Seleno - Die Kraft der zwei Monde - Angela Planert - E-Book
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Seleno - Die Kraft der zwei Monde E-Book

Angela Planert

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Beschreibung

Mit einem außergewöhnlichen Ritual gewinnt Gerrit sein Augenlicht zurück. Seine veränderten Fähigkeiten stellen ihn immer wieder vor neue Herausforderungen, bis er Zusammenhänge mit den Prophezeiungen aus den alten Büchern zu erkennen glaubt. Sein treuer Gefährte Sanar scheint mehr über seine Veränderungen zu wissen, als er zunächst preisgibt.

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Das Ritual
Fest
Sanar
Nachricht
Veränderung
Kampf
Liv
Leblos
Gerrit
Verschleppt
Wahrheit
Auf See
Rote Mondsteine
Begegnung
Mörder
Konsilium
Flucht
Kristalle
Aufgabe
Fingerspitzen
Sorge
Gedächtnis
Brüder
Versuch
Wandel
Rätsel
Bemerkenswert
Pläne
Gefangen
Aufbruch
Vamun
Harter Kampf
Entschluss
Bittere Entscheidung
Seleni

 

 

 

Seleno

 

Zweiter selenorischer Roman

von

 

Angela Planert

 

Im Reich der zwei Monde

 

 

Impressum

© 2021 Angela Planert

16540 Hohen Neuendorf Fr.-Herder-Straße 3

www.Angela-Planert.de

2. Auflage

 

Lektorat: Birgit Maria Hoepfner

www.textewerkstatt.de

Covergestaltung: © Florian Witkowski

www.fw-grafikdesign.de

 

Lustrationen: ©Silke Schwimmer

 

Tolino Media

 

Alle Rechte vorbehalten. Insbesondere sind inbegriffen: das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video (auch einzelner Text- und Bildteile) sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

 

Das Ritual

Seltsame Geräusche rissen Farie aus dem Schlaf. Der rote Mond schien genau in ihren Schlafraum. Von draußen drang eine flüsternde Stimme zu ihr hinauf. Die weckte ihre Neugier. Sie stand auf, ging zum Fenster, um in den Klostergarten zu schauen. Der rote Mond besaß nicht viel Leuchtkraft, der weiße Mond stand direkt hinter dem Haus. Die Gestalt, die unten am Waldrand bewegungslos verharrte, war im Mondlicht kaum zu erkennen. Dennoch glaubte Farie zu wissen, wer sich im Schatten der Bäume versteckte und dass derjenige auf sie wartete. Eiligst nahm sie ihren Umhang und lief die Treppen hinunter. Gespannt öffnete sie das schwere Holztor.

»Gerrit? Bist du das?« Farie bemühte sich, leise zu sprechen, um die anderen Klosterbewohner nicht zu wecken.

»Ich brauche Eure Hilfe, Farie«, flüsterte eine dunkle Stimme ganz in ihrer Nähe.

»Gerrit? Wo bist du?« Er musste nur wenige Schritte von ihr entfernt sein. Farie war etwas verwundert, denn es war nicht seine Art, sich vor ihr zu verstecken.

»Hier, Farie«, hörte sie die ihr vertraute Stimme.

Nur mit Mühe war die Silhouette einer Gestalt in der Dunkelheit zu erkennen. Sie ging darauf zu und erkannte ihren Schützling, der vor vielen Monden für einige Zeit in ihrem Kloster gelebt hatte. Nun trat er aus dem Schatten des Baumes hervor, in den Lichtschein des weißen Mondes. Unwillkürlich wich Farie zurück. So groß hatte sie Gerrit nicht in Erinnerung gehabt. Obwohl die letzte Begegnung mit ihm noch nicht lange her war. Heute erschien er ihr dagegen etwas schmaler.

Für diesen nächtlichen Besuch gab er gewiss einen bedeutenden Grund, durchfuhr es sie in Gedanken. »Was ist geschehen, Gerrit?« Sie machte einen Schritt auf ihn zu und legte ihre Hand auf seine Wange. Dabei musste sie sich ziemlich strecken. Sie spürte den weichen Flaum seiner Barthaare in ihrer Handfläche kitzelten.

»Bitte, Farie. Ich benötige Eure Hilfe.« Er schien, als würde er nach ihren Schultern tasten.

»Es ist sehr wichtig!«

Farie stellte sich auf ihre Zehenspitzen, um ihm besser in seine großen braunen Augen sehen zu können. Gerrit sah sie jedoch nicht an. Sein Blick blieb starr geradeaus gerichtet. Farie erschrak. »Du bist blind, Gerrit!« Diese Erkenntnis bohrte sich wie ein Messerstich in ihr Herz. Sie griff nach seinen Händen. »Um Mondes willen, was ist nur passiert?«

»Beruhigt Euch, Farie«, antwortete er gelassen. »Deshalb bin ich zu Euch gekommen. Niemand darf mich finden. Niemand. Versteht Ihr das?«

»Ich bringe dich in meinen Schlafraum, komm!« Sie nahm seine Rechte und führe Gerrit durch den Klostergarten in das Kloster hinein. »Achtung! Jetzt kommen die Stufen. Erinnerst du dich, wie oft du hier hochgerannt bist?« Farie erinnere sich an den scheuen, zurückhaltenden Jungen, der er einmal gewesen war.

»Die Zeit im Kloster habe ich in wundervoller Erinnerung.« Trotz seiner Blindheit waren seine Schritte auffallend sicher, und es schien, als würde er Farie bedingungslos sein Leben anvertrauen.

In ihrem kleinen Schlafraum angekommen, ließ sie seine Hand los und schloss die Tür hinter sich. Dann wandte sie sich Gerrit zu. »Bitte erzähle, was geschehen ist.«

»Es bleibt mir kaum Zeit für Erklärungen, Farie.« Gerrit knetete mit der Linken seinen rechten Handrücken.

»Endanas Eltern geben ein Fest, und ich habe ihr versprochen, wieder zurück zu sein, wenn der Empfang beginnt.« Er schluckte. »Farie! Ich liebe sie und ich möchte, dass sie meine Frau wird. Ihre Mutter scheint mich jedoch nicht sonderlich zu mögen. Wenn ich mein Augenlicht nicht wiedererhalte, werde ich keine Gelegenheit bekommen, Endana an meine Seite zu holen.«

Farie nahm seine großen, rauen Hände in die ihren und hielt sie fest.

»Aber, Gerrit? Wie kann ich dir dabei helfen?« Ihre Stimme klang sanft und mütterlich.

Auf seiner Stirn zeigten sich Sorgenfalten. »Ihr könnt mir bei einem Ritual helfen. Allein kann ich es nicht durchführen.«

Farie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe von diesen Dingen nichts.«

»Das müsst Ihr auch nicht. Hört mir bitte zu.« Er griff nach ihrer rechten Hand und legte die Handfläche auf seine Brust. Farie spürte, wie sein Herz schnell und kräftig schlug. Offensichtlich war er sehr aufgeregt.

»Ihr wisst, dass ich ein Kind des weißen Mondes bin, und Talon war ein Kind des roten Mondes. Mit roten Mondsteinen hat er ein Ritual durchgeführt, um aus mir eine dieser leblosen Kreaturen zu machen. Glücklicherweise bekam er keine Gelegenheit, seinen Plan zu vollenden! Allerdings verlor ich dadurch mein Augenlicht.«

»Das ist ja schrecklich.« Gerrit sich als einen dieser lebelosen Lebenden von Vamuns Dienern vorzustellen, schnürte ihr die Kehle zu.

»Mit den roten Mondsteinen hätte ich die Möglichkeit, mir mein Sehvermögen zurückzuholen, aber dann würde ich vermutlich wie Talon werden. Die lange Zeit, die ich bei Vamun verbrachte, habe ich mich so sehr dagegen gewehrt.« Er schluckte hart, während er offenbar in Gedanken an diese schwierige Lebensphase zurückdachte.

»Endanas Vater hat mir ein bedeutendes Buch geschenkt, welches mir einen völlig neuen Weg öffnet: Die Kraft des roten und des weißen Mondes zu nutzen, ohne mich dabei zu verändern.« Er ließ seine Hände sinken. »Es gibt rote und weiße Mondsteine, die eine besondere Energie auf uns ausstrahlen. Das Problem ist: Sie stoßen einander jedoch ab. Man kann sie nicht ohne Weiteres zusammenbringen. Deshalb benötige ich Eure Hilfe.«

»Mondsteine? Davon habe ich bisher nichts gehört.« Farie schaute in seine starren Augen. Nein! Gerrit verdiente dieses Schicksal nicht, in ständiger Dunkelheit zu leben.

