Rubor Seleno - Im Reich der zwei Monde - Angela Planert - E-Book
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Rubor Seleno - Im Reich der zwei Monde E-Book

Angela Planert

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Beschreibung

Gerrit wächst als Findelkind im Kloster der Selenoriten heran. Bereits dort zeichnet er sich durch besondere Begabungen aus. Seine Ausbildung auf der Burg des geheimnisvollen und grausamen Vamun ruft fatale Veränderungen in ihm hervor. Er selbst fühlt sich zum Meer sowie zu einer rätselhaften Burgruine hingezogen und forscht insgeheim nach seinen Wurzeln. Eines Tages wird Gerrit von schwarzgekleideten Gestalten gefangen genommen und auf ein Schiff verschleppt. Unter dem Einfluss zweier gegensätzlicher Mondkräfte, erzählt dieser spannende Fantasy-Roman eine mittelalterlich anmutende Geschichte. Vollständig überarbeitete Neuausgabe

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DER BRIEF
DAS BUCH
RITUALE
KAMPF
MACHT
AUGENLICHT

 

 

 

Rubor Seleno

 

Erster selenorischer Roman

von

 

Angela Planert

 

Im Reich der zwei Monde

 

 

 

 

 

Impressum

© 2021 Angela Planert

16540 Hohen Neuendorf Fr.-Herder-Straße 3

www.Angela-Planert.de

2. Auflage

 

Lektorat: Kerstin Peschel

 

Covergestaltung: © Florian Witkowski

www.fw-grafikdesign.de

 

llustrationen: ©Silke Schwimmer

 

Tolino Media

 

Alle Rechte vorbehalten. Insbesondere sind inbegriffen: das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video (auch einzelner Text- und Bildteile) sowie der Übersetzung in andere Sprachen.

 

 

 

 

 

WANDERUNG

Seltsame Geräusche rissen Farie aus dem Schlaf. Der rote Mond schien genau in ihren Schlafraum. Von draußen drangen flüsternde Stimmen zu ihr hinauf. Die weckten ihre Neugier. Sie stand auf, ging zum Fenster, um in den Klostergarten zu schauen. Der rote Mond besaß nicht viel Leuchtkraft, der weiße Mond stand direkt hinter dem Haus. Die Gestalt, die sich gerade davonschlich, wusste wohl ihr Geheimnis zu bewahren. Sie bewegte sich nur im Schatten des Klostergebäudes, bis sie den Wald erreichte. Von dort vernahm Farie das Getrappel von Pferdehufen, die eiligst fortritten.

Die zierliche Klosterschwester lief die zwei Treppen hinunter zum Klostertor. Als sie das schwere Holztor mühsam geöffnet hatte, bestätigte sich ihr Verdacht. Jemand hatte einen Korb mit einem schlafenden Säugling darin abgestellt. »Was für eine grausame Welt, du kleines Wesen«, flüsterte sie und trug den Korb in den Schlafraum der Kinder.

 

»Das ist nun bereits das dreißigste Kind. Wie sollen wir so viele Kinder ernähren?«, wetterte die korpulente Äbtissin am nächsten Morgen.

»Wir werden bestimmt einen Weg finden.« Farie wollte gerade an die Arbeit gehen.

»Farie?«, warf die Äbtissin ihr nach.

»Ja, oberste Schwester?« Sie wandte sich ihr zu.

»Hast du nicht unlängst den kleinen Gerrit entgegengenommen?«

»Ja, das habe ich.« Farie wunderte sich, warum die Äbtissin sie ausgerechnet nach Gerrit fragte.

»Er war eines der wenigen Kinder, die uns persönlich übergeben wurden.« Sie seufzte tief.

»Die paar Goldstücke, die wir mit dem Jungen überreicht bekamen, können uns bei den vielen Kindern nicht lange weiterhelfen. Wir müssen uns etwas überlegen. Kannst du mit dem Boten Verbindung aufnehmen, der Gerrit zu uns brachte?«

»Nein, oberste Schwester. Er hinterließ weder seinen Namen noch eine Angabe, woher er kam.«

Farie dachte an jenen Morgen zurück, als ein lautes Bummern am Holztor sie beim Aufstehen zur Eile angetrieben hatte. Sie hatte ihren Umhang genommen und war zum Klostertor gehastet. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, es dämmerte gerade erst.

»Bitte, wir sind in großer Not.« Ein großer, kräftiger Mann stand vor ihr. Auf dem Arm hielt er einen schlafenden Jungen. Der Fremde war mit einer olivfarbenen Hose bekleidet und trug hellbraune Schnürstiefel, die ihm bis über die Knie reichten. Unter dem olivfarbenen Mantel lugte ein hellbraunes Hemd mit kostbaren Perlmuttknöpfen hervor. Ein hellbraunes Tuch war zu einem Stirnband gebunden. Um seinen Hals hing ein glitzerndes Medaillon, das Farie in der Dunkelheit nicht deutlich erkennen konnte.

»Gerrit ist das Wertvollste, das mein Herr jemals hatte. Achtet gut auf ihn! Sobald es meinem Herrn möglich ist, werden wir ihn zurückholen.« Ihm fiel dieser Schritt selbst offensichtlich nicht leicht, er atmete schwer, als er Farie den Jungen entgegenreichte.

»Hier«, er gab ihr einen kleinen Ledersack mit etwas Schwerem darin, »mehr haben wir im Moment nicht.« Dann strich er dem Jungen durch das braune, wellige Haar. »Passt gut auf ihn auf! Bitte, er ist doch erst fünf.« Er drehte sich um und verschwand Richtung Wald.

Farie trug Gerrit in ihre Kammer. Er war genauso gekleidet wie der Mann, der ihn brachte. Nur trug er kein Medaillon, sondern eine Halskette. Die Äbtissin würde bestimmt versuchen, die Kette zu verkaufen, vermutlich auch die warme Kleidung des Jungen. Der Gedanke gefiel Farie nicht, deshalb holte sie einfache Kleidung aus dem Schrank der Klosterkinder und zog Gerrit um. Zwischendurch blinzelte er müde, kam jedoch nicht richtig zu sich. Er wirkte fast benommen, als Farie ihn umkleidete. Die kleine Stupsnase und seine braunen, welligen Haare hatten es Farie angetan. Seine Kleider sowie die Halskette versteckte sie in ihrer eigenen Truhe. »Es ist wohl besser, wenn die niemand sieht«, dachte sie. Sie nahm den schlafenden Jungen, um ihn in den Schlafraum der Kinder zu bringen.

»Farie«, riss die Äbtissin sie aus ihren Gedanken. »Ist dir doch noch etwas eingefallen?«

»Nein, oberste Schwester.«

»Dann geh jetzt und erledige deine Aufgaben.«

 

Am Nachmittag bat die Äbtissin Farie erneut in ihren Arbeitsraum. »Es sind einige Dinge im Dorf zu erledigen, würdest du dich bitte darum kümmern?«

»Gewiss, oberste Schwester.«

»Ich habe lange hin und her überlegt.« Die Äbtissin legte ihre Handflächen aneinander. »Wir werden versuchen, die größeren Kinder im Dorf als Mägde oder Stallknechte zu vermitteln. Auch wenn sie mit acht oder zehn Sommern noch etwas jung sind. Aber auf diese Weise wird es für uns alle leichter werden.«

Der Gedanke war dienlich, nur trennte sich Farie ungern von den Kindern. »An wen habt Ihr gedacht, oberste Schwester?«

»Die beiden ältesten, Munar und Salar, Raman und Siena, vielleicht selbst Tanor. Du wirst dich im Dorf umhören, ob es Möglichkeiten für einige oder sogar für alle gibt, eine Aufgabe zu übernehmen. Bitte erledige das geschickt!«

»Natürlich. Mit Mondeshilfe werde ich Euren Vorstellungen entsprechen.«

»Nimm einige Kinder mit. Es ist gut, wenn sie mal ins Dorf unter Leute kommen.«

»Verstehe.« Farie freute sich darauf, ins Dorf zu gehen. Das war ihr eine willkommene Abwechslung.

