du dich nicht zu sorgen!“

Nurel schluckte: „Ich fürchte mich nicht! Ich - ich musste nur an diese Mondsteine zurückdenken!“

„Rote Mondsteine?“

„Ob sie rot waren, weiß ich nicht.“ Nurel hatte Mühe, diese Empfindung wieder loszuwerden.

„Fühltest du eine schmerzvolle, dunkle Kälte?“, vermutete Jasur.

Nurel nickte erneut.

 

„Unasuh hat wohl Gespenster gesehen?“, griente Kasur ihnen entgegen, als sie das Lagerfeuer erreichten.

„Schweig!“, fuhr Jasur ihn barsch an.

Rasend erhob sich Kasur: „Von dir lasse ich mir den Mund nicht verbieten! Dieser Zwerg tischt euch Märchen auf und ihr bemerkt es nicht einmal!“

„Du weißt gar nichts! Wenn du deine Augen aufmachen würdest ...“ Jasur kam nicht zum Ende.

Kasur ging ganz nah an das Gesicht seines Bruders heran: „Du hast mich schon verachtet, bevor ich zur Welt kam. Du konntest es nicht ertragen, dass ich unserer Mutter mehr bedeutet habe, dass sie das Geheimnis deines Vaters mit in ihr Grab genommen hat!“

„Schweig endlich!“, Jasur war rot vor Zorn.

„Hinter deinem Rücken nannte sie dich Bastard!“, triumphierte Kasur.

Mit der Kraft seiner Wut schlug Jasur seinen Bruder an die Schläfen. Benommen fiel dieser zu Boden. Unter seiner linken Augenbraue lief das Blut herunter. Langsam rappelte sich Kasur wieder auf und zog mit zornigem Blick sein Schwert.

Unasuh, der wesentlich kräftiger und einen halben Kopf größer war, stellte sich ihm in den Weg: „Es wurde genug Blut vergossen!“ Fest sah er Kasur ins Gesicht.

„Verschwinde, du Kraftprotz! Das geht nur uns beide etwas an.“

Unasuh packte Kasur mit scheinbarer Leichtigkeit am Kragen, hob ihn ein Stück in die Höhe: „Du verwöhntes Muttersöhnchen solltest verdammt noch mal erwachsen werden!“ Energisch warf er ihn auf den Boden.

„Danke!“ Jasur schaute sich um. „Wo ist Nurel?“ Suchend blickten sich beide um.

„Nurel?“, schrie Unasuh.

„Nurel?“, wiederholte Jasur.

„Jasur, seine Fußspuren!“ Unasuh wies zum Boden auf die Abdrücke der nackten Fußsohlen. Mit einem brennenden Ast als Fackel folgten sie den Spuren.

„Nurel, komm zurück!“, rief Jasur in den Wald, dann sah er Unasuh sorgenvoll ins Gesicht. „Ich mag mir nicht vorstellen, was Vamuns Getreue mit ihm anstellen werden.“

„Sie hören auf!“, stellte Unasuh fest. Unbewusst hielt er das flackernde Licht hoch, sah nach oben zum Baum, wo Nurel auf einem dicken Ast saß. „Hier bist du!“ Seine blasse Haut schien durch den Schein zu leuchten. „Komm herunter!“

„Möge der weiße Mond euch für meine Rettung belohnen. Von nun an sollte ich allein weiterziehen!“

„Das wirst du nicht!“ Jasur wurde mit seinen Worten bewusst, wie schnell er den Jungen in sein Herz geschlossen hatte. „Vielleicht hast du keine Mutmaßung, was die Anhänger des roten Meisters mit dir anstellen werden, aber glaube mir, diese Erfahrungen werden sehr schmerzvoll für dich sein.“

„Schmerzvoll?“ Nurel wirkte alarmiert. „Wie diese Mondsteine?“

„Eigenwillige Geschöpfe wie Kasur werden uns immer über den Weg laufen. Bereite uns die Freude und begleite uns nach Selarun!“ Unasuh machte eine einladende Handbewegung.

„Habt Dank, ich werde besonders wachsam sein.“ Nurel kletterte auffallend geschickt weiter nach oben. Jasur missfiel der Gedanke, wie Vamuns Getreue dieses begabte Kind wegen seiner Fähigkeiten quälen würden. Gerade als er etwas sagen wollte, schob ihn Unasuh ein Stück zur Seite. Er legte den Finger über die Lippen, wandte sich von Jasur zu Nurel um. „Sollte dich ein eigenes Schwert oder gar ein Bogen interessieren, würde ich mir an deiner Stelle deine Entscheidung noch mal gut überlegen.“

Plötzlich zuckten die beiden zusammen, als Nurel vor ihnen auf den Boden sprang. „Ein eigenes Schwert? Wirklich?“