»Ich brauche die roten Mondsteine für mein Augenlicht und die weißen für mein Herz - meine Seele. Ich kann dieses Ritual nur durchführen, wenn Ihr bereit seid, mir zu helfen. Bitte, Farie, werdet Ihr das für mich tun?«

Farie brauchte nicht lange zu überlegen. »Ich helfe dir. Sag, was muss ich tun?«

Er klang erleichtert. »Hier in meiner Tasche habe ich fünf weiße Mondsteine. Unten am Waldrand steht mein Pferd. Am Stirnriemen hängt ein kleines Säckchen, darin befinden sich zwei rote Mondsteine. Würdet Ihr die Steine bitte holen? Währenddessen werde ich alles Weitere vorbereiten.«

Farie nickte, aber dann fiel ihr ein, dass Gerrit sie ja nicht sehen konnte und so antwortete sie kurz. »Ich hole sie.«

Farie verließ das Zimmer und eilte durch die Dunkelheit zum Waldrand zurück. Sie fand das Pferd nahe der Stelle, wo sie Gerrit getroffen hatte. Am oberen Riemen hing tatsächlich ein winziges Leinensäckchen. Mehr als zwei Steine hätten dort wirklich keinen Platz gefunden. Sie löste das Lederbändchen vom Stirnriemen und ging raschen Schrittes durch den Klostergarten in das Gebäude zurück. Als sie die Tür zu ihrem Schlafraum öffnete, sah sie Gerrit auf dem Boden liegen. Seine Beine waren leicht gespreizt und die Arme lagen ausgestreckt vom Körper abgewinkelt. »Warte!«, gebot er ihr, »bleibt besser erst einmal stehen.«

Zwischen seinen Füßen sowie zu beiden Seiten seines Bauches und des Halses leuchten weiße Steine. Es sah aus, als würde ein sanftes Licht in ihnen brennen. Faire stockte der Atem. So etwas hatte sie noch nie gesehen. »Die Steine um dich herum leuchten!«

»Das müssen sie auch«, erwiderte Gerrit und hielt seine Augen geschlossen. »Hört mir bitte gut zu, das ist sehr wichtig. Egal, ganz egal, was jetzt geschehen wird, Ihr müsst die roten Steine so auf den Boden neben meinen Kopf legen, dass die Linie, die sie verbindet, genau über meinen Augen verläuft. Es wird all Eure Kraft fordern, sie festzuhalten. Bis die weißen Steine aufhören zu leuchten, haltet die roten Mondsteine fest.« Seine Worte klangen zittrig, als habe er Angst.

»Bist du sicher, dass du dir damit nicht mehr Leid zufügst?« Plötzlich war Farie nicht wohl zumute und sie zweifelte, ob ihre Entscheidung, Gerrit zu helfen, wirklich nützlich war.

»Bitte, Farie. Egal, was passiert, haltet die Steine fest.« Ein seltsamer Ton lag in seiner Stimme.

Farie riss sich zusammen und verriegelte die Tür. »Beim weißen Mond. Ich bin so weit.«

Beherzt nahm sie in jede Hand einen roten Mondstein.

Gerrit atmete drei Mal tief durch und flüsterte ihr zu: »Ihr seid an der Reihe.«

Farie fasste allen Mut zusammen und kniete sich neben seinem Kopf auf den Boden. Augenblicklich spürte sie einen Widerstand, der zweifelsohne von den roten Steinen ausging und sich verstärkte, je näher sie an ihn heranrückte. Farie musste all ihre Kraft aufbringen, um die Mondsteine genauso zu platzieren, dass die imaginäre Linie, die sie verband, über Gerrits geschlossene Augen verlief. Der Gegendruck der Steine war enorm. Gerrit begann am ganzen Körper zu vibrieren, nur sein Haupt schien durch die Kraft der Mondsteine wie von Geisterhand festgehalten zu werden. Sein Atem wurde flacher und schneller, auf seiner Stirn sammelten sich Schweißperlen. Dieser beängstigende Anblick brachte Faries Entschlossenheit zu helfen ins Wanken. Aber Gerrits Worte hallten in ihr nach: »Egal, was passiert, haltet die Steine fest«. Das gab ihr neue Kraft. Doch nun begannen auch ihre Hände vor Anstrengung zu zittern. Gerrit stöhnte und ächzte, als habe er furchtbare Schmerzen. Farie fragte sich, ob Gerrit wirklich wusste, worauf er sich eingelassen hatte. Womöglich schadete sie ihm mehr, wenn sie die Steine jetzt fortzog. Solche Rituale waren und blieben ihr fremd. Ihre Zweifel wuchsen je mehr Kraft sie aufbringen musste, um die Steine in der Position zu halten. Es schien, als würde diese Prozedur eine Ewigkeit dauern.

Plötzlich erloschen die weißen Mondsteine und sogleich ließ Farie die roten los, die augenblicklich auf dem Fußboden bis hin zur Wand entlangglitten.

Gerrits Kopf fiel leblos zur Seite. Erschrocken warf Farie ihre Hand an den Mund. Was war mit ihm geschehen? Hastig rutschte sie neben seinen Oberkörper und legte ihre Hand auf sein Herz.

»Gerrit? Bitte sag‘ doch etwas.« Sein Brustkorb hob und senkte sich langsam in gleichmäßigem Rhythmus seiner Atmung.

Er lebte!

Erleichtert ergriff Farie seine Hand. Sie nahm jedoch keinerlei Regung wahr und ihr Herz klopfte heftig. Was hatte Gerrit nur getan? In diesem Moment bewegten sich seine Finger in ihrer Hand und seine Augen begannen zu blinzeln, bis er sie schließlich öffnete.

»Diese Mondsteine sind mir unheimlich.« Sie spürte einen Kloß im Hals, als sie an das Erlebte dachte.

»Danke, Farie. Ohne Euch hätte ich dieses Ritual niemals durchführen können.« Noch leicht benommen setzte er sich auf und schluckte mehrere Male. Er wandte sich Farie zu und berührte sanft ihre Wange mit seiner Rechten. Sein Blick war voller Lebendigkeit, die sie von Gerrits ausdrucksvollen Augen kannte.

»Du kannst wieder sehen!« Ein Stein fiel ihr vom Herzen. »Ich hatte starke Zweifel, als ich die Kraft der Mondsteine spürte.«

»Meine liebe Farie. Habt tausend Dank.« Bei diesen Worten nahm er Farie in seine Arme und drückte sie fest an sich. Auch Farie hatte das Bedürfnis, diese Geste zu erwidern.

»Du weißt, dass ich fast alles tun würde, um dich glücklich zu sehen.« Sie löste sich aus der Umarmung: »Geht es dir gut?«

»Aber natürlich!« Er lächelte zufrieden. »Warum sollte es mir nicht gut gehen?«

»Während dieses Rituals sah es nicht so aus. Ich hatte große Angst um dich.«

»Darüber dürft Ihr Euch keine Sorgen machen. Eines ist jedoch sehr wichtig.« Gerrits Stimme veränderte sich, sie klang eindringlich, sogar betörend. »Ich war nicht hier! Ihr habt mich nicht gesehen, und von einem Ritual mit Mondsteinen habt Ihr noch nie etwas gehört.«

Farie nickte, sie fühlte sich benommen, als habe sie eine Droge bekommen.

»Ich werde wiederkommen. Wenn Endana meine Frau wird, sollt Ihr dieser Zeremonie beiwohnen.« Mit diesen Worten gab Gerrit ihr zum Abschied einen Kuss auf die Stirn und kletterte aus dem Fenster.

Farie rieb sich das Gesicht. Ihr war merkwürdig zumute, als habe sie einen lebhaften Traum gehabt, der mit jedem weiteren Atemzug zu verblassen begann. Wo waren diese roten Steine, die nach dem Ritual auf dem Boden entlanggelitten waren? Außer der Tatsache, dass sie auf dem Fußboden hockte, ließ nichts mehr darauf schließen, dass Gerrit wirklich bei ihr gewesen und sie um Hilfe gebeten hatte. Langsam stand sie auf, bewegte sich unsicher zum Fenster und blickte zum Waldrand. Es war zunächst totenstill. Plötzlich unterbrach der durchdringende Ruf einer Eule die nächtliche Ruhe. Genau fünf Mal stieß der Vogel seinen Schrei aus, dann herrschte wieder Stille.

»Ein eigenartiger Traum! So etwas ist mir noch nie passiert«, durchfuhr es sie und schüttelte den Kopf. Aber was hatte sie eigentlich geträumt? Ihre Augenlider fühlten sich jedoch zu schwer an, um weiter darüber nachzudenken. Erschöpft legte sie sich auf ihr Bett und schlief sofort ein.

 

Wachsam ritt Gerrit durch den Wald. Um das Geheimnis des besonderen Rituals zu wahren, durfte er niemandem begegnen, weder dem jungen Tamo noch dem treuen Sanar oder anderen Männern seines Vaters, und schon gar nicht den Waldstrolchen. Zwischendurch verwischte er sorgfältig die Hufspuren, um ganz sicherzugehen, dass ihm keiner folgte. Er lenkte sein Pferd querdurch das Unterholz abseits des Weges. Er musste sich beeilen, und wenn er das Fest rechtzeitig erreichen wollte, musste er die Nacht durchreiten. Der weiße Mond strahlte in voller Größe und leuchtete zwischen den Bäumen auf das Dickicht. Einige weiße Wolken reflektierten das Mondlicht und erhellten gespenstisch den nächtlichen Himmel.

Plötzlich standen, wie aus dem Nichts, fünf kräftige Männer in hellbraunen Anzügen im Halbkreis vor ihm. Gerrit riss seine Augen auf, sein Pferd scheute und tänzelte rückwärts. Woher kamen diese Männer so überraschend? Warum hatte er sie trotz seiner Aufmerksamkeit nicht bemerkt?

Der mittlere Mann legte seine Handflächen aneinander, kam einen Schritt auf Gerrit zu und neigte seinen Kopf. »Das Kind des weißen Mondes sollte äußerst wachsam sein.«

Gerrit konnte keine Schwerter entdecken, dennoch waren diese Leute ihm unheimlich. Hatten sie eventuell die Gabe, seine Wahrnehmung zu beeinflussen? Hatte er sie deshalb nicht gespürt?

