Drachenseele - Angela Planert - E-Book
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Drachenseele E-Book

Angela Planert

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Beschreibung

Für den im Kinderheim aufgewachsenen Marcus Sonntag bedeutet der bevorstehende Auszug aus der Wohngemeinschaft einen großen Schritt in die Freiheit. Nach einem Blackout erwacht Marcus in einem Krankenhaus, wo er sich unter den auffallend interessierten Ärzten wie ein Versuchskaninchen fühlt. Sein Verdacht erhärtet sich, als Dr. Schneider ihn mit Medikamenten ruhig stellt. Als Findelkind, ohne Angehörigen sieht sich Marcus verloren. Lesermeinungen: "Die Geschichte des jungen Mannes wird von der Autorin recht glaubhaft, teils selbst ironisch manchmal tragisch, dann wieder komisch erzählt. Hatte Lust auf mehr." "Aufgrund der Bewertungen habe ich mich schon auf eine außergewöhnliche Geschichte eingestellt. Und war dann doch überrascht. Der Drachenmythos in die moderne heutige Gesellschaft transportiert, das ist hier wirklich ungewöhnlich umgesetzt und gut gelungen. Das Buch liest sich gut und hat mir gut gefallen." "Ein ganz tolles Buch für alle die auf märchenhafte Geschichten stehen. Einmal angefangen legt man es nicht wieder weg."

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Drachenseele

 

 

 

von

 

Angela Planert

 

 

Impressum

© 2021 Angela Planert

16540 Hohen Neuendorf Fr.-Herder-Straße 3

www.Angela-Planert.de

2. Auflage

 

Korrektur: Amicus-Verlag

 

 

Tolino Media

 

Alle Rechte vorbehalten. Insbesondere sind inbegriffen: das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video (auch einzelner Text- und Bildteile) sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

Ich danke meiner großartigen Familiefür ihr anhaltendes Verständnis,

für ihre hilfreiche Unterstützung undfür ihren stärkenden Glauben an mich und meine Projekte.

Migräne

Marcus schnellte in die Höhe. Sein flacher, hektischer Atem klang wie nach seinem ersten Marathonlauf. Die letzten Bilder aus seinem Traum, dazu das schrille Klingeln seines Weckers, brachten sein Herz zum Rasen. Wie real seine Träume doch in vergangener Zeit waren. Er wischte mit der Hand über seine nasse Stirn und wankte noch leicht benommen ins Badezimmer. Mehrmals schaufelte er über das Waschbecken gebeugt kaltes Wasser ins Gesicht, dann trocknete er sich ab. Während er das Handtuch sinken ließ, fiel sein Blick in den Spiegel. Erschrocken trat er zurück. Er sah furchtbar, ja richtig fremd, aus. Unter seinen dunkelgrünen, großen Augen schimmerten dunkle Ränder, als habe er nächtelang nicht geschlafen. Kein Wunder! Nach diesen Albträumen konnte man auch nicht erholt aussehen. Er nahm einen leichten Druck hinter der Stirn wahr. Energisch bummerte jemand gegen die Badezimmertür.

„Hey Alter, gib Gas. Ich habe gleich einen Vorstellungstermin.“

Thomas! Nach seinen Aussagen hatte er jeden Tag ein Vorstellungsgespräch, nur eine Arbeit, die bekam er nicht. Erneut donnerte er an die Tür. „Hey? Bist du eingeschlafen?“

Marcus schloss die Augen, nahm einen tiefen Atemzug und blies ihn gegen den Spiegel. Der Kerl zählte zur Kategorie der Idioten. Durch ihn sollte er sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Noch lächerliche drei Tage, dann konnte er endlich in seine eigene Wohnung ziehen. Stundenlang würde er sich im Bad aufhalten können, ohne dass jemand die Tür einzutreten versuchte. Als er die Augen öffnete, sah er auf den fast völlig beschlagenen Spiegel. Eigenartig! Dabei hatte er gar kein heißes Wasser laufen lassen. Wiederholt schaufelte er sich kaltes Wasser ins Gesicht und beschloss das Feld besser zu räumen, um nicht den Zorn aller Mitbewohner auf sich zu ziehen, die durch Thomas’ Rücksichtslosigkeit selten ausschlafen durften. Beim Verlassen des Badezimmers musterte ihn Thomas. „Warum musst du immer vor mir aufs Klo? Scheiße siehst du ätzend aus. Hast wieder die ganze Nacht deine Nase in Bücher gesteckt, was?“

Marcus schaute zur Seite. Er fühlte sich nicht berufen mit Thomas Konversation zu üben. Worüber auch? Mit Büchern konnte Thomas nichts anfangen und für Computerspiele hegte Marcus kein Interesse. In solchen Momenten wie diesem, fragte er sich oft, welche Aufgabe das Leben für ihn bereithielt.

 

Dreißig Minuten später saß Marcus, wie jeden Morgen, in der Straßenbahn. Seine Kopfschmerzen verstärkten sich und das ausgerechnet Heute, wo er so viel zu erledigen hatte. Gleich nach Feierabend wollte er den Mietvertrag unterschreiben. Allein der Gedanke an seine eigenen vier Wände brachte seine Mundwinkel zum Zucken. Zur Krönung dieses Augenblicks stieg dieses hübsche Mädchen ein. Schon oft hatte Marcus sie zu dieser Zeit hier gesehen. Ihre großen hellbraunen Augen glänzten wie Morgentau, einfach magisch. Ihre Blicke trafen sich häufig. Sie schien ihm gegenüber nicht abgeneigt zu sein. Ein Grund mehr sie anzusprechen aber erst, wenn er seine Wohnung bezogen hatte. Sie verließ die Straßenbahn zwei Stationen früher als er und lächelte ihm meist zu. Heute zwinkerte sie ihm sogar beim Aussteigen zu. Marcus spürte ein warmes kribbelndes Gefühl in seinem Bauch, so, als würde ein Hornissenschwarm darin brummen.

Bis zum Mittag verstärkten sich seine Kopfschmerzen kontinuierlich. Selbst seine Zigarette schmeckte ihm nicht mehr. Mit diesem Brummschädel konnte er unmöglich weiterarbeiten. Die Schweißarbeiten oben an der Kuppel bedurften seiner vollen Konzentration. Deshalb lief er in seiner Mittagspause in die Apotheke, um sich Schmerztabletten zu besorgen. Bis zum Feierabend brauchte er vier Tabletten, obwohl er bisher noch nie Medikamente benötigt hatte. Auf dem Weg zum Büro der Wohngenossenschaft spürte Marcus ein wunderbares Gefühl der Freude, der Euphorie, in sich wachsen. Bereits bei der Wohnungsbesichtung vor zwei Wochen empfand Marcus die Leute der Genossenschaft als sehr zuvorkommend. Derweil die freundliche Dame Marcus über die Hausordnung aufklärte, bemerkte er, wie sein zufriedenes Grinsen immer breiter wurde. Seine eigenen vier Wände! Als er den Stift zum Unterschreiben ansetzte, fühlte er sich fast wie ein König bei seiner Krönung. Seinem Schritt in die Freiheit stand nun nichts mehr im Wege. In den kommenden zwei Tagen blieben seine Kopfschmerzen hartnäckig und entwickelten eine Heftigkeit, die nahezu unerträglich war. Zeitweise verspürte er massive Übelkeit, die ihm sogar das Rauchen vermieste, so dass er tatsächlich in Erwägung zog, es aufzugeben. Viel nervender jedoch waren seine Sehstörungen. Es gab Momente, in denen er nur verschwommen seine Umwelt erkennen konnte. Dieses Phänomen hielt zum Glück nur wenige Sekunden. Marcus steigerte seinen Tablettenkonsum in den kommenden zwei Tagen. Trotz der regelmäßigen Einnahme schienen seine Beschwerden schlimmer, statt besser, zu werden. Deshalb ließ er sich in einer Apotheke stärkere Medikamente geben. Ihm kam das erste Mal in seinem Leben der Gedanke, einen Arzt aufzusuchen. Die Apothekerin hatte ihm auch dringend dazu geraten. Aber erst morgen, denn heute war sein lang ersehnter Tag. Nach Feierabend sollte er seinen Wohnungsschlüssel ausgehändigt bekommen und dies wollte er für nichts in der Welt verschieben müssen. Doch seine Kopfschmerzen trübten den bedeutenden Augenblick, den Moment, als er vor seiner eigenen Wohnungstür stand. Mit Stolz erfüllt hielt er den Schlüssel parat. Plötzlich begannen seine Hände zu zittern, nicht vor Aufregung, nein, vor stechenden Schmerzen. Marcus hatte das Gefühl, als würde ein Messer sein Gehirn spalten. Es kam ihm wie ein Krampf vor, der seinen ganzen Körper erfasste. Heftige Übelkeit machte ihm zusätzlich zu schaffen. Die Tür vor ihm erschien rund, als schaue er durch einen Türspion, auch seine Knie zitterten. Jetzt war der feierliche Moment gekommen und den wollte er sich nicht kaputt machen lassen. Diesen nervigen Symptomen musste er die Stirn bieten! Mit einem tiefen Atemzug kämpfte er dagegen an. Das trockene Gefühl in seinem Mund verstärkte sich. Noch bevor er versuchte den Schlüssel ins Schloss zu stecken, suchte ihn die nächste Schmerzattacke heim. Er fasste sich an den Kopf, was seine Beschwerden verschlimmerte. Dann hörte er sich aufstöhnen und spürte nur noch, wie er auf den harten Untergrund aufschlug.