Jasur musterte den Jungen. „Beim roten Mond, du hättest dir alle Knochen brechen können!“

Unerwartet wich Nurel einen Schritt zurück, als müsse er die beiden fürchten. „Warum liegt euch so viel daran, dass ich euch begleite?“ Abwechselnd sah er Unasuh und Jasur an. „Ich bin anders als ihr - deshalb soll ich mit euch gehen! Werdet ihr mich eines Tages mit diesen Mondsteinen foltern und …“

Unasuh packte Nurel am Arm: „Solltest du diese törichten Worte ernst meinen, junger Freund, dann überleg dir jetzt sehr gut, ob du mit Geschöpfen weiterziehst, die dir das Leben gerettet haben! Oder ob du lieber deine Erfahrungen mit Vamuns Getreue vertiefen musst.“ Kopfschüttelnd kehrte er mit Jasur zum Lager zurück.

 

Nurel sah den beiden nach, kletterte nachdenklich auf seinen Baum zurück. Offenbar hatte er Unasuh gekränkt, was nicht seine Absicht war. Er stellte fest, dass er Jasur und Unasuh mochte, sich an sie gewöhnt hatte und langsam, spätestens nach diesem Wortwechsel, anfing, ihnen zu vertrauen. Ohne sie hätte er nicht überlebt, sie hatten sich um ihn gekümmert, obwohl sie auch hätten weiterreiten können. Er versuchte abzuwägen, ob er allein oder in Gesellschaft bleiben wollte. Tagsüber glich seine Sehfähigkeit einer Blindschleiche, nachts hingegen konnte er viel besser sehen als diese Männer. Er legte sich bequem auf den dicken Ast, schloss die Augen und traf eine Entscheidung, mit der er dann schließlich einschlief.

 

Nurel fühlte sich zunächst herrlich ausgeruht, als er erwachte. Die grellen Sonnenstrahlen machten ihm augenblicklich bewusst, wie gut sein gestriger Entschluss, die Männer nach Selarun zu begleiten, war. Der Waldboden sah für ihn nach einer merkwürdig dunkelblauen Masse aus, die er nur erahnen konnte. Verunsichert sprang er einfach hinunter, landete wackelig auf seinen Füßen, rollte sich deshalb zur Seite ab. Ihm war seltsam zu Mute, mächtiger Schwindel setzte ein. In welcher Richtung war das Lager? Waren die drei schon weitergeritten? Barfuß würde er die Pferde niemals einholen. Nurel stand auf, drehte sich ein paar Mal um sich selbst, in der Hoffnung er würde zwischen diesen blauen und grünen Farbschattierungen etwas erkennen. Plötzlich vernahm er eine dunkle Stimme: „Du bist für ein grandioses Experiment auserwählt, mein lieber Nurel!“ Diese Worte halten wie ein lautes Echo mehrfach in seinem Kopf wider, verstärkte sein Schwindelgefühl. Heftige Kopfschmerzen machten ihm zu schaffen. Die dunklen Schatten der Bäume um ihn herum begannen an ihm vorbeizurasen, als würde alles an ihm vorbeifliegen. Nurel sank wie von selbst auf die Knie, fasste sich an die Schläfen, gegen die es hämmerte.

 

„Komm zu dir, Nurel!“ Unsanft haute jemand auf seine Wange. „Nurel!“ Als er Wassertropfen auf seinen Lippen spürte, wurde ihm sein mächtiger Durst bewusst. Fast gierig trank er das Wasser aus.

„Gut so! Trink ordentlich!“ Unasuhs tiefe Stimme schien ihm in diesem Moment wie ein wohltuender Gesang. Zuerst musste er sich für sein Verhalten von gestern entschuldigen. „Ich wollte Euch - nicht kränken, - verzeiht!“

„Schon vergessen“, sagte Unasuh. „Was ist mit dir passiert?“

Nurel setzte sich auf, erkannte lediglich einen großen blauen Fleck ohne Gesicht. „Ich - ich habe die Orientierung verloren.“

Unasuh lachte herzhaft: „Die Orientierung? Eine neugeborene Maus sieht mehr als du! Hier ist meine Hand, komm!“

Nurel packte zu, um aufzustehen. Für einen Augenblick spürte er die kräftigen Hände von Unasuh auf seinen Schultern.

„Habt Dank!“ Nurel konnte nichts sehen, dennoch meinte er, zu spüren, wie sein Begleiter ihn anstarrte. „Was habt Ihr? Stimmt etwas nicht?“

„Alles in bester Ordnung“, klang er abwesend, hob Nurel nach oben in den Sattel. „Wenn du weiter so gut isst, wirst du mir zu schwer!“

Nurel hörte kein anderes Pferd und Jasur schien auch nicht dabei zu sein. Das konnte nur eines bedeuten: „Ihr habt euch schon auf den Weg gemacht?“

„Wir gingen davon aus, dass du deinen eigenen Weg gehen wolltest.“ Unasuh stieg zu Nurel aufs Pferd, das Leder des Sattels knarrte.