»Nehmt unsere Worte mit Euch.« Der Mann, der ihn angesprochen hatte, legte seine linke Hand für einen Moment auf seine Brust, drehte die Handfläche nach oben und führte sie an seinem Körper entlang bis an seinen linken Schenkel. Sein schulterlanges, strähniges Haar hing ihm in sein bärtiges Gesicht. Diese großen braunen Augen schienen Gerrit eingehend zu mustern, so als müsse er sich Gerrits Aussehen gut einprägen. »Solange das Blut fließen kann, der Atem im Leib steckt, ist der Tod nicht besiegelt. Der rote Mond hat mächtige Gefährten, sie vermehren sich wie Pilze nach der Regenzeit.«

Die fünf Männer verneigten sich und verschwanden lautlos nacheinander zwischen dem Buschwerk. Gerrit verharrte einen Augenblick bewegungslos auf seinem Pferd, bis er sich sicher genug fühlte, seinen Weg fortzusetzen. Diese Gestalten blieben ihm mehr als rätselhaft. Ihre Worte klangen nach den uralten Weisheiten aus den Büchern. Was waren das für Männer und was war ihr Anliegen? Leise wiederholte er immer wieder die Aussage des Mannes: »Solange das Blut fließen kann, der Atem im Leib steckt, ist der Tod nicht besiegelt. Der rote Mond hat mächtige Gefährten, sie vermehren sich wie Pilze nach der Regenzeit.« Gerrit war klar: Diese Begegnung hatte gewiss eine tiefere Bedeutung. Während er noch darüber nachdachte, bemerkte er, wie langsam die Sterne verblassten und das Dunkel des Himmels heller wurde. Plötzlich kam ihm ein furchtbarer Gedanke. War es Talon gelungen, Vamun mit einem Ritual das Leben zu retten? Womöglich hatte dieser Mann eben ihm genau das mit seinen Worten verdeutlichen wollen. Aber woher sollten diese Männer von Vamun oder Talon wissen?

Aus seinen Überlegungen gerissen, schreckte er hoch. Er war nicht vorsichtig genug gewesen, so wie diese Männer es ihm geraten hatten. Beinah zu spät führte er sein Pferd weiter hinein ins Unterholz und wartete ab. Fernab des Weges jagten zwei Waldstrolche durch das Gebüsch, gefolgt von einem Reiter in dunkelroter Kleidung. Für Gerrit sah es fast so aus, als legten sie ihren Weg gemeinsam zurück. Sein nächster Gedanke traf ihn, wie ein Schlag vor den Kopf. Wenn Vamun, vorausgesetzt er wäre tatsächlich am Leben, die Waldstrolche für sich gewinnen würde, so wäre es nicht auszudenken, welches Ausmaß seine Rache annehmen könnte. Vor allem, da er jetzt wusste, wer sein Vater war. Gerrits Herz begann zu rasen. Diese Aussage des Mannes ›Das Kind des weißen Mondes sollte äußerst wachsam sein. Der rote Mond hat mächtige Gefährten, sie vermehren sich wie Pilze nach der Regenzeit‹ schien diese Befürchtung zu verdeutlichen. Die Waldstrolche waren hervorragende Kämpfer, Meister der Tarnung, furchtlose Gesellen ohne Gewissen. Die Anhänger seines Vaters würden schwächlich wirken gegen die Horden von Waldstrolchen, die Vamun um sich sammeln könnte. Zur Sicherheit verharrte Gerrit noch einen Moment in seinem Versteck, ehe er sich wieder auf den Weg machte. Wie kam ihm nur dieser Gedanke, Vamun wäre am Leben? An jenem Tag war das Blut aus seinem Rumpf geflossen, regungslos hatte Vamun vor ihm gelegen. Er konnte dieses Gefecht unmöglich überlebt haben. ›Solange das Blut fließen kann, der Atem im Leib steckt, ist der Tod nicht besiegelt‹ Selbst sein Vater hatte Vamuns Tod angezweifelt, weil dessen Leichnam niemals gefunden wurde. »Sei wachsam«, flüsterte sich Gerrit zu. »Nach dem Fest wirst du gleich mit Vater reden.« Besonders aufmerksam ritt er den ganzen Tag über durch den Wald. Aber nur einige Rehe kreuzten seinen Weg.

 

Die Sonne stand schon tief, als Gerrit die gewaltige Burg mit den sechs hohen Türmen erreichte. Nachdem er das erste riesige Tor durchquert hatte, bot sich ihm ein ungewohntes Bild. In der kleinen Stadt herrschte bereits heiteres Treiben. Bunte Fahnen waren gehisst, verschiedene Marktstände aufgebaut und zahlreiche Händler boten ihre Waren feil. Feuerschlucker, Seiltänzerinnen, Narren und Musikanten sorgten für Unterhaltung. Derartiges hatte Gerrit bisher gesehen. Weder im Kloster noch zu der Zeit seiner Ausbildung bei Vamun hatte er einem Fest wie diesem beigewohnt. Mehrfach blieb er stehen und beobachtete das Geschehen. Plötzlich kam eine Tänzerin auf ihn zu und lächelte ihm während ihrer Darbietung auffordernd zu. Ihr langes blondes Haar wirbelte durch die Luft und ihre großen hellbraunen Augen glänzten im festlichen Fackelschein. Bestimmt wartete Endana auf ihn. Voller Sehnsucht stieg er von seinem Pferd und schlich durch die Seitengassen an das innere Burggebäude heran. Unbemerkt kletterte er die felsige Wand hinauf, bis er Endanas Fensteröffnung erreichte. In dem Augenblick, da sie ihren Kleiderschrank öffnete, nutzte Gerrit, um sich von ihr ungesehen hinter ihrem Bett zu verstecken.

Sein Blick fiel auf Endana, derweil diese sich im Spiegel betrachtete. Sie sah so zauberhaft in dem dunkelgrünen Anzug aus. Von den Schultern bis zu den Ärmeln und von den Oberschenkeln über die Knie bis zum Hosensaum schmückten glitzernde hellbraune Verzierungen das Kleidungsstück. Lächelnd musterte sie sich im Spiegel, drehte sich zur Seite und strich mit der Hand über ihren Leib. Plötzlich zuckte sie zusammen und drehte sich hastig um, als habe sie Gerrit entdeckt. Im selben Augenblick duckte sich Gerrit. Vermutlich hatte er sich zu weit vorgebeugt. Sie schüttelte den Kopf, sah erneut in den Spiegel, um dann Richtung Tür zu gehen.

Dies hielt Gerrit für den geeigneten Moment, hervorzukommen. »Mein Herz! Es gehört dir!«

Endana erstarrte. Sie wandte sich zum Fenster und sah ihn lächelnd an. »Gerrit!« Sie kam langsam auf ihn zu, legte ihre Hände auf seine Wangen, während sie in seine Augen schaute. »Wie hast du das geschafft?«

Das sollte sein Geheimnis bleiben. Er lächelte sie an. »Lass uns gehen, Endana!« Gerrit ergriff ihre Hand und sie traten gemeinsam auf den Flur. Es war ein unbeschreiblich erhebendes Gefühl, mit Endana an seiner Hand die Treppe hinunterzuschreiten.

In der riesigen Eingangshalle stand Pieros Belun und erteilte seinen Dienern Anweisungen. Als er Gerrit erblickte, ging er auf ihn zu. »Es freut mich außerordentlich, dass Ihr meiner Einladung gefolgt seid, junger Mann!«

Gerrit verbeugte sich. »In Eurem Buch habe ich ein unschätzbares Wissen entdeckt, welches mir von großem Nutzen sein wird.«

»Wo ist dein Kleid, Endana?«, hörte Gerrit hinter sich ihre Mutter fragen.

Er drückte Endanas Hand. Er musste sie von dieser Mutter erlösen! Diese günstige Gelegenheit durfte er nicht verstreichen lassen. »Pieros Belun!« Gerrit verneigte sich noch ein Stück tiefer. »Hiermit halte ich um die Hand Eurer wunderschönen Tochter Endana an!« Erst jetzt richtete er sich wieder auf.

Ein entsetztes »Was?«, löste sich aus dem Mund der Mutter.

»Junger Mann!« Pieros Belun lächelte. »Ich weiß ja gar nicht, in welche Hände ich meine Tochter gebe.«

Gerrit drehte seinen Kopf zur Seite, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. »In die starke Hand eines Selenis, Pieros Belun!« Seleni nickte Belun zu.

»Dieser bemerkenswerte junge Mann ist Euer Sohn?« Belun musterte Gerrit, als müsse er sich ihn nun genau ansehen.

»Das ist er.« Seleni klang stolz.

Belun lachte laut. »Konnte ich je einem Seleni etwas abschlagen?« Er wandte sich seiner Frau zu und schob sie nach draußen.

»Verdammt, Gerrit! Wo warst du?« Seleni packte Gerrit fest bei den Schultern. »Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht! Sanar und Tamo suchen nach dir!« Er schaute Gerrit stirnrunzelnd in die Augen.

»Ich habe mein Augenlicht zurückgeholt, Vater.« Gerrit spürte, wie er lächelte, er fühlte seinen Stolz und sogar den geheimnisvollen Glanz in seinen Augen.

 

Eindringlich studierte Seleni das Gesicht seines Sohnes, um ihn noch einmal fest an sich zu drücken. »Ich würde mich wohler fühlen, wenn ich Sanar an deiner Seite wüsste.«

»Verzeiht, Vater. Ich schätze Sanar sehr. Diese Aufgabe musste ich jedoch allein bewältigen.«

Seleni nickte. »Weil Sanar niemals zugelassen hätte, dass du die roten Mondsteine anrührst, habe ich recht?« Selenis Nasenflügel bebten und zeigten Gerrit deutlich, wie wütend sein Vater auf ihn war.

»Vielleicht, Vater.« Er wollte sich abwenden, um diesem Wortwechsel aus dem Weg zu gehen, doch Seleni packte fest seinen Arm. »Gerrit?« Er flüsterte, »warum tust du uns das an?«

In diesem Moment ruhig zu bleiben, fiel Gerrit schwer, er versuchte es dennoch. »Wäre Euch ein Sohn lieber, der mit seinen starren Augen nichts anzufangen weiß?«

»Ist dir denn gar nicht bewusst«, Gerrit spürte den hastigen Atem seines Vaters auf seinem Gesicht, »was diese roten Mondsteine in dir anrichten können? Hast du vergessen, was beinahe mit dir geschehen wäre? Erinnerst du dich nicht an deinen qualvollen Kampf ins Leben zurück? Hast du nichts daraus gelernt?«

»Bitte, Vater!« Gerrit legte einen sanften Ton in seine Worte. »Ihr liegt mit Euren Vermutungen falsch. Weder habe ich die Schmerzen noch das Ritual von Talon vergessen.« Sanft berührte Gerrit mit seinen Fingern die breite Narbe seines Vaters, die sich von der linken Augenbraue bis hin zum Wangenknochen zog. »Vertraut mir. Bitte!« Vamun hatte seinen Vater damals fürs Leben gezeichnet, aber Gerrit war es gelungen, Vamun ebenso zu entstellen.