 

Ein Gefühl von Fremdheit überfiel Marcus, so, als erwache er am falschen Ort, zur falschen Zeit. Er blinzelte. Unterbrochene Sonnenstrahlen fielen durch die heruntergelassene Jalousie auf sein Gesicht. Diese gestreiften Schatten riefen eigenartige Empfindung von Beklemmungen in ihm hervor, die ihm Angst einjagte. Nur langsam kamen seine Gedanken in Gang und er brauchte einige Momente, bis er sich die Ereignisse der letzten Tage ins Gedächtnis rufen konnte. Seine Kopfschmerzen schienen fast verschwunden und er fühlte sich jetzt viel besser. Lediglich einen leichten Druck hinter seiner Stirn nahm er noch wahr. Leises Piepsen drang in sein Bewusstsein. Er schreckte hoch. Wo war er nur? Als er sich umsah, erkannte er ein Krankenzimmer. Neben seinem Bett stand ein Metallständer, an dem eine Infusionsflasche hing. Eine gelbliche Flüssigkeit tropfte durch einen glasklaren Plastikschlauch und schlängelte sich von dort aus zu einer Kanüle, die unter dem Klebeband in seinem rechten Arm verschwand. Auf seiner Brust klebten Elektroden, die seine Herztöne über Kabel an den EKG-Monitor weiterleiteten. Er beobachtete gerade die Sinuskurve, als eine Schwester die Tür öffnete.

Als sie Marcus ins Gesicht schaute, stutzte sie und ihre Augen weiteten sich unnatürlich. Sie ließ einen geräuschvollen Seufzer hören. „Du lieber Gott, Sie sind wach?“

Marcus drehte sich um und fragte sich, ob er einen Zimmergenossen übersehen hatte, außer ihm befand sich jedoch hier niemand. Die Schwester meinte offensichtlich ihn. Ihre Worte klangen fast danach, als sei sein Zustand etwas Verbotenes. Ihr entsetztes Auftreten wirkte auf Marcus reichlich überspitzt. Ohne ein weiteres Wort trat die Schwester den Rückzug an.

„Hallo?“, rief Marcus. Zumindest hätte sie die Tür hinter sich schließen können. Klappernde Geräusche drangen von einem Flur, den er vom Bett aus aber nicht einsehen konnte, herein. Marcus schüttelte den Kopf über das Verhalten der Schwester. Dann überfiel ein Lächeln sein Gesicht. Er öffnete seine Faust und schaute auf seinen Wohnungsschlüssel. Endlich! Jetzt sollte er nach Hause fahren, in seine Wohnung, die nur er allein bewohnte.

„Na, das nenne ich eine Wunderheilung.“ Ein Mann mittleren Alters im Arztkittel betrat das Zimmer. „Ihre Hand wurde von einem schlimmen Krampf heimgesucht, damit konnten wir den Gegenstand in Ihrer Hand nicht entfernen.“ Seine Augen schienen Marcus intensiv zu studieren. Nach einem Moment wanderten sie jedoch nervös hin und her. „Ich bin Dr. Kramer.“ Er rieb sich über das rasierte Kinn.

Der Gegenstand war sein Schlüssel. Ha! Für nichts in der Welt hätte er ihn losgelassen.

„Wer bitte ist Ihr behandelnder Arzt?“

In diese Verlegenheit war Marcus bisher nicht gekommen. Seine Worte klangen fast nach einem Triumph. „Ich habe keinen.“

Dr. Kramer zog seine Augenbrauen nach oben. „So?“ Er rieb sich erneut über das Kinn, als wäre er ratlos. „Das erklärt Einiges.“ Er nahm sich einen Stuhl und setzte sich ans Bett, als wollte er ein längeres Gespräch mit Marcus führen. Er räusperte sich. „Ihre Angehörigen haben Kenntnis über die Mengen von Schmerzmitteln, die Sie Ihrem Körper zuführen?“

Marcus presste die Lippen zusammen. „Meine Kopfschmerzen waren wirklich heftig in den letzten Tagen.“

„Sind Ihre Angehörigen darüber informiert?“ Die Stimme des Arztes klang ernst.

„Ich bin ein Findelkind!“ Marcus musste grinsen. Er liebte diesen Ausdruck.

„Und wer hat Sie gefunden?“ Dr. Kramer hörte sich genervt an. Er gehörte offensichtlich nicht zu der Gattung humorvoller Mediziner.

„Wollen Sie die Adresse vom Kinderheim? Ich bin neunzehn und befugt, über mein Leben selbst zu bestimmen.“

„Schön wäre es ja, Herr Sonntag!“ Er schüttelte langsam den Kopf. „Aber das erklärt, warum die Herren aus Ihrer Wohngemeinschaft sich nicht in der Lage sahen, uns Ihre Angehörigen zu nennen. Damit waren uns sozusagen die Hände gebunden.“ Dr. Kramer knetete auf dem Schlauch seines Stethoskops herum. „Sobald sich Ihr Kreislauf halbwegs stabilisiert hat, werden wir mit einer Therapie beginnen. Ich habe mit meinen Kollegen bereits alles durchgesprochen.“

„Therapie?“ Marcus blies vernehmlich seinen Atem aus. Dr. Kramer konnte gern Therapeut spielen, Hauptsache nicht bei ihm.

„Wären Sie bitte so freundlich und würden das Geschlängel hier aus meinem Arm entfernen, damit ich dann nach Hause gehen kann?“ Demonstrativ sah Marcus auf den Infusionsschlauch.

Dr. Kramer schnellte zornig in die Höhe. „Junger Mann, auch wenn Sie sich das nicht vorstellen können, haben wir uns die ganze letzte Woche bemüht, Ihren Zustand zu stabilisieren.“

Durch diese Aussage wurde Marcus bewusst, dass ihn jemand vor seiner Wohnungstür gefunden haben musste und dieser Jemand hatte ihn hergebracht oder vermutlich eher einen Krankenwagen gerufen. „Entschuldigung, ich wollte nicht unhöflich sein.“ Hatte der Typ eben was von einer ganzen Woche gesagt? Ein Ruck ging durch Marcus. „Welcher Tag ist heute?“ Hastig setzte er sich auf.

Dr. Kramer stand auf. „Ganz ruhig.“ Er drückte Marcus in sein Kissen zurück. „Das ist ein Schreck, wenn einem eine Woche fehlt, aber das ist leider nicht das Schlimmste.“ Er ließ seine Hände auf Marcus’ Schultern liegen. „Ihre Kopfschmerzen, die Übelkeit, die Sehstörungen haben eine Ursache.“ Woher wusste nur der Arzt davon? Er sah Marcus fest in die Augen. „Sie haben einen inoperablen Hirntumor.“

„Was?“ Einen Tumor? Noch nie war er krank gewesen und nun gleich eine solche Diagnose? Nein! Der Kerl musste sich irren. Das konnte sich hier nur um einen ganz üblen Scherz handeln. Natürlich! Thomas steckte dahinter. Blödsinn! Seine Kopfschmerzen hatten nichts mit Thomas zu tun und dieser Arzt hier war viel zu intolerant, als dass er sich auf einen derartigen Streich einlassen würde.

„Ihre Chancen stehen mit einer Bestrahlung durchaus gut. Meine Kollegen und ich beginnen, sobald Sie Ihre Einverständniserklärung unterschrieben haben.“ Erst jetzt nahm er seine Hände zurück. Dieser Arzt gehörte zu keinem seiner Träume. Einem Befund wie diesem lagen vermutlich Röntgenbilder sowie verschiedene Blutergebnisse zugrunde. So eine Diagnose würde niemand leichtfertig stellen. Eine Bestrahlung oder eine langwierige Therapie, bei der alle Haare ausfallen und einem ständig übel ist, konnte und wollte sich Marcus nicht vorstellen. Arztbesuche waren ihm schon fremd genug.

„Wir werden Ihnen einen Port legen.“

„Hören Sie, ich ...“ Marcus fühlte sich wie betäubt von dieser Nachricht. „Ich will keine Bestrahlung!“

„Das möchte wohl niemand. Ich kann Sie gut verstehen, aber in Ihrem Fall gibt es keine Alternative.“

Marcus schüttelte ablehnend den Kopf, „keine Bestrahlung!“

Dr. Kramer riss seine Augen auf, „der Tumor hat eine enorme Größe erreicht. Ohne Bestrahlung wird Ihr Leben ziemlich kurz verlaufen.“

Das fühlte sich nach einem heftigen Schlag ins Gesicht an. Endlich stand er auf eigenen Füßen, endlich hatte er eine Wohnung für sich ganz allein, konnte das nette Mädchen aus der Straßenbahn einladen und plötzlich sollte sein Leben zu Ende sein?

„Sie werden zunächst mit unserer Psychologin sprechen, danach sehen wir weiter.“ Dr. Kramer ging drei Schritte, drehte sich kurz um und öffnete den Mund. Er sagte jedoch nichts und verließ schließlich das Zimmer.

Marcus’ Blick fiel auf die Infusion. Er wollte leben, aber nicht um diesen Preis. Im Geiste sah er sich abgemagert, mit Glatze, bleicher Haut an verschiedenen Infusionsflaschen hängen. Nein! Dann lieber mit einem durchtrainierten Körper von dieser Erde gehen. Die verbleibende Zeit würde er genießen, so wie er jetzt war. Die Klebeelektroden auf seiner Brust begannen zu juckten. Marcus fühlte sich hier fehl am Platz und riss sich die Elektroden einfach ab. Das rhythmische Piepsen veränderte sich zu einem durchdringenden Dauerton.

Keine halbe Minute später kam der Nächste ins Zimmer. „Ich bin Dr. Stelzer.“ Eine Frau, vielleicht Ende vierzig, schaltete das nervende EKG ab und stützte sich auf den Bettrahmen am Fußende von Marcus’ Bett. Sie lächelte kurz. „Dr. Kramer sagt, Sie lehnen die Bestrahlung ab, ist das richtig?“

„Richtig!“ Marcus setzte sich auf. Er fühlte sich nicht krank, er konnte jetzt nicht mal den Druck hinter seiner Stirn wahrnehmen. „Würden Sie mir bitte das Ding hier entfernen?“ Er zerrte an dem Infusionsschlauch.

„Vorsicht! Warten Sie, ich mach das.“ Die schlanke Ärztin entfernte das Klebeband, zog die Kanüle aus dem Arm und klebte einen Tupfer auf die blutende Stelle.

„Danke!“ Marcus rutschte zur Bettkante und ließ seine Beine baumeln. „Ich würde ungern in diesem tollen Outfit nach Hause gehen, könnten Sie mir bitte meine Sachen organisieren?“ Demonstrativ schaute er an seinem Krankenhaushemdchen herunter.