„Warum seid Ihr dann zurückgekommen?“ Konnte er Unasuh wirklich vertrauen? Das Gespräch gestern kam Nurel in den Sinn. Natürlich konnte er seinen Begleitern trauen. Woher kam nur immer wieder dieses Misstrauen in ihm?

„Ehrlich gesagt weiß ich es nicht.“ Unasuh klang nachdenklich. Für eine Weile ritten sie schweigend voran, bis Unasuh fragte: „Was hast du vorhin von einem Experiment gefaselt?“

Nurel überlegte: „Habe ich das?“

„Ja, das hast du.“ Unasuh brachte sein Pferd zum Stehen. „Du kamst mir wie betäubt vor, als ich dich fand. Ständig wiederholtest du das Wort.“

„Ich weiß nichts darüber!“ Außer diesem Satz, der fortwährend wie ein Echo in seinen Gedanken widerhallte, hatte er nicht mal eine Vermutung, was das zu bedeuten hatte.

Unasuh seufzte: „Das dachte ich mir schon!“

„Beim Aufstehen habt Ihr mir in die Augen gestarrt! Warum?“

„Habe ich nicht!“ Unasuh ließ das Pferd weitertraben.

Nurel war sich ganz sicher, dass er sich dieses Gefühl, angestarrt zu werden, nicht eingebildet hatte. „Doch, das habt Ihr! Ich konnte Euren Blick fühlen!“

Unasuh lachte: „Unsinn! Dann hättest du unseren Aufbruch ebenfalls spüren müssen!“

Inzwischen waren einige Tage vergangen, an seiner Sehfähigkeit hatte sich jedoch nichts geändert. „Meine Augen werden sich nicht mehr an das Tageslicht gewöhnen, nicht wahr?“

Unasuh klopfte ihm wie tröstend auf den Oberarm: „Solange wir nicht wissen, was man mit dir veranstaltet hat, wird keiner diese Frage beantworten können.“

Erneut ging ihm dieser Satz von einem grandiosen Experiment durch den Kopf, nur diesmal waren es seine Erinnerungen und nicht eine deutliche Stimme. Was hatte das nur zu bedeuten?

„Jetzt solltest du Jasurs Gesicht sehen. Ha!“ Unasuhs Pferd wurde langsamer, bis es stehen blieb.

„Du wirst deine Entscheidung nicht bereuen, Nurel!“ Jasur wandte sich hörbar an Unasuh: „Dein Gespür hat dich offensichtlich nicht umsonst den Weg zurückreiten lassen. Verzeih, dass ich dein Gefühl infrage gestellt habe.“

Eine bedrückende Stille folgte, mit der Nurel nichts anzufangen wusste. Abermals meinte er, man würde ihn anstarren. „Darf ich an eurem Geheimnis teilhaben?“, vergeblich versuchte er, in den dunklen Schatten Gesichter auszumachen. Unruhig trampelte ein Pferd neben ihnen auf der Stelle.

„Seine Augen sehen widerlich aus!“, gab Kasur herablassend von sich.

Nurel schluckte diese Aussage wie bittere Medizin herunter. „Ihr habt mich vorhin doch angestarrt!“ Er drehte sich zu Unasuh um. „Warum? Was sieht daran widerlich aus?“

Jasur atmete tief, als müsse er für die Antwort Mut sammeln: „Heute ist der erste Tag, an dem du deine Augen richtig geöffnet hast und sie nicht zukneifst.“

„Es sind Schlangenaugen!“, behauptete Kasur.

„Halt endlich deinen Mund!“, warf Jasur ein. „Los, vorwärts!“

 

Nurel kämpfte gegen die wachsende Hitze in seinem Inneren. Es kam ihm vor, als sei seit heute Morgen etwas in ihm erwacht, als habe dieser Satz in seinem Gedächtnis ein vergangenes Erlebnis ins Rollen gebracht. Er fragte sich, warum seine Sehfähigkeit zwar in der Nacht außerordentlich gut, aber am Tage vollkommen nutzlos war. Wozu sollte das nützlich sein?

