Flügel der Dunkelheit - Angela Planert - E-Book

Flügel der Dunkelheit E-Book

Angela Planert

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Beschreibung

Spannend, geheimnisvoll, übersinnlich! Das Leben der ambitionierten Chirurgin Liana gerät ins Wanken. Die Realitäten verschwimmen und ein Entkommen ist nicht in Sicht. Vampirfledermäuse greifen die Bevölkerung an, Menschen verschwinden. Als dann auch noch Traian, ein attraktiver Vampir, in Lianas Leben tritt, ist das Durcheinander perfekt.

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Seitenzahl: 434

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Vollständige eBook Ausgabe 2018

© 2018 ISEGRIM VERLAG

in der Spielberg Verlag GmbH, Regensburg

Bildmaterial: shutterstock.com

Covergestaltung: Ronja Schießl

Alle Rechte vorbehalten

Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung

Inhaltsverzeichnis

Träume

Ausflug

Unfall

Razvan

Zeitung

Puzzleteile

Überlegungen

Karten

Wahrheit der Vampire

Erlebnis

Entschuldigung

Anfang und Ende

Traian

Wendung

Zurück

Gefühle

Wahrnehmung

Drag unchi

Angela Planert, geboren und aufgewachsen in Berlin, widmet sich seit vielen Jahren ihrer Leidenschaft, dem Schreiben. Sie hat bereits zahlreiche Romane und Fantasy-Geschichten veröffentlicht. Heute lebt sie mit ihrer Familie im Norden von Berlin und geht oft in den Havelwiesen spazieren wo sie neue Ideen für ihre Geschichten sammelt.

Träume

Der reißende Schmerz am linken Schulterblatt brachte Liana an ihre Grenzen. Jede Erschütterung verschlimmerte die Beschwerden. Sie spürte Blut den Rücken herunterlaufen. Die Bäume und Büsche schienen an ihr vorbeizufliegen, dabei war sie es, die in rasender Geschwindigkeit durch den Wald jagte. Sie warf einen Blick über ihre Schulter. Diese dämonischen Gestalten kamen unaufhörlich näher. Verdammt! Sie hatte doch niemandem etwas getan. Sie rannte immer weiter, so schnell sie nur konnte. Ihr Puls pochte gegen die Schläfen und bei jedem Atemzug spürte sie ein heftiges Ziehen. Ungewohnt laut nahm sie das Knacken der Äste unter ihren panischen Schritten wahr. Der nächtliche Wald schien ihr wie sanft beleuchtet, als würde sie durch eine Infrarotkamera sehen. Ein Schuss krachte. Ein gewaltiger Schmerz durchzog ihren rechten Oberarm. Sie musste entkommen! Ihr Leben hing davon ab. Ihre Knie fühlten sich plötzlich weich an, ihr Magen schien sich umstülpen zu wollen. Liana begann zu taumeln, versuchte dagegen anzukämpfen, dann fiel sie in die Tiefe.

»Frau Majewski? Alles in Ordnung?« Mit der hellen Stimme der Nachtschwester fiel ein schmaler Lichtschein durch die Tür zum Ruheraum und riss Liana aus ihrem Albtraum. Wirklich merkwürdige Träume erschwerten Liana in letzter Zeit den dringend benötigten Schlaf.

»Dr. Feller erwartet Sie umgehend im OP.« Die Schwester wartete, bis Liana sich aufrichtete.

»Bin unterwegs.« Liana rieb sich das Gesicht. Jetzt musste sie schnell wach werden, damit sie konzentriert arbeiten konnte. Sekunden später lief sie einen hellbeleuchteten Gang entlang, auf die Umkleidekabine des OP zu. Zum Glück war die Nacht bisher ruhig verlaufen.

Mit desinfizierten Händen betrat Liana in grüner Kleidung den weiß gefliesten OP-Saal. Dr. Feller stand bereits vor den CT-Bildern und zupfte seinen Mundschutz zurecht. Liana ging an der Narkoseärztin vorbei. Diese bereitete gerade mit den OP-Schwestern die Patientin, ein junges Mädchen, für die Operation vor.

»Hannah Sperling, vierzehn Jahre alt, Hirnblutung nach Verkehrsunfall.« Er deutete auf den dunklen Bereich der Aufnahmen. »Der Zustand der Patientin ist kritisch, aber noch stabil.« Dr. Feller, ein erfahrener Chirurg, begann das Team über den bisherigen Verlauf aufzuklären. Der Nachtwache waren zu Dienstbeginn die unterschiedlichen Reaktionen der Pupillen aufgefallen. Kurz darauf hatte das Mädchen einen Krampfanfall bekommen, der ein neues CT erforderte.

»Wann ist der Unfall passiert?« Liana verglich die verschiedenen CT-Bilder. Die ersten waren vor gut drei Stunden entstanden, die neusten vor wenigen Minuten

»Gestern Abend. Schürfwunden, Milzriss und multiple Frakturen an den Extremitäten. Das CT des Schädels zeigte eine minimale Blutung, die keinen Anlass für eine Operation gab.« Er wies auf die ersten CT-Bilder. »Ich denke, Sie erkennen das Problem.« Dr. Feller wandte sich der Narkoseschwester zu. »Können wir?«

»Alles bereit, Dr. Feller.« Sie zwinkerte ihm zu. Gerüchten zufolge hatten die beiden ein Verhältnis, aber das interessierte Liana jetzt nicht.

»Wie wäre es, wenn Sie heute die Operation übernehmen, Frau Majewski? Ich assistiere.«

Liana schoss das Blut ins Gesicht und ihr Herzschlag verdoppelte sich. Erst vorige Woche hatte sie eine Hirnblutung bei einer älteren Frau gestoppt, allerdings unter Anleitung des Chefarztes. Die Verantwortung für ein Leben allein zu tragen, fühlte sich im Moment sehr erdrückend an. Ihre Hände zitterten. Dr. Feller, das wusste Liana von Kollegen, überließ keinem Assistenten einen Eingriff, wenn er nicht von dessen Fähigkeiten überzeugt war. Dies war ihre Chance, zu zeigen, was in ihr steckte, dass sie in der Lage war, das Dazugelernte anzuwenden. Je mehr sie sich konzentrierte, auf ihre Erfahrungen der letzten Monate zu vertrauen, desto sicherer und ruhiger wurde ihre Hand. Während der Operation blieb ihre Herzfrequenz gleichmäßig und damit auch der Zustand der Patientin stabil.

Nach fünf Stunden streifte sich Liana im OP die Latexhandschuhe ab.

Dr. Feller legte ihr anerkennend seine Hand auf die Schulter. »Ausgezeichnete Arbeit, Frau Kollegin. Ich denke, wir haben uns einen Kaffee verdient.«

Liana lächelte stolz. Dr. Feller war eine Koryphäe der Hirnchirurgie. Sein Lob kam einem Ritterschlag gleich, aber es würde auch Neider auf den Plan rufen. Das Tuscheln hier, die feindseligen Blicke der Kollegen dort, Liana kannte das nur zu gut. Ihre Begabung forderte wieder einmal den Tribut, mit dem Spott der meist älteren Konkurrenten zu leben. Das hatte sie bereits in der Grundschule lernen müssen. Wie vielen Hochbegabten, mit phänomenalen intellektuellen Fähigkeiten, fiel es ihr schwer, sich in den Kummer und Ängste anderer Menschen hineinzuversetzen. Die Verfassung des Ehepaars Sperling machte es ihr nicht leichter. Die beiden saßen auf einem kleinen Ledersofa im Flur, die Hände ineinander verkrampft, um sie herum ein halbes Dutzend leerer Kaffeebecher. Durch die Schwester angekündigt, schoss Frau Sperling erwartungsvoll in die Höhe, als Liana auf sie zu kam und Blickkontakt zu ihr aufnahm.

»Frau Majewski? Wie geht es Hannah?«

»Ihr Zustand ist jetzt stabil. Sie müssen sich noch einen Moment gedulden, bis Sie zu Ihrer Tochter können.« Liana strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und klemmte sie hinter ihr Ohr. Herr Sperling stand ebenfalls auf. Er sah sehr blass aus.

»Wird sie wieder gesund? Wird sie bleibende Schäden davontragen?« Seine Hände zitterten auffallend.