Fest

»Die Ähnlichkeit mit deinem Vater, die kleine Nase, das braune wellige Haar, ist unübersehbar.« Endana sah ihn an. »Trotz seiner Vorwürfe scheint er dennoch sehr stolz auf dich zu sein.«

»Er verurteilt etwas, von dem er nichts versteht.« Gerrit führte Endana auf den geschmückten Burghof. Zwischen den vielen Gästen rannte ein kleines Mädchen auf ihn zu. Ihre langen dunkelblonden Locken fielen bis auf ihre Hüften. Gerrit lächelte, während er seine Arme auseinanderbreitete, um seine Schwester aufzufangen. Innig schmiegte er Luana an sich. Sie legte ihre Arme um seinen Hals und sah ihn an. »Du kannst wieder sehen! Es ist viel schöner, wenn deine Augen mich richtig ansehen.«

»Das ist wahr.« Gerrit musste lachen. »Du siehst zauberhaft aus, kleine Prinzessin.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange und ließ Luana hinunter.

»Wie ich sehe«, seine Mutter kam auf ihn zu, »hast du das erreicht, wofür meine Kräfte nicht ausgereicht haben.«

Er nahm seine Mutter in den Arm, drückte sie kurz an sich. »Das ist nicht wahr, Mutter.« Er dachte an das Buch von Belun zurück. »Manchmal muss man bereit sein, neue Wege zu gehen.« Mit Endana an seiner Hand mischte er sich unter das bunte Treiben. Mit ihr an seiner Seite wollte er sich alles genau ansehen.

 

Liv sah ihrem Sohn einen Augenblick nach, bis sie den Arm ihres Mannes um ihren Nacken spürte.

»Er möchte, dass wir ihm vertrauen, Liv.« Er atmete hörbar aus. »Zeitweise ist mir Gerrit rätselhaft.« Auch Seleni blickte ihm nach.

Luana zog an der Hand ihres Vaters. »Lasst uns Gerrit und Endana begleiten, Vater!«

»Nein, Luana. Die beiden werden sich hier allein umsehen. Wenn wir mit dem Mahl beginnen, kommen sie gewiss zu uns.« Seleni drückte seine Frau liebevoll an sich. »Es gibt einiges vorzubereiten.«

Sie richtete ihren Blick auf Selenis Augen. »Wie meinst du das? Was sollen wir vorbereiten?«

»Unser Sohn hat bei Pieros Belun um die Hand seiner Tochter angehalten.«

Sie spürte, wie der Erfolg ihres Sohnes ihr ein Lächeln ins Gesicht zauberte. »Dann haben wir wohl eine Menge zu tun.« Auf der Burg wollte sie ein kleines Reich für die beiden schaffen, das Fest musste geplant und Gäste eingeladen werden. Seleni wirkte aber nicht sonderlich glücklich. »Du siehst besorgt aus?«

»Ja!« Er nahm seinen Arm zurück, »ich mache mir Gedanken.« Er rieb sich seinen Vollbart, dabei zog er seine Nase kraus. »Unser Sohn verwendete die roten Mondsteine. Wie sonst hätte er sein Augenlicht zurückbekommen? Wenn er sich verändert, wie werden wir damit umgehen?«

»Hat er dir erzählt, dass er die roten Steine benutzt hat?« Sie sah ihm ins Gesicht.

»Als ich ihn danach gefragt habe, bat er mich, ihm zu vertrauen.« Seleni klang wütend. »Wie kann ich meinem Sohn vertrauen, wenn er sich mit dieser grauenvollen Kraft einlässt? Wie nur, Liv?«

Sie legte ihre Hand auf seinen Oberarm. »Glenn! Er schien mir ganz der Alte zu sein. Von den befürchteten Veränderungen war nichts zu spüren. Er ist mit Endana so glücklich. Lass nur, dieses Mädchen hat großen Einfluss auf ihn. Du sorgst dich zu viel!«

Seleni schüttelte den Kopf. »Darf ich dich daran erinnern, wie beunruhigt du warst, als er mit diesem zweifelhaften Buch von Pieros Belun zurückkehrte?«

»Ja, ich weiß. Aber nachdem Gerrit dieses grausame Ritual überlebt hat und in seiner Dunkelheit allein blieb, ist er achtsamer und ernster geworden. Solche Vorfälle wird er in der kommenden Zeit zu vermeiden wissen.«

»Das ist wahr. Seine Besonnenheit hat mich an einigen Tagen sehr nachdenklich gemacht.«

»Weißt du«, sie streichelte seinen Arm. »Die verlorene Zeit seiner Kindheit mit deiner Fürsorge wieder wettzumachen, ist nicht der richtige Weg. Genieße die Augenblicke, die wir gemeinsam mit ihm verbringen dürfen.« Sie ließ ihre Hand sinken. »Sanar hat seine Aufgabe, Gerrit zu beschützen, äußerst ernst genommen.«

»Trotzdem, denke ich«, Seleni atmete tief, »Sanar hätte uns früher sagen müssen, dass Gerrit nicht bei dem Feuer umkam und er ihn zu den Selenoriten gebracht hatte.«

»Vielleicht, Glenn, aber bedenke«, sie blickte ihm in die Augen. »Er war nur um sein Leben bemüht, als Sanar sagte, er müsse ganz sicher sein, dass unsere Männer zahlreich genug sind, um seinen geliebten Herrn vor Vamun schützen zu können.«

Seleni nickte. »Du hast recht.«

»Ich glaube, Sanar liebt ihn nicht weniger als wir.«

 

Gerrit lief mit Endana zu jener Seitengasse, wo er sein Pferd zurückgelassen hatte.

»Von hier bist du in meinen Schlafraum gelangt?« Sie schaute mit offenem Mund die Wand zu ihrem Fenster hinauf. »Das ist doch unmöglich!«

Hier waren sie ungestört, niemand war weit und breit zu sehen. Liebevoll legte Gerrit seine Hände auf ihre Wangen und berührte mit seinem Mund sanft ihre Lippen. Er musste ihr zeigen, dass Liebe auch Zärtlichkeit bedeuten konnte. Der große Kopf des Pferdes stupste gegen seinen Rücken.

»Ich muss dir etwas erklären« Endana senkte ihren Kopf. »Ich«, sie presste die Lippen aufeinander, »du wirst dich fragen«, sie schluckte, »ich meine ...« Ihre Stimme zitterte. »Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.«

»Endana!« Er hob ihr Kinn, um ihr in ihre zauberhaft grünen Augen zu sehen. »Egal, was dich belastet, es wird nichts daran ändern. Mein Herz. Es gehört dir.« Gerrit ahnte, was sie beschäftigte. »Wenn du dich bereit fühlst, wirst du es mir erzählen.«

Endana schloss für einen Moment die Augen und legte ihren Kopf auf seine Brust. »Halte mich fest und lasse mich nie wieder los.«

Gerrit genoss diesen Augenblick, da Endana sich ihm vollkommen anvertraute. Sanft drückte er sie an sich und flüsterte zärtlich: »Im Kloster oder auf dem Schiff?«

»Was?« Endana löste sich aus der Umarmung. Sie warf ihren Kopf in den Nacken, um Gerrit anzusehen. »Gerrit, was geht in dir vor?«

Er lächelte, »die Zeremonie, wenn du meine Frau wirst, wo wollen wir sie abhalten?«

Sie lachte, wirkte gelöst. »Auf keinen Fall bei meinen Eltern. Das Schiff ist eine gute Idee, allerdings verbindet uns das Kloster und Farie auf eine besondere Weise.« Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Das müssen wir nicht sofort entscheiden, nicht wahr?«

Gerrit nahm die Zügel in die eine, Endana an die andere Hand und sie gingen gemeinsam die Gasse hinunter auf das festliche Treiben zu. »Bitte warte hier. Ich bringe nur das Pferd in den Stall. Nach dem langen Ritt muss es versorgt werden.« Als er zu ihr zurückschaute, musste er an jenen Tag denken, als er Endana bewusstlos im Wald gefunden hatte. Vom ersten Moment an hatte er sich von ihr angezogen gefühlt.

Der Stallknecht gab Gerrits Pferd zuerst zu trinken und versprach, das Tier gut zu versorgen. Als Gerrit zurückkam, sah er Endana von weitem mit dem Rücken zu ihm gewandt, und sie schien einer Tänzerin zuzuschauen, wie diese sich einige Male um sich selbst drehte. Im Rhythmus der Musik bewegte Endana ihren Oberkörper mit. Doch dann begann sie zu schwanken, als sei ihr schwindlig. Gerrit eilte sofort zu ihr, war aber nicht flink genug, um sie aufzufangen. Sie sank, wie eine Marionette, deren Fäden man loslässt, zusammen. Dieser Vorfall überraschte ihn wenig, es bestätigte nur seine Vermutung. Er hob Endana auf seinen Arm und brachte sie zum Stall, der am nächsten gelegene Ort, an dem er sich ohne großes Aufsehen um sie kümmern konnte. Auf dem Vorrat von frischem Stroh legte er sie vorsichtig ab, strich ihr über die Stirn und ihre Schläfe entlang. Sie reagierte nicht. Gerrit holte zwei Mondsteine aus der Tasche, platzierte sie neben ihrem Kopf und legte seine Hände auf ihre Schläfen. Zuerst lenke er seine Gedanken auf die Steine, danach weiter auf den weißen Mond. Mit diesem Kraftritual sollte es ihr schnell besser gehen. Ein leichtes Zucken ihrer Augenlider ließ ihn das Vorhaben beenden. Sie musste das nicht unbedingt mitbekommen. Nachdem er die Mondsteine wieder in seiner Tasche verstaute hatte, kam Endana zu sich. »Was ist geschehen?« Sie setzte sich auf und rieb sich dabei das Gesicht.