 

Gleich nach dem Morgenmahl eilte Farie zu den etwas älteren Kindern, die sich im Garten um die Kräuter und das Gemüse kümmerten.

»Werdet Ihr uns heute wieder unterrichten?«, bedrängte Lunia Farie.

»Bitte lest uns eine Mondsage vor!«

»Erklärt Ihr uns die Wirkung der Heilkräuter?«

Schnell umringten die Kinder die Klosterschwester.

»Singt Ihr uns ein Lied vor?«

»Könnten wir im Wald nach Pilzen suchen?«

»Farie, bitte spielt mit uns!«

»Psst! Nicht durcheinander schnattern! Ich verstehe ja kein Wort!« Farie streichelte einigen Kindern über den Kopf. »Ich muss heute ins Dorf.«

»Och!«, klangen die Kinder im Chor.

»Der Weg ist weit. Aber vielleicht mag ja jemand …«

»Bitte, darf ich?«

»Ja, ich möchte auch gern mitkommen!«

Farie schmunzelte. »Wer war das letzte Mal dabei?«

Einige hoben daraufhin die Hand.

»Ihr wisst, heute sind die anderen an der Reihe. Beim nächsten Mal nehme ich euch wieder mit.« Farie hätte am liebsten alle mitgenommen, zu viel Aufsehen durfte sie im Dorf nicht erregen. Das war meist mit Ärger verbunden.

Sie wählte sechs der Kinder aus. »Dann ab mit euch!« Sie drängte zwei der Kinder an der Schulter aus dem Garten hinaus Richtung Wald. Genau auf die Stelle zu, an der gestern Abend der Reiter im Dunkel der Nacht verschwunden war.

Die Gruppe hatte den Wald fast erreicht, da sah sich Farie um. Auch die Kinder hielten an, um zurückzuschauen.

Der kleine Gerrit lief ihnen nach. Offensichtlich eingeschüchtert, weil ihn nun alle anstarrten, blieb er ebenfalls stehen.

»Den langen Weg ins Dorf schafft der nicht.« Talon machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Talon, Gerrit hat einen Namen.« Farie musste Talon häufig verbessern. Er verhielt sich manchmal unbotmäßig.

»Gerrit ist doch noch zu klein«, tuschelte Lunia.

Während dieses Gesprächs hatte Gerrit die Gruppe eingeholt.

»Der Weg ist weit. Bist du dir sicher, dass du mithalten kannst?« Farie zweifelte, ob er mit ihnen wirklich Schritt halten konnte. Sie sah ihn an. Gerrit nickte. Seine Augen schienen zu leuchten. Farie brachte es nicht über das Herz, ihn zurückzuschicken.

»Dann lasst uns gehen!« Farie spürte ein zufriedenes Lächeln auf ihren Lippen. Bisher hatte sich Gerrit sehr zurückgehalten, mied meist den Kontakt zu anderen. Sein momentanes Verhalten war ein beachtlicher Fortschritt. Vielleicht würde er sich im Laufe des Weges sogar weiter öffnen und endlich ein Wort sagen.

Vom regen Gesang der Vögel begleitet, setzte die kleine Gruppe ihren Weg durch den dichten Mischwald zum Dorf fort. Es duftete nach Moos und nach moderndem Holz. Ein roter Milan flog rufend in der Ferne über den Wald.

»Wenn wir jetzt ganz leise auf die Lichtung zugehen und etwas Glück haben, sehen wir womöglich ein paar Rehe«, flüsterte Farie den Kindern zu.

Jeder gab sich viel Mühe, so lautlos wie möglich zu gehen, dabei gaben alle Acht, keine Zweige auf dem Waldboden zu zertreten. Farie bemühte sich bei solchen Wanderungen, den Kindern die Natur nahezubringen, sie erklärte ihnen die Verwendung von Heilpflanzen und Beeren. Jene Waldwiese wurde wegen der süßen Früchte bevorzugt vom Wild aufgesucht. Als sie die Lichtung erreichten, standen dort tatsächlich drei Rehe. Farie gab den Kindern mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie stehenbleiben sollten. Die noch tiefstehende Sonne sowie der restliche Bodennebel, tauchte die kleine Waldlichtung in ein besonders weiches, sanftes Licht. Es sah märchenhaft aus.

»Farie! Seht nur!«, tuschelte Siena und zeigte auf ein viertes Reh, welches in diesem Augenblick aus dem Wald auf die Wiese zuging. An dieser Stelle hockte Gerrit. Farie war es entgangen, wie er dort hingelangt war. Aber er musste sehr geschickt gewesen sein, sonst wären die anderen Tiere längst davongerannt. Das Fell des Rehs erschien durch das Sonnenlicht in einem goldenen Schimmer. Das Tier beschnupperte Gerrit und leckte ihm das Gesicht. Langsam hob Gerrit die Hand und streichelte das Reh am Hals.

»Er hat es verzaubert!«, schrie Talon zornig. Augenblicklich jagten die Rehe in verschiedene Richtungen davon.

Farie blies vernehmlich ihren Atem aus. »Talon, warum hast du das getan?«

»Der ist doch nicht normal!« Trotzig stampfte Talon voraus. Der Rest der Gruppe folgte erst zögernd, dann entschlossen. Talon konnte die Mehrheit gut für sich gewinnen, was Farie in diesem Moment für Gerrit aber sehr leidtat. Mit gesenktem Kopf kehrte er von der Lichtung auf den Weg zurück.

»Komm schon Gerrit, die anderen warten auf uns.« Farie hielt ihm ihre Hand entgegen. Gerrit schüttelte stumm den Kopf, ohne sie anzusehen. Während sie mit schnelleren Schritten die anderen einholte, blieb Gerrit hinter ihr.

Sie überlegte, wie sie eine Brücke zwischen den Kindern und Gerrit bauen konnte.

»Was haltet ihr davon, wenn ihr das nächste Mal die Rehe streichelt?«, fragte sie deshalb. Gelegenheit bot sich bei einer Rast zum Beerennaschen.

»Wir?« Ein aufmüpfiger Ton lag in Talons Frage.

»Wenn Gerrit uns hilft, warum sollen wir es nicht auch können?«

»Hah! Der! – Von dem Zwerg lasse ich mir nichts erzählen!« Heftige Röte zog über Talons Gesicht. Aber nur kurz. Die Gruppe blieb stehen.

»Erzählen wird er es nicht, aber zeigen kann er es uns, nicht wahr?« Sie wandte sich um und zwinkerte ihm zu. Gerrit ging auf Talon zu. Langsam schaute er zu Talon auf, der fast zwei Köpfe größer war. Talon steckte die Fäuste in die Hüften. Standhaft sah Gerrit ihm in die Augen. Farie meinte, die Spannung zwischen den beiden knistern zu hören. Kaum merklich machte Gerrit eine nickende Kopfbewegung.

»Soll das ja heißen?« Talon blies ihm mit seinen Worten den Atem entgegen.

»Natürlich!« Farie musste einer Auseinandersetzung zwischen Talon und Gerrit verhindern. Nur zu gern demonstrierte Talon seine Kraft. Und das ausgerechnet jetzt, wo Gerrit anfing, aufzutauen. »Wir müssen nun aber wirklich vorankommen«, sagte sie.