„Habt Ihr noch Wasser?“, wandte sich Nurel leise an Unasuh. „Bitte!“

„Natürlich, hier!“ Unasuh legte ihm den Wasserschlauch in die Hand, den Nurel in kürzester Zeit leerte. Er spürte, wie ihm der Schweiß die Schläfen herunterrannen. Das war merkwürdig, denn gestern war es nicht annähernd so heiß wie heute. Am Liebsten hätte er sich irgendwo ins Unterholz zwischen Farn und Moos hingelegt, doch wollte er seine Begleiter nicht schon wieder aufhalten. Die wachsende Müdigkeit, Kopfschmerzen und Schwindel machten ihm zusätzlich zu schaffen. Sein Mund war auch nach dem vielen Wasser weiterhin wie ausgetrocknet. Er bemerkte, wie er mehr und mehr in sich zusammensackte, als fehle ihm die Kraft, aufrecht sitzen zu bleiben. Von Benommenheit, traumartigen Bilder hin- und hergerissen, bemühte Nurel sich aufzurichten, aber sein Körper gehorchte ihm nicht. Sein Bewusstsein schien ihn in eine entfernte Welt entführen zu wollen. All seine Bemühungen, dagegen anzukämpfen, waren vergebens.

 

Anfangs dachte Unasuh, Nurel sei nur eingeschlafen.

„Grandioses Experiment!“, nuschelte Nurel.

„Was sagst du da?“, fragte er, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Nurels schlanker Körper strahlte eine ungewöhnliche Wärme ab. Als Unasuh prüfend seine Hand auf Nurels nasse Stirn legte, wurde seine Befürchtung zur Gewissheit. „Beim roten Mond, er hat schon wieder Fieber!“

Jasur drehte sich zu ihm um: „Was ist los?“ Lenkte dann sein Pferd zurück, um neben Unasuh weiterzutraben.

„Als ich heute Morgen zurückritt, fand ich ihn wie verwirrt auf dem Boden liegend, er faselte etwas von einem Experiment“, berichtete Unasuh.

„Experiment! Schlangenauge!“, murmelte Nurel in seiner Hitze.

„Wir können uns keine weitere Verzögerung leisten.“ Jasur sah Unasuh nachdenklich ins Gesicht.

„Das ist wahr!“ Unasuh drückte den fiebrigen, schlaffen Körper an sich. „Ich kann mir seinen Zustand auch gar nicht erklären. Seine Wunden sind so gut wie verheilt.“

Kasur drehte sich flüchtig um: „Schlangenauge hält uns nur auf!“

„Grandioses Experiment!“, nuschelte Nurel. Er wirkte auffallend unruhig.

Zeitgleich schauten sich die drei Männer um, als ihnen hörbar ein Reiter im schnellen Galopp folgte. „Wartet!“, rief er, worauf Unasuh und die beiden anderen anhielten. „Mögen es euch die Monde danken!“, pustete er außer Atem. Er rutschte aus seinem Sattel und verbeugte sich. „Verzeiht“, schnappte er nach Luft, „dass ich euch aufhalte! Ich bin der Medikus, der für den großen Tajador seit Monaten unterwegs ist, um seinen Sohn Nurel aus den Fängen des roten Meisters zu befreien.“ Er musterte Nurel einen Moment lang. „Nurel! Den Monden sei Dank, du lebst!“ Er legte kurz seine Hand auf Nurels Schenkel, wandte dann seinen Blick auf Unasuh. „Bitte, begleitet mich zu meinem Herrn, er wird Euch für Nurels Rettung reich belohnen.“

Unasuh streckte seine Schultern nach hinten: „Wer sagt, dass wir ihn gerettet haben und woher wollt Ihr wissen, dass dieser Junge Nurel ist?“

Der Medikus lächelte: „Nun, dass Ihr ihn auf Eurem Pferd mitreisen lasst, ihm eine schützende Decke um seinen bloßen Körper deckt, spricht für Euch, mein Herr.“ Er verneigte sich erneut.

Unasuh lachte: „Ich bin gewiss nicht Euer Herr.“

„Ich kenne Nurel, seit er fünf Jahre alt ist und zum weißen Mond ich schwöre, das ist der Sohn meines Herrn, der große Tajador. Nurel hat eine außergewöhnlich schnelle Reaktion, kann Fische mit der Hand fangen. Allerdings“, er kramte in seiner Jackentasche und holte ein kleines Tonfläschchen hervor, „leidet Nurel oft an heftigen Fieberschüben. Er braucht seine Medizin.“ Er drehte sich um, wies auf den Weg zurück: „Begleitet mich und überzeugt Euch von meinen Worten!“

„Lasst Schlangenauge doch gehen“, schlug Kasur vor. „Wir müssen weiter, haben wegen ihm schon genug Zeit verloren und so wäre er wenigstens da, wo er hingehört.“

Der Medikus schüttelte den Kopf: „Aber die Belohnung ist euch sicher.“

„Wir sind an keiner Belohnung interessiert“, entgegnete Jasur.

Unasuh hätte den Medikus am Liebsten zum roten Mond gewünscht. Er wollte Nurel nicht mehr hergeben, jedoch sah er in diesem Moment keine andere Möglichkeit. Um dem Jungen zu helfen, war dieser Medikus genau zum richtigen Zeitpunkt hier aufgetaucht.