»Zunächst können wir nur abwarten. Eine Prognose kann zu diesem Zeitpunkt unmöglich gestellt werden.«

»Wie konnten Sie eine solche Blutung nur übersehen? Das hätten Sie doch gleich erkennen, vor allem behandeln müssen.«

Liana setzte sich mit den beiden auf das Sofa. »Ich werde Ihnen das erklären. Bei der Computer Tomographie gestern Abend war das Epidurale Hämatom nicht auffällig. Eine OP-Indikation war nicht gegeben.« Liana gab die medizinischen Fakten an die Eltern weiter.

Herr Sperling wirkte eher verwirrt, als aufgeklärt. Er nickte, »Verstehe.«

Liana war sich nicht so ganz sicher, ob ihre Aufgabe damit erledigt war. »Nachher wird sich der Professor mit Ihnen zusammensetzen. Er wird Ihnen den Vorfall sowie die Operation noch mal veranschaulichen.« Sie sah die Eheleute abwechselnd an. »Wenn Hannah zu sich kommt und ich sie untersucht habe, kann ich Ihnen vielleicht schon mehr sagen.«

Frau Sperling lehnte ihren Kopf an die Schulter ihres Mannes und begann bitter zu weinen. Genau vor dieser Situation hatte sich Liana gefürchtet. Tröstend legte sie ihre Hand auf Frau Sperlings Oberschenkel.

»Ich werde mal nachsehen, wann Sie zu Ihrer Tochter können.« Liana stand auf. »Ich bin gleich zurück.«

Im Laufe des Morgens untersuchte Liana ihre Patientin. Ihre allgemeinen Reaktionen, vor allem aber die Pupillenreflexe, waren unauffällig. Das sprach für den Erfolg des Eingriffs. Hannah war ansprechbar, was ihre Eltern enorm erleichterte. Überhaupt schien das Mädchen die Operation gut wegzustecken.

Liana hüpfte vor Freude die Treppe hinunter, als sie am frühen Vormittag die Klinik verließ. Ihre erste eigenständig durchgeführte Hirnoperation hatte sie gemeistert. Nun wussten alle, was in ihr steckte, vor allem, dass sie selbst unter Stress absolut souverän handeln konnte. Das sollten die anderen ihr erst mal nachmachen. Ihr war bewusst, dass die meisten Assistenzärzte ihres Studienganges von solchen Eingriffen noch weit entfernt waren und dieser Tag sie ihrer Facharztprüfung näherbrachte, als sie sich bisher erträumt hatte.

Zu Hause war Liana nach Feiern zumute, obwohl sie eigentlich hundemüde war. Jetzt brauchte sie erst einmal einen Tee. Sie kochte sich eine Kanne Gewürztee, den trank sie besonders gern. Sie wollte sich gerade auf dem Sofa ausstrecken, als es klingelte.

Guido, ihr Nachbar, kam mit einem Kuchen herein. »Hallo Liana! Man, siehst du beschissen aus.«

»Reizende Begrüßung. Dankeschön. Ich hatte Nachtdienst, dazu eine Not-OP.«

Liana musste ihren Kopf in den Nacken nehmen, um ihm ins Gesicht zu schauen. Ja, das war Guido: offen, ehrlich und geradeaus. All das schätzte sie an ihm.

»Du schläfst zu wenig und arbeitest zu viel.« Guido machte es sich auf dem Sofa bequem. »Meine Oma kam heute mit dem Kuchen vorbei. Ich fand ihre Idee, ihn mit dir zu teilen, gar nicht so verkehrt.«

»Oh danke Rotkäppchen.« Sie lächelte müde. Wenn das kein gelungener Abschluss des erfolgreichen Arbeitstages war. Guido legte eine Papiertüte auf den Tisch.

»Oh! Für mich?«, und sie verfluchte sich innerlich für diese abgedroschene Floskel. Schon ewig hatte sie kein Geschenk mehr bekommen. Sie holte einen runden Rahmen aus hellem Weidenholz hervor, über den ein tellergroßes Netz geknüpft war. Daran baumelten braun-weiße Vogelfedern. Solche Traumfänger hatte sie schon einmal in einem Esoterikladen im Schaufenster hängen sehen.

»Oh, danke!« Guido glaubte an derartigen Hokuspokus. Das kitschige Ding war reine Geldverschwendung, aber das musste sie ihm ja nicht auf die Nase binden. »Hat das Geschenk einen besonderen Grund?«

»Weißt du«, Guido fuhr sich mit der Hand durchs Haar, »die Wände hier sind verdammt dünn.«

»Ja und?«

»Ich höre dich nachts öfter aufschreien.«

»Ich schlafe in letzter Zeit nicht sonderlich gut.« Liana spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Oft wurde sie tatsächlich von ihrem eigenen Schreien wach. Vermutlich war ihr Nachbar nicht der einzige, der das mitbekam. »Anscheinend hast du recht. Ich arbeite zu viel.«

Er deutete auf den Traumfänger. »Du musst ihn zwischen Bett und Fenster hängen.«

»Aha.« Sie musste sich Mühe geben, nicht loszulachen.

»Das funktioniert wirklich!« Guido streckte seine Schultern. »Das ist ein echter indianischer Traumfänger. Nur die guten Wünsche und Gedanken bleiben in ihm hängen. Die schlechten verschwinden durch das Loch in der Mitte.«

»Ja, ja, wenn du das sagst.« Liana nickte und legte das Geschenk beiseite. Sie lehnte sich mit ihrer Tasse Tee zurück. »Danke.«

»Ehrlich, Liana. Ich habe auch einen Traumfänger. Seitdem schlafe ich viel ruhiger.« Einen Augenblick lang schaute Liana Guido in die geröteten Augen, doch er wich ihr nicht aus. Sie sollte einfach das Thema wechseln.

»Deine Augen sehen aber auch nicht viel ausgeruhter aus. Das kommt wohl davon, wenn man die ganze Zeit vor dem Computer abhängt, statt zu schlafen.« Dieses Ablenkmanöver fühlte sich nach einem kleinen Triumph an.

»Ich, eh...« Er zog die Stirn in Falten, als sei ihm gerade etwas aufgefallen. »Raffiniert abgelenkt. Aber hör zu, das muss dir nicht peinlich sein. Albträume haben wir doch alle mal. Glaub mir, mit dem Traumfänger wirst du bald besser schlafen.« Er klang von seinen Worten überzeugt. Zum Schein wollte sie darauf eingehen.

»In Ordnung, ich werde ihn aufhängen.«

»Ach, ich kenn dich doch. Du brauchst immer handfeste Beweise, sonst bist du von nichts und niemandem zu überzeugen. Aber eines Tages wirst auch du erfahren, dass man nicht alles wissenschaftlich darlegen kann. Auch du wirst begreifen müssen, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die sich mit dem Verstand nicht erklären lassen.«

Sie senkte ihren Blick und hoffte, seine Predigt bald überstanden zu haben. Als es ihr endlich gelungen war das Thema zu wechseln, wurde es doch noch ein gemütlicher Nachmittag.

Später betrachtete sie sich im Spiegel. Guido hatte recht. Sie sah furchtbar aus. Dunkle Augenränder entstellten ihr hübsches Gesicht. Ihre Haut schimmerte gräulich. Sie sollte dringend schlafen gehen.

Liana zitterte, ihr war entsetzlich kalt. Sie blinzelte. Das grelle Licht schmerzte, deshalb wollte sie den Kopf zur Seite drehen. Aber irgendetwas hielt sie an Stirn und Kinn fest. Sie musste die Augen geschlossen halten. Wo war sie? Auch Hände und Füße waren fixiert, ja sogar über ihrer Brust und ihrem Becken fühlte sie beengende Riemen. Sie lag auf einer harten und kalten Unterlage, und sie war nackt. Lag sie etwa auf einem Operationstisch? Sie konnte sich an keinen Unfall erinnern. Jemand fuchtelte mit einem Speichelsauger in ihrem Mund herum. Welchen Sinn sollte das haben?

Liana bekam Angst, panische Angst.

»Hört auf!« Mit dem Mund im Schlauch klang das allerdings nicht sehr überzeugend. Niemand reagierte auf ihren Protest. Sie spürte einen brennenden Stich durch ihre Bauchdecke unterhalb des Nabels. Liana stöhnte auf. Weitere Einstiche folgten. Wozu diese Behandlung? Mit aller Kraft zerrte sie an den Gurten. Vergeblich.