Den ganzen Vormittag marschierte die Gruppe weiter durch den Wald. Die Kinder vorneweg, dann Farie und zum Schluss Gerrit, der ihr auffallend leise folgte, sodass sich Farie ständig nach ihm umsah.

Farie erfreute sich an dem satten Grün der Laubbäume, am Moos auf den umgefallenen Baumstämmen, welches sich wie ein grüner Teppich über ihnen und auf dem Waldboden ausbreitete. Nach einem guten Stück Weg veränderte sich das Bild. Moose und Farne verschwanden. Sie machten dem heruntergefallenen Laub der vergangenen Zeit Platz. Durch das dichte Blattwerk der Rotbuchen fielen nur vereinzelte Sonnenstrahlen auf den Weg.

Die Mittagszeit war längst vorüber, als sie schließlich das Dorf erreichten. Der riesige, aus Felssteinen gemauerte Brunnen auf dem Anger war für die durstigen Wanderer ein Segen. Endlich konnten sie etwas trinken. Mehr als sechs Marktstände hätten sich um die Wasserstelle herum aufreihen können, aber nur drei Stände waren aufgebaut. Ein Korbmacher, ein Sattlermeister und ein Brotstand. Eine Töpferin verkaufte Tongefäße, die sie einfach am Wegesrand verteilt hatte. So boten verschiedene Leute ihre Waren an. Auch ein Bogner suchte nach Kundschaft für seine Bogen und Pfeile.

»Ihr wartet hier. Ich bin gleich zurück.« Farie ließ die Kinder am Brunnen stehen. Sie eilte zum Wirtshaus am Anger, während sich die Kinder über den Rand des Wasserbeckens beugten, um zu trinken.

 

Gerrit sah den anderen zu, wie sie sich Wasser ins Gesicht schaufelten, wodurch ihm sein eigener Durst richtig bewusst wurde. Neben Talon war noch genug Platz. Langsam ging er auf diese Stelle zu.

Talon schaute auf. »Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich das Wasser mit dir teile, du stummer Wurm!«

Gerrit hob sein Kinn ein Stück in die Höhe und sah Talon standhaft in die Augen. Dabei nickte er.

»Pah! Was glaubst du denn, wer du bist!« Talon verpasste ihm einen kräftigen Tritt in die Nierengegend. Gerrit fiel unsanft zu Boden. Mit einem zufriedenen Gesicht beugte sich Talon zum Trinken über den Rand. Nach einem Schreckmoment rappelte sich Gerrit auf. Er packte Talon an den Füßen, riss diese nach hinten, sodass Talon kopfüber in den Brunnen plumpste. Erschrocken starrten die Kinder Gerrit an. Talon zappelte wild mit den Armen. »Hilfe!«, schrie er verzweifelt. Sein Kopf blieb einen Augenblick unter Wasser, tauchte mit dem nächsten Zappelversuch erneut auf. »Hilfe!« Der Junge hatte zwar ein großes Maul, aber schwimmen konnte er offensichtlich nicht. Gerrit stieg auf den Rand und sprang ins Wasser. Er legte seinen Arm um Talons Hals und zog ihn an den Brunnenrand. Tropfnass kletterten beide auf die Steine. Sie musterten sich gegenseitig. Talon hustete kurz, schien jedoch erleichtert. Zorn blitzte in seinen Augen auf. Gespannt, was sich Talon für ihn als Rache ausdenken würde, blieb Gerrit noch einen Moment sitzen. Ein Lächeln überzog Talons Gesicht. Gerade als Gerrit dieses erwidern wollte, stieß ihn Talon mit einem Fußtritt wieder ins Feuchte zurück. Jedenfalls fiel diese Landung diesmal weicher aus. Nass war er ohnehin.

»Meine Anerkennung, Kleiner!«, hörte Gerrit eine dunkle Stimme, als er die Hände auf den gemauerten Rand legte. Mit einem Griff unter die Achseln hob ein kräftiger, gut gekleideter Mann Gerrit mit Leichtigkeit aus dem Wasser. »Meinst du nicht«, wandte er sich Talon zu, »es ist genug für heute? Ich beobachte euch, seitdem ihr hier angekommen seid. Nennt mir eure Namen!« In seinem Blick funkelte ein merkwürdiges Leuchten auf.

»Ich bin Talon. Und der da«, dabei zeigte Talon mit dem Finger auf Gerrit, »der kriegt seinen Mund nicht auf.«

»Den ganzen Tag hackst du nur auf Gerrit herum!« Siena ging an Talon heran.

»Das mit dem Reh, das war doch Zauberei!« Talon warf einen verächtlichen Blick zu Gerrit.

»Was war mit dem Reh?«, fragte der Fremde.

Talon stierte Gerrit noch immer an. »Der schleicht sich an Rehe heran und streichelt sie!«

»So?« Der Fremde schwenkte seinen Blick über die Gruppe. »Woher kommt ihr?«

Siena machte einen Knicks. »Wir wohnen im Kloster bei den Selenoriten.«

»Aha, im Kloster. Gut zu wissen. Vielleicht sieht man sich wieder.« Der Mann drehte sich um und verließ den Anger.

Die beiden Jungs kletterten vom Rand der Zisterne. Gerrit schüttelte seinen Kopf, um wenigstens seine Haare etwas trocken zu bekommen. Er sah an sich herunter auf den kleinen See, der zu seinen Füßen entstand.

»Zieh mal das Hemd aus!« Siena half Gerrit, die nasse Kleidung auszuziehen. So gut es ging, wrang sie das Hemd aus. »Wenn Farie zurückkommt, wird sie sehr enttäuscht von euch sein!«

»Damit hast du recht, Siena!« Farie klang leicht wütend. »Was habt ihr euch nur dabei gedacht?«

»Der hat mich ins Wasser geschubst.« Talon zeigte auf Gerrit.

»Ja«, Siena breitete Gerrits Hemd auseinander. »Nachdem du ihn kräftig mit dem Fuß getreten hattest, als er auch trinken wollte. Und als er dich aus dem Wasser gefischt hatte, hast du ihn noch mal hineingeschubst.«

»Halt!« Farie hob ihre Hände. »Wer hat hier wen aus dem Wasser geholt?«

»Gerrit hat Talon aus dem Wasser gezogen.« Siena reichte Gerrit sein Hemd zurück.

»Talon kann doch nicht schwimmen.« Lunia wickelte sich eine Locke um ihren Zeigefinger.

»Ihr könnt doch alle nicht schwimmen!«, fauchte Talon in die Runde.

»Ihr seid mir richtige Mondkämpfer!«, lachte Farie, schon wieder etwas besserer Laune. »Für euch beide kommt ein Dorfbesuch in nächster Zeit jedenfalls nicht in Frage. Ich hatte euch für wesentlich vernünftiger gehalten.« Ihr Blick wechselte von Talon zu Gerrit, dann wandte sie sich den anderen zu. »Ich muss noch weiter.« Farie seufzte. »Hoffentlich holen die zwei sich nicht eine Erkältung weg.« Sie reichte Siena ein Tuch, in dem etwas eingewickelt war. »Bevor wir zurückgehen können, muss ich hier noch einige Dinge klären. Teile das Brot auf. Aber geht in die Sonne, damit die Mondkämpfer sich etwas aufwärmen können. Gib Acht, dass nicht abermals Streit ausbricht.« Mit diesen Worten verschwand Farie auf dem Anger zwischen den Händlern.