»Das wollte ich eigentlich von dir wissen.« In dieser Situation unwissend zu tun, war gar nicht so leicht.

»Ich habe der Tänzerin zugesehen, und dann drehte sich alles um mich herum«, sie schüttelte den Kopf, »so etwas ist mir bisher nicht passiert.«

Gerrit beugte sich vor, fuhr mit seinen Fingern durch ihre dunklen Locken und küsste sie sacht auf die Stirn. »Ich muss wohl besser auf dich achtgeben.«

Sie senkte ihren Blick, »ich habe den ganzen Tag noch nicht einen Bissen herunterbekommen. Vermutlich liegt es daran.« Jetzt sah sie auf und schaute Gerrit direkt ins Gesicht. »Ich hatte Angst, du würdest nicht kommen.«

Gerrit spürte, dass sein Lächeln verschwand. »Ich hatte es dir doch versprochen. Vertraust du mir denn nicht?«

»Natürlich vertraue ich dir.« Sie schluckte. »Wenn du nicht bei mir bist, sehe dich immer wieder im Verlies auf dem Tisch liegen, nachdem Talon …«

»Scht!« Gerrit legte seinen Finger auf ihre Lippen. »Lass uns zurückgehen.« Er stand auf und half Endana sanft auf die Beine.

 

»Ich bin froh«, Luana hüpfte neben ihrer Mutter her, »dass Gerrits Augen lebendig sind.«

Die Eltern warfen sich einen kurzen Blick zu. »Ja, Luana, wir sind darüber ebenfalls glücklich.« Liv strich ihrer Tochter eine Strähne aus dem Gesicht.

»Oh, seht mal, der Mann dort ist ein Monddrache!«

Seleni lachte. »Das ist ein Feuerschlucker, Luana!«

»Liebste Cousine!« Pieros Belun kam mit seiner Frau auf sie zu. »Wo habt Ihr ihn all die Zeit über nur versteckt?«

Liv spürte, wie sie die Stirn runzelte. »Werter Cousin, wen meint Ihr?«

Belun nahm ihre Hände, »Euren Sohn.« Er lachte, »Euren außergewöhnlichen Sohn. Ihr habt nie von ihm erzählt, auch in Euren Briefen habt Ihr ihn nie erwähnt.« Er legte seinen Arm um ihre Schultern.

Ein unangenehmer Kloß im Hals hemmte Liv beim Sprechen. »Ihr habt es nur vergessen, werter Cousin!« Sie schluckte. »Als das Feuer unsere Burg zerstörte, brachte Sanar Gerrit ins Kloster.« Ihre Stimme versagte, die bittere Zeit danach und nun die Freude, das Glück, Gerrit lebend zu Hause zu haben, trieben ihr Tränen in die Augen.

Belun nahm seinen Arm herunter. »Verzeiht. Natürlich, ich hatte es verdrängt. Eine schlimme Zeit war das für Euch.«

»Erst vor vier Regenperioden«, Seleni sah Pieros Belun ins Gesicht, »kehrte Gerrit nach Hause.«

»Eure Tochter«, Liv wischte sich die Freudentränen von den Wangen, »ist ebenso bemerkenswert.«

»Endana ist eigensinnig.« Nessa, die Mutter, machte eine wegwerfende Handbewegung, »es ist nicht einfach mit ihr.«

Pieros Belun rollte auffällig mit den Augen, sichtlich teilte er die Meinung seiner Frau nicht.

»Aber, Nessa«, begann Liv, »Eure Tochter hat herausragende Fähigkeiten, sie brauchen Zeit, um heranzureifen. Ich hatte Endana vom ersten Moment an in mein Herz geschlossen.«

»Wie dem auch sei, wir werden nachher einen guten Schluck Wein auf unsere Kinder trinken«, sagte Belun.

»Kind!«, Nessa drehte sich zur Seite und ging auf ihre Tochter zu. »Du bist ganz bleich. Geht es dir nicht gut?«

»Doch, Mutter!«

Nessa hob mahnend den Finger, »ich habe dir ja gleich gesagt ...«

Pieros Belun legte seine Hand auf Nessas Schulter, »bitte, Nessa, nicht an einem so wundervollen Tag!« Er schaute in die Runde, »ich sollte die festliche Tafel eröffnen.« Er nickte seiner Cousine, Seleni und Gerrit zu, um die fünf Stufen zu einem hölzernen Podium hinaufzusteigen, wo zwei Männer auf ihren Einsatz warteten. Als Pieros Belun zwischen ihnen stand, bliesen sie ihre Fanfaren. Danach herrschte eine beeindruckende Stille unter den Festgästen. Mit kräftiger Stimme begann Pieros Belun; »Die Monde segnen Euer zahlreiches Erscheinen von nah und fern. Werte Freunde! Der Grund dieses Festes ist, wie ihr alle wisst, kein geringerer, als für meine einzige Tochter Endana einen Ehemann zu wählen.« Er winkte Endana zu sich.

Die Gäste jubelten.

Pieros Belun hob beide Hände in die Höhe, worauf die Menge verstummte. Jetzt legte er seinen Arm um seine Tochter, dabei straffte er seine Schultern. »Zu meiner großen Überraschung hat bereits ein junger Mann um ihre Hand angehalten.«

Vermehrtes Geraune war zu hören.

Pieros Belun hob seinen Kopf, wartete einen Moment, bis er Gerrit sah, und winkte diesen ebenfalls zu sich. Er nahm seine Tochter bei der Hand und führte sie Gerrit entgegen. »Gerrit Seleni! Hiermit vertraue ich Euch meine wunderschöne Tochter Endana an.« Er legte ihre Hände aufeinander und hob sie in die Höhe. »Lasst uns das junge Paar mit dem heutigen Fest gebührend feiern!« Die Gäste jubelten. Pieros Belun kam dicht an Gerrit heran, »ich sehe in Euch eine bedeutende Bereicherung für das Haus Pieros.« Er warf einen Blick zu den beiden Männern, die sofort ihre Fanfare ertönen ließen.

In diesem Augenblick legte er die Fingerspitzen beider Hände aufeinander und formte daraus eine Kugel, die er auf Kopfhöhe brachte. »Mögen die Monde uns auf all unseren Wegen beschützen.« Seine Worte schwollen kraftvoll an, »mögen sie dieses Fest und all ihre Gäste segnen, mögen sie diese junge Liebe festigen und mit vielen Kindern beschenken.« Langsam löste er die Finger und führte die Hände auf sein Herz. »Möge die geheimnisvolle Kraft unserer Monde Eure Seelen erleuchten.«

 

Von diesem leicht erhöhten Podium sah Gerrit, wie viele Gäste sich hier tatsächlich versammelten hatten. Jeder schien seinen besten Rock, sein schönstes Kleid, seinen kostbarsten Anzug zu tragen. Doch diese Ansammlung schnürte Gerrit die Kehle zu. Er dachte augenblicklich an den Tag zurück, als er auf der Flucht vor Bunar mit seinem Vater nach Hause zurückkehrte und alle ihn anstarrten. Auch jetzt hatte er das Gefühl, von allen angestarrt zu werden. Um sich abzulenken, sah er auf die bunten Fahnen, die über den Burghof hängend lustig im Wind hin und her tanzten. Die Fackeln und Feuerschalen tauchten den Hof in ein zauberhaftes Licht. Dicht am Burggebäude beobachtete Gerrit unterdessen, wie zahlreiche Diener mit den Speisen und Weinkaraffen aus dem Burggebäude kamen, um sie auf den vielen Tischen zu verteilten. Der Duft von frischem Brot und von herzhaften Braten zog über den Hof.

Pieros Belun nahm Endana an seine rechte und Gerrit an seine linke Hand, »Kommt! Ich brauche eiligst einen Trunk für meine Kehle!« Er lachte.

An der langen Tafel wies Pieros Belun Gerrit den Platz neben Endana zu. Er ließ sich Wein einschenken, »auf ein gelungenes Fest!« Damit prostete er allen am Tisch zu.

Gerrit nahm einen Schluck Wein, während Endana sich reichlich Wurzelgemüse auf den Teller spießte. Beim Anblick der Roten Bete, die Endana probierte, fiel Gerrit die unheimliche Begegnung von vergangener Nacht ein. Wenn Pieros Belun so große Stücke auf ihn hielt, wäre er womöglich bereit, ihn zu unterstützen? Eine merkwürdige Unruhe erfasste Gerrit. »Verzeih, ich bin gleich wieder zurück.« Er ging zum nächsten Stuhl und beugte sich über Endanas Vater. »Pieros Belun!«

Der Angesprochene drehte sich um und schmunzelte, »ah, mein bemerkenswerter Schwiegersohn!«

»Ich bitte Euch um einen Augenblick.« Gerrit machte eine fast unmerkliche seitliche Kopfbewegung.