»Sofort aufhören!«

»Wir haben doch gerade erst angefangen«, sagte eine Männerstimme mit slawischem Akzent.

»Schluss jetzt!« Sie blinzelte erneut und sah nur das grelle Licht. »Machen Sie mich los, sonst verklage ich Sie.«

»Das interessiert uns nicht.« Die männliche Stimme rollte das ›r‹ ausgiebig über die Zunge.

»Lassen Sie mich gehen!« Sie war nicht in der Lage auch nur einen Schatten zu erkennen, zu blendend war das Licht.

»Und diese besondere Gelegenheit für die Wissenschaft verstreichen lassen? Niemals!«

Was faselte der Typ? Oh Scheiße! Das war der blanke Horror. Jemand musste ihr doch helfen! Sie holte tief Luft und schrie so laut und so schrill sie konnte. Etwas Eigenartiges presste sich über ihren Mund.

»Können Sie das Objekt zum Schweigen bringen?«

Liana nahm den Geruch von Latex wahr. Dieser Typ hielt ihr den Mund zu. Noch einmal riss sie erfolglos an ihren Fesseln. Dann zuckte sie zusammen. Vor Schreck gab ihre Blase nach. Ein breiter Klebestreifen legte sich über ihren Mund, in dem noch immer der Speichelsauger steckte. Nun sammelte sich kalter Schweiß auf ihrer Stirn. Tränen schossen ihr in die Augen und liefen an den Schläfen hinunter. Um den rechten Oberarm legte jemand einen weiteren Gurt und zog ihn fest zu. Die Armbeuge wurde feucht abgewischt. Liana wand sich ohne Erfolg. Dem Stich am Arm folgte ein schmerzender Druck, der sich bis weit in den Oberarm hineinzog. Die Injektion wurde viel zu schnell gespritzt. Verdammt! Was waren das für Anfänger? Sie übergab sich, um nicht zu ersticken, würgte sie es herunter. Durch das permanente Absaugen war ihr Mund nun schon ganz trocken geworden. Sie musste die Angst besiegen, um jeden Preis. Sie lauschte, zählte die Töne der Überwachungsmaschine, die ihren rasenden Herzschlag akustisch wiedergaben, bis sie einen dumpfen Schmerz im Unterleib spürte. Das Klappern der OP-Instrumente klang ungewöhnlich schrill. Etwas Kaltes schob sich in ihre Scheide.

»Nein!«

Geweckt von ihrem eigenen Schrei, schoss Liana in die Höhe. Sie warf die Bettdecke von sich und strich über den Mund, dann über den Bauch und zwischen die Beine. Sie war nass geschwitzt, aber alle anderen Wahrnehmungen und Empfindungen waren verschwunden. Was für ein furchtbarer Albtraum! Gott sei Dank! Oder nicht? Nein, ihre Nerven spielten ihr nur einen Streich, da war niemand.

Stand da nicht jemand im Türrahmen? Im Flur war es dunkel. Doch das spärliche Licht der Straßenbeleuchtung hinter den heruntergelassenen Jalousien zeichnete menschliche Umrisse in einen bläulichen Strahlenkranz. »Ich brauche deine Hilfe«, behauptete die Gestalt mit weicher, heller Stimme. Liana war wie gelähmt. Sie konnte sich einfach nicht rühren. Der Schatten löste sich jetzt aus dem Türrahmen, näherte sich. Langsam, schwebend. »Bitte«, flüsterte er, um sich dann ohne Vorwarnung auf Liana zu stürzen. Doch statt eines Zusammenpralls spürte sie ein merkwürdiges Kribbeln in ihrem Körper, dabei ließ die Starre nach. Panisch tastete sie nach der Bettlampe, machte Licht und sah sich um. Niemand war zu sehen. Immer noch zitternd suchte sie das Schlafzimmer ab, schaute in den Schrank, unter das Bett, hinter die Tür. Nichts, keine Spur auf dem Teppich, keine Hinweise, dass jemand hier gewesen war. Die Gestalt gehörte zu ihrer überspannten Fantasie aus den Träumen. Die weiße Frau aus dem Roman von Wilkie Collins. Ihre Wohnungstür war abgeschlossen und Geister gab es nicht. Mit diesem Gefühl der Hilflosigkeit aus dem Traum konnte sie unmöglich wieder einschlafen. Sie legte sich auf die Couch ins Wohnzimmer und schaltete durch das Fernsehprogramm. Bei einer Tierdokumentation blieb sie hängen und schlief darüber ein.

Unter der Erde

Traian sah sich um, bevor er die kaum beleuchtete Straße zum Parkhaus entlangging. Keine Menschenseele war zu dieser frühen Morgenstunde unterwegs. Er drückte die schwere Eisentür zum Treppenhaus auf. Durch den Bewegungsmelder schaltete sich das zunächst schwache Energiesparlicht an, welches mit jeder weiteren Stufe, die Traian nach unten stieg, an Intensität zunahm. Sein Blick fiel auf die Tür. ›Parkebene 7‹. Inzwischen schien ihm diese gelbgestrichene Tür so vertraut, wie seine eigene Haustür. Er zog die stabile Metalltür auf. Der Geruch von Abgasen, Gummi und frischer Farbe lag in der Luft. Erst in einer Stunde, gegen fünf Uhr, würden die grellen Leuchtstofflampen die Parkebene erhellen, jetzt brannte lediglich die Notbeleuchtung, die Traian ausreichte, um zwischen den Pfeilern und leeren Parkplätzen zur Nordwand zu laufen. Nur die quietschenden Gummisohlen seiner schwarzen Lederschuhe auf dem glatten Betonfußboden unterbrachen die Stille. Seit fast einem Jahr ging er täglich diesen Weg und jeden zweiten Morgen gönnte er sich ein Glas eines guten Rotweins, bevor er schlafen ging. Am liebsten bei Ion, dem Weinhändler, der von Weinen eine ganze Menge verstand. Mit ihm konnte sich Traian auch unterhalten. Das lag vermutlich auch daran, weil Ion viel erzählte, ihn aber nicht mit neugierigen Fragen bedrängte.

Die Nische von fünfzig mal fünfzig Zentimetern lag jetzt einen Schritt von ihm entfernt. Obwohl er genau wusste, dass ihm niemand gefolgt war, drehte er sich um und vergewisserte sich, wirklich unbeobachtet zu sein. So wie er es erwartet hatte, erstreckte sich die menschenleere Parkebene hinter ihm. Er trat in die Ecke und legte seine Hand auf eine abgeplatzte Mauerstelle in der Nordwand. Einen Atemzug später ruckelte der Boden der Nische und fuhr in die Tiefe. Traian schloss die Augen. Er mochte es nicht, wenn die Wände an ihm vorbeihuschten. Zu viele Erinnerungen kamen bei diesem Anblick hoch. Die Fahrt wurde langsamer und stoppte letztlich.

»Warum machst du immer die Augen zu, wenn du runter kommst?«, empfing ihn die dunkle Stimme der Aufsicht.

Traian sah auf, trat dabei von der kleinen Plattform herunter, damit diese wieder nach oben fahren konnte. Der Kerl war einer Antwort nicht würdig, er würde seine Beweggründe ohnehin nicht verstehen.

»Hey!« Er hielt Traian am rechten Oberarm fest. »Bist dir wohl zu fein, mit mir zu ...« Traian packte ihn blitzschnell mit der linken Hand am Kragen. Er bemühte sich, all seine Verachtung in seinen Blick zu legen. Sein Gegenüber ließ ihn augenblicklich los.