 

Siena ging auf den Holzstamm zu, der etwas abseits vor einem Haus lag. Sie teilte den Laib unter den Kindern auf. Mit den letzten beiden Stücken setzte sie sich neben Gerrit auf das Holz. »Hier, lass es dir schmecken!« Sie schaute ihm dabei in die braunen Augen und flüsterte: »Du kannst bestimmt sprechen, stimmst?«

Gerrit nickte.

»Warum tust du es dann nicht?« Siena wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen, deshalb sprach sie leise. Gerrit öffnete seine Lippen, als wolle er etwas sagen. Er atmete ganz tief und sah Siena mit seinen großen Augen an. In diesem Blick lag viel Traurigkeit.

»Hast du vielleicht etwas gesehen, das dir die Sprache verschlagen hat?«

Er senkte sein Haupt und schluckte hart.

Siena nahm seine Hand. »Du wirst sie schon wiederfinden. Irgendwann. Lass dir Zeit.« Wie zur Kontrolle schaute sie zu den anderen, die genüsslich auf ihrem Brot herumkauten.

»Ich glaube, Talon hat sich beruhigt. Tut dir deine Seite von dem Tritt noch sehr weh?«

Gerrit schüttelte den Kopf.

»Lass mal sehen!« Siena wollte sein nasses Hemd hochschieben. Doch Gerrit wehrte ab. Er stand auf und entfernte sich ein Stück.

»Er ist ein eigenartiger Zwerg.« Wieder wickelte Lunia sich eine ihrer langen Locken über den Zeigefinger.

Siena sah ihm nach. »Ich glaube, Gerrit ist nur traurig.«

 

Es verging mehr Zeit als geplant, bis Farie zu ihrer Gruppe zurückkehrte. Siena beschäftigte die Kinder mit dem Spiel ›Nüsse kullern‹. Talon sah ihnen nur gelangweilt zu. Am Ende des Holzstammes, abseits des Geschehens, saß Gerrit.

Lunia traf mit ihrer Nuss gleich zwei andere Haselnüsse, worauf sie hin hüpfte, um die drei Nüsse einzusammeln.

»Hat es wieder Streit gegeben? Warum sitzt Gerrit dort hinten?«, wollte Farie wissen.

»Nein. Es gab keinen Streit.« Siena warf einen kurzen Blick zu Gerrit. »Ich hatte mich mit ihm unterhalten und habe vermutlich etwas Falsches gesagt. Auch wenn ich nicht weiß, was es war.«

»Ist schon gut, Siena. Wir sind eben alle unterschiedlich und das ist auch richtig so. Den einen können wir besser verstehen und den anderen nicht so. Sei nicht traurig.«

Farie winkte die Kinder zu sich. Gerrit kam als Letzter dazu.

»Wir müssen jetzt unverzüglich zurück, es hat alles länger gedauert, als ich gedacht hatte.« Farie schaute zum Himmel. »Ich möchte ungern im Dunkeln durch den Wald.«

Eiligst sammelten die Kinder ihre Haselnüsse ein und folgten Farie aus dem Dorf über die Wiese zum Wald. Erneut sah Farie zur Sonne. Ihr war bewusst, dass sie das Kloster nicht mehr bei Tageslicht erreichen konnten. Vielleicht war es nachts ja gar nicht so gruselig im Wald, wie sie es in Erinnerung hatte. Um die Kinder nicht zu verängstigen, sollte sie sich bemühen, ihre Bedenken nicht nach außen dringen zu lassen. Sie mussten immer nur einfach weitergehen. Überraschend zügig kamen sie voran.

»Komm Gerrit, geh bitte vor mir!« Farie schob ihn vor sich her. »Ich höre keinen deiner Schritte. Das macht mich nervös.« Er war noch nicht einmal zurückgefallen oder hatte sich am Wegesrand von etwas ablenken lassen, so wie Farie es sonst von den kleineren Geistern kannte.

So gut sie auch vorankamen, die Sonne marschierte unnachgiebig auf den Horizont zu. Bald fielen die Strahlen, unterbrochen von den Baumstämmen, waagerecht von der Seite. Es wurde merklich kühler im Wald. Die Vögel schienen den Abend mit einem lauten Konzert zu begrüßen. Das Licht nahm mit jedem Schritt weiter ab, die feuchte Kälte dafür zu. Für Talon und Gerrit in ihrer klammen Kleidung eine harte Strafe. Aber Farie konnte es nicht ändern, so leid es ihr tat Gerrit zittern zu sehen. Zunehmend wurde es dunkler, bis der erste Ruf eines Käuzchens durch den Wald hallte.

»Farie! Es ist fast dunkel.« Sienas Stimme zitterte. »Was tun wir jetzt?«

»Wir haben doch unsere Monde, sie werden uns helfen, den Weg zu finden.« Farie blieb stehen. Die Weggabelung, vor der sie standen, erschien ihr ganz fremd. Hatten sie sich verirrt? Sie wandte sich um, hoffte, etwas Vertrautes zu erkennen.

»Ich glaube, wir müssen dort entlang.« Talon zeigte in Richtung des roten Mondes. Der Ruf eines Uhus klang unheimlich zwischen den Bäumen wider.

»Nein! Geradeaus«, entgegnete Lunia.

»Halt! Wartet mal. Ich …« Farie drehte sich einmal um sich selbst. Sie hatte keine Ahnung, welche Weggabelung sie erreicht hatten und ob sie hier oder erst bei der nächsten Gabelung abbiegen mussten. Plötzlich ergriff eine kleine Hand die ihre und zog sie in Richtung des weißen Mondes. Erneut hallte der Ruf eines Käuzchens durch den Wald.

»Auf die Orientierung von diesem merkwürdigen Zwerg«, Talon steckte seine Fäuste in die Hüften, »sollten wir uns lieber nicht verlassen.«

»Gerrit scheint aber ganz sicher zu sein.« Farie schaute ihm ins Gesicht, welches sie in der Dunkelheit kaum noch erkennen konnte. Er nickte.

»Hier!« Talon wies in seine Richtung. »Das ist der richtige Weg.«

Farie strich über ihren Mund, während sie nachdachte. Gestern Nacht, als die Gestalt das Baby brachte, stand der weiße Mond hinter dem Kloster. Von hier aus gesehen müsste die Richtung des weißen Mondes demzufolge nach Hause führen. »Wir folgen dem weißen Mond.«

Der Kauz rief erneut seinen Namen. Farie nahm Gerrit und Lunia an die Hände.

»Wenn wir uns verirren, dann bin ich wenigstens nicht schuld.« Talons Stimme klang fest. Er schien keine Angst zu haben.

»Lasst uns alle an die Hände fassen, so kann niemand verloren gehen und wir bleiben zusammen!« Farie versuchte, sich mit ihrem Blick auf die Kinder und den Weg zu konzentrieren. Die Bäume wirkten auf sie wie riesige Monster, die mit ihren Astklauen nach ihnen zu greifen drohten. Die Geräusche der Nachtvögel waren ihr vertraut, aber diese Dunkelheit jagte ihr Angst ein. Hin und wieder glaubte sie, ein leises Knacken zu hören.

Lucias Stimme zitterte auffallend. »Farie? Sind das vielleicht Rehe, die uns folgen?«

»Nein! Es sind Waldmonster, die uns …«

»Halt den Mund, Talon! Es ziemt sich nicht, den Mädchen Angst zu machen.« Farie bemühte sich um einen festen Ton. »Es wäre mal ein netter Zug von dir, wenn du dich uns gegenüber etwas galanter verhalten würdest.«

»Schon gut. Es sollte nur zur Belustigung dienen.«

»Belustigung?« Der Bengel hätte eine Ohrfeige verdient. »Eigenartig, dass niemand darüber lachen kann.«

»Wir gehen ja auch den falschen Weg.« Talon seufzte hörbar. »So kommen wir nie im Kloster an.«

»Und wenn Talon recht hat, Farie?« Sienas Stimme zitterte ebenfalls.