„Sie können nicht nach Hause.“

„Und wie ich das kann!“ Er gab sich einen kleinen Schubs, stieß sich mit den Händen ab und rutschte vom Bett. Für einen winzigen Augenblick stand er auf seinen Beinen. Dann wurde ihm schwarz vor Augen, sogar seine Knie gaben nach. Marcus fand sich am Boden wieder.

„Die Kraftlosigkeit ist nach einer Woche Bettruhe ganz normal. Sie müssen es langsam angehen.“ Dr. Stelzer half ihm ins Bett zurück. Dabei bemerkte Marcus einen Urinbeutel am Bettgestell hängen, von dem ein durchsichtiger Plastikschlauch irgendwo unter seinem Krankenhaushemdchen verschwand. „Scheiße!“ Angewidert schaute er zur Seite. Man hatte ihm einen Katheter verpasst. Großartig!

„Ich weiß. Ein solcher Befund ist sehr niederschmetternd, genau deshalb bin ich ja hier. Überlegen Sie nur, Ihr ganzes Leben liegt noch vor Ihnen. Wenn sich der Tumor durch die Bestrahlung zurückbildet, haben Sie gute Aussichten, danach ein normales Leben zu führen.“

Marcus spürte die Wut in sich wachsen. „Hören Sie, gute Frau, Sie verschwenden hier Ihre Zeit. Ich brauche keine Gehirnwäsche und erst recht keine Therapie. Alles, was ich will, ist verdammt noch mal nach Hause gehen.“

Die Ärztin fuhr mit einem energischen Ton fort. „Verstehen Sie denn nicht die Tragweite Ihrer Entscheidung? In nur wenigen Wochen könnten Sie schon tot sein.“ Ihre Stimme klang wieder ruhiger. „Sie müssen jetzt mit Ihrer Bestrahlung beginnen. Jeden weiteren Tag, den wir ungenutzt verstreichen lassen, verringert Ihre Chance.“

„Was nichts an meinem Entschluss ändert.“ Marcus sehnte sich danach, nach Hause zu kommen, allein zu sein. Es erschien ihm falsch hier zu sein, ja er zweifelte daran, krank zu sein. War nicht schon früher im Kinderheim der Kinderarzt ganz versessen darauf Marcus Blut abzunehmen, um sein Immunsystem unter die Lupe zu nehmen?

„Ich glaube, Ihnen ist nicht ganz klar, wie endgültig Ihre Entscheidung ist.“

„So klar war mir selten etwas in meinem Leben. Ich verstehe das sehr gut, denke ich. Ebenso könnte ich mich vor die U-Bahn werfen, aber dann würden sich Hunderte von Fahrgästen zu Recht aufregen, dass sie nicht pünktlich zur Arbeit kommen.“ Marcus sah das Entsetzen im Gesicht der Ärztin. Ihm begann es Spaß zu machen, den Spieß umzudrehen. „Außerdem tun mir die Leute leid, die eine solche Schweinerei beseitigen müssen. Also wäre die Alternative, Rattengift zu nehmen.“

„Sie haben wirklich eine merkwürdige Art von Humor.“

„Der einzige Grund, warum ich das ausschmücke, sind Sie.“ Marcus betonte jedes einzelne Wort deutlich. „Ich will keine Bestrahlung, sondern einfach nur nach Hause.“

Dr. Stelzer schüttelte den Kopf, sie wirkte ratlos. „Sie müssen doch Ziele, Träume und Wünsche haben. Wollen Sie denn nichts davon erreichen oder sich erfüllen?“

Marcus spürte das Lächeln in seinem Gesicht. „Meine eigenen vier Wände sind mein Ziel.“ Er wurde ernst, „jetzt möchte ich nach Hause.“

Nach ein paar stillen Minuten nickte sie. „Ich verstehe schon.“ Mit diesen Worten stand sie auf und ging aus dem Zimmer.

Entscheidung

Marcus blies seine Erleichterung mit seinem Atem hinaus. Nur ein Gedanke beschäftigte ihn, nach Hause zu kommen. Er zog sich den Katheter heraus, was für ein ekliges Gefühl, zudem brannte seine Harnröhre wie Feuer. Er schluckte hart, dann startete er einen zweiten Versuch aufzustehen, diesmal benutze er Bett und Nachttisch als Stütze. Auf diese Weise gelangte er zum Schrank, in dem er seine Kleidung fand. Um nicht noch einmal umzufallen, setzte er sich auf den Boden und zog sich Hose, Socken und Schuhe an. Derweil bemerkte er, wie Dr. Kramer die Tür öffnete. Hinter ihm folgten zwei weitere Götter in Weiß. „Ja, so geht das aber nicht! Ich fürchte, Sie erkennen den Ernst der Lage nicht, Herr Sonntag.“

Langsam schaute Marcus auf. „Ich fürchte, Sie haben mir vorhin nicht zugehört.“

Eine der hinteren Ärztinnen drängte Dr. Kramer zurück. „Bitte jetzt mal ganz ruhig alle zusammen.“

Marcus nahm sein T-Shirt in die Hand und zog sich am leeren Bett hoch.

Die Ärztin half ihm dabei. „Ich bin Dr. Lefrat. Das ist für uns alle keine leichte Situation, Herr Sonntag.“ Sie setzte sich neben Marcus auf das Bett. „Lassen Sie uns bitte vernünftig miteinander umgehen.“

„Kein Problem. Aber es ist mein gutes Recht eine Therapie abzulehnen!“

„Ja, das ist Ihr Recht.“

Dann war doch alles geklärt und er konnte endlich nach Hause.

Dr. Lefrat wandte sich Marcus zu. „Nur fürchten wir, sind Ihnen die Konsequenzen nicht klar.“

„Die Konsequenz daraus ist, dass ich die verbleibenden Monate nicht in einem Krankenhaus verbringen werde“, sagte Marcus mit einem festen Blick zu Dr. Kramer, der sich beruhigt hatte.

„Genau da fängt das Problem an.“ Dr. Lefrat baute sich vor Marcus auf. „In den nächsten Wochen werden sich Ihre Kopfschmerzen weiter verstärken. Übelkeit, Bewegungsausfälle, sowie Sehstörungen bis hin zur völligen Erblindung werden Sie erwarten. Diese Bewusstseinsstörung, die hinter Ihnen liegt, kann sich jederzeit wiederholen.“ Sie legte ihre Hände auf Marcus Schultern. „Verstehen Sie, Ihre Schmerzen sind nur erträglich, weil wir Sie mit einem starken Schmerzmittel versorgt haben.“

Marcus spürte, wie er mechanisch den Kopf schüttelte. Das klang nicht danach, sein Leben zu genießen, das hörte sich eher nach einem Horrortrip an.

„Um ehrlich zu sein“, Dr. Kramer kam auf Marcus zu, „sind wir bei der Größe und der Art des Hirntumors nicht davon ausgegangen, dass Sie überhaupt noch mal ansprechbar sein werden. Sie hier recht munter vor uns zu sehen beweist, was für eine Kämpfernatur in Ihnen steckt.“

„Wir versuchen Ihnen nur klar zu machen, wie weit der Tumor Ihr Gehirn und damit Ihr Leben beeinträchtigen wird.“ Die Beruhigungstante nahm ihre Hände von seinen Schultern. „Wenn Sie sich gegen die Bestrahlung entscheiden, ist das Ihr Todesurteil, für das Sie selbst verantwortlich sind.“

Marcus fehlten die Worte. Sein Kopf fühlte sich leer an. Sämtliche Überlegungen schienen an ihm vorbei zu sausen, ohne die Chance, an einem Gedanken festzuhalten. Dr. Kramer kam dicht an ihn heran. „Wir können einer Entlassung nicht zustimmen.“

Marcus hörte die Worte, doch es kam ihm vor, als würden sie nicht ihm gelten.

„Sie selbst dürfen die Verantwortung nur übernehmen, wenn Sie jemanden haben, der Sie rund um die Uhr versorgen und im schlimmsten Fall auch pflegen kann. Sie sollten sich das mit der Bestrahlung gut überlegen. Noch haben Sie eine Chance.“ Dr. Lefrat trat zurück. Dr. Stelzer, die Psychologin, schob die anderen aus dem Zimmer, dann setzte sie sich zu Marcus auf das Bett. „Wir möchten Ihnen helfen, Herr Sonntag. Haben Sie jetzt Schmerzen?“ Marcus verneinte mit einer Kopfbewegung. „Wir werden uns bemühen, es Ihnen so angenehm wie möglich zu machen, egal, ob Sie sich für eine Bestrahlung entscheiden oder nicht.“

Marcus musste heftig schlucken. Das Ganze konnte nur einer seiner lebhaften Träume sein. Verdammt, er wollte leben! Er wollte nicht sterben und seine Ziele, seine Träume umsonst festgehalten haben. Zu allem Überfluss spürte er, wie ihm Tränen kamen, die er dennoch erfolgreich unterdrückte. „Seit ich aus dem Heim in die WG gezogen bin, sehne ich mich nach einer eigenen Wohnung.“ Er konnte nur flüstern, zu groß war der Kloß in seinem Hals. Er drehte die Handfläche nach oben, öffnete seine Faust, um auf den Wohnungsschlüssel zu schauen. „Ich hatte ihn an jenem Abend erhalten. Nicht mal zum Aufschließen bin ich mehr gekommen.“

„Darf ich Sie Marcus nennen?“

Er nickte. Das gefiel ihm ohnehin besser, als Herr Sonntag. Den Namen trug er nur, weil er an einem Sonntag gefunden wurde.

„Wenn du der Bestrahlung zustimmst, werde ich die Getränke für deine Einweihungsparty spendieren.“

Er spürte das Lächeln in seinen Mundwinkeln. „Ich bin nicht bestechlich.“

„Das zeugt von Charakterstärke.“ Sie legte ihre Rechte mit der Handfläche nach oben auf Marcus Schenkel. „Komm schon, Marcus! Sag ja zum Leben.“

Sein Blick wanderte von der Hand zu ihrem Gesicht. Eine innere Stimme sagte nein, das ist der falsche Weg. Sein Hunger nach Leben aber schrie ja. „Ich würde mir das gern durch den Kopf gehen lassen.“

„In Ordnung!“ Sie blickte zur Uhr. „Bis zwölf Uhr bin ich im Haus. Dann schaue ich noch mal hier vorbei, ja?“

Marcus antwortete mit einem Nicken.