„Gestern traf ich einen Kutscher, der mir von drei Reitern und einem Jungen berichtete. Wozu sollte ich mir die Mühe machen, euch zu folgen, wäre es nicht wahr? Bitte, Nurel benötigt seine Medizin.“ Er hob das Tonfläschchen hoch.

Unasuh zögerte, seine sehnigen Arme umschlangen den fiebrigen Körper. Es war ihm, als würde es ihm das Herz brechen, sich von Nurel zu trennen.

Jasur nickte ihm zu: „Ich denke, du solltest ihn dem Medikus übergeben. Er wird wissen, was gegen das Fieber zu tun ist.“

Unasuh lenkte sein Pferd neben das des Medikus. „Ihr müsst ihn gut festhalten, er ist ganz benommen von dem Fieber.“

„Ich weiß! Das ist jedes Mal so.“ Der Medikus stieg auf sein Pferd.

Zum Abschied drückte Unasuh Nurels schlanke Gestalt an sich, dabei spürte er den rasenden Herzschlag des Jungen. ‚Leb wohl, mein kleiner Freund!‘ Mit diesem Gedanken hob er Nurel von seinem Sattel auf das Pferd des Medikus.

„Keine Experimente! Nein!“, hauchte Nurel.

„Mögen die Monde euch für eure Tat belohnen!“ Der Medikus drehte sein Pferd zurück und galoppierte mit Nurel davon, den Weg, den er gekommen war.

 

Zweifel

„Reiten wir endlich nach Selarun!“ Kasur trieb sein Pferd an.

Unasuh sah zu Jasur. Er wusste ihn diesem Moment nicht, ob ihre Entscheidung wirklich richtig war. Unasuh missfiel die Vorstellung, dass Nurel vielleicht morgen irgendwo aufwachen würde, nicht wissend, wie er dort hingekommen war und warum sie ihn, ohne zu fragen, dem Medikus überlassen hatten. „Keine Experimente! Nein!“, hatte er Nurel noch flüstern gehört. War das womöglich sein verzweifelter Versuch, ihm zu sagen, dass der Medikus keine angenehme Gesellschaft war? Nurel hatte Fieber! Er phantasierte vermutlich nur.

„Komm schon, Unasuh!“, rief ihm Jasur, der mit seinem Bruder weitergeritten war, zu.

Schwermütig ließ Unasuh sein Pferd lostraben. Es war lange her, dass er solche Empfindungen, wie für Nurel, für jemanden verspürt hatte. „Ich hätte mich gern richtig von ihm verabschiedet“, sagte er, an Jasurs Seite angekommen.

„Nicht nur du“, gab Jasur zu.

„Irgendetwas hat mich an dem Medikus gestört!“ Unasuh sah von Kasur, der vor ihnen ritt, zu Jasur: „Vielleicht fällt mir ja noch ein, was es war.“

Kasur drehte sich kurz zu ihnen um: „Mir ging das Geschwafel von 'mein Herr, der große Tajador' auf die Nerven!“

Diese Worte waren wie eine Brücke! „Genau!“ Unasuh schlug sich auf die Stirn. „Das ist es! Erinnere dich an Sanar, den treuen Begleiter ...“

Jasur lachte: „Unasuh! Als wüsste ich nicht, wer Sanar ist!“

„Denk mal darüber nach, wie er Seleni, das heilige Kind und selbst die kleine Schwester angeredet hat!“

Jasur schüttelte den Kopf. „So wie es sich gehört mit Ihr und Euch!“

„Eben! Der Medikus hat gelogen! Er sagte zu Nurel, den Monden sei Dank, du lebst.“

Jasur machte eine wegwerfende Handbewegung: „In der Aufregung wird er es vergessen haben. Nurel ist fast noch ein Kind.“

„Jasur“, seufzte Unasuh, „halt von mir, was du willst. Ich finde keine Ruhe. Ich muss mich davon überzeugen, dass wir das Richtige getan haben.“

„Aber Unasuh! Du kannst nicht ...“

„Doch!“ Unasuh ritt langsamer, zog die Zügel zur Seite, sodass das Pferd umdrehte. „Ich werde euch einholen!“, rief er Jasur zu, während er den Weg zurückgaloppierte.

 

Wie eine Mahnung dachte Unasuh ständig an Nurels letzte Worte. „Keine Experimente! Nein!“ Sollte er sich mit dem Medikus wirklich geirrt haben, würde er zumindest die Gelegenheit ergreifen und sich von Nurel verabschieden, sofern sein Fieber gesunken und er ansprechbar war.