»Mann! Ich hab nur Spaß gemacht. Welcher Virus ist dir denn über die Milz gelaufen?« Traian machte eine wegwerfende Handbewegung, als er den Kerl stehen ließ. Hier unten tickten die Uhren anders, als oben in der Großstadt. Was oben die Berliner Polizei erledigte, nahm hier Manuels berüchtigte Schlägertruppe auf sich. Auch die Aufsicht gehörte zu ihnen. Wer hier dem Ärger aus dem Weg gehen wollte, musste sich zwangsläufig mit Manuel Popescu gut stellen. Traian hegte kein Interesse an Manuel und schon gar nicht an seiner Truppe. Wonach er sich sehnte, waren Sicherheit und Frieden. Während die meisten hier unten luxuriöse Hotels, Spielhallen, Internetcafés und vornehme Wohnungen bevorzugten, wählte Traian bescheidene Pensionen. Lediglich bei der Wahl seiner Kleidung legte er großen Wert auf professionelle Handarbeit, die nur von einem echten Vampir gefertigt werden konnten. Sein schwarzer knielanger Ledermantel war in aufwendiger Verarbeitung aus einzelnen Rauten einzigartig zusammengesetzt, ebenso wie seine schwarze Lederhose, die auf seine schmale und doch athletische Figur passgerecht zugeschnitten war. An den kleinen Läden vorbei, ging Traian die spärlich beleuchteten Gänge entlang. Wie oben in der Großstadt boten auch hier Händler die verschiedensten Waren an. Von Kosmetikartikeln über Kleidung, Genussmittel, Computerbedarf, Möbel bis hin zum Kasino existierten hier alle nur denkbaren Geschäfte, Dienstleistungen und Etablissements. Traians täglicher Gang führte ihn auch heute zu Ion, dem Weinhändler. In einem, aus alten Ziegelsteinen gemauerten Gewölbe, befanden sich sieben massive Holztische mit schlichten Hockern. Ein Tisch stand etwas abseits in einer schummrigen Ecke und genau dies war Traians Stammplatz.

»Na, einsamer Kämpfer«, neckte ihn Ion, »das Übliche?« Traian nickte, um seine Bestellung zu bestätigen. Kurz darauf kehrte Ion mit einem gut gefüllten Glas Rotwein zurück.

»Lass es dir schmecken, Junge!« Er zwinkerte ihm zu. »Habe ich dir eigentlich schon mal von Mitica Popescu erzählt, wie er seinerzeit hier diese Stadt gegründet hat?«

»Wenigstens zwanzig Mal, Ion!« Traian musste zwischen den langen Strähnen seiner dunklen Haare hindurchschauen, um Ions faltiges Gesicht zu erkennen. Er liebte seinen haarigen, kinnlangen Vorhang, der ihm eine gewisse Distanz zu seiner Umgebung verschaffte und ihm damit nicht das Gefühl von Blöße vermittelte.

Ion nickte. »Schade!« Dann verschwand er wieder hinter seiner Theke. Ion unterhielt sich gern mit seinen Gästen, das hatte Traian schon wiederholt beobachtet. Aber für Gespräche war er definitiv nicht der Richtige. Traian nahm sein Glas in die Hand, führte es Richtung Nase und nahm mit geschlossenen Augen den köstlichen Duft von Gegorenem, Kork und Traubenschalen wahr. Ein vielversprechender Geruch, der beim ersten Schluck seine Erwartung bestätigte.

»Du scheinst mir der geborene Weinkenner zu sein!« Traian blickte auf. An seinem Tisch saß ein unbekannter Mann. Die breiten Schultern wirkten auf ihn wie eine drohende Mauer aus Muskeln. Er trug sein langes, graumeliertes Haar zu einem Zopf gebunden. Das hatte nach Traians Geschmack Stil. Es passte zu dem Typen.

»Woher kommst du?« Er stützte seine Ellenbogen auf den Tisch und beugte sich ein Stück vor.

Demonstrativ schaute Traian zur Seite. Er verspürte kein Bedürfnis, sich mit dem wesentlich älteren Vampir zu unterhalten, er hätte fast Traians Vater sein können.

»Hey, was ist los mit dir?« Er wartete einen Moment. »Sie sagen, du bist ein Einzelgänger. Ist das von dir beabsichtigt?«

Traian schloss die Augen. Hoffentlich kapierte der Kerl schnell, dass er seine Ruhe haben wollte.

»Du wirst doch einen Namen haben.« Diese Aufdringlichkeit brachte ungewollte Erinnerungen zum Vorschein, die ihm immer nur in der Gesellschaft anderer begegneten. Ja! Genau das war der Grund, warum er die Einsamkeit suchte. Traian sah auf. Der Kerl schien ziemlich stur zu sein oder er war einfach nur begriffsstutzig. Vermutlich würde er noch den ganzen Morgen hier sitzen und ihm ein Ohr abkauen. Traian erhob sich mit seinem Weinglas, um einen Tisch weiterzuziehen.

Am folgenden Abend verließ Traian wie gewohnt seine Pension. Sie lag etwas abgelegen von den viel besuchten Hauptgängen. Plötzlich versperrte ihm sein spezieller Freund von gestern Nacht den Weg.

»Weißt du, ich habe immer noch keine Ahnung, wie dein Name lautet.« Gut dreißig Meter hinter dem beharrlichen Kerl fiel schummriges Licht vom Hauptgang auf den Boden. Als Vampir konnte Traian ausgezeichnet in der Dunkelheit sehen, doch sein Gegenüber stand derart ungünstig, dass er kaum Gesichtszüge erkannte. Traian vermochte seine Gemütslage nicht einzuschätzen. Der Fremde war ein kleines Stück größer als er, gut einsfünfundneunzig. Einerseits hegte Traian kein Interesse, sich mit dem Kerl anzulegen, andererseits, wenn dies der einzige Weg war, den Typen loszuwerden, dann sollte es eben so sein.

»Wer will das wissen?« Er legte dabei einen gleichgültigen Ton in seine Stimme.

»Gestatten, ich bin Victor.«

»Was willst du?« Ein ungutes Gefühl machte sich in Traian breit.

»Was hast du für ein Problem? Gehören wir nicht alle zusammen?«

Traian fand keine Erklärung, weshalb der Typ ausgerechnet ihm auf den Zahn fühlen musste.

»Warum bist du hier, wenn dich niemand außer dir selbst interessiert?« Victor kam einen Schritt auf ihn zu, wobei sein Gesicht jetzt besser zu erkennen war.

»Warum suchst du dir nicht jemand anderen zum Händchen halten?«

Victor hob sein Kinn ein Stück in die Höhe, sah Traian dabei prüfend an. Nach einem Moment, der Traian wie ein Test schien, trat Victor zur Seite und ließ ihn vorbei.

Traian war von Victor genervt, was ihn weiter als üblich aus der Stadt trieb. Um sich etwas abzureagieren, kam ihm der Wald, der jetzt vor ihm lag, wie gerufen. Ein Tier zu jagen, sein pulsierendes Blut zu trinken, gehörte bei seinem derzeitigen Lebenswandel zur Seltenheit. Es war doch so viel einfacher täglich Blut zu kaufen. In diesem Augenblick entdeckte Traian weit hinter den Bäumen einen Rehbock. Ja, sein Blut sollte heute sein Mahl werden. Er nahm einen tiefen Atemzug und schritt langsam auf ihn zu. Der Bock beobachtete sein Näherkommen genau. Für Traian stellte sich nicht die Frage, ob er das Tier fangen würde, sondern vielmehr wann. Als mit seinem nächsten Schritt der Rehbock davonjagte, rannte Traian auf der Stelle hinterher. Seine Schnelligkeit nahm mit jedem Meter, den er zurücklegte, zu. Nicht einmal fünf Minuten brauchte Traian bis er das Tier mit der Wucht seiner Geschwindigkeit zu Boden geworfen hatte. Fest presste er den Hals des Bocks auf den Waldboden. Der Herzschlag des Tieres klang wie eine Sinfonie in seinen Ohren. Er lauschte für einen Augenblick, dann beugte er sich herunter und rammte seine Reißzähne in den Hals des Rehbocks. Dieser zappelte wild mit den Hufen, den Beinen, sodass der gesamte Körper zuckte, doch nur für einen Moment. Das Tier gab seinen Widerstand auf. Traian genoss das warme Gefühl, wie das Blut ihm den Rachen hinunterrann, vor allem aber den eisenhaltigen Geschmack, der bei Wild wesentlich intensiver war. Nachdem er sich satt getrunken hatte, erlöste er das Tier und entließ es zurück in die Freiheit. Das war eine köstliche Mahlzeit, nicht zu vergleichen mit den Konserven, die er in Popescu zu kaufen bekam. Warum blieb er eigentlich nicht hier? Das Einzige, was ihm zu seinem Plan noch fehlte, war ein Haus, eine sichere Bleibe für den Tag. Während er seine Zukunft ausmalte, ging er weiter durch den Wald. Er sollte sich hier ein Haus nach seinen Vorstellungen bauen lassen, dafür waren die Menschen ja ganz nützlich, aber wollte er lieber eine Holzhütte oder ein gemauertes Haus, mehr schlicht oder etwas Ausgefallenes? Über seine Gedanken musste er schmunzeln, wie beschwingend es war, sein Leben selbst in der Hand zu haben, das Gefühl von Freiheit bewusst zu erleben! Nur zu gut wusste er, wie kostbar dieses Recht sein konnte. Traian sah nach oben und beobachtete seine zwei Freunde, die ihn durch ihre Rufe, in eine bestimmte Richtung zu locken schienen. Nach gut einem Kilometer erreichte Traian den Waldrand. Ein riesiges Rapsfeld erstreckte sich dahinter und links von ihm sah er ein leerstehendes Gebäude. Der verwilderte Garten bot kaum noch Zugang zum Haus. Über die geschlossenen Fensterläden bis hin zum abbröckelnden Putz hatten weiß blühender Knöterich und dunkelgrüner Efeu Einzug genommen. Nur ein schmales Kellerfenster, auf der Rückseite des Hauses, war noch erkennbar. Als Traian den Efeu zur Seite zog, entdeckte er eine zerbrochene Fensterscheibe. Die Glasscherben lagen auf dem Kellerboden zerstreut. Dort unten im Keller würde ihn bestimmt niemand entdecken, auch am Tage nicht. Die Lage war perfekt, zumal ihm hier keiner nervende Fragen stellen würde. Die Waldnähe bot ihm und seinen zwei vertrauten Fledermausfreunden Gelegenheit, sich uneingeschränkt zu bewegen, denn Blut war nicht nur für Traian ein bedeutender Teil seiner Nahrung, sondern auch für seine geliebten Freunde lebenswichtig. Wenn sie nicht gerade ihre Runden flogen, suchten sie unter seinem schwarzen Mantel Schutz. Traian liebte die beiden abgöttisch. Sie waren für ihn Gefährten, Talismane und Andenken zugleich, vor allem aber symbolisierten sie für ihn die Freiheit. Ihr Wohlergehen bedeutete ihm mehr, als sein eigenes. An dem Innenfutter seines Ledermantels gab es speziell für den Winter eine geeignete Innentasche, in der die Tiere vor der Kälte geschützt waren.