 

Endlich Ruhe! Niemand, der ihm weitere Hiobsbotschaften übermittelte. Er streifte sich sein T-Shirt über. Die Mediziner hatten tatsächlich so lange auf ihn eingeredet, bis er beinah eingewilligt hätte. Er holte sich die tollen Prognosen ins Gedächtnis zurück: Kopfschmerzen, Übelkeit, Sehstörungen bis hin zur völligen Erblindung. Und wenn sich die Ärzte irrten? Wenn dieser Tumor in seinem Kopf vielleicht schon immer da gewesen war? Schließlich waren die Ärzte davon ausgegangen, ihn nicht mehr ansprechbar vorzufinden. Sie lagen falsch! Sie mussten sich irren! Dann fragte sich Marcus, woher aber seine Kopfschmerzen kamen? Dafür gab es einen Grund. Also doch ein Hirntumor? Nein! Die Vorstellung an ein wildwachsendes Ding in seinem Kopf, ließ Marcus schaudern. Er begann die Tatsachen zur Seite zu schieben. Noch besser, er schüttelte sich, damit fiel das Gespräch wie Ballast von ihm ab. Langsam stand er auf und gelangte ohne jegliche Stütze zu seinem Nachttisch. Dieser Fortschritt brachte ihn auf eine Idee. Er nahm seine persönlichen Gegenstände aus dem Nachttisch an sich und warf einen Blick durch die Jalousie nach draußen. Die Sonne schien heute so herrlich, da konnte man unmöglich die Zeit in einem Krankenhaus verbringen. Ohne große Eile öffnete Marcus seine Zimmertür. Auf dem in einem hellen Türkis gestrichenen Flur kam ein Krankenpfleger mit einem leeren Rollstuhl auf ihn zu. „Herr Sonntag! Bitte nehmen Sie Platz. Dr. Schneider hat eine Untersuchung angeordnet. Ich werde Sie begleiten.“

„Ich brauche keinen Rollstuhl.“ Augenblicklich fühlte sich Marcus sehr unwohl. Der Gedanke an Flucht schoss ihm durch den Kopf.

„Sie möchten sich bitte setzen!“ Er drückte Marcus energisch in den Rollstuhl. „Wir tragen hier die Verantwortung für unsere Patienten. Ich werde dafür sorgen, dass Sie unversehrt bei Dr. Schneider ankommen.“ Er fuhr mit Marcus den Flur hinunter, dann in einem Fahrstuhl in die fünfte Etage. Wieder ging es einen Flur entlang, diesmal in Hellblau, bis er durch eine offen stehende Tür in einen Untersuchungsraum geschoben wurde. Ein junger Arzt kam auf ihn zu, dabei musterte er mit seinen hellen stechenden Augen Marcus’ Gesicht. „Wie fühlen Sie sich?“

„Um ehrlich zu sein, großartig.“ Marcus stand auf. Dieser Rollstuhl erschien ihm zu albern.

„Das höre ich gern. Bitte nehmen Sie hier Platz.“ Er wies auf einen bequemen Sessel. „Ich werde Ihre Hirnströme messen. Das ist ungefährlich und vollkommen schmerzfrei.“

Eine Assistentin legte Marcus mehrere Gummigurte um den Kopf, unter denen sie kleine Elektroden klemmte.

Marcus fühlte die Ungeduld in sich wachsen, diese Vorbereitung nahm viel Zeit in Anspruch. Während die Schwester in jede der Elektroden ein dünnes Kabel steckte, setzte sich Dr. Schneider neben Marcus auf einen Stuhl. „Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein.“ Er knetete seine Lippen. „Der Tumor ist innerhalb weniger Tage gewachsen und dabei in Ihr Rückenmark eingedrungen. Vergleichbares habe ich bisher noch nie gesehen.“ Er wirkte unentschlossen, sogar verlegen. „Sobald Sie wieder Schmerzen haben, geben Sie mir bitte Bescheid, in Ordnung?“

Marcus nickte. Ihm fiel es schwer, diese Diagnose zu akzeptieren, zumal er nicht den kleinsten Druck in seinem Kopf verspürte.

„Gibt es Freunde oder Bekannte, die Ihnen zur Seite stehen?“

Die Schwester zupfte weiterhin an seinen Haaren herum. Hin und wieder ziepte es, was Marcus zu ignorieren versuchte.

„Ja, es gibt jemanden.“ Eigentlich gab es niemanden, den er in dieser Situation bei sich wissen wollte, aber das musste er dem Mediziner ja nicht auf die Nase binden. Vielleicht Clara, seine Erzieherin aus dem Heim, doch bestimmt hatte sie keine Möglichkeit zu ihm zu kommen.

„Gut, dann geben Sie mir nachher Namen und Anschrift, ich werde mich darum kümmern.“ Dr. Schneider sah zur Assistentin, „fertig?“ Sie bat noch um einen Moment Geduld.

„Vor allem brauche ich Ihre schriftliche Einverständniserklärung.“ Dr. Schneider legte kurz seine Hand auf Marcus’ Arm. Eisige Kälte überfiel Marcus, der Kerl war ihm so was von unsympathisch.

„Sie können beginnen.“ Die Schwester trat zur Seite.

„Na dann lehnen Sie sich mal zurück. Entspannen Sie sich.“ Dr. Schneider wandte sich einem großen elektrischen Kasten mit Knöpfen und Schaltern zu. Die Untersuchung dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Marcus sollte die Augen die meiste Zeit geschlossen halten, zwischendurch erschien ein flackerndes Licht vor seinen Augenlidern, kurz darauf forderte Dr. Schneider ihn auf, tief ein- und auszuatmen. Während die Schwester ihn von Gurten und Elektroden befreite, begann der Arzt seinen Patienten aufzuklären. „Also, wie ich vorhin bereits sagte, ist ihr Fall keiner aus dem Lehrbuch. Das bedeutet, wir bewegen uns in unbekanntem Terrain. Das EEG ist, eh’, wie soll ich sagen, überraschend.“ Marcus schluckte. Für seinen Fall existierte offensichtlich kein Therapieplan. Die Ärzte würden herumprobieren und Tests durchführen wie bei einem Versuchskaninchen in einem Labor. Der Arzt schüttelte leicht den Kopf. „Ich werde ein MRT veranlassen, dann können wir das Tumorgewebe besser bestimmen.“

Marcus griff sich an den Kopf. Immer mehr entwickelte sich dieser Krankenhausaufenthalt zum Albtraum. In seinem Hirn wuchs etwas Unerforschtes. Für die Medizin ein gefundenes Fressen, das man unter allen Umständen erforschen musste.

„Ist Ihnen schwindelig? Haben Sie Schmerzen?“, fragte die Schwester mit besorgter Stimme.

„Nein!“ Das konnte ja anstrengend werden. „Alles in Ordnung.“

Dr. Schneider schien es ziemlich eilig mit allem zu haben. Keine zwanzig Minuten später lag Marcus auf einem dieser schalenförmigen Menschentabletts. Die Röhre des MRT fuhr langsam auf seinen Kopf zu. Marcus fühlte einen enormen Kloß im Hals, der ihm das Atmen verwehrte. Vor seinen Augen verschmolzen die Konturen des Gerätes zu einer nebelhaften Umgebung. Wie im Zeitraffer sah er sich durch einen endlos langen Tunnel sausen, bis er sich in einer felsigen Höhle wiederfand. Feucht roch es hier. Erschrocken fuhr Marcus herum. Wo befand er sich? Wie kam er hier her? Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Gleich einem Hauch strömte warme Luft auf seinen Nacken. Er drehte sich um, konnte aber nichts erkennen. „Dein Körper beginnt vollständig zu werden. Nehme es an und sträube dich nicht dagegen.“ Eine tiefe und doch sanfte Stimme durchdrang die Dunkelheit. Marcus wollte antworten, brachte jedoch keinen Laut über seine Lippen.

„Geh und suche Deinesgleichen. Ihre Neugier ist geweckt. Geh, doch sei nun gewarnt.“ Ein kraftvoller Sog riss Marcus mit sich. Auf die gleiche Weise, wie er in die Höhle gelangte, schoss er wieder zurück.

„Sehen Sie mich an, Herr Sonntag!“ Dr. Schneiders Gesicht tauchte vor ihm auf. Er hielt Marcus eine Sauerstoffmaske über Mund und Nase. „So ist gut! Ganz ruhig atmen.“

Eine Schwester wischte Marcus über die Stirn. Feucht und kalt fühlte sich seine Haut an, auch sein Herz pochte heftig, was nach dem Erlebnis kein Wunder war. Marcus bemerkte eine zweite Schwester, die Dr. Schneider eine vorbereitete Spritze reichte, um danach einen Stauschlauch um Marcus Arm zu befestigen. Dieser Ort war nicht gut für ihn, diese Menschen schienen nicht das zu sein, was sie vorgaben. Der Arzt presste Marcus’ linken Arm auf die Unterlage. Mit der anderen Hand bohrte er die Kanüle der Spritze in Marcus’ Ader. Verdammt! Wofür sollte das Medikament sein? Wurde er denn nicht gefragt? Marcus schlug mit der Rechten die Spritze aus der Hand des Arztes, dabei spürte er einen stechenden Schmerz im Arm. Gleichzeitig schnellte er in die Höhe. Die Schwestern wichen erschrocken zurück.