»Wir werden sehen.« Wirklich überzeugt war Farie nicht, aber Gerrit zog sie mit sicheren Schritten vorwärts, sodass ihre Zweifel verflogen. Inzwischen war es noch dunkler geworden. Nur die beiden Monde blinzelten durch die Baumkronen und erlaubten eine Orientierung.

»Ich habe Angst!« Lunia drückte ihre Hand.

»Das brauchst du nicht. Ich lasse dich nicht los.« Farie meinte, ein Stück voraus ein Licht zwischen den Baumstämmen zu erkennen.

»Dort vorn ist ein Licht!« Die Stimme von Siena klang etwas belegt. Lunia presste Faries Hand fester, während Gerrit seinen Griff löste. Jetzt erkannte Farie den Klostergarten hinter den letzten Baumreihen. Das Licht kam von den Kerzen aus der Kapelle, wo zu dieser Zeit das Abendgebet abgehalten wurde.

Ein Stein fiel Farie vom Herzen. »Wir haben es geschafft! Hoffentlich ist noch eine Kleinigkeit vom Abendmahl für uns übrig geblieben.«

»Mein Weg wäre kürzer gewesen.« Talon rannte auf das Klostertor zu.

BESUCH

Die Regenperioden kamen und gingen. Es verstrich kein Tag, an dem sich Talon und Gerrit nicht stritten. Während Talon ihn nur verbal angriff, gab es für Gerrit kaum eine Möglichkeit, sich zu verteidigen. Er konnte sich nur mit Gesten oder mit seinen Fäusten wehren. Talon war nicht nur älter und größer, er war auch wesentlich kräftiger gebaut als Gerrit. Blutende Nasen und kleine Platzwunden standen auf der Tagesordnung, wobei Gerrit trotz der körperlichen Unterlegenheit nur wenige Blessuren davontrug. Je aufbrausender Talon wurde, desto geschickter wich ihm Gerrit aus.

Aufgrund der mangelnden Bereitschaft der Dorfbewohner durfte Siena weiterhin im Kloster wohnen, was für Farie eine enorme Erleichterung war. Abgesehen von der Unterstützung für die Kleinkinder gelang es Siena als Einziger, eine drohende Auseinandersetzung zwischen den beiden Mondkämpfern im Keim zu ersticken.

 

Der schrille Klang der Feuerglocke riss Farie aus dem Schlaf. Ihr erster Gedanke war, die Kinder zu retten. Sofort hastete sie aus ihrer Kammer eine Etage tiefer zu den Kinderschlafräumen. Talon stand bereits mit den Jungen auf dem Flur. Einige husteten heftig. Der beißende Rauch kam direkt aus ihrem Schlafraum.

»Sehr gut, Talon! Bring alle raus, am besten in den Klostergarten!« Farie zog sich den Stoff vom Ausschnitt ihres Nachtkleides über Mund und Nase. Talon drängte seine Gruppe die Treppe hinunter. Unbewusst zählte Farie ihre Sprösslinge durch, ob auch wirklich alle acht Jungen in Sicherheit waren. Sieben? – Wer fehlte? – Gerrit!

»Wo ist Gerrit?« Farie hörte ihren schnellen Herzschlag.

Talon wandte sich nicht um, zuckte nur mit den Schultern und ging mit den anderen nach unten.

Am Ende des Flurs erkannte Farie im zunehmenden Rauch, wie die Mädchen die Kleinkinder aus den Räumen brachten. War Gerrit etwa noch im Schlafraum? Sie wagte einen Schritt in den Raum, erfasste vage Umrisse einer sitzenden Gestalt im dichten Qualm. Es konnte nur Gerrit sein! Die wachsenden Flammen näherten sich ihm unaufhörlich. »Raus! Zum roten Mond!« Er bewegte sich noch immer nicht. »Lauf zum Fenster!«, schrie Farie. Gerrit sah aus, als sei er zu Stein erstarrt. Das Feuer kroch auf seine Bettstatt zu. Wenn sie nicht zusehen wollte, wie er bei lebendigem Leibe verbrannte, musste sie jetzt handeln! Farie riss die nächste greifbare Bettdecke an sich und bahnte sich einen Weg zu Gerrit, indem sie das Leinen auf die Flammen schleuderte, um sie zu ersticken. Mit vier Decken gelangte sie an sein Bett.

Steif wie ein Brett saß er da. Seine Augen sowie sein Mund standen weit offen, als sei sein Schrei im Entstehen erfroren. Keine Regung deutete auf Leben in seinem Körper, er schien Farie nicht mal wahrzunehmen. Neben seinem rechten Unterschenkel züngelten die ersten Flammen bereits am Bett empor. Farie sah kurz zurück. Vorn am Eingang fingen ihre ausgelegten Bettdecken gerade Feuer. Sie zerrte die Decke von Gerrits Leib, packte ihn unter den Achseln und warf ihn sich über die Schulter. Für die zierliche Farie war Gerrits schlanke Figur dennoch schwer genug. Eine Herausforderung, der sie sich in dieser Situation stellen musste. So rasch es ihr mit ihrer leblosen Last möglich war, rannte sie auf die offenstehende Tür zu. Auf dem verqualmten Flur tastete sie sich die Treppen hinunter, versuchte, für den Moment ihren Atem anzuhalten.

Draußen im Garten hustete sie mehrmals.

»Wer hier nicht gebraucht wird, hilft beim Löschen! Schnell!« Wild fuchtelte die Äbtissin mit ihren Armen durch die Luft.

Als Farie Gerrit auf den Boden gleiten ließ, kam Siena sofort dazu. »Was ist mit ihm? Er sieht so seltsam aus!«

Farie bemerkte, wie blass Gerrit aussah. Sie legte ihr Ohr dicht an seinen Mund. »Er atmet nicht!« Sie stemmte sich mit ihren Händen auf Gerrits Brustkorb und drückte ihn fest, aber dennoch vorsichtig hinunter.

Siena schlug Gerrit auf die Wange. »Komm schon, atme! Bitte Gerrit!«

Endlich rang er nach Luft. Keuchend und hustend setzte er sich auf. Seine Lippen schienen etwas sagen zu wollen.

Siena nahm seine Hand. »Das war es, was dich so erschreckt hat. Feuer, nicht wahr?«

»Ich – ich – hab – mich nicht bewegen können. Keine … Luft«, stammelte Gerrit seine ersten Worte.

»Den Monden sei Dank!« Faries Blick fiel auf seinen rechten Unterschenkel. Die Haut war handflächengroß verbrannt. »Siena! Hol aus der Küche Blutwurzsud. Den gibst du auf ein Tuch und legst es Gerrit auf sein Bein.« Farie zeigte auf Gerrits Wunde. Siena folgte mit ihrem Blick, sah dann aber schnell zur Seite. Sie presste die Hand auf ihr Herz und schluckte hart.

»Bitte Siena! Das muss sofort versorgt werden. Ich muss beim Löschen helfen.«

 

Der Brand konnte mithilfe einer Wassereimerkette und dichten Decken gelöscht werden. Der Schlafraum der Jungen war danach unbewohnbar. Das Feuer hatte sämtliches Mobiliar vernichtet. Von den rußverschmierten Wänden abgesehen waren die Dielen an manchen Stellen nicht mehr tragfähig. Die Äbtissin teilte die Jungen auf mehrere kleinere Kammern auf, die früher einmal von Klosterschwestern bewohnt worden waren. Während die Zahl der Zöglinge im Kloster zunahm, hatte sich die der Schwestern verringert. Farie hatte gern die Aufgabe übernommen, sich um die Kinder zu kümmern. Um den beschädigten Raum wieder herzurichten, fehlten die Mittel. Weder das Holz für einen neuen Fußboden noch die Arbeit des Tischlers konnte die Vorsteherin bezahlen. Aber auch das hatte einen Vorteil: Gerrit und Talon schliefen von nun an in getrennten Stuben.