Ab der Stelle, an der Unasuh Nurel an den Medikus übergeben hatte, folgte er den Hufspuren, die er für das Pferd des Medikus hielt. Bis zum Einsetzen der Dämmerung führten ihn die Spuren den Weg entlang, verschwanden aber plötzlich nach links ins Unterholz. Ab da stieg Unasuh ab, ging zu Fuß weiter und zog sein Pferd an den Zügeln hinter sich her. Nach einer Weile, es war inzwischen ganz dunkel geworden, erkannte er in der Ferne zwischen den Bäumen ein Lagerfeuer. Unasuh band die Zügel an einem Stamm fest, um möglichst lautlos weiterzuschleichen. Unbemerkt erreichte er das Feuer. Im Schein der Flammen sah er Nurel auf dem Boden liegen. Er war auffallend unruhig, kleine Perlen glänzten in seinem Gesicht. Obwohl Nurels Worte sehr leise waren, konnte Unasuh sie dennoch verstehen: „Bitte, keine Experimente mehr! Bitte!“

Der Medikus legte drei Holzscheite ins Feuer, wandte sich dann seinem Patienten zu: „Scht! Gleich wird es dir besser gehen.“ Er zog das Tonfläschchen hervor, tropfte die Medizin auf ein Blatt, öffnete mit den Fingern Nurels Lippen und ließ die Flüssigkeit in den Mund laufen. Unasuh fühlte einerseits große Erleichterung, denn das, was er sah, beruhigte ihn, gleichzeitig war er aber auch enttäuscht. Jetzt musste er Nurel wirklich loslassen. Für einen Moment blieb er noch hocken, überlegte, zu warten, bis Nurel ansprechbar war. Oder sollte er lieber sofort los, um den Abstand zu seinen Begleitern aufzuholen?

„Bitte, keine Experimente! Bitte!“, raunte Nurel.

Der Medikus kramte in seiner Satteltasche und holte einen Lederschlauch heraus. „Wenn du das getrunken hast, bist du ganz schnell wieder auf den Beinen. Doch das kennst du ja zur Genüge!“ Schweren Herzens erhob sich Unasuh und ging ein paar Schritte. Nurel war in guten Händen. Für einen Moment blieb Unasuh stehen, warf einen letzten Blick zurück, beobachtete, wie der Medikus Nurel zu trinken gab. Der Junge schien seinen Kopf zur Seite drehen zu wollen, worauf der Medikus seinen Haarschopf packte und ihn zum Trinken zwang. Grund genug für Unasuh, die Szene weiter im Auge zu behalten, deshalb schlich er erneut an das Lagerfeuer heran, diesmal etwas dichter.

„Und jetzt artig runter damit!“, sagte der Medikus entschlossen. Nurel würgte hörbar, hustete und rang nach Atem. Unasuh fühlte sich wie erstarrt. Aus Nurels Mundwinkeln, aus der Nase lief Blut, zumindest sah es danach aus.

„Du hast es so gewollt!“ Der Medikus band zuerst Nurels Füße, anschließend seine Handgelenke mit einem Seil zusammen. Dann hockte er sich abermals zu seinem Patienten, um ihm das nach Blut aussehende Getränk einzuflößen. Unasuh zweifelte, was er tun sollte. Solange der Quacksalber Nurel von seinem Fieber befreite, wollte er ihn dabei nicht stören. Doch die Behandlung schien ihm mehr als zweifelhaft. Zunehmend wirkte Nurel munterer, versuchte, sich mit geringem Erfolg unter seinen Fesseln zu wehren, denn der Medikus drückte ihm den Kiefer auseinander, um ihn weiter zum Trinken zu zwingen. Nurel verschluckte sich, hustete und Unasuh kam es so vor, als würde sein junger Freund an dem Zeug ersticken. „Haltet ein!“ Unasuh sprang mit erhobenem Schwert aus dem Gebüsch hervor. „Lass ihn sofort los, du Quacksalber!“ Erschrocken schaute der Medikus auf, sah zu seinem Pferd, ließ gleichzeitig den Lederschlauch fallen, flüchtete dann aber zu Fuß und verschwand in der Dunkelheit. „Bist du in Ordnung?“ Sogleich hockte sich Unasuh zu Nurel, zerschnitt seine Fesseln.

„Ich denke schon“, flüsterte Nurel. Er sah furchtbar blass aus, das Blut um Mund und Nase tat sein Übriges.

Um den Inhalt zu überprüfen, nahm Unasuh das Lederbehältnis in die Hand und roch daran. „Igitt! Das ist Blut! Warum zum roten Mond gibt man dir Blut zu trinken?“

Bedächtig setzte sich Nurel auf, wischte sich mit dem Unterarm über die Lippen: „Warum seid Ihr immer zur Stelle, wenn ich Euch brauche?“

Unasuh fühlte sich viel besser, denn Nurel war wieder bei ihm. „Ich sehe dich das erste Mal lächeln.“ Prüfend sah er seinem jungen Freund in die Augen. „Sie verändern sich!“

„Was?“ Nurel mimte ein fragendes Gesicht.