Dr. Schneider hob seine Hände. „Nicht aufregen, Herr Sonntag. Ich wollte Ihnen nur was zur Beruhigung geben.“

„Schluss jetzt!“ Marcus rutschte von der Untersuchungsliege des MTR. „Eigentlich bin ich ein ruhiger Zeitgenosse, aber Ihr Krankenhaus versetzt mich irgendwie in Aufruhr.“

„Bitte! Wir müssen diese Untersuchung fortsetzten. Ich habe ja eben nur einen kurzen Einblick erhalten, bevor wir wegen Ihrer Panikattacke unterbrechen mussten. Ihr Tumor ist größer geworden und ich fürchte …“

„Fürchten Sie allein! Ich halte Ihre Prognosen für Hirngespinste.“ Seine Abneigung gegen Dr. Schneider erreichte eine Intensität, die Marcus nicht weiter zu ergründen wünschte. Die kalten Augen des Arztes riefen ein schreckliches Erlebnis in ihm wach. Nur konnte er sich wirklich nicht daran erinnern, als läge es Jahrhunderte zurück. Vielleicht war es auch lediglich ein Instinkt, der Marcus in Alarmbereitschaft versetzte. Nur schnell raus hier, weg von diesem Arzt. Die verbalen Versuche ihn zum Bleiben zu überreden, interessierten Marcus nicht. Er eilte aus dem Untersuchungsraum, den Flur entlang.

„Mein Gott, Herr Sonntag! Sie können jetzt nicht abbrechen. Das ist Ihr Tod!“

Bevor er tatsächlich als Versuchsperson, womöglich mit Medikamenten ruhig gestellt, den Medizinern ausgeliefert war, sollte er lieber verschwinden. Jetzt, solange er dazu noch in der Lage war. Hier gab es für ihn keine Hilfe, hier gab es nur experimentierfreudige Ärzte. Sein angeblicher Tumor erregte ihre Aufmerksamkeit nur, weil dieser in seinem Ausmaß und seiner Form nicht im Lehrbuch stand. Es wäre doch denkbar, dass er ein besonderes Organ mit einer bisher unbekannten Funktion besaß. Allerdings erschien Marcus das Wachstum dieses, was es auch immer war, selbst suspekt. Wenn es innerhalb von ein paar Tagen auf die doppelte Größe wuchs, was würde am Ende aus ihm werden? Ein Kribbeln durchzog seinen Kopf und strömte die Wirbelsäule hinunter. Gut fühlte sich das an, sehr gut sogar.

„Marcus!“, rief ihm jemand nach. Mit einem tiefen Atemzug drehte er sich um. Dr. Stelzer eilte ihm den Flur nach. „Was ist passiert?“

„Was passiert ist?“ Er hörte seinen barschen Ton und versuchte etwas ruhiger zu sprechen. „Ich stehe als Versuchskaninchen nicht zur Verfügung.“

„Schon gut. Aber das meine ich nicht.“ Demonstrativ schaute sie auf den Boden, den Flur zurück. Eine rote lange Blutspur leuchtete auf dem Krankenhausfußboden. Durch die blutende Wunde der herausgerissenen Kanüle lief Marcus das Blut den Arm entlang und tropfte an den Fingern herunter.

„Ich verbinde das“, sie sah kurz auf die Uhr, „danach fahre ich dich nach Hause, in Ordnung?“ Marcus erklärte sich einverstanden. In einem Behandlungsraum drückte Dr. Stelzer ein Mulltuch auf die Verletzung. „Willst du reden?“ Für einen Augenblick hielt sie inne, schaute ihm ins Gesicht.

„Dieser Dr. Schneider hat keinen Plan, was er mit mir anfangen soll. Ich fühle mich wie ein Außerirdischer, an dem es jede Menge zu erforschen gibt.“ Er nahm einen tiefen Atemzug. „Ich glaube nicht, dass ich einen Tumor habe.“

„Ist es nicht viel mehr so, dass du dir wünschst, es wäre keiner?“

„Und warum treffen dann all diese Prognosen der Ärzte nicht zu? Wissen Sie, was ich denke, Dr. Stelzer?“ Sie klebte einen Klebestreifen auf den Verband. In diesem Moment durchfuhr Marcus die Erkenntnis, dass auch sie nur das medizinische Lehrbuch kannte. Sie würde ihre Psychologie solange anwenden bis er als Versuchsperson zustimmte. Zahlreiche Untersuchungen würden folgen, ja vielleicht sogar Operationen. Man würde an ihm herumschnippeln. Nein, er sollte ihr nicht vertrauen. Marcus stand auf. „Vergessen Sie es.“

„Nein, sag schon.“ Sie hielt ihn am Arm fest. Das gehörte zu ihrer Taktik, darauf durfte er sich nicht einlassen.

„Dass ich ein Alien bin!“ Er konnte sich das Lachen nur schwer verkneifen. Sie schüttelte mit ernstem Gesicht den Kopf.

 

Unterwegs im Auto redete Dr. Stelzer weiter auf Marcus ein. Sie fuhr ihn angeblich nach Hause, weil es auf ihrem Weg lag und sie so sicher sein konnte, dass Marcus ohne Zwischenfälle in seiner Wohnung ankam. Marcus spielte den Einsichtigen, er wollte eine Nacht drüber schlafen, sich alles in Ruhe überlegen. Dr. Stelzer schien jedenfalls beruhigt, bis der Wagen vor dem Haus hielt. „Ich habe kein gutes Gefühl, dich allein zu lassen. Soll ich mitkommen?“

„Nicht notwendig. Mir geht es gut.“ Für Marcus gab es in diesem Moment nur die Sehnsucht nach seinen eigenen vier Wänden. Die Psychologin ging ihm langsam auf die Nerven.

„Ja, Marcus, aber wie lange? Was ist, wenn du wieder bewusstlos wirst?“

„Das passiert nicht.“ Er lächelte sie an und hoffte, sie damit endlich loszuwerden.

„Ruf mich an!“ Sie reichte ihm eine Visitenkarte. „Über das Handy erreichst du mich vierundzwanzig Stunden am Tag.“

„Danke!“ Er schnappte sich die Karte, um eiligst auszusteigen. Er hatte genug von Ärzten, von medizinischen Untersuchungen und zweifelhaften Diagnosen.

Endlich

Marcus drehte den Schlüssel herum, bis das Schloss aufsprang. Er drückte die Tür nach innen und zog dabei den Schlüssel heraus.

Ups!

Er hatte sich offensichtlich im Stockwerk geirrt. Er schaute zuerst auf den Schlüssel, der ja gepasst hatte, dann wandte er sich um, erkannte auf dem Hausflur zwischen dem Treppengeländer unter sich die Eingangstür. Nein, er irrte sich nicht. Er befand sich in der ersten Etage.

Jemand musste während seines Krankenhausaufenthaltes sehr fleißig gewesen sein, hatte seine Wohnung renoviert. Wer allerdings würde das für ihn tun? Nachdenklich ging Marcus durch den kleinen Flur ins Wohnzimmer. Es roch noch intensiv nach Farbe. In der Mitte des Raumes türmten sich ein paar Umzugskisten sowie einige Möbel aus der Wohngemeinschaft. Die Wände leuchteten in einem satten Moosgrün, davor neue Regale aus Kiefernholz, genauso, wie er es sich vorgestellt hatte, doch diesen Wunsch hatte er niemandem anvertraut, wem auch?

„Hallo! Wie geht es dir denn?“, erklang hinter ihm eine helle Stimme. Marcus fuhr herum, er spürte, wie er seine Augenbrauen nach oben zog. Vor ihm stand die junge Frau aus der Straßenbahn. Was tat sie hier? Sie wies zur Wohnungstür, „sie war offen. Alles wieder in Ordnung mit dir?“

Marcus versank in diesen großen braunen Augen, die ihn durch ein paar lockige Strähnen musterten. Sie lächelte, wobei sich kleine Grübchen in ihren Mundwinkeln abzeichneten, was auf Marcus unwiderstehlich wirkte. Ein sanftes Kribbeln durchströmte seine Brust. Mit dem nächsten Atemzug war sein Kopf wie leer geräumt.

„Die meisten neuen Nachbarn stellen sich gar nicht vor, sind längst ausgezogen, bevor man überhaupt merkt, dass sie da waren. Deine Einlage allerdings hatte schon etwas Spektakuläres an sich.“

„Wie - wie meinst du das?“ Wovon redete sie nur?

„Ich kam neulich die Treppe hoch, als du vor deiner Tür zusammengebrochen bist.“

Marcus schluckte heftig. „Verdammt!“ Ausgerechnet sie hatte ihn gefunden. Jetzt dachte sie bestimmt, er wäre ein Waschlappen, ein kränkelnder Warmduscher.

„Hey, nicht so wild. Damit hab ich kein Problem. Der Krankenwagen war innerhalb von zehn Minuten hier.“

Er fasste sich an seine Stirn und schaute zu Boden, in dem er zu versinken wünschte.

„Ich wollte nur wissen, ob es dir wieder gut geht?“

Er nickte kurz. „Ja, alles bestens.“ Ein paar Worte mehr wären angebrachter, doch ihm fiel nichts anderes ein.

„Fein! Nachdem wir uns jetzt schon so oft morgens gesehen haben und nun auch Nachbarn sind, hättest du vielleicht Lust heute zum Abendessen rüber zu kommen? So gegen 18:00 Uhr?“

„Ich – ich weiß nicht.“ Marcus ärgerte sich innerlich für sein Gestammel, mit dieser überraschenden Situation wusste er nicht umzugehen.

„Na ja, kannst es dir noch überlegen.“ Sie ging zur Wohnungstür. „Ich wohne hier auf der Etage, gleich links die Tür.“

Marcus war einfach nicht in der Lage, ihr zu antworten, und nickte deshalb nur. Sie zwängte sich durch den verbleibenden Türspalt. „Falls es dich interessiert, ich probiere gerade ein neues Rezept aus. Es nennt sich Drachengulasch.“ Ihre Augen blitzen kurz auf, dann zog sie die Wohnungstür von draußen zu.

Wie zu Stein erstarrt, verharrte Marcus auf der Stelle im Wohnzimmer. Er fühlte sich wie in einem Film. Erst diese zweifelhafte Diagnose heute Vormittag, die Überraschung mit der renovierten Wohnung und zur Krönung diese zuckersüße Nachbarin, der man unmöglich widerstehen konnte. Diese wachen wunderbaren Augen und dieses magische Lächeln mit den Grübchen. Marcus lies seine Gedanken ziehen, dabei schloss er für einige Minuten die Augen.