 

Kurze Zeit darauf sah Lunia einen kräftigen, gut gekleideten Mann durch den Klostergarten gehen. Er ging auf die Äbtissin zu. Seine großen, hellbraunen Augen glänzten geheimnisvoll. Die buschigen Augenbrauen und seine breite Nase machten Lunia Angst.

»Ich komme in einer Angelegenheit zu Euch, die uns beiden recht hilfreich sein wird.« Mit diesen Worten überreichte er der obersten Schwester ein Säckchen. Dem Geräusch nach waren darin bestimmt Goldstücke. Viele Goldstücke.

»Die Monde werden es Euch vergelten.« Die Äbtissin neigte zum Dank ihren Kopf.

»Wie ich aus zuverlässiger Quelle weiß, seid Ihr äußerst dankbar, wenn Eure Kinder eine Ausbildung erhalten.«

Lunia mochte den Mann nicht. Die Vorstellung, bei ihm zu wohnen, ihn vielleicht bedienen zu müssen, missfiel ihr sehr.

»Ihr verfügt über eine Möglichkeit, einem meiner Kinder eine Ausbildung zu gewähren?«

Der Äbtissin konnte es ja egal sein. Hauptsache, sie war einen von ihnen los.

»Nein, nicht ein Kind. Ich nehme fünf Kinder in meine Obhut. Jedoch habe ich eine Bitte.«

Wie selbstsicher er das sagte!

»Sie sei Euch gewährt.« Die Vorsteherin schaute sich um, welcher ihrer Sprösslinge gerade anwesend war.

»Ich wähle die Kinder selbst aus. Sie erlernen bei mir besondere Fertigkeiten, für die sie gewisse Voraussetzungen benötigen.« Bei dem dunklen Klang seiner Stimme kroch Lunia ein Schauer über den Rücken.

»Nun, dann werde ich die Kinder versammeln und Ihr werdet Euch entscheiden. Spielt das Alter der Kinder eine Rolle?«

»Neun oder zehn Regenperioden sollten sie bereits hinter sich haben und ich bevorzuge Knaben.« Bei seinen Worten fiel Lunia ein Stein vom Herzen. Sie musste ihn also nicht fürchten.

»Lunia!« Die Äbtissin sah zu ihr. »Du hast gehört. Sorge bitte dafür, dass sich die Jungen ab neun Sommern im Garten einfinden!«

Lunia nickte und eilte zu Farie in die Küche. Sie berichtete ihr von dem unsympathischen Besucher sowie seinem Angebot.

Farie riss ihre Augen weit auf. »Ich werde Gerrit hier in der Küche beschäftigen. Er darf nicht fortgehen! Geh und sag den anderen Bescheid!«

 

Mit erhobenem Haupt stolzierte der Mann siegessicher wie ein Hahn an seinen Hühnern vorbei. Er musterte die aufgereihten Jungen von oben herab. Vor dem Größten blieb er stehen. »Talon, nicht wahr? Wir hatten bereits das Vergnügen, uns kennenzulernen.«

»Ja, damals am Brunnen. Ich erinnere mich an Euch.« Talon nickte.

»Gut, dass du dich erinnerst.« Am Ende der Reihe wandte sich der Mann zur Äbtissin um.

»Wo ist Gerrit? Ich kann ihn nicht entdecken.«

Die Äbtissin klatschte in die Hände. »Lunia?« Ihr Rufen wurde energischer. »Lunia!«

Die rührte sich nicht. Sie hatte sich im Gebüsch versteckt, denn sie wollte nicht schuld sein, wenn Gerrit das Kloster verlassen musste.

»Lasst nur! Ich werde mich erst einmal mit den anwesenden Knaben unterhalten.«

Intensiv schaute er einigen in die Augen, andere fragte er nach ihrem Namen. Drei Mal ging er die Reihe auf und ab. »Meine Entscheidung ist gefallen, verehrteste Äbtissin.« Er lächelte zufrieden.

»Bitte folgt mir! Hier sind zu viele Zuhörer.« Sie führte den Mann in ihr Kontor.

Lunia schlich sich unter das Fenster und lauschte dem Gespräch.

»Verzeiht, Herr …? Wie war doch gleich Euer Name?« Wo die Vorsteherin sonst viel Wert auf Anstand legte, hätte ihr auffallen müssen, dass der Mann sich gar nicht vorgestellt hatte.

»Vamun. Mein Name ist Vamun. Ich bezog vor einiger Zeit eine herrliche Burganlage ungefähr drei Tagesreisen von hier entfernt. Dort werden auch die Knaben untergebracht sein.«

»Die Ausbildung, von der Ihr spracht – was werden die Kinder erlernen?« Die Äbtissin klang übertrieben freundlich. So hatte Lunia sie noch nie erlebt.

»Seht, Verehrteste, wir haben doch vieles gemeinsam – das Kloster und ich. Ihr verehrt das Zusammenspiel der Monde. Ich mache mir die Energie des roten Mondes zunutze. Die Jungen werden lernen, mit dieser Kraft umzugehen. Außerdem gehören zum Unterricht Pflanzenkunde, Tierkunde und das Schreiben selenorischer Schriftzeichen, um nur einige Dinge zu nennen. Ich denke, dass ich sie zu ganz besonderen Geschöpfen erziehen kann.«

»Die Kinder werden von uns mindestens einmal nach der Regenperiode aufgesucht. Aber das wird Euch sicherlich keine Schwierigkeiten bereiten, nicht wahr?«

»Die Knaben können jederzeit von Euch besucht werden.« Eine kleine Pause folgte. »Meine Auswahl habe ich getroffen und möchte Euch darum bitten, die Jungen reisefertig zu machen.«

»Gewiss doch. Welche Buben habt Ihr gewählt?«

»Hanar, Ramou, Erylan sowie Talon und Gerrit.«

Als Lunia Gerrits Namen hörte, lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken. Woher wusste dieser Mann von Gerrit? Und wie sollte sie das Farie beibringen? Vorsichtig verließ sie ihren Lauschposten und eilte in die Küche. »Farie!« Lunias Herz klopfte heftig. »Er hat ihn ausgewählt. Er wird mit ihm gehen.«

»Was? Wer hat wen ausgewählt?« Farie sah Lunia fragend an.

»Ich habe das Gespräch belauscht.« Lunia sah kurz zu Gerrit. »Der Mann heißt Vamun.«

Ein sichtbares Zucken ging bei diesem Namen durch Gerrit.

Auch Farie war das wohl aufgefallen. »Gerrit? Was ist?«

Er schüttelte kurz den Kopf und ging ohne ein Wort aus der Küche.

»Farie! Er nimmt Gerrit mit! Gerrit und Talon.« Lunia schluckte.

»Warum Gerrit? Er war doch gar nicht dabei?« Farie rieb sich das Gesicht.

»Ich erinnere mich an diesen Mann. Er kam damals an den Brunnen im Dorf, wo Talon und Gerrit ihren ersten Streit hatten. Er hatte sich nach ihren Namen erkundigt, wollte wissen, wo wir herkommen und dann sagte er, wir würden uns wiedersehen. Ich habe nicht mehr daran gedacht, aber jetzt fällt es mir wieder ein. Er hatte Talon und Gerrit zu jener Zeit so eigenartig gemustert.«

»Lunia, was können wir tun? Talon geht manchmal wie ein roter Monddrache auf Gerrit los. Nicht auszudenken, wenn dieser Vamun mit den beiden nicht richtig umzugehen weiß!« Farie sah verzweifelt aus.