Einige Nächte vertrieb sich Traian mit seinen Fledermäusen hier die Zeit, er genoss die Unbeschwertheit und die klare Luft des Waldes. Eines Morgens trieb ein kräftiges Gewitter mit heftigen Böen Traian zu seinem Unterschlupf. Seine zwei kleinen Freunde zeigten sich ungewöhnlich unruhig und zappelten an seinem Kragen. »Scht! Euch passiert schon nichts«, flüsterte er den beiden zu, während er durch das zerbrochene Kellerfenster kletterte. Er verspürte einen stechenden Schmerz unter dem rechten Rippenbogen, den er zunächst zu ignorieren versuchte. Als seine Fledermäuse sich im Kellerraum langsam beruhigten, fiel sein Blick auf das Fenster. An einem restlichen Glassplitter lief Blut herunter. War es sein Blut? Augenblicklich schaute er auf seine rechte Flanke. In seinem weißen T-Shirt klaffte ein Loch und herum färbte sich der Stoff zusehends rot.

Na großartig! Wie ungeschickt von ihm. Was sollte er jetzt unternehmen? Er konnte nur hoffen, dass die Wunde von selbst heilen würde, es gab ja schließlich keine Alternative. Traian beschloss sich hinzulegen und auszuruhen. Trotz des pochenden Schmerzes sank er bald in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Traian erwachte mit unbeschreiblichem Durst, der ihn fast um den Verstand brachte. Jede Faser seines Körpers schien kurz vor dem Zerreißen zu stehen, die qualvolle Erscheinung des Blutverlustes. Innere Hitze stieg ihm ins Gesicht, als er sich aufsetzte. Das stellenweise angetrocknete Blut seiner Verletzung klebte wie eine feste Schicht auf seiner Haut, die bei jeder Bewegung zwickte. Die beiden Fledermäuse kreisten dreimal über seinem Kopf, verschwanden danach durch das Kellerfenster hinaus in die Nacht. Traian stand langsam auf. Es kostete ihn ungewöhnlich viel Kraft. Seine Knie begannen zu zittern. Die körperliche Qual des Blutverlustes wies ihn schnell in seine Grenzen. In diesem Zustand waren seine übermenschlichen Kräfte herabgesetzt. So würde er heute keinen Rehbock einholen und doch brauchte er dringend Blut, um wieder auf die Beine zu kommen. Blut, das man ohne Anstrengung bekommen konnte. Traian fiel nur ein Ort ein, zu dem er gehen konnte, wo er unter Vampiren in Sicherheit war. Jede Bewegung verlangte ihm eine große Portion Disziplin ab, als er ins Freie kletterte, um sich auf den Weg nach Popescu zu machen. Erst gegen Morgen, es dämmerte bereits, erreichte er die vertraute Nische. Das Zittern in seinen Knien war schlimmer geworden, von dem schrecklichen Durst ganz zu schweigen. Kurz nach dem Verlassen des leerstehenden Gebäudes, hatte seine Wunde wieder stärker zu bluten begonnen. Jetzt spürte er seine durchtränkte Kleidung, die ihm auf der Haut klebte. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Es kostete ihn viel Beherrschung, sich auf den Beinen zu halten und jeder Schritt forderte ihn noch mehr. Ion, der Weinhändler war sein Ziel, er würde ihm bestimmt Blut zu trinken geben, ohne vorab eine Bezahlung zu erwarten. Wenn doch nur diese körperlichen Beschwerden nicht wären. Für einen Augenblick blieb er an einer Wand stehen und versuchte etwas Kraft zu sammeln, dabei schloss er die Augen. Er brauchte jetzt ein wenig Ruhe.

»Zum letzten Blutstropfen! Willst du nicht mal was unternehmen?« Manuel, der Vampirführer aus Popescu packte ihn am Oberarm. Traian bemerkte, wie seine Beine versagten und er mit dem Rücken zur Wand auf den Boden sank. Wie durch eine Nebelwand sah er die wachsende Versammlung um sich, deren Bedeutung er nicht nachvollziehen konnte. Sein haariger Vorhang schien ihn heute vor den gierigen Blicken nicht zu schützen.

»Hast du sie noch alle? Was soll das?«, fuhr ihn ein weiblicher Vampir an.

»Was will er damit bezwecken?«, fragte ein anderer.

»Was gafft ihr denn so?« Traian fühlte sich schon elend genug, diese Bedrängnis gefiel ihm gar nicht. »Habt ihr euch noch nie verletzt?«

In seinem Kopf begann sich alles zu drehen, er hörte sich keuchen, als würde er in einen Lautsprecher atmen. Das Schlimmste aber waren diese furchtbaren Schmerzen, die an Intensität weiter zunahmen. Er spürte, wie sein ganzer Körper zitterte.

Manuel packte ihn bei den Schultern, zog ihn auf die Füße und stauchte ihn zurecht. »Dann unternimm etwas dagegen!« Das Schwindelgefühl verschwand für einen kurzen Moment.

»Und was?« Traians Augenlider fühlten sich zu schwer an, um sie offenzuhalten. Ohne Manuels festen Griff wäre er jetzt vermutlich zusammengesackt.

»Er weiß es nicht«, hörte er eine weibliche Stimme.

»Er muss es wissen«, behauptete eine andere.

»Hey!« Manuel schlug Traian auf die Wange. »Du weißt doch wohl, wie das mit der Selbstheilung geht?« Er schrie ihn an. »Verdammt! Du bist ein Vampir.«

»Selbstheilung?«, wiederholte Traian mehr innerlich. Ihm wurde augenblicklich schwarz vor Augen, sämtliche Geräusche verebbten in der Stille.

»Manuel! Er kommt zu sich. Er scheint ungewöhnlich hart im Nehmen zu sein«, sagte eine Frau.

»Lass mich mit ihm reden.« Traian blinzelte. Vor ihm hockte der Vampirführer höchstpersönlich, daneben saß seine hübsche Frau. Anscheinend lag er auf einem Bett in Manuels Privaträumen. Sanftes Licht brannte im Raum, nicht zu hell, um ihn nicht zu blenden.