Endlich, er war zu Hause in seinen eigenen vier Wänden. Bei der Überlegung ein warmes Bad zu nehmen, spürte er das Grinsen in seinem Gesicht. Niemand würde ihn stören oder an der Tür rütteln.

Was für ein Tag!

 

Marcus versank im üppigen Schaum der Badewanne. Ein unbeschreibliches Gefühl von Zufriedenheit und Glück überfiel ihn. Erholsam empfand er diese Stille nach diesem bewegenden Vormittag. Plötzlich kamen ihm die Worte der Psychologin in den Sinn. „Ist es nicht vielmehr so, dass du dir wünschst, es wäre kein Tumor?“ Er setzte sich auf. Gleich einem Echo kehrte diese Frage unzählige Male in seine Gedanken zurück. Mit welchen Mitteln arbeitete diese Frau? Ihn derart zu beeinflussen, gefiel ihm gar nicht. Nein! Es gab keinen Tumor in seinem Kopf. Zumindest müsste er einen leichten Druck spüren. Für einen Moment horchte er in sich hinein. Nicht das Geringste konnte er wahrnehmen. Er schüttelte sich kurz, um sich wieder zurückzulehnen.

Zuerst wollte er herausfinden, wer seine Wohnung so perfekt hergerichtet hatte. Bestimmt hatte die nette Nachbarin denjenigen beobachtet. Ein Grund mehr, ihre Einladung anzunehmen. Er brauchte dafür allerdings eine Aufmerksamkeit, ein Dankeschön! Mit leeren Händen durfte er nicht zu ihr gehen. Ihre Hilfsbereitschaft, den Krankenwagen zu rufen, schrie förmlich nach einem Geschenk. Nur was? Blumen oder eine Flasche Wein erschienen ihm zu alltäglich. Er rieb sich die Stirn, versuchte sich zu erinnern, welche Kleidung sie trug. Gelb! Sie hatte ein gelbes T-Shirt. Diese Erinnerung half reichlich wenig, weder wusste er ihre Größe, noch konnte er sich ein Geschenk dieser Art leisten. Seine Möglichkeiten grenzten ihn sehr ein.

 

Genau eine Minute vor achtzehn Uhr stand Marcus mit einem Strauß gelber Rosen vor der Wohnungstür seiner Nachbarin. Seine Haare hatte er heute ausnahmsweise im Nacken zusammengebunden. Zur Sicherheit schaute er zum hundertsten Mal an sich herunter, um eventuelle Peinlichkeiten auszuschließen. Die Turnschuhe sahen gebürstet um Monate jünger aus, die Jeans saß gut, das T-Shirt wies keine Mängel auf. Er drückte auf die Klingel und lauschte. Leise Schritte hörte er, bis die Tür geöffnete wurde. Bei ihrem Anblick schlug Marcus Herz gleich doppelt so schnell. Elegant hatte sie ihre Haare hochgesteckt, drei freche Strähnen hingen ihr ins Gesicht. In dem gelben Kleid mit weißer Spitze sah sie fast wie ein Engel aus. Lächelnd, wobei ihre Grübchen in den Mundwinkeln entstanden, bat sie Marcus herein. „Gelbe Rosen für mich?“ Ihre Augen leuchteten, als sie die Blumen entgegennahm. Marcus wusste wieder nur zu nicken. Da kroch erneut dieses blöde unsichere Gefühl in ihm hoch, mit dem er sich wie ein Schuljunge fühlte. Das nervte!

„Freut mich riesig, dass du meine Einladung angenommen hast. Ich hatte befürchtet, du würdest nicht kommen.“

„Das Drachengulasch hat mich gelockt!“ Er spürte sein Grinsen.

Sie lachte kurz. Zum Anbeißen sah sie aus. In der kleinen Küche suchte sie in einem Schrank nach einer Vase für die Blumen. „Ich liebe gelbe Rosen, woher wusstest du das?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, ehrlich, ich hätte dir gern ein richtig tolles Geschenk gemacht. Das ist schwer, wenn man denjenigen nicht kennt, der einem das Leben gerettet hat.“

Sie hielt inne und wandte sich ihm zu, „hallo? Ich habe lediglich den Krankenwagen gerufen und nach deinem Puls gefühlt. Mehr habe ich gar nicht getan.“

„Du hast meinen Puls gefühlt?“ Na großartig, und er hatte davon nichts mitbekommen, wie diese reizende Person ihn umsorgt hatte. „Wie war er denn?“

„Vielleicht etwas schnell, deshalb kam ich auf die Idee, du hättest dich überanstrengt oder so was. Was war eigentlich los?“ Sie schnitt jede einzelne Rose an und steckte sie in die Vase. Die Frage der Psychologin drängte sich in seine Gedanken. Nein, daran wollte er jetzt ganz bestimmt nicht denken. „Ich heiße Marcus.“

„Marcus Sonntag, ich weiß. Der Hausmeister hat’s mir verraten.“ Sie lächelte erneut, zeigte noch ein Mal ihre Grübchen, dann trug sie die Vase an ihm vorbei ins Wohnzimmer. „Ich bin Nicole.“

Marcus ging ihr nach. Die Zimmerwände leuchteten in einem warmen Gelb. Ihre maurischen Möbel riefen in ihm ein vertrautes Gefühl wach. „Sehr gemütlich. Du hast Geschmack.“

„Danke.“ Wieder umspielte dieses magische Lächeln ihre Mundwinkel. Marcus meinte ein Hornissenschwarm durchzog seinen Kopf.

„Das ist für dich!“ Seine Hand zitterte, als er ihr den Umschlag reichte. Hoffentlich konnte sie damit etwas anfangen. „Danke, für deine Hilfe.“

„Einen Krankenwagen zu rufen ist ja nun wirklich kein Hit.“ Sie öffnete das Kuvert und zog den Gutschein heraus. Ihre Augen wurden groß, während sie las. „Eine Schmiedearbeit nach meinen Vorstellungen? Wow! Da fallen mir viele Dinge ein.“ Sie wirkte überrascht. „Wie kommst du ausgerechnet an Schmiedearbeiten?“

„Eigentlich bin ich gelernter Metallbauer. Zurzeit arbeite ich allerdings als Schweißer.“

„Dann würdest du das selbst für mich schmieden?“

Marcus nickte. Das gefiel ihr offensichtlich, was ihn wiederum sehr freute.

„Egal wie groß?“ Ihre erwartungsvolle Miene verunsicherte ihn.

„Hast du schon eine Idee?“

„Du scheinst keine Ahnung zu haben, was du mir damit für eine Freude bereitest.“ Sie strahlte übers ganze Gesicht. „Seit Langem suchte ich nach einem ganz bestimmten Kerzenständer.“

Das klang nach einer leichten Übung. In diesem Moment klingelte das Telefon.

Marcus hörte nicht zu, er schaute sich in ihrem Wohnzimmer um. Wie gemütlich, ja geborgen es auf ihn wirkte. Ob es an den vielen Kerzen, den kleinen Details, wie der Pferdefigur aus Holz, der grünen Echse aus glitzerndem Stoff oder den verschiedenen Pflanzen lag, konnte Marcus nicht feststellen. Vor einem Familienfoto blieb er stehen. Auf dem Foto war Nicole mit ihren Eltern und vermutlich ihrem Bruder in einem sehr gepflegten Garten zu sehen. Beim Betrachten überlegte Marcus zum tausendsten Male, wie seine Eltern ausgesehen haben mochten, warum sie ihn irgendwo ausgesetzt hatten und ob sie sich wünschten, ihn wieder zu sehen. Clara, seine geliebte Heimerzieherin, konnte keine Hinweise auf seine Herkunft geben. Wie bei vielen anderen Menschen endete auch seine Suche nach den Wurzeln im Nichts.

„Das Foto ist vorletztes Jahr bei meinen Eltern aufgenommen worden. Neben mir sitzt Sven, mein Bruder.“

„Dachte ich mir.“

„Komm, setzt dich. Ich hole nur das Essen.“ Sie eilte zur Küche hinaus. Marcus nahm auf einem der vier Stühle Platz. Der Esstisch erinnerte ihn an einen Dekorationstisch im Kaufhaus. Die beigefarbenen Platzdeckchen, Servietten und Kerzen bildeten einen schönen Kontrast zu dem dunklen Holztisch. Die Kristallgläser glitzerten in der tief stehenden Abendsonne, die durchs Fenster schien. Nicole kehrte mit zwei Glasschüsseln zurück. Sie stellte zuerst den Salat, dann das Gulasch auf den Tisch. „Magst du Rotwein?“

 

Nicole konnte ausgezeichnet kochen. Das Essen schmeckte scharf, wie der Name ‚Drachengulasch’ verriet. Der Rotwein, das knusprige Baguette mit dem frischen Salat dazu waren perfekt aufeinander abgestimmt. Während des Essens erfuhr Marcus mehr über seine attraktive Nachbarin. Nicole studierte Veterinärmedizin und träumte von einer eigenen Praxis. Ihr zwei Jahre älterer Bruder absolvierte bei der Bundeswehr eine Pilotenausbildung. Die Eltern lebten in Lüneburg und unterstützen ihre Tochter finanziell. Mit der Straßenbahn waren es von hier aus zwanzig Minuten zur Universität, für Nicole bestmögliche Bedingungen zum Studium. „Jetzt habe ich aber genug über mich erzählt.“

Marcus schaute in ihr hübsches Gesicht. Aus dieser sympathischen Nachbarschaft durfte nicht mehr werden. Seine negativen Kindheitserfahrungen drängten sich in den Vordergrund. Allein das Wort Heimkind schien bei den meisten Eltern einen bitteren Beigeschmack zu hinterlassen. Zahlreiche Freundschaften, soweit sie überhaupt entstehen konnten, wurden auf Drängen der Eltern abgebrochen mit der Begründung, dass Marcus einen schlechten Einfluss auf die Kinder hätte. Diese Vergangenheit holte ihn heute vermutlich auf die gleiche Weise ein.