 

Die Klostervorsteherin brachte Vamun gerade hinaus zum Garten, als sie und Farie förmlich zusammenprallten. »Farie?« Die Äbtissin schien die Dringlichkeit der Jüngeren zu spüren.

»Bitte, oberste Schwester. Habt Ihr einen Augenblick Zeit für mich?« Faries Mund war trocken.

»Entschuldigt uns für einen Moment! Die Mädchen aus der Küche werden Euch gleich eine Mahlzeit bringen.« Die Äbtissin bot Vamun einen Platz auf der Gartenbank an und zog sich dann mit Farie in ihr Kontor zurück.

»Verzeiht, oberste Schwester, aber Gerrit …«

»Natürlich! Faries Liebling! Farie, es geht hier nicht um dich, sondern um die Kinder. Sie bekommen eine einzigartige Möglichkeit, sich einer Ausbildung zu unterziehen. Die werde ich ihnen nicht verweigern. Du weißt doch am besten, dass Gerrit außergewöhnliche Fähigkeiten besitzt. In unserem Kloster können wir ihm kaum etwas bieten, um sich zu entfalten.«

»Darum geht es ja gar nicht. Der Mann, der Gerrit damals herbrachte, sagte, er würde ihn wieder zu sich holen, sobald es ihm möglich ist. Ich habe ihm versprochen, auf ihn achtzugeben. Wie soll ich meinem Versprechen nachkommen, wenn Gerrit fortgeht?«

»Meine gute Farie! Das ist inzwischen über fünf Regenperioden her. Die Goldstücke aus jener Zeit sind längst aufgebraucht. Herr Vamun war äußerst großzügig. Außerdem haben wir die Aussicht, die Kinder regelmäßig zu besuchen. Falls dieser Mann von Gerrit wirklich einmal auftauchen sollte, brauchen wir ihn nur zur Burg zu schicken.« Die Äbtissin nickte ihr kurz zu und ging hinaus. Diesen Argumenten konnte Farie nichts entgegensetzten. Als sie im Garten an dem Mann vorbeiging und ihm in die Augen schaute, lief es ihr kalt den Rücken herunter. Er sah freundlich und gepflegt aus, woher kam nur diese Empfindung?

 

Mit großer Eile kam ein Reiter aus dem Wald auf das Kloster zu. Hastig sprang er von seinem Pferd und rannte sogleich auf Vamun zu, um ihm ein Dokument zu übergeben. Nachdem Vamun diese Nachricht gelesen hatte, runzelte er die Stirn. Er stand auf.

»Verehrteste, ich bin untröstlich! Aber es gibt einige Dinge, die meine Anwesenheit auf meiner Burg erfordern«, wandte er sich der Äbtissin zu. »Ich lasse Euch meinen Boten hier, er wird die Knaben zu meiner Burg geleiten. Wenn es Euch nicht zu viel Mühe macht, würde ich es begrüßen, wenn Ihr eine Eurer Schwestern als Begleitung entbehren könntet.«

»Natürlich!« Die Klostervorsteherin neigte ihren Kopf. »Ich werde sie morgen früh gleich losschicken.«

»Morgen früh erst? Nun denn, so soll es sein. Lebt wohl!« Vamun verbeugte sich, stieg aufs Pferd und ritt im schnellen Galopp davon.

»Geht in die Küche!« Die Äbtissin sah zu dem Boten, »Dort lasst Euch etwas zu essen geben!«

»Dürfte ich vielleicht«, Farie schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter, »die Begleitung sein? Es würde mir viel bedeuten, zu wissen, wo die Jungen unterkommen.« Farie hatte Herzklopfen.

Die Äbtissin sah sie prüfend an. »Ich denke, es wäre besser, diese Aufgabe einer anderen Schwester zu übergeben. Doch weiß ich von deiner Sorge um Gerrit und gewähre dir diese Bitte.«

Farie schloss für einen Moment die Augen und atmete erleichtert auf. Zu sehen, wo Gerrit die nächste Zeit leben sollte, beruhigte sie ein wenig. Ihn regelmäßig besuchen zu dürfen, schenkte ihr auch etwas Trost. Allerdings musste sie mit Gerrit noch unter vier Augen sprechen, bevor sie sich auf den Weg machten.

 

»Wo willst du denn hin?« Farie fand Gerrit auf dem Weg in den Wald.

»Begleitet mich!« Seine Stimme klang traurig.

»Ich wollte ohnehin noch mit dir reden.« Farie seufzte laut.

»Ja? Was gibt es noch zu sagen?«

»Das klingt so zynisch. Glaubst du vielleicht, ich schicke dich fort?« Farie konnte das nicht glauben. Wie kam Gerrit auf einen solchen Gedanken?

»Ihr habt ihn doch hergeholt.«

»Aber nein!« Farie blieb die Luft weg. »Das habe ich nicht! Lunia hat mir von Vamun erzählt. Er hätte euch damals am Brunnen beobachtet.« Sie musste Gerrit überzeugen. Mit diesen Vermutungen durfte sie ihn nicht gehen lassen. »Gerrit! Bitte denke nicht, dass ich mit diesem Mann auch nur das Geringste zu tun habe! Im Gegenteil, ich habe versucht, die oberste Schwester davon abzubringen. Sie ließ sich auf kein Gespräch ein. Du bist für mich etwas ganz Besonderes und es fällt mir sehr schwer, dich nicht mehr hier zu wissen. Glaubst du mir?« Farie blieb stehen. Sie wartete auf eine Reaktion.

Gerrit hielt inne und sah sie an. »Ja. Das Kloster zu verlassen, stimmt mich traurig. Es muss wohl so sein.«

»Erinnerst du dich eigentlich an die Zeit, bevor du zu uns kamst?« Farie wollte ihm von den Kleidungsstücken erzählen.

Er überlegte. »Nur einzelne Bilder von Feuer geistern in meinem Kopf. Es brannte überall um mich herum.« Gerrit machte eine Pause »Vamun. Diesen Namen habe ich schon mal gehört. Aber ich erinnere mich nicht. Warum fragt Ihr mich das?«

»Als dieser Mann dich damals herbrachte.« Der Anblick dieses gut gekleideten Mannes hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt.

»Welcher Mann?«

»Dieser Bote, der genauso gekleidet war wie du. Er trug ein Medaillon, du eine Halskette. Weißt du denn nicht einmal, wie du hierherkamst?« Erst nach so langer Zeit gab es eine Gelegenheit, mit ihm darüber zu sprechen.

Gerrit schüttelte langsam den Kopf. »Ich wachte hier eines Morgens auf. Das ist alles, was ich weiß.«

»Wenn du eines Tages deinen eigenen Weg gehst, dann sollst du wissen, ich habe all diese Dinge für dich aufgehoben.« Farie legte ihre Hand auf seine Schulter.

»Warum habt Ihr sie aufgehoben?«

»Sie sahen so kostbar aus. Vielleicht kannst du damit eines Tages herausfinden, wo dein Zuhause ist.«

»Danke Farie!« Gerrit lächelt kurz.