Pieros Belun nahm noch einen kräftigen Schluck Wein und erhob sich. Ein Stück weit hinter dem Podium herrschte mehr Ruhe. Dorthin geleitete Gerrit seinen zukünftigen Schwiegervater. »Eine Burg wie diese beherbergt sicherlich auch zahlreiche Krieger, nicht wahr?«

Belun klopfte Gerrit auf den Arm. »Das will ich wohl meinen.« Er lachte rau, aber nur kurz. »Doch sagt, worauf wollt Ihr hinaus?«

»Würdet Ihr die Männer meines Vaters unterstützen, wenn es erforderlich wäre?«

Pieros Belun rieb sich die rechte Schulter, »Ihr spannt mich auf die Folter.«

Gerrit atmete tief. »Auf dem Weg durch den Wald beobachtete ich einige Waldstrolche in Begleitung von rot gekleideten Gestalten.«

»Beim Mond!« Er riss seine Augen weit auf. »Wie furchtbar! Das wäre ein Bündnis, welches wir uns nicht wünschen sollten.«

»Eben. Die Männer meines Vaters werden spärlich dagegen etwas ausrichten können. Eure Unterstützung in diesem Fall wäre sehr bedeutungsvoll.«

Er kam dicht an Gerrit heran. »Das könnte in einer Katastrophe enden. Was wird Euer Vater unternehmen?«

Gerrit schüttelte den Kopf, »ich hatte bisher noch keine Gelegenheit, ihn davon zu unterrichten. Können wir auf Euch zählen?«

»Mein lieber Gerrit!« Dabei packte er ihn an seinen Schultern, »Ihr gehört fortan zur Familie, natürlich werde ich Euch beistehen. Ihr habt meiner Tochter und mir das Leben gerettet. Es ist mir eine Ehre.« Er ließ Gerrit los.

»Habt Dank!« Gerrit fühlte jedoch weiterhin diese Unruhe in sich, obwohl er nach dem Gespräch eigentlich beruhigter sein sollte. Er verbeugte sich.

»Wartet«, Pieros Belun hielt ihn am Handgelenk fest, »wenn diese Bedrohung zu groß wird, müsst Ihr Euren Vater nach seinen Brüdern fragen.«

Gerrit legte seine Stirn in Falten. »Brüder?« Warum wusste er das nicht? »Mein Vater hat Brüder?«

Pieros Belun nickte, »sie wären eine bedeutende Hilfe.« Mit diesen Worten ging er zum Tisch zurück.

Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend ließ Gerrit sich gegen das Podium sinken. Wo lebten Vaters Brüder, und warum hatte er sie noch nie erwähnt? Fieberhaft versuchte er, in seinem Gedächtnis ein Erlebnis zu finden, welches vor dem Kloster entstanden war. Auch jetzt, wo er zu wissen glaubte, was damals passiert war, fehlte ihm die Erinnerung an jene Zeit.

»Gerrit?« Endana stand plötzlich vor ihm. »Was hattest du mit meinem Vater zu besprechen?«

Gerrit knetete mit der Linken den rechten Handrücken. »Manchmal denkt man, jemanden zu kennen, und dann stellt man fest, dass man gar nichts von ihm weiß.«

»Was ist denn nur los mit dir?« Endana legte ihre Hand an seine Wange. »Hat es etwas mit mir zu tun?«

»Nein!« Nachdrücklich schüttelte er den Kopf. »Nein. Bitte verzeih.« Er küsste sie auf ihre Schläfe und ging mit ihr zur Tafel zurück. Sein Blick fiel auf das Burgtor, wo er zwei Männer seines Vaters erkannte, die sich suchend umsahen. Als sie Seleni in der Menge der Gäste entdeckten, eilten sie auf ihn zu. Es schien, als überbrachten die beiden seinem Vater eine wichtige Mitteilung. Seleni hörte aufmerksam zu und schoss plötzlich in die Höhe. Bevor Seleni mit den beiden Männern zum Burgtor hastete, warf er Gerrit einen kurzen Blick zu.

Gerrit ahnte, dass dies kein gutes Zeichen war. Er lief seinem Vater so schnell er konnte nach, dabei hatte er jedoch Mühe, ihn im Gedränge der vielen Festgäste nicht aus den Augen zu verlieren. Ein Stück weiter unweit der Stadt sah er seinen Vater gerade noch in einem Pferdestall verschwinden.

»Beim weißen Mond. Das ist Sanars Pferd. Was ist bloß geschehen? Wo habt Ihr es gefunden?«, vernahm Gerrit die Stimme seines Vaters.

»Auf dem Rückweg vom Kloster ist uns das Tier über den Weg gelaufen, Herr.«

In diesem Augenblick betrat Gerrit den Stall.

»Es ist meine Schuld!« Sanar! Gerrit spürte einen dicken Kloß in seinem Hals. Sein Herzschlag verdoppelte sich.

»Sanar und Tamo schickte ich zu Vamuns Burg.« Sein Vater sah zu Boden, »ich hatte Angst um dich, Gerrit.« Er packte ihn am Kragen, »du warst blind und allein, was glaubst du hätte ich tun sollen? Die Hände in den Schoß legen?«

»Das habe ich nicht gewollt!«

»Nein!« Er ließ Gerrit los, »ausgerechnet Sanar, der für dich wirklich alles tun würde.«

Sanar! Vielleicht war er noch nicht verloren. Gerrit klammerte sich an den Gedanken, der ihm gerade kam. »Solange das Blut fließen kann, der Atem im Leib steckt, ist der Tod nicht besiegelt«, murmelte Gerrit vor sich hin. Sein Gefährte durfte nicht tot sein. Er musste sofort losreiten.

»Was?« Seleni ergriff seinen Arm. Seine Augen weiteten sich. »Wo hast du das her?«

»Ihr habt es die ganze Zeit gewusst, Vater. Vamun ist nicht tot. Er verbündet sich mit den Waldstrolchen.« Gerrit riss sich los und ging hinaus. »Ich werde Sanar finden.«

»Gerrit!« Seleni kam ihm hinterher. »Mit deinen ständigen Alleingängen ist niemandem geholfen, auch Sanar nicht.«

Gerrit eilte die Straße zum oberen Pferdestall hinauf.

»Ich habe nur vermutet, dass Vamun durch ein Ritual noch am Leben sein könnte.« Seleni rieb sich beim Laufen den Bart. »Umso wichtiger ist es, dass wir zusammenbleiben. Woher weißt du von den Waldstrolchen?«

»Auf dem Weg hierher entdeckte ich zwei Waldstrolche in Begleitung eines Reiters in dunkelroter Kleidung. Ich mag mir nicht ausmalen, wie sich das entwickeln wird.«

»Wir müssen uns gut vorbereiten.« Seleni verdoppelte seine Schritte. »Sag, woher hast du diese uralte Prophezeiung?«

»Prophezeiung? Gerrit hatte keine Ahnung, worauf sein Vater anspielte.

Seleni klang verärgert. »Diese Worte, die du vorhin benutzt hast, solange Blut fließen kann ...?«

»Das ist unwichtig, Vater. Jetzt zählt erst mal nur Sanar.« Er betete zum weißen Mond, dass sein Gefährte am Leben war.

Kaum hatte Seleni den Stall betreten, kam einer seiner Männer auf ihn zu. »Herr?«

»Sattle mein und Gerrits Pferde. Ich brauche zehn meiner besten Männer.«

Er nickte, »ja, Herr!«

Seleni ging hinaus, »ich muss deiner Mutter Bescheid geben, dass wir uns auf den Weg machen.« Streng blickte er Gerrit ins Gesicht, »lerne endlich, Verantwortung zu übernehmen und lasse Endana wissen, was du vorhast.«

»Dann wird sie mitkommen wollen.« Ein Gedanke, der Gerrit gar nicht gefiel.

»Gut!« Er nickte, »sie ist eine ausgezeichnete Kämpferin.«

Gerrit sah seinem Vater nach. Tatsächlich meinte er seine Worte ernst, doch falls Endana etwas zustoßen würde, könnte er sich niemals verzeihen, sie mitgenommen zu haben. Es musste ihm ein Vorwand einfallen, damit sie hierblieb.

 

Mit erwartungsvollem Blick kam sie ihm entgegen. »Was habt ihr vor?«

Gerrit schaute zur Seite und suchte noch immer nach einer Ausrede.

»Nachdem dein Vater mit deiner Mutter geredet hat, machte sie ein entsetztes Gesicht. Was ist passiert?« Sie wartete einen Herzschlag lang. »Diesmal wirst du nicht ohne mich gehen, nicht wahr?«

Gerrit schüttelte den Kopf und strich mit seinen Fingern zärtlich über ihre Wangen. »Ich könnte es nicht ertragen, wenn dich jemand verletzten würde. Es ist zu gefährlich, Endana.«

Sie packte seine Handgelenke. »Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen!«

»Bitte, Endana!« Gerrit stieß deutlich hörbar seinen Atem aus. »Gegen Talon konntest du dich ...«

»Ausgerechnet du holst die Geschichte mit Talon hervor?« Ihre Augen funkelten. Darauf ließ Endana Gerrit stehen und eilte Richtung Pferdestall.

Seufzend rieb sich Gerrit das Gesicht. Das war mehr als ungeschickt von ihm gewesen.

»Sie wird dir nützlich sein«, hörte er die Stimme seiner Mutter hinter sich.

Er drehte sich zu ihr um.

»Ihre Fähigkeiten müssen sich entfalten können. Hier hat sie keine Möglichkeiten dazu. Für mich ist es beruhigend, sie an deiner Seite zu wissen.«

»Ich habe Angst, sie zu verlieren.« Gerrit spürte, wie sich die Unruhe in ihm weiter ausbreitete.

»Das hat Endana jedes Mal, wenn du fort bist.«

»Ja, Mutter. Das ist wahr.«

»Sei wachsam!« Sie streichelte seinen Arm. »Ich bete, dass ihr Sanar findet und ihn wohlbehalten zurückbringt.«

»Das hoffe ich - mehr als jeder andere, Mutter.«

Sanar

Der weiße Mond erleuchtete den eiligen Reitern den Weg durch die Nacht. Sie hatten die Burg, die Stadt sowie das Tal bereits hinter sich gelassen und galoppierten nun bergauf Richtung Wald. Die leise Musik des Festes verfolgte sie noch eine Weile, bis sie in der Ferne mehr und mehr verebbte.