„Erzähl, bist du hier in Berlin aufgewachsen?“

Marcus schüttelte den Kopf. Er musste überlegt antworten. „Nein, in der Nähe von Stralsund. Vor drei Jahren zog ich in eine WG in Prenzlauer Berg.“

„Eine Wohngemeinschaft? Das klingt nach einer interessanten Erfahrung!“ Sie hatte definitiv keine Ahnung. „Sag mal, du hast doch bestimmt mitbekommen, wer meine Wohnung renoviert hat.“

„Na klar! Die Firma Heider. Bist du nicht zufrieden?“

„Firma Heider? Doch, doch!“ Eine Firma konnte er sich nicht leisten. Verdammt, wer steckte dahinter? Marcus kam eine Idee. Seine Eltern hatten ihn ausfindig gemacht und wollten ihn überraschen.

„Ich habe mir eine Visitenkarte geben lassen. Die haben sehr sauber und schnell gearbeitet. So was kann man immer mal gebrauchen.“

„Kann ich sie mal sehen?“ Wie genial. Er brauchte nur Firma Heider anzurufen und nach dem Auftraggeber zu fragen, schon hätte er das Geheimnis gelüftet.

„Sag bloß, du kennst den Betrieb nicht?“

„Nein. Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, wer den Umzug und vor allem die Renovierung beauftragt hat.“

„Du musst ja tolle Freunde haben. Für mich würde niemand eine solche Aktion starten.“

„Kannst du mir die Telefonnummer abschreiben?“

Nicole stand augenblicklich auf, nahm Stift und Papier zur Hand, um Marcus die Nummer abzuschreiben. „Ich bin davon ausgegangen, dass du das alles selbst veranlasst hast, damit die Wohnung fertig ist, wenn du aus dem Krankenhaus kommst.“

„Danke. Ich sollte jetzt gehen.“

„Wirklich?“ Ihre Stimme klang zittrig.

„Du bist eine großartige Köchin.“ Er musste lächeln. „Ich würde mich gern ein wenig aufs Ohr hauen. Richtig fit bin ich eben noch nicht.“ Er spürte, dass es genauso war.

„Entschuldige, bitte. Du bist heute Mittag erst entlassen worden und ich habe nichts Besseres zu tun, als dich in Beschlag zu nehmen.“

„Schon in Ordnung. Das war eine super Ablenkung. Danke.“ Er steckte den Zettel mit der Telefonnummer in seine Hosentasche und stand auf.

„Kann ich etwas für dich tun? Ich würde dir sehr gern helfen, ehrlich.“

Sie entwickelte sich zu einem Schatz.

„Ich bin heute nicht zum Einkaufen gekommen. Falls du morgen beim Frühstücken ...“

„Ja klar. Du kannst jederzeit rüber kommen.“

„Ich glaube, du hast keine Ahnung, welchen großen Gefallen du mir damit tust. Vielleicht könntest du mich um 6:00 Uhr wecken? Ich habe meinen Wecker bisher nicht gefunden. Es wäre peinlich, wenn ich morgen nicht pünktlich auf der Baustelle bin.“

„Baustelle? Aber du bist doch sicherlich krankgeschrieben. Du solltest besser auf deinen Körper hören und ihm noch Ruhe gönnen.“

„Nein, nein. Ich bekomme das schon hin. Wegen der letzten Woche wird es genug Ärger geben.“ Ganz bestimmt sogar. Jetzt wollte er sich ausruhen, ein bisschen schlafen.

 

Nicole hatte ihn pünktlich geweckt und ihn mit knusprigem Toast sowie heißem Kaffee verwöhnt. Zu Marcus Überraschung gab es keine Probleme mit seinem Boss. Das Krankenhaus hatte ihn über Marcus Einlieferung informiert. Aus diesem Grund wunderte sich sein Chef eher über Marcus’ unerwartetes Erscheinen. Abgesehen von leichter Müdigkeit, die gegen Mittag auftauchte, fühlte sich Marcus ausgezeichnet. Dabei fiel ihm auf, dass er kein Bedürfnis mehr nach einer Zigarette verspürte. Ging es ihm deshalb so gut?

Es gelang ihm fast, diese Tumorgeschichte zu verdrängen. Lediglich der Satz dieser Psychologin kehrte für kurze Momente in seine Gedanken zurück.

Erschöpft ging er an diesem Abend nach Hause. Er sehnte sich nach der Ruhe seiner eigenen vier Wände. Beim Aufschließen der Haustür nahm er ein Gespräch wahr, welches mit jedem Schritt nach oben deutlicher wurde.

„Nein, nein, er ist heute Morgen zur Arbeit gegangen.“ Nicole sah ihn in diesem Augenblick die Treppen hochkommen. Clara drehte sich schnell um. „Gott, Marcus! Bist du von allen guten Geistern verlassen?“

„Clara!“ Noch gestern hatte er an sie gedacht und nun stand sie vor ihm. Fest nahm er sie in den Arm, genoss den Moment der Geborgenheit, die sie ihm schon immer vermitteln konnte. Sie löste sich aus der Umarmung. „Ich komme gerade aus dem Krankenhaus. Dr. Stelzer ...“

„Bitte! Können wir drinnen weiter reden?“ Nicole musste das alles nicht wissen. Marcus schloss seine Wohnungstür auf, schob Clara in den kleinen Flur. Dann wandte er sich mit einer entschuldigenden Geste zu Nicole. „Danke noch mal für heute Morgen.“

„Gern geschehen.“ Sie klang verwirrt, musterte ihn intensiv. Was hatte Clara ihr nur erzählt? Nachdem Marcus die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah Clara ihn mit einer Mischung aus Sorge und Ärger an. „Im Krankenhaus sagen sie, du seiest sehr krank und würdest jede ärztliche Hilfe ablehnen. Marcus, was ist denn nur passiert?“ Sie kam dicht an ihn heran.

„Bitte setzte dich.“ Die ärztliche Schweigepflicht nahm das Krankenhaus offensichtlich ernst.

Clara ließ sich auf den Sessel fallen. „Thomas rief mich vorgestern an. Ich habe gleich versucht, alles so zu organisieren, damit ich dich besuchen kann.“

„Ich weiß das zu schätzen.“ Marcus dachte an die Zeit im Heim zurück. Zu Clara hatte er einen besonderen Draht, was jedoch auf Gegenseitigkeit beruhte. „Mir geht’s wieder gut, ehrlich.“

Clara schoss aus dem Sessel hoch, „Dr. Stelzer glaubt, du würdest den Ernst der Lage nicht erkennen und die Diagnose ignorieren.“ Sie packte seine Arme. „Marcus, was haben sie gefunden?“

Er schloss kurz die Augen. „Sie irren sich. Ihre ganzen Prognosen treffen nicht zu und ich glaube ihnen nicht. Für sie bin ich nur ein Versuchskaninchen ...“

„Was ist es?“ Ihr Griff wurde fester. Er schüttelte den Kopf. „Angeblich wollen sie einen Hirntumor gefunden haben. Aber ich weiß, dass es nicht stimmt.“

Clara ließ ihn los, warf sich die Hand vor den Mund. Sie ging einige Schritte rückwärts, sank wie von selbst in den Sessel. Ihr Gesicht wirkte mit einem Mal unnatürlich blass. Der Anblick fühlte sich nach einem Schlag in die Magengrube an. Nein, das hatte er nicht gewollt. Er kniete sich vor sie und nahm ihre Hände. „Hör auf, dir Sorgen zu machen. Ich ... „

„Ich soll mir keine Sorgen machen?“ Das Fahle aus ihrem Gesicht verschwand, verwandelte sich in eine heftige Röte. „Eine ganze Woche lang liegst du ohne Bewusstsein im Krankenhaus und ich soll mir keine Sorgen machen?“ Sie hob ihre Stimme weiter an. „Wie kannst du einen Hirntumor einfach ignorieren? Du führst dich auf wie ein kleines Kind, das die Wahrheit nicht sehen will.“ Das war seine umsorgende Clara, ganz so, wie er sie kannte. „Wo ist dein Verstand geblieben, Marcus Sonntag?“

„Höre mir bitte erst mal zu.“ Er nahm seine Hände zurück, auf denen Clara immer noch herum knetete.

„Dass du Angst davor hast, ist ganz normal. Deshalb bin ich ja hier. Du wirst jetzt deine Sachen packen und dann werde ich dich in die Klinik begleiten!“

„Nein!“ Er stand auf. „Das werde ich nicht! Es geht hier nicht um Angst.“

„Oh doch, du hast Angst.“

Er hob seine rechte Hand, „bitte lass mich mal ausreden.“

Sie nickte.

„Was auch immer letzte Woche diese verdammten Kopfschmerzen ausgelöst hat, es ist nichts, was die Ärzte kennen oder in ihren Lehrbüchern finden. Im Grunde wissen sie gar nicht, was sie mit mir anfangen sollen. Für die Rolle eines Versuchskaninchens bin ich nicht bereit.“ Er musste jetzt tief durchatmen. Clara konterte bestimmt gleich, doch zunächst wirkte sie nur nachdenklich.

„Was hältst du davon, wenn wir uns morgen gemeinsam von den Ärzten beraten lassen?“

Seine Botschaft kam bei Clara nicht an, sie kapierte es nicht.

„Nichts! Ich halte von diesen Medizinern nichts und erst recht nichts von ihrer falschen Diagnose.“ Deutlich betonte er jedes einzelne Wort. „Ich will keine Bestrahlung.“ Er ging im Zimmer auf und ab. „Ja, vielleicht habe ich Angst, aber mehr vor diesen Ärzten, als vor dem Tod.“ Er sah Clara ins Gesicht. „Diese Ärzte sind völlig überfordert. Bitte akzeptiere meine Entscheidung.“

Sie schluckte heftig. „Komm her.“ Sie streckte ihm die Arme entgegen, seufzte tief, als sie Marcus umarmte.