„Deine Augen. Jetzt sehen sie vollkommen normal aus.“ Unasuh reichte ihm die Hand: „Komm! Wir müssen uns beeilen, um die anderen einzuholen.“

„Bitte“, wandte Nurel ein, „ich möchte dieses widerliche Blut loswerden!“ Er sah noch sehr wackelig auf den Beinen aus. Kein Wunder, den ganzen Tag über hatte er hohes Fieber gehabt.

„Wenn wir einen kurzen Umweg reiten, kommen wir an einem kleinen Pfuhl vorbei. Da kannst du dich waschen.“ Unasuh lief zu seinem Pferd zurück.

„Habt Dank, Unasuh! Ohne Euch ...“, Nurel kam nicht zum Ende, da sich Unasuh hastig zu ihm umdrehte und den Jungen bei den Schultern packte. „Die Geschichte, die uns der Medikus aufgetischt hat, war wirklich überzeugend. Dein hohes Fieber ließ uns keine Wahl. Es lag uns fern, dich in eine solche Situation zu bringen und doch haben wir es zugelassen. Es tut mir Leid, Nurel!“

„Ich kenne diesen Mann nicht. Er strahlte - Grauenhaftes aus.“ Nurel schluckte hart.

„Hast du den Namen Tajador schon mal gehört?“ Unasuh löste den Griff und ging weiter.

Nach einem stillen Moment, den er vermutlich zum Nachdenken nutzte, antwortete Nurel: „Nein! Sollte ich das?“

Unasuh band die Zügel los. „Das ist nicht wichtig! In der kommenden Zeit sollte ich auf meine Instinkte hören, nicht auf meinen Verstand! Allerdings hat dieser Vorfall auch etwas Gutes“, er stieg auf sein Pferd, „du bist wieder gesund.“

 

„Das ist wahr!“ Nurel blickte seinem kräftigen Freund in sein rundes Gesicht. Unasuh hatte große hellbraune Augen, schwarze buschige Augenbrauen, eine kleine gerade Nase sowie breite Lippen. Seine langen schwarzen Haare trug er zu einem Zopf gebunden und passten sehr gut zu ihm. Unasuh zog ihn zu sich auf den Sattel. „Das ist heute das zweite Mal, dass du lächelst!“ Dann ritt er los. Nurel wurde bewusst, Unasuh war ein weiteres Mal nur für ihn zurückgekommen, entgegen seiner beiden Begleitern, die bestimmt dagegen geredet hatten. Er schämte sich ein wenig, dass er an jenem Abend Jasur und Unasuh misstraut, sie sogar gekränkt hatte. Er war ein Narr. Unasuh trug sein Herz am rechten Fleck, seine Zuneigung war ehrlich. Nurel lehnte seinen Kopf an die Brust seines großen Freundes. Was Nurel auch in der Vergangenheit widerfahren war, Unasuh konnte er vertrauen, er war für ihn da.

Nach einer Weile ließ Unasuh sein Pferd traben, denn vor ihnen lag im Mondlicht ein kleiner Waldsee. Unasuh stieg ab, hob dann Nurel herunter. „Ich werde meinen Wasservorrat füllen und du kannst dich waschen.“ Er führte das Tier an den See, damit es trinken konnte.

Nurel kniete sich an das Ufer und schaufelte mit den Händen mehrmals Wasser in sein Gesicht. Schließlich steckte er für einen Moment den ganzen Kopf unter Wasser. Wie ein nasser Hund schüttelte er sich anschließend trocken, wobei seine langen Locken viele Wassertropfen durch die Luft wirbelten, die im sanften Mondschein wie Perlen funkelten. Mitten in den Wasserbewegungen erkannte Nurel eine verzerrte Fratze, die mit jedem Moment sichtbarer wurde, bis er sein Spiegelbild darin vermutete. Gespannt wartete er, bis sich die Wellen beruhigt hatten. So sah er aus? Das sollte er sein? Dieses Bild war ihm fremd, als habe er sich noch nie gesehen. Nurel spürte, wie sein Körper zitterte, aber nicht vor Kälte. Es war ein entsetzliches Gefühl, welches aus seinem Inneren kam.

„Was hast du?“, fragte sein großer Freund wie aus der Ferne, obwohl er Unasuhs Hand auf seinem Rücken bemerkte.

„Ich - ich kenne das Gesicht nicht!“ Er konnte nur flüstern, eine störende Enge in seinem Hals machte ihm zu schaffen.

„Wir müssen wirklich weiter, Nurel!“ Unasuh klopfte ihm freundschaftlich auf das Schulterblatt.

Das wusste Nurel, jedoch war dieser Junge mit den grünen Augen vor ihm einfach viel wichtiger.

Seine Augen würden widerlich aussehen, hatte Kasur behauptet. Im Augenblick fand er daran nichts Ungewöhnliches. „Wie sehen Schlangenaugen aus?“, wollte er deshalb wissen.