»Ion hat vom Schlachter Rinderblut organisiert.« Manuel gab Traian aus einem Becher zu trinken. »Zum letzten Blutstropfen noch mal, du bist doch alt genug. Hat man dir nicht erklärt, wie das mit der Selbstheilung funktioniert?« Traian genoss jeden Tropfen, der seine Kehle befeuchtete. Er leckte sich die trockenen Lippen und machte eine sachte Kopfbewegung zur Seite. Diese körperlichen Schmerzen des Blutverlustes schienen ihm noch nie so schlimm, wie jetzt.

Manuel blies überrascht seinen Atem aus. »Was hast du an deinem 17. Geburtstag gemacht?«

Diese Frage rief furchtbare Erinnerungen hervor, die für den Moment seine Beschwerden überdeckten. Traian schaute auf, doch vor seinem geistigen Auge spielte sich eine schreckliche Szene ab, die der Vampirführer mit seinem nächsten Satz unterbrach.

»Wie alt bist du?«

Traian überlegte, was er sagen sollte. Seine Vergangenheit ging niemanden etwas an. »Hab nicht mitgezählt.«

»Ich kümmere mich um ihn.« Manuels Frau legte Traians rechten Arm auf seinen Bauch und schaute auf die zerschnittene Kleidung. »Du musst dich ausziehen. Sonst komme ich an die Wunde nicht heran.«

»Nein!« Zur Sicherheit winkelte er den Arm über die Stelle. Sich vor Fremden zu entkleiden, auch wenn sie Vampire waren, kam für Traian definitiv nicht in Frage.

»Schon gut. Dann zieh dein T-Shirt ein Stück nach oben und dreh dich auf die Seite.« Für einen Augenblick zögerte er. Andererseits schien ihm Manuels Frau sympathisch, sie meinte es bestimmt nur gut mit ihm. Er hörte sich ächzen, während er die Verletzung freilegte und sich umdrehte. Jede Bewegung brannte wie tausend Nadelstiche. Manuels Frau lächelte ihn mitfühlend an, ihre strahlend weißen Reißzähne funkelten im Kerzenlicht.

»Ich bin vorsichtig, versprochen.« Ihre kalten Finger tasteten die Haut um die Wunde ab. »Das ist ziemlich tief, junger Mann.« Sie krempelte den Hosenrand nach unten, hielt dann inne. Mit weit aufgerissenen Augen blickte sie auf. »Was ist denn das?«

Verärgert schlug Traian ihre Hände zur Seite. Das war sein Körper! Sein Leben! Niemand hatte ihn ohne sein Einverständnis anzufassen. Er musste schlucken, seine Schmerzen verschlimmerten sich. »Wie funktioniert diese Selbstheilung?« Der Vampirführer tauschte fragende Blicke mit seiner Frau, bis Manuel eine sachte Kopfbewegung machte, worauf sie mit einem hörbaren Seufzer aus dem Raum verschwand. Manuel setzte sich verkehrt herum auf einen Stuhl, stützte seine Arme auf die Rückenlehne, sodass er Traian ansehen konnte.

»Weder weiß ich, wer du bist, noch woher du kommst. Die Tatsache, dass du ein Vampir bist, scheint mir der einzige Grund zu sein, dich nicht auszuschließen, auch wenn dein Benehmen inakzeptabel ist.« Einen Moment lang sah Manuel ihn intensiv an, als würde er die Antworten in seinem Gesicht finden. »Die Selbstheilung funktioniert nur, wenn dein Körper einigermaßen bei Kräften ist. Wartest du zu lange, siehst du ja selbst, was passiert.« Manuel legte eine Pause ein. Dann sah er Traian fest in die Augen: »Woher hast du diese Narbe?« Vermutlich würde Manuel nichts von dem, was Traian erlebte hatte, verstehen. Nein! In seinem überflüssigen Reichtum, hier wo er sich jeden Wunsch erfüllten konnte, würde er nicht nachvollziehen können, wie es in Traian aussah, wie sehr er sich wünschte, die Zeit zurückdrehen zu können. Dieses Verhör diente nur dazu, alte Wunden aufzureißen und um seine Macht als Vampirführer zu demonstrieren. Manuel gehörte zu jenen, die sich über ihn lustig machen, über ihn lachen würden.

Nein! Niemand sollte über ihn lachen. Es ging niemanden etwas an, was hinter ihm lag. Sein heftiger Herzschlag dröhnte in seinen Ohren.

»Weißt du, schweigsamer Freund, mit der Selbstheilung verhinderst du das Schlimmste. Eine Narbe wie diese kann nur durch Menschenhand entstanden sein.«

Traian zuckte bei dem Wort ›Menschenhand‹ zusammen. Ein eisiger Schauer kroch ihm über den Körper. Die Menschen waren grausam und niederträchtig. Sie verdienten es nicht, diese Welt zu beherrschen, die sie nicht mal in all ihrer Schönheit erkennen konnten.

»Niemand wird dir helfen, solange du weiterhin jeden abweist. Dir ist hoffentlich klar, dass du verbluten wirst.« Manuel stand auf »Weißt du eigentlich, wie qualvoll lange das bei einem Vampir dauern kann?«

Augenblicklich fielen bewegende Erinnerungen wie ein Netz auf Traian herab und hielten ihn gefangen. Er hörte die durchdringenden Schreie seiner Mutter, ihr Flehen, die letzten stammelnden Worte seines Vaters, sogar sein eigenes Betteln, das ihn heute noch bis in seine Träume verfolgte. Manuels Schritte, wie er vor dem Bett auf und ab ging, drangen wie aus einer anderen Welt zu Traian.

»In der vergangenen Zeit verschwanden drei von uns spurlos, ganz plötzlich, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Mit Sicherheit sind sie nicht freiwillig untergetaucht. Aber niemand weiß etwas. Mir schwant, du könntest uns vielleicht erzählen, wer hinter uns her ist, und vor allem warum?« Derb packte ihn Manuel bei den Schultern. Er schien das bisschen Leben aus Traian hinaus schütteln zu wollen. »Zum letzten Blutstropfen noch mal! Woher hast du dieses Mal? Was haben sie mit dir gemacht?« Manuels Behandlung vervielfachte seine Schmerzen, sein Brüllen erreichte Traian nur noch wie aus weiter Ferne.

»... dass du verbluten wirst«, hallte es in Traians Ohren wider. Nein, er wollte nicht sterben. Jetzt wo sein Leben wieder lebenswert war, wo er es bis hierhergeschafft hatte, wäre es der blanke Hohn zu verbluten. Aber Manuel erwartete eine Erklärung. Immer musste er alles hinterfragen. Zu Ion hätte er vielleicht Vertrauen gehabt und geantwortet, aber Manuel war definitiv der falsche. Schwere Müdigkeit sowie die Heftigkeit seiner Schmerzen vertrieben jeden weiteren Gedanken. Zwischen Dösen und Erwachen, das mit dieser körperlichen Qual verbunden war, erreichten ihn streitende Stimmen. Er strengte sich an, dem hitzigen Wortwechsel zu folgen. Nur für wenige Momente gelang es ihm.

»Aber das können wir doch nicht zulassen. Er ist einer von uns, ein Vampir.«

»Keine meiner Fragen hat er beantwortet. Er ist verbohrt. Benutzt uns vermutlich nur, um hier Schutz zu suchen. Ich werde kein kostbares Blut opfern, wenn er am Ende mit dem Verschwinden unseresgleichen zu tun hat.«

»Manuel. Er ist doch noch so jung. Er könnte dein Sohn sein.« Eine Pause folgte, in der Traian beinah wieder in den dösenden Zustand abzutauchen drohte.

»Ich werde mich um ihn kümmern.« Eine dritte Stimme mischte sich ein.

Manuel antwortete ihr. »Du? Er bringt uns nur Ärger. Ich kann ihn hier nicht dulden. Er hat seine Chance verspielt.« Nach diesen harten Worten schien Traians Schicksal besiegelt. Er konnte sich nicht selbst helfen. Die Symptome, vor allem die Schmerzen des Blutverlustes, raubten ihm seine letzte Kraft.

Eine unbestimmte Zeit später kehrten seine Sinne zurück, als er eine Hand unter seinem Kopf spürte.