Die beiden Männer seines Vaters, die Sanars Pferd gefunden hatten, ritten voraus zu jener Weggabelung. »Genau hier fanden wir das Pferd, Herr.«

Seleni schaute auf den Waldboden. »Wenn ihr von dort gekommen seid, dann«, er rutsche aus dem Sattel, um die Spuren zu untersuchen, »müssen wir dieser Fährte nach.« Seleni stieg wieder auf und übernahm die Führung. Von nun an setzten sie ihren Weg langsamer fort, um nicht etwas Bedeutsames zu übersehen.

Diesmal musste Gerrit ganz besonders wachsam sein. Endana durfte nichts zustoßen. Er lenkte sein Pferd neben ihr Tier, denn so konnte er am besten auf sie aufpassen.

»Deine Mutter hat mir erzählt«, Endana warf ihm einen Blick zu, »wie viel Sanar dir und deiner Familie bedeutet.« Sie sah nach vorn. »Es ist sehr wichtig für dich, ihn zu finden.«

Gerrit erinnerte sich an das Gespräch mit Sanar, als er damals nach Hause zurückgekehrt war, an dessen unerwartete Umarmung, an das Wettschwimmen. Sanar hatte ihn mit den Worten herausgefordert: ›Ein Seleni gibt sich niemals geschlagen.‹ Gerrit bemerkte, wie er bei dieser Erinnerung schmunzelte, dabei war es jetzt viel zu gefährlich, seinen Gedanken nachzuhängen. Er musste alle seine Sinne auf die Umgebung konzentrieren. Bei der Dunkelheit im Wald half sein Augenlicht weniger, seine anderen Wahrnehmungen waren gefragt.

Plötzlich hob Seleni hastig seine Hand. Er wurde langsamer, den Blick auf den Boden gerichtet. Schließlich ließ er sein Pferd anhalten und rutschte erneut aus seinem Sattel. Endana setzte an, abzusteigen.

»Warte!« Gerrit legte seine Hand auf ihren Schenkel. Aufmerksam sah er sich um. Weder Waldstorche noch sonst jemanden nahm er wahr. Doch diese geheimnisvollen Männer, die scheinbar aus dem Nichts vor ihm aufgetaucht waren, hatte er auch nicht gespürt.

Seleni kniete auf den Boden und rieb etwas zwischen seinen Fingern. »Blut!«

Gerrit erstarrte innerlich und fühlte sich immer elender. Sanar! War es sein Blut? Er stieg ebenfalls vom Pferd und blickte dabei zu Endana. »Du rührst dich nicht von der Stelle.« Während er auf seinen Vater zuging, betrachtete er den durch das Mondlicht nur dürftig beleuchteten Waldboden. »Waldstrolche! Ihre Fußspuren sind kleiner und nicht so tief.«

»Und hier«, Seleni warf Gerrit einen Blick zu. »Diese Fußstapfen sind von schwereren Männern mit großen Füßen. Ich würde meinen, es gab einen Kampf.«

Inmitten von zahlreichen Fußabdrücken entdecke Gerrit eine längliche Spur, so als habe jemand einen Leblosen fortgeschleift.

Sanar?

»Vater! Eine Schleifspur.« Gerrit eilte zu seinem Pferd. »Sie führt quer durch den Wald.« Jetzt übernahm er die Führung. Innerlich betete er unentwegt, Sanar lebend zu finden.

»Warte, lass mich an die Spitze«, hörte er seinen Vater hinter sich rufen. Das Unterholz war zu dicht und der schmale Pfad ließ nur einen Reiter nach dem anderen zu.

»Sanar ist nur wegen mir in dieser Lage. Ich muss meinen Fehler gutmachen.« Er schaute sich kurz um. Direkt hinter ihm folgten Endana, dann zwei Männer, sein Vater und der restliche Trupp.

»Du musst gar nichts gutmachen. Lass mich vorausreiten«, gebot Seleni hinter ihm.

Selbst wenn Gerrit gewollt hätte, hier war zu wenig Platz, um einen weiteren Reiter vorbeizulassen. Außerdem wollte er keine Zeit verlieren. Wenn das Blut noch frisch war, konnte es bedeuten, dass Sanar in der Nähe war. Es lag nun in seinen Händen, die Männer, seinen Vater, vor allem aber Endana nicht in eine Falle zu führen. Wiederholt sah er zurück und vergewisserte sich, dass ihm alle folgten. Gerrit zügelte sein Pferd. Zwischen den Bäumen vor ihm flackerte ein heruntergebranntes Feuer! Nun hob Gerrit die Hand, wandte sich um und legte einen Finger über den Mund als Zeichen für die Nachkommenden, leise zu sein. Bevor er abstieg, sah er sich abermals aufmerksam um. Dann schlich er zum Waldrand, immer darauf bedacht, sich nicht durch das Knacken von Ästen zu verraten. Seinen Blick auf das Lagerfeuer, welches die Lichtung erhellte, empfand er, wie einen Schlag ins Gesicht. Es war keine lebendige Seele zu sehen! Erneut drehte sich Gerrit um. Er nahm Zeigefinger und Mittelfinger, richtete sie auf seine Augen, wies anschließend auf die Umgebung. Vermutlich war das hier ein Hinterhalt. Sie mussten auf der Hut sein. Im nächsten Augenblick hörte Gerrit ein gedämpftes Stöhnen. Erst jetzt entdeckte er jemand am Feuer liegen.

Endana war dicht hinter ihm. »Kannst du etwas erkennen?«, wisperte sie.

Gerrit schüttelte den Kopf und suchte dabei mit wachen Sinnen den Waldrand ab. Plötzlich fiel sein Blick auf eine Gestalt und Gerrit erstarrte für einen Atemzug. Der Mann, der ihm vergangene Nacht diese geheimnisvolle Botschaft überbracht hatte, stand zunächst regungslos am gegenüberliegenden Waldrand im Schatten der Bäume. Gerrit erkannte, wie der Fremde nun seine Handflächen aneinanderlegte und sich verbeugte, dann zeigt er mit der rechten Hand zum Feuer. Diese Gestalten, wer auch immer sie waren, mussten Gerrit friedlich gesonnen sein. Bereits gestern, als er allein gewesen war, hatten sie sich ihm gegenüber nicht kriegerisch verhalten. Aber wer lag da am Lagerfeuer?

Sich umdrehend flüsterte Gerrit Endana zu. »Siehst du ihn?«

»Wen?« Sie ergriff seine Schulter. »Was siehst du, Gerrit?«

Als Gerrit wieder nach vorn blickte, war der Mann verschwunden. Hatte sich Gerrit diese Gestalt nur eingebildet? Er wandte sich an seine Leute, »wartet hier. Ich sehe mich kurz um.«

Aufmerksam schlich Gerrit auf das Feuer zu. Unter einer Decke lag eine menschliche Gestalt. Gerrits Herz begann wie wild zu klopfen. Beim Näherkommen fielen ihm sofort der gelockte Haarschopf und die buschigen Augenbrauen auf. Sanar!

Am gegenüberliegenden Waldrand war jetzt niemand mehr zu erkennen. Sein anfänglicher Gedanke wegen eines Hinterhaltes verflog. Gerrit legte prüfend seine Hand auf Sanars Brustkorb. Er lebte, auch wenn Atmung und Herzschlag verlangsamt schienen. Vorsichtig hob Gerrit die Decke hoch. Der gesamte Rumpf seines Gefährten war mit blutstillenden Blättern bedeckt.

»Hast du den Verstand verloren?«, hörte er Seleni hinter sich flüstern. »Das ist eine Falle. Zurück!« Eine kräftige Hand griff ihn am Oberarm.

»Nicht ohne«, er warf einen Blick über die Schulter, »Sanar.«

»Sanar?« Seleni sah Gerrit mit weitaufgerissenen Augen an. »Er lebt?«

»Ja, und ich lasse ihn nicht zurück, Vater.« Gerrit packte Sanar unter den Achseln.

»Dann los.« Seleni sah sich flüchtig um und ergriff den leblosen Gefährten an den Beinen.

Zumindest hatte Gerrit Sanar gefunden, aber wie schlimm stand es um ihn?

 

Behutsam setzten sie Sanar auf Gerrits Pferd.

Seleni klopfte Gerrit auf den Arm. »Sei wachsam, mein Sohn. Hier ist irgendwas faul.« Mit diesen Worten ging er zu seinem Pferd.

»Ich reite dir nach.« Gerrit nickte Endana zu, »steig auf.« Als er sich noch einmal umdrehte, sah er wieder den Fremden am Waldrand stehen. Hinter ihm tauchten nun die vier anderen Gestalten von gestern auf. Ganz offensichtlich hatten sie Sanar vor den Waldstrolchen gerettet, seine Wunden versorgt und die Spuren nicht verwischt, damit Gerrit ihnen folgen konnte. Mit Ausnahme von Gerrit, wollten sie scheinbar von niemandem gesehen werden.

»Gerrit? Auf was wartest du? Komm endlich«, rief Endana ihm zu.

Er stieg hinter Sanar auf das Pferd und hielt seinen verletzten Begleiter fest. »Bitte haltet durch.« Dann trieb er sein Pferd an und holte alsbald den Abstand zu den anderen auf. Gerrit fragte sich erneut, wer diese geheimnisvollen Männer waren und welches Ziel sie verfolgten.