Unasuh setzte sich auf seinen Sattel: „Ich weiß es nicht. Komm jetzt!“

Nurel erhob sich: „Doch! Heute Morgen, als ihr mir in die Augen gestarrt habt!“

„Nurel!“, winkte Unasuh ihn zu sich. Als er allerdings nicht folgte, seufzte Unasuh: „Na schön! Das Schwarze in der Mitte des Auges ist immer rund. Am Tage ist es bei dir sehr schmal und länglich.“ Nurel versuchte, sich das vorzustellen, er nickte, dann kletterte er endlich auf das Pferd.

 

Jasur erwachte von den ersten Sonnenstrahlen, die ihn vermutlich wach gekitzelt hatten. Er streckte sich, dabei fiel sein blinzelnder Blick zuerst auf Kasur, einen Moment später auf die drei Pferde, die dicht beieinanderstanden. Unasuh war also zurück. Er richtete sich auf, sah seinen großen Begleiter schlafend hinter dem restlichen Lagerfeuer liegen. Da Unasuh so gut wie nie von seiner Vergangenheit sprach, konnte Jasur nur ahnen, dass Nurel ihn an seinen kleinen verstorbenen Sohn erinnerte. Hoffentlich hatte er sich nun damit abgefunden, Nurel seinen eigenen Weg gehen zu lassen. Als Jasur seine Decke zusammenrollte und Unasuh wecken wollte, entdeckte er Nurel. Er lag dicht bei Unasuh auf der Seite, hatte seine Beine angezogen, die Arme vom Körper gestreckt und den Kopf an die Oberarme gekuschelt. Es sah merkwürdig aus. Jasur legte seine Hand auf Unasuhs Schulter: „Du warst wohl die ganze Nacht unterwegs?“

Verschlafen richtete sich Unasuh auf und nickte. Er lächelte, als er Nurel neben sich erblickte. „Dieser Medikus“, begann er zu erzählen, „hat uns nur etwas vorgespielt! Dieser Quacksalber!“

„Und da bist du dir sicher?“, flüsterte Jasur.

Unasuh lachte leise in sich hinein, schob Jasur dann ein Stück zur Seite, um Nurel nicht zu stören. Er berichtete, was sich zugetragen hatte. „Er hat viele animalische Eigenschaften und ich frage mich, was der Junge wirklich erlebt haben muss, ob er schon früher Blut trinken musste. Wozu sollte das nur nützlich sein?“

Jasur überlegte, während er zu Nurel sah: „Es ist ungewöhnlich, so wie er daliegt. Was, glaubst du, hat man mit ihm vorgehabt?“ Jasur dachte nach, an was ihn diese Körperhaltung erinnerte.

„Dazu habe ich ehrlich gesagt keine Vermutung. Ich weiß nur eines gewiss, dass seine Augen in der Nacht normal aussehen und am Tage - na das weißt du ja selbst.“

Jasur bemerkte, wie die Sonne hinter dunklen Regenwolken verschwand. „Ich wecke Kasur, wir sollten uns bald aufmachen.“

 

Wassertropfen fielen auf Nurels Gesicht. Er öffnete seine Augen. Klare Umrisse von Bäumen und Sträuchern konnte er erkennen. Er würde sich also doch noch an die Helligkeit gewöhnen. Zwar erschien ihm seine Umwelt nur in blauen und grünen Tönen, aber er konnte deutlich Gegenstände erfassen.

„Dir einen gesegneten guten Morgen, Nurel!“, begrüßte ihn Jasur von seinem Pferd aus.

„Euch ebenfalls einen gesegneten Morgen!“, erwiderte Nurel. „Ich kann heute viel besser sehen. Gestern hatte ich geglaubt, ich würde mich nie an das grelle Licht gewöhnen.“

„Welch Ehre, dass du wach bist!“, warf ihm Kasur entgegen. „Dann können wir wohl endlich aufbrechen!“

„Na komm!“ Unasuh ritt auf ihn zu, zog ihn zu sich hinauf.

Nurel streckte sein Gesicht nach oben, schloss die Augen und genoss jeden Regentropfen, der ihm über die Haut krabbelte. Für ihn fühlte es sich an, als würde der Regen ihn streicheln. Das Einzige, was ihn dabei störte, war dieser blutige Geschmack in seinem Mund, der nicht vergehen wollte. Ihm fiel sein erster Tag ein, an den er sich erinnern konnte. Sein gesamter Körper war mit Blut verschmiert. Welche Bedeutung hatte das?

Hörbar pustete Kasur seinen Unmut aus: „Ich hasse dunkle Regentage!“

Mit diesen Worten wurde Nurel bewusst, warum er heute besser sehen konnte und dass seine Augen sich wahrscheinlich nie an das Tageslicht gewöhnen würden.