»Schön trinken.« Traians Mund füllte sich mit erfrischendem Blut. Wie herrlich es sich auf seiner Zunge anfühlte. Nie hatte er einen Schluck als so köstlich empfunden. Die körperlichen Beschwerden ließen mit jedem weiteren Tropfen ein wenig nach, förderte damit sein Verlangen nach mehr Blut.

»Ich würde dich ja gern mit deinem Namen ansprechen, wenn ich ihn nur wüsste.«

Er kannte diese Stimme. Als er die Augen aufschlug, benötigte er ein paar Momente, bis der Schleier verschwand und er Victor vor sich erfasste. Der Untergrund fühlte sich nicht mehr ganz so weich an, auch den frischen Rosenduft nahm er nicht mehr wahr. Definitiv befand er sich nicht mehr bei Manuel zu Hause. Er erkannte einen kleinen, ungestrichenen Raum mit zwei einfachen Betten.

»Manuel ist nicht gut auf dich zu sprechen. Wenn du dich bei ihm entschuldigst, mit ihm redest, kannst du ihn vielleicht noch umstimmen.«

Traian verspürte großen Durst. Er bewegte seine Lippen, um nach einem Schluck Blut zu bitten, doch ihm gelang kein hörbarer Laut. Victor lächelte, zeigte seine weißen Reißzähne. Er füllte den Becher erneut und flößte Traian das lebensspendende Getränk ein. Langsam kehrte das Leben in ihn zurück, der körperliche Schmerz ließ nach.

»Ich ahnte, dass du mich nicht sonderlich magst. Du scheinst niemanden zu mögen. Aber ich habe, weiß Dracula warum, was für dich übrig.« Victor goss den Rest Rinderblut in den Becher, er war nur halb voll. »Ich werde dir verraten, wie ein Vampir sich selbst heilt, dann kannst du zu Manuel gehen und dich entschuldigen.«

Beim Aufsetzen bemerkte Traian seine fehlende Kraft. Jeder Muskel schien sich träge aus einem Krampf zu lösen. Er nahm Victor den Becher ab. Den letzten Schluck genoss er ganz besonders, dazu schloss er die Augen, um diesen Geschmack von keinen optischen Reizen ablenken zu lassen. Victor hatte ihm das Leben gerettet. Traian sah sich in seiner Schuld. Er schaute auf. »Traian. Mein Name ist Traian.«

»Welche Ehre. Ich bin wohl der Erste, der dein Geheimnis erfahren darf«

»Du musst mir ja nicht gleich ein Schild um den Hals hängen.«

»Das hatte ich auch nicht vor.« Victor lachte. »Vielleicht hat dir das Rinderblut Erleuchtung verschafft.«

»Wie geht das mit der Selbstheilung?«

»Was empfindest du, wenn du ein Tier gefangen hast und das pulsierende Blut deine Zunge berührt?«

Traian schien diese Frage zu abwegig, das konnte nichts mit Selbstheilung zu tun haben. Victor wollte ihn aushorchen. »Was soll das?«

»Was du empfindest, hab ich dich gefragt.« Victor klang gereizt, »Ist deine lichte Stunde schon wieder vorbei?«

Vielleicht gab es doch eine Verbindung, die er nicht erkannte. »Es ... kitzelt auf der Zunge ...« Es war verdammt schwer, diese Gefühle mit Worten auszudrücken.

»Eigentlich im ganzen Körper. Man glaubt tausend Sinne zu haben, die alle zum Leben erweckt werden. Jeder Nerv fühlt sich wie elektrisiert an.«

»So ähnlich wie beim Sex, nicht wahr?« Victor lächelte wieder breit, seine Zähne konnte man nicht übersehen.

Traian stockte der Atem. Seine erste und einzige sexuelle Erfahrung war von leidvollen Umständen überschattet. »Ich weiß nicht.«

»Wenn ein Vampirkörper alt genug ist und diese Empfindungen entwickelt sind, dann ist er auch in der Lage, die Selbstheilung durchzuführen. Ich denke, du bist reif genug dafür.« Er lachte, dabei fuhr seine Rechte Traian über die Schulter. Aha! Das war die Verbindung zu dieser merkwürdigen Frage. Victor gewann weiter an Sympathie. So übel, wie er anfänglich auf ihn gewirkt hatte, war er gar nicht.

»Leg dich bequem hin. Das erste Mal wird es eine Weile dauern. Die Handflächen müssen nach oben zeigen.« Victor drehte Traians Hände in die richtige Position. »Versuche deinen Atem etwas zu verlangsamen, so als würdest du dich in die Kältestarre begeben. Damit verringerst du auch das Weiterbluten der Wunde.«

Traian folgte Victors Anweisungen.

»Nun musst du dich in jene Situation versetzen und darin so lange verharren, bis deine Verletzung verheilt ist. Du wirst es genau spüren. Denke an das warme Blut auf deiner Zunge, an das Kitzeln, an die erweckten Sinne.« Victors Stimme klang zunehmend leiser, als würde er sich entfernen. Traian spürte den Untergrund nicht mehr, nur diese ausgiebigen Sinne, die seinen Körper mit Reizen überfluteten. Er glaubte zu fliegen und im nächsten Moment fühlte er sich in tausend Stücke zerrissen, als wäre er explodiert. Diese Selbstheilung war eine Erlebnisachterbahn der Superlative. Wie viel Zeit verging, bis Traian in die Realität zurückkehrte, konnte er nicht bestimmen. Er rang angestrengt nach Atem, als müsse er alles nachholen, was ihm in den letzten Minuten oder Stunden an Luft entgangen war. Er hörte Victors Stimme.

»Ganz ruhig.« Traian bemerkte eine Hand auf seiner Schulter. »Sehr gut hast du das gemacht. Am besten schläfst du dich jetzt aus. Für mehr hast du nach der ersten Selbstheilung ohnehin keine Kraft. Das ändert sich, je öfter du sie durchführst.«

Traian widersprach nicht. Er fühlte sich völlig fertig. Nur gemächlich beruhigte sich sein keuchender Atem. Eines musste er jedoch unbedingt herausfinden. Er tastete nach seiner Wunde. Die Haut war noch empfindlich, eine kleine Rille spürte er, aber es fasste sich trocken an.

»Wie geht es dem erleuchteten Vampir nach seiner ersten Selbstheilung?« Victor war wohl nicht von seiner Seite gewichen, oder er hatte ein verdammt gutes Zeitgefühl. Traian setzte sich auf. Schmerzen und Durst schienen wie weggeblasen. Nur die vielen Empfindungen der Erlebnisachterbahn lagen ihm schwer auf dem Gemüt.

»Weißt du, normalerweise wird ein bestimmtes Ritual abgehalten, wenn ein Vampir siebzehn Jahre alt wird. Feierlich wird er durch seine erste Selbstheilung in den Kreis der erwachsenen Vampire aufgenommen.« Victor erhob sich von der Bettkante. »Ich frage mich, warum dir das entgangen ist.«

Traian rieb sich das Gesicht. »Es gab vielleicht keinen passenden Zeitpunkt.«

Victor lachte kurz, baute sich dann vor Traian auf. »Und der wahre Grund?«

Traian senkte den Kopf und starrte auf seine Schenkel. Versuchte der Typ im Namen des Vampirführers ihn weiter auszuhorchen, weil es ihm selbst nicht gelungen war? Nach seinen letzten Erinnerungen an das Gespräch hatte Manuel ihm keine Chance mehr geben wollen. Demzufolge musste sich Victor auf irgendeinen Deal eingelassen haben.

»Ich versteh schon. Du willst nicht darüber reden, in Ordnung.« Victor drehte sich zu seinem Bett um. »Ich habe dir etwas mitgebracht.« Victor kramte in seinem Rucksack, zog dann ein Stück weißes Papier mit Schlaufen hervor, welches Traian im ersten Moment nicht erkannte. »Diese Dinger sind eine fantastische Tarnung für unsere auffälligen Reißzähne. Einen Arztkittel dazu ...«

Traian blieb die Luft weg, als er das Papier als Mundschutz identifizierte. Gleich einem Blitzlichtgewitter tauchten Bilder aus seiner Vergangenheit auf. Victor packte ihn am Oberarm.

»Hey! Was ist los mit dir?«

Traian spürte, wie sich sein Magen schmerzhaft zusammenzog, sein Herz zu rasen begann und er kaum atmen konnte. Wiederholt sah er vor seinem geistigen Auge die letzten Jahre in Zeitraffer vor sich.