„Danke, dass du gekommen bist.“ Er wollte dieses leidige Thema beenden. „Kannst du mir helfen?“ Sie schaute auf. „Jemand hat die Wohnung renoviert, genauso wie ich es mir immer vorgestellt habe. Ich muss herausfinden, wer dahinter steckt.“

Clara lächelte, es sah sehr gequält aus. „Thomas meinte, eine Umzugsfirma hätte deine Sachen abgeholt.“

Marcus ging ins Badezimmer und zog sich das T-Shirt aus. „Ich habe die Telefonnummer der Firma.“ Wäre er zehn Jahre jünger würde er anfangen, an die gute Fee zu glauben. Er suchte im Wohnzimmer frische Kleidung aus einem der Umzugskartons. „Ich geh schnell duschen, dann werde ich einkaufen gehen und danach machen wir es uns hier gemütlich, feiern unser Wiedersehen.“

„Nein. Du gehst in Ruhe duschen und ich gehe unterdessen einkaufen. Was soll ich uns kochen?“

Ja, das war Clara. „Nudeln mit Rindfleisch.“ Der Gedanke an dieses köstliche Gericht zauberte spürbar ein Grinsen in sein Gesicht.

Sie lachte herzhaft. Trotz der paar Falten sah man ihr die dreiundsechzig Jahre nicht an. „Warum frage ich auch. Ich weiß doch, wie gern du das isst.“ Sie griff nach ihrer Geldbörse und nach seinem Wohnungsschlüssel. „Ich nehme ihn mit, dann kannst du ungestört duschen.“

Quarantäne

Marcus trocknete sich gerade ab, als jemand an seine Wohnungstür klopfte. Lauschend ging er ins Wohnzimmer.

„Marcus?“ Für einen Moment blieb es still, wiederholt ertönte ein Klopfen. „Ist alles in Ordnung? Geht es dir gut? Hier ist Dr. Stelzer.“ Sie pochte erneut, diesmal energischer. „Marcus hörst du mich?“

Das ging hier heute zu, wie auf einem Bahnhof. Warum ließ man ihn nicht endlich in Ruhe. Die Psychologin zog mit ihrer Nummer die Aufmerksamkeit des ganzen Hauses auf sich. Eiligst schlüpfte Marcus in seine Unterhose und öffnete die Tür.

„Marcus, Gott sei Dank! Ich habe mir Sorgen gemacht.“ Dr. Stelzer stand mit Mundschutz, Gummihandschuhen und einem langen Kittel vor ihm. Er verspürte keine Lust auf ihre Psychosätze, die ihm tagelang im Kopf herumgeistern würden. „Mir geht’s großartig. Sind Sie jetzt zufrieden?“

„Ich muss mit dir reden. Darf ich reinkommen?“

Er atmete tief. Um sie möglichst schnell wieder loszuwerden, musste er sie hereinbitten. Wortlos trat er zur Seite und machte eine einladende Handbewegung.

„Danke.“

„Also, was ist?“ Wenn jetzt noch Carla auftauchen würde, wäre die Gehirnwäsche perfekt. Neugierig warf die Ärztin einen Blick ins Wohnzimmer. „Ich muss dich bitten, mitzukommen.“

Kapierte diese Psychotante das nicht? „Ich werde ganz bestimmt nicht mitkommen.“

„Das wirst du müssen, Marcus. In deinem Blut sind gefährliche Erreger gefunden worden. Wir haben die Pflicht, dich in Quarantäne zu nehmen.“

Dieser Satz erschien ihm wie ein Schlag auf den Kopf. „Quarantäne?“

„Ehrlich, es tut mir sehr leid, aber in diesem Zustand bist du eine Gefahr für deine ganze Umgebung. Du musst mitkommen. So viel Verantwortungsgefühl hast du doch!“

Ihm war nach einem Wutausbruch zumute. Dieser Dr. Schneider kam ihm in den Sinn. Nein, er wollte nicht zurück in die Klinik unter gar keinen Umständen.

„Zieh dich bitte an!“

„Was werdet ihr mit mir anstellen?“ Sein Herz pochte ihm bis zum Hals, seine Brust fühlte sich eng an, ein dicker Kloß nahm ihm den Atem. „Ihr werdet mein Hirn aufschneiden ...“ Er konnte nur flüstern. Seine Knie wurden weich.

„Hey, Marcus. Jetzt siehst du aber Gespenster. Niemand hat vor, dich zu operieren. Das wäre unter diesen Umständen für uns viel zu gefährlich. Du brauchst keine Angst zu haben. Wir werden nur diesen Erreger behandeln, das hat nichts mit einer Bestrahlung zu tun.“

Er konnte kaum noch atmen, wich drei Schritte von Dr. Stelzer zurück. „Verdammt, ich bin ein Alien. Ihr werdet mich einsperren und ...“

„Ganz ruhig, Marcus. Du bist kein Alien. Du bist krank, sehr krank sogar. Das Einzige, was wir wollen, ist dir zu helfen. Bitte zieh dich jetzt an.“

Marcus spürte sich nicken, dabei fühlte er sich nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Ihm schien es mehr, als würde eine fremde Kraft die Fäden seines Körpers beherrschen. Innerlich sträubte er sich vor der Psychotante, sich auf ihr Gerede einzulassen, und doch blieb ihm scheinbar nichts anderes übrig. Er streifte T-Shirt sowie Jeans über, wobei diese Bewegungen etwas Mechanisches an sich hatten.

„Unterwegs brauchen wir eine Liste mit allen Personen, die mit dir in Kontakt standen. Bekommst du das zusammen?“ Sie drängte ihn zur Tür ins Treppenhaus. Warum lief er nicht einfach davon? Für ihn wäre es ein Leichtes, die Psychotante zur Seite zu schubsen.

„Marcus, was ist los?“ Clara kam mit einer Einkaufstüte die Treppe hoch.

„Ich möchte Sie bitten, uns ebenfalls zu begleiten.“ Dr. Stelzer erklärte Clara die Situation. Zum einen müsse sie sich selbst auf diese Erreger untersuchen lassen und zum anderen könnte sie Marcus eine seelische Stütze sein. Vor der Tür wartete bereits ein Krankenwagen mit zwei Pflegern, die von ihrer Statur her wie Bodyguards in Weiß wirkten. Während der Fahrt in die Klinik starrte Marcus einen Punkt in weiter Ferne an. Dr. Stelzer wandte sich kurz an Marcus. „Bist du einverstanden, wenn ich über deine Diagnose mit Frau Peterson spreche?“

Er nickte. Clara wusste ohnehin Bescheid. Sie an seiner Seite zu wissen, fühlte sich nicht ganz so elendig an.

„Marcus leidet an einem inoperablen Hirntumor, der sich bereits tief in seinem Rückenmark verankert hat. Das akute Problem sind jedoch diese gefährlichen Erreger in seinem Blut. Unter Umständen können sie zu einer Persönlichkeitsveränderung führen, was auch seine ablehnende Haltung gegenüber der Bestrahlung erklären würde.“

Marcus schloss die Augen. Das war ja jetzt der größte Schwachsinn, den er je gehört hatte. Mit jedem weiteren Wort der Psychotante schien ihm die Erregergeschichte mehr eine inszenierte Angelegenheit zu sein, um ihn ins Krankenhaus zu locken. Dr. Schneider steckte dahinter.

„Aber wo kommen die Erreger denn her?“ Eine kluge Frage, auf die Clara mit Sicherheit keine vernünftige Antwort bekommen würde.

„Das müssen wir schnellstens herausfinden. Der Kreis der Betroffenen sollte uns dabei helfen.“ Dr. Stelzer legte ihre Hand auf Marcus Schenkel, worauf er die Augen öffnete. „Ist dir schwindlig? Hast du Beschwerden?“

„Die einzigen Beschwerden, die ich habe, sind die Bauchschmerzen wegen der Galgenfahrt hier.“

Dr. Stelzer reichte ihm eine feste Unterlage, auf der ein Blatt Papier befestigt war. „Bitte schreibe alle Personen hier auf, zu denen du seit gestern Kontakt hattest.“

„Ich bin doch bei dir.“ Clara legte ihre Hand auf sein Knie, versuchte dabei zu lächeln, es wirkte jedoch nicht überzeugend.

 

Im Krankenhaus angekommen, wurde Marcus in einen kleinen Behandlungsraum gebracht. Sein schneller Herzschlag wollte sich nicht beruhigen, noch immer zitterten seine Knie. Er musste sich komplett entkleiden, dann eine Urinprobe abgeben. Nach einer flüchtigen Untersuchung durfte er seinen nackten Körper bedecken, wenn auch nur mit einem dieser tollen Krankenhaushemdchen. Eine Ärztin mit Mundschutz und Gummihandschuhen nahm ihm bestimmt einen viertel Liter Blut ab.

„Sie bekommen gleich Ihr Bett. Dann geht’s mit dem Fahrstuhl nach oben auf die Quarantänestation. Wie fühlen Sie sich?“

„Nach dem Duft der Gummihandschuhe könnte ich frische Luft vertragen.“

„Das geht nicht.“

Klar, was hatte er denn erwartet. Ein Pfleger fuhr ein Krankenhausbett in den Raum. Der extrem saubere Geruch der Bettwäsche ließ seinen Magen zusammenkrampfen. Seit dem Frühstück hatte er nichts mehr gegessen. Schnell schluckte er den Würgereiz hinunter. Dieser sterile Mief wirkte hier im wahrsten Sinne des Wortes zum Kotzen.

„Bitte legen Sie sich hin.“

Seine weichen Knie dankten es ihm. Sein Magen rebellierte jedoch weiter gegen diesen Geruch von Desinfektionsmitteln. Die Ärztin untersuchte Marcus Augen zog die Lider auseinander und überprüfte mit der Taschenlampe seine Pupillenreaktion. Dann weitete sie mit einem zangenähnlichen Instrument seine Nasenlöcher. Der Geruch der Latexhandschuhe löste den nächsten Würgereiz aus.

„Magenkrämpfe, die ersten Anzeichen.“ Sie sah zum Pfleger. Wir bringen ihn erst hoch und legen ihm zunächst eine Infusion.

„Ich brauche keine Infusion. Ich habe den ganzen Tag nichts gegessen und dieses sterile Zeug ...“