Zurück auf dem Hauptweg lenkte Seleni sein Pferd neben Gerrits. »Die Blutspuren waren frisch, als ich sie vorhin berührte. Das passt jedoch nicht zusammen.« Sein Vater warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Sanars Pferd ist meinen Männern heute Nachmittag über den Weg gelaufen. Jemand wollte uns absichtlich auf diese Lichtung führen.«

Gerrit nickte. »Ja, das sieht so aus.«

»Aber warum? Sie hätten uns angreifen können, als wir Sanar wegtrugen.« Seleni stieß mit seinem Oberschenkel gegen Gerrits Bein.

»Es sei denn«, Gerrit sah bewusst nach vorn, »sie wollten es nicht.«

»Das ist unlogisch.«

»Vielleicht haben wir mehr Anhänger, als Ihr denkt, Vater.« Gerrit schnalzte mit der Zunge und spornte sein Pferd an, um sein Tempo zu erhöhen.

 

Bald wurde der Wald lichter und sie erreichten den Rand des Waldes. Der weiße Mond und die Sterne begannen bereits zu verblassen, als sie die Stadt durchquerten. Die Marktstände waren längst abgebaut worden, Gaukler und Tänzer waren verschwunden. Nur die bunten Fahnen und vereinzelte vom Wein bezechte Geschöpfe, die in den schmalen Gassen ihren Rausch ausschliefen, waren Zeugnisse des vergangenen Festes.

Am oberen Pferdestall hoben Gerrit und Seleni Sanar vorsichtig vom Pferd, um ihn zunächst auf das frische Stroh zu betten.

»Ich kümmere mich um ihn.« Gerrit blickte seinen Vater bestimmend an. »Mutter wird sich sorgen, geht zu ihr.« Nachdem sein Vater den Stall verlassen hatte, holte Gerrit die weißen Mondsteine hervor, platzierte sie neben Sanars Kopf und legte seine Hände auf dessen Schläfen. Anfangs lenkte er seine Konzentration auf die Steine, anschließend auf die Kraft des weißen Mondes. Die tiefen Wunden und der hohe Blutverlust zeigten Gerrit deutlich, dass Sanar dem Tod näher als dem Leben war. Dieses Kraftritual, welches er gerade vollzog, zögerte seinen Tod höchstens hinaus. Gerrit war davon überzeugt, dass mehrere Heilrituale erforderlich waren, um seinen Freund zu retten, doch dafür brauchte er die kraftvolle Unterstützung seiner Mutter. Während Gerrit seine Gedanken auf Sanars Lebenswillen richtete, erschienen vor seinem geistigen Auge die letzten Szenen, die sein Gefährte erlebt hatte. Was er da sah, raubte ihm fast den Atem. Damit musste er sich später befassen, jetzt wollte er alles tun, um Sanar zu retten.

Als Gerrit seine Hände zurückzog und aufschaute, stand Endana neben ihm. »Bitte, Endana. Könntest du veranlassen, dass Sanar ein sauberes Bett bekommt?«

Sie nickte und eilte aus dem Stall.

 

Nach wenigen Augenblicken kamen vier Männer mit zwei langen Stangen herein. Behutsam legten sie Sanar auf das Tuch, welches zwischen den Stangen gespannt war, und trugen den Verletzten hinaus. Gerrit folgte ihnen. Von nun an würde er nicht mehr von Sanars Seite weichen.

Für Sanar war der Raum gegenüber Endanas Schlafraum hergerichtet worden. Dort angekommen, legten die Männer den Bewusstlosen auf das Bett und verließen den Raum.

Endana klang sehr besorgt, als sie hinzutrat. »Was können wir für ihn tun?«

»Er braucht Wasser.« Gerrit sah kurz auf. Er erinnerte sich an seinen quälenden Durst während Talons Ritual.

»Das soll er bekommen.« Endana eilte aus dem Zimmer, ließ dabei die Tür offen stehen.

In Gerrit wuchsen heftige Schuldgefühle. Nur durch sein heimliches Verschwinden lag Sanar jetzt im Sterben. Er hob die blutstillenden Blätter an. Neben leichten Schnittwunden klafften über der rechten Brust und weiter unten, dicht über dem Hüftknochen, zwei tiefe Wunden auseinander.

»Wie steht es um Sanar?« Seleni war mit seiner Frau unbemerkt ans Krankenbett getreten.

Gerrit bedeckte die Brust seines Gefährten wieder mit den Blättern. »Seine Wunden sind tief.« Er bemühte sich, mit fester Stimme zu antworten. »Es ist ein Wunder, dass er noch lebt.« Gerrit stand auf und wandte sich seinen Eltern zu. »Ich bin für seinen Zustand verantwortlich.« Er schluckte, verdrängte die Tränen, die ihm in die Augen schießen wollten. »Wenn ich nicht so versessen darauf gewesen wäre, mein Augenlicht wiederzubekommen, wäre das nicht passiert.« Er atmete schwer. »Gibt es von Tamo eine Spur?«

Seleni schüttelte den Kopf. »Deine Vorwürfe helfen niemandem, Gerrit. Die Waldstrolche werden immer und überall zuschlagen. Es hätte dich genauso treffen können.«

Gerrit spürte, wie seine Nasenflügel bebten, »es war Vamun, der Sanar so zugerichtet hat.« Er knetete mit der Linken den rechten Handrücken. »Ich begreife zwar nicht, wie das möglich ist, doch Vamun lebt und die Waldstrolche sind an seiner Seite.« Er sah von seiner Mutter zu seinem Gefährten. »Sanar darf nicht sterben. Bitte.«

Seine Mutter war bereit und platzierte zwei Mondsteine neben Sanars Kopf.

»Ein Kraftritual habe ich eben schon durchgeführt. Ich glaube, jetzt können ihm nur noch Heilrituale retten.«

Seine Mutter nickte ihm zu, »die jedoch nur sinnvoll sind, solange der Verletzte genug Lebenskraft besitzt.« Sie schloss die Augen. Als sie nach einer auffallend kurzen Zeit ihre Hände zurückzog, blickte sie stirnrunzelnd auf. Kopfschüttelnd sah sie Gerrit in die Augen und verließ wortlos den Raum. Seleni folgte ihr schweigend.

War Sanar tot? Erneut spürte Gerrit einen Kloß in seinem Hals. Er fühlte nach Sanars Herzschlag. Er war spürbar, also was hatte seine Mutter festgestellt, dass sie das Ritual nicht zu Ende geführt hatte? Gerrit eilte ihr über den Flur nach und hielt sie am Arm fest. »Was habt Ihr gesehen? Gebt Ihr Sanar auf?«

»Was ich gesehen habe?« Langsam wandte sie sich ihm zu. »Wahrscheinlich das Gleiche wie du, Gerrit.« Ihre Stimme zitterte. »Wenn jemand Sanar noch helfen kann, dann der Mann, der ihn nach Hause brachte. Meine Fähigkeiten reichen dafür nicht.«

Gerrit bemerkte, wie er fassungslos den Kopf schüttelte, »aber Eure Energie ist viel stärker.«

Sie legte ihre Hände auf seine Wangen und sah ihm intensiv in die Augen. »Wie auch immer das möglich ist, deine Energie hat sich um ein Vielfaches gesteigert.« Sie ließ ihre Hände sinken. »Es liegt in deiner Macht, ihn zurückzuholen, nicht in meiner.«

Die Aussage seiner Mutter traf Gerrit wie ein schmerzhafter Hieb in seine Magengrube. Seit wann, konnte er mehr als seine Mutter? Das war unmöglich! Das Leben seines Gefährten lag in seinen Händen? Diese Tatsache empfand er, wie eine schwere Last. Gerrit kehrte auf der Stelle an das Krankenbett zurück, um keine kostbare Zeit zu verlieren. Sorgsam platzierte er die weißen Mondsteine zu beiden Seiten der Brustwunde und führte das Heilritual durch. Die Wunde hörte zwar zu bluten auf, um sie vollständig zu schließen, war sie jedoch zu tief. Anschließend widmete er sich der zweiten Verletzung nahe am Hüftknochen und legte auch hier blutstillende Blätter auf.

In den kommenden Tagen gelang es Gerrit schließlich mit weiteren drei Heilritualen, die Verletzungen endgültig abheilen zu lassen. Doch sein Gefährte kam nicht zu sich. Schlimmer noch, heftige Fieberschübe schienen Sanar jegliche Kraft zu rauben. Gerrit versorgte Sanar mit Wasser und mit nahrhafter Brühe, um dessen Körper am Leben zu halten.

Endana kam mehrmals am Tag, um nach dem Rechten zu sehen. Diesmal redete sie Gerrit ins Gewissen. »Seit drei Tagen hast du nicht geschlafen und nichts gegessen. Ich bleibe jetzt bei ihm. Geh dich ausruhen.«

Gerrit schüttelte entschieden den Kopf.

»Gerrit, du bist völlig erschöpft, so bist du Sanar keine Hilfe.«

»Ich gehe nicht eher hier weg«, nur kurz sah Gerrit auf, »bis Sanar seine Augen öffnet.« Der lebensbedrohliche Zustand seines Gefährten machte Gerrit deutlich, wie sehr er ihn schätzte und dass er ihm genau so viel, wie seine Eltern bedeutete.

 

»Keine Veränderung?« Sein Vater trat ein, nahm einen Stuhl und setzte sich ans Krankenbett.

»Das Fieber kommt und geht. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich tun soll.« Er sah seinem Vater an, als dieser sprach.

»Als du damals Sanar das erste Mal an der Ruine über den Weg gelaufen bist, benahm er sich danach auffallend merkwürdig. Er hatte nicht zu hoffen gewagt, dass du den Sprung von den Klippen überleben würdest. Aber den Grund für sein Verhalten erfuhr ich erst, als du vom Schiff geflohen warst und er mir die ganze Wahrheit erzählte. Er empfindet sehr viel für dich, Gerrit.«

An diese erste Begegnung konnte sich Gerrit noch lebhaft erinnern.