»Geht es dir nicht gut? Was stimmt mit dir nicht?«

Traian sprang auf, wand sich mit aller Kraft aus Victors Griff. Beinah hätte er diesem Kerl vertraut und seine Freiheit, sein Leben verloren. Dieser Fehler durfte ihm kein weiteres Mal unterlaufen. Blitzschnell lagen Victors Hände um Traians Hals, drückten ihm die Kehle zu, wenn auch nur ein wenig.

»Verdammt noch mal, ich habe dir heute das Leben gerettet, jetzt zeig dich mal ein bisschen kooperativ. Was ist denn plötzlich los?«

Ja, mit dieser Tat konnte Victor prahlen. Ein raffinierter Zug, aber damit ließ sich Traian nicht einwickeln. Oh, nein. Verachtung, Verbitterung, schäumten in ihm hoch. Er verspürte kaum Widerstand, als er die würgenden Hände vom Hals riss. Die Wut über die Enttäuschung diesem hinterhältigen Kerl Vertrauen geschenkt zu haben, verwandelte sein Knie zu einem mächtigen Rammbock, der sich in Victors Magengegend entlud. Um keinen einzigen Blutstropfen wollte er bleiben. Victor krümmte sich vor Schmerz. Traian hatte keinen Bedarf zu testen, ob er stärker als Victor war. Während er davonrannte, hörte er Victor etwas rufen. Sollte der Kerl sich nur jemand anderen suchen.

... zwei Jahre später ...

Es regnete in Strömen, als habe der Himmel seine Pforten geöffnet, um die Erde reinzuwaschen. Traian presste den Rücken gegen die raue Hauswand. Sein Atem ließ seine Nasenflügel beben. In seinen Ohren rauschte das Pulsieren des Blutes. Diese Nacht bedeutete für ihn der Auftakt eines neuen Lebens. Ein Leben, das er schon längst hätte führen müssen. Zwischen dem gleichmäßigen Prasseln des Regens hörte er das Schlurfen des alten Mannes. Endlich. Gleich würde der Hausmeister um die Ecke biegen. Traian lauschte kurz seinem eigenen Herzschlag, als plötzlich ein marternder Kopfschmerz einsetzte. Ausgerechnet jetzt! Mühevoll versuchte Traian sich nicht dem Schmerz hinzugeben, sich auf die Schritte seines Opfers zu konzentrieren. Er blinzelte, schloss für einen Augenblick die Augen. Die Beschwerden wurden erträglicher. Was für ein ungünstiger Moment. Nur wenige Meter links neben Traian auf dem nassen Gehweg erschien im Licht der Straßenlaterne der langgezogene Schatten des alten Hausmeisters. Der Geruch seiner Zigarre eilte ihm voraus. Traian rümpfte die Nase. Widerlich. Noch immer rauchte der Typ dieses billige Kraut, das nach muffigem Stroh roch. Selbst die speckige Schirmmütze von damals schützte noch heute seine Glimmstängel vor dem Regen. Der untersetzte Mann zeigte sich kein bisschen verändert. Traian spürte die Anspannung in jeder Faser seines Körpers. Lange genug hatte er sich auf diesen Moment vorbereitet, hatte überlegt, wie seine Vergeltung aussehen sollte. Jetzt hatte er sehr genaue Vorstellungen, exakte Pläne für jeden von ihnen. Auch wenn sein erstes auserwähltes Opfer nicht direkt mit seiner Vergangenheit zu tun hatte, so war aber seine Ignoranz, sein Wegsehen, mindestens genauso vergeltungsbedürftig, wie das Vergehen der Hauptbeteiligten. Endlich bog der Hausmeister um die Ecke. Mit dem Vorteil des Überraschungsmoments trat Traian aus dem Schatten auf ihn zu. Als er Traian erkannte, riss er seine Augen weit auf, sogar sein Mund öffnete sich, als wolle er etwas sagen, doch seine Worte erstarben auf seinen Lippen. Als er das Entsetzen im Gesicht des Mannes erkannte, spürte Traian ein Gefühl des Triumphs in sich aufkommen. Geräuschvoll atmete der Hausmeister ein, hastetet dabei rückwärts, stolperte und verlor sein Gleichgewicht. Der massige Körper prallte zu Boden. Dann lag er regungslos da. Vermutlich hatte er sich so sehr erschrocken, dass ihn die Ohnmacht packte. Vorsichtig griff Traian unter seinen Mantel und nahm den ersten seiner drei Begleiter heraus, um ihn auf den Hals seines Opfers zu setzen. Eifrig begann die Vampirfledermaus, die Haut vor dem Biss durch minutenlanges Lecken einzuspeicheln. Dieser Vorgang verhinderte das Gerinnen des Blutes für längere Zeit. Schließlich trennte das Tier mit seinen rasiermesserscharfen Schneidezähnen zwei kleine Hautlappen ab, um das heraustretende Blut aufzulecken. Im Schutze seines Mantels setzte Traian die zweite Fledermaus dicht neben die erste. Der Hausmeister reagierte noch immer nicht. Traian konnte das nur recht sein. Nachdem sich alle drei Vampirfledermäuse satt getrunken hatten und Traian sie unter seinem Ledermantel verstaut hatte, kniete er sich selbst vor sein Opfer. Für einen winzigen Augenblick kamen ihm Zweifel, doch sie verflogen schnell. Er legte seine Lippen über die Bisswunden und saugte den roten Lebenssaft auf. Das warme Blut lief Traian den Rachen hinunter. Menschenblut. Es war sein erstes Menschenblut, allerdings schmeckte es alles andere als süß, wie immer behauptet wurde. Ein pelziger, fast bitterer Geschmack benetzte Traians Zunge. Wie der Geruch der Zigarre des Hausmeisters, so abstoßend war auch sein Blut. Vielleicht war sein Vorhaben doch keine so gute Idee gewesen. Als Traian genug getrunken hatte, richtete er sich auf. Langsam musste der Kerl doch wieder zu sich kommen. Er nahm das speckige Kinn in die Hand und drehte den leblosen Kopf zu sich. Die Augen seines Opfers starrten ins Leere. Erst jetzt bemerkte Traian die Blutlache, die sich unter dem Hinterkopf ausbreitete. Die Regentropfen platschten hinein und verdünnten das Blut. Traian spürte einen störenden Kloß in seinem Hals wachsen. Hitze stieg im ins Gesicht. Der Hausmeister war tot.

Nein, das hatte er nicht gewollt. Einen solch schnellen Tod verdiente dieser Kerl nicht, er hätte für den Rest seines Lebens leiden sollen. Ein Zucken fuhr durch Traians Körper und der quälende Kopfschmerz kehrte zurück. Diesmal heftiger und anhaltender. Sogar Tränen sammelten sich in seinen Augen. Es vergingen Minuten bis der Schmerz endlich nachließ. Leicht benommen torkelte Traian die Straße hinunter. Unaufhörlich prasselte der Regen auf die Erde. Eher zufällig fiel sein Blick auf seine rechte Handfläche, die blutig aussah. Er hielt sie in den Regen, ließ dieses Zeugnis seiner Tat einfach davonspülen. Menschenblut klebte nun an seinen Händen. Nein, er fühlte sich damit nicht schlecht. Im Gegenteil. Hatte er sich jemals so großartig gefühlt? Bei dieser Überlegung erstarrte er. Was geschah nur mit ihm? Er hatte das oberste Gebot seines Vaters missachtet: Greife niemals einen Menschen an. In diesem Moment empfand Traian weder Schuld noch Reue. Unter seinem Mantel beschwerten sich zappelnd die drei Begleiter über die unerwünschten Wassermengen in ihrem Unterschlupf und beendeten damit Traians Zweifel.

Im Norden, außerhalb der Stadt, hatte Traian eine Ruine bezogen. Vermutlich war dies einmal ein großes Gut gewesen. Zu beiden Seiten des Hauptgebäudes zogen sich Stallungen und Nebengebäude entlang, sodass ein großzügiger Hof entstand. Der verkohlte Dachstuhl moderte vor sich hin. Das gesamte Gelände war mit einem Bauzaun abgesichert. Schilder warnten neugierige Besucher:

»Einsturzgefahr! Betreten verboten«