BURG

Als die Sonne orangerot über den Horizont blinzelte, hatten Farie, die fünf Jungen und der Bote sich bereits auf den Weg gemacht. Farie dachte daran zurück, als sie jene Kreuzung erreichten, an der sie vor fünf Regenperioden im Dunkeln von Gerrit nach Hause geleitet worden waren. Heute bogen sie auf den Weg ab, den Talon damals gehen wollte. Der versuchte gerade, den Boten in ein Gespräch zu verwickeln. Schließlich war er neugierig, wie ihre neue Unterkunft aussehen würde. Der Bote antwortete nicht, er reagierte auf Talons Fragen überhaupt nicht. Er lief immer nur voran. Für Farie war es ein langer, harter Marsch. Zwei Nächte verbrachten sie im Wald zwischen dem Moos.

Am späten Nachmittag des dritten Tages, als es dämmerte, erreichten sie endlich die Burg von Vamun. Sie stand auf einem Hügel, ringsum eine große Wiese, die bis an den Wald reichte.

»Eine richtige Burg!« Hanar rannte auf das offenstehende Tor zu. Die anderen taten es ihm gleich. Nur Gerrit nicht. Er blieb an Faries Seite. »Ein seltsamer Ort.«

»Es sieht doch recht herrschaftlich aus.« Farie empfand ähnlich wie Gerrit, aber sie wollte ihn aufmuntern. »Diese mächtigen Mauern da oben auf der Anhöhe. Bestimmt hat man von dort eine herrliche Aussicht. Meinst du nicht?«

Gerrit sah Farie kurz an. »Weiß nicht.«

Schweigend marschierten beide als Letzte durch das riesige Holztor in der Burgmauer, die, aus Felssteinen gebaut, sehr massiv wirkte. An allen vier Ecken ragten hohe Türme in den Himmel. Im Innenhof standen drei Steinstatuen, die fantasievolle Kreaturen darstellten. Die erste Figur hatte den Oberkörper eines großen Raubvogels mit breiten Flügeln, jedoch trug sie menschliche Beine und Füße. Die zweite Statue erinnerte an eine Katze, die den Kopf einer Frau hatte. Das dritte Geschöpf verzauberte Gerrit. Es war ein Delfin mit menschlichen Armen anstelle der Bauchflossen. Außerdem hatte er menschliche Augen. Gepflegte rote Buchsbäume und herrliche rote Blumenrabatten bildeten einen würdigen Rahmen für diese Wesen.

In der Mitte der Burganlage stand das Wohngebäude, das Palas genannt wurde und längliche, halbrunde Fensteröffnungen besaß.

Vamun kam ihnen von dort entgegen. »Willkommen in eurem neuen Zuhause! Wir werden gleich unser Abendmahl einnehmen. Anschließend werde ich euch dann den Schlafraum zeigen.« Er begleitete die Jungen und Farie in das Burggebäude. Sie durchquerten eine riesige Halle, von der aus eine breite, geschwungene Steintreppe nach oben führte. In einem großen Saal, der rechts von der Eingangshalle lag, erstrahlten Hunderte von Kerzen. In der Mitte des Raumes lud ein langer Tisch zum Tafeln ein. Farie hörte plötzlich ihren Magen knurren. In einer Schüssel lagen appetitlich aussehende Äpfel, Birnen und Weintrauben. Daneben, auf einem Tablett, dampften verschiedene Gemüsesorten wie Kohl und Rüben. Der verführerische Duft, der durch den ganzen Festsaal zog, schien von dem saftigen Braten auszugehen. Bei dessen Anblick lief Farie das Wasser im Mund zusammen.

Gerrit sah an die Decke. Wunderschöne Malereien stellten unterschiedliche Mondsagen dar. Einige davon hatte Farie oft erzählt. In der hinteren Ecke erkannte er die Sage von den Brüdern, die er einerseits mochte, die ihn aber auch immer traurig gestimmt hatte:

 

 

Die Sonne hatte zwei Kinder, Lun und Han. Die Geschwister waren sehr verschieden. Han mochte die Nacht und die Regenperiode, Lun dagegen liebte den Tag und den Sommer. Eines Tages stritten sie so erbittert, dass sie beide von einem Felsen in den Tod stürzten. Die Sonne schuf als ewige Erinnerung an diesen Tag aus Lun den weißen und aus Han den roten Mond.

 

»Gefällt es dir?« Vamun war dicht an Gerrit herangetreten, während die anderen Jungen sich ungeduldig an den Tisch setzten.

»Ihr verehrt den roten Mond?« Gerrit sah Vamun an. Er sah ganz anders aus, als er ihn von dem Dorfbesuch im Gedächtnis hatte.

»Wie kommst du darauf?« In seiner dunklen Stimme lag eine merkwürdige Betonung.

Gerrit sah ihm in seine Augen und flüsterte. »Ich spüre es.«

Vamun nickte kaum merklich. »Komm! Stärke dich.« Er legte seine Hand auf Gerrits Schulter und schob ihn zum Tisch. »Nehmt bitte Platz!« Er sah zu Farie, die an einem Stuhl stand und ihn beobachtete. Gerrit fiel auf, wie unruhig sie wirkte. Eine Seite, die er von ihr gar nicht kannte.

»Lasst es euch schmecken!« Kaum hatte Vamun diese Worte ausgesprochen, griffen die Jungen zu, als gäbe es kein Morgen. In diesem Moment kam ein Diener herein und schenkte aus einer Karaffe Rotwein in die Becher von Vamun und Farie. Aus einer zweiten Kanne goss er roten Traubensaft in die Trinkgefäße der Knaben. Gerrit schaute wieder nach oben an die Decke. Diese Malereien faszinierten ihn sehr. Einige Abbildungen schienen ihm so vertraut, andere schreckten ihn ab.

»Gerrit, greif zu! Auch du wirst hungrig sein.« Vamun reichte ihm den Bratenteller, der schon beachtlich geplündert worden war. Der mächtige Hunger, den Gerrit auf dem Weg hierher verspürt hatte, war wie ausgelöscht.

»Sehr freundlich von Euch« Gerrit schüttelte den Kopf, »aber ich habe nur Durst.« Er griff zu seinem Becher und trank ihn leer. Augenblicklich eilte der Diener herbei, um den Becher erneut zu füllen. »Habt Dank!« Gerrit sah dem Diener in die Augen. Er hatte das gleiche ausdruckslose Gesicht, dieselben leblosen Augen wie der Bote, der sie hergebracht hatte. Dieser Diener zeigte keinerlei Regung. Ein eisiger Schauer überfiel Gerrit. Hier sollte er von nun an leben? Er sehnte sich bereits jetzt ins Kloster zurück und wusste trotz allem, es gab keinen Ausweg.

 

Nach dem Mahl führte Vamun seine Gäste die Steintreppe hinauf. Links den Flur hinunter wies er jedem der Jungen einen kleinen Raum mit Bett, Tisch, Stuhl sowie einer Kleidertruhe zu. Gerrit spürte seinen Hals eng werden. Die schmalen Fenster waren von außen vergittert. War er jetzt ein Gefangener?

Talon klang begeistert. »Jeder von uns bekommt eine eigene Kammer?«

Vamun nickte erhaben, schwenkte seinen Blick zu Gerrits Gesicht. »Morgen bekommt ihr eure erste Aufgabe. Ihr solltet nun schlafen gehen.« Er wandte sich an Farie. »Euer Schlafgemach liegt am anderen Ende des Flurs.«

Gerrit sah Vamun nach, wie er Farie zu einem entlegenen Raum begleitete, dann schloss er hinter sich die Tür. Wahrscheinlich ging Farie morgen wieder zurück, während er hierbleiben musste. Er kletterte auf den Tisch und sah zum Fenster hinaus. Im Kloster hatte er auf den Wald geschaut und konnte manchmal die Rehe beobachten, wenn sie sich bis an den Waldrand gewagt hatten. Hier gab es nur die Burgmauern zu sehen und nach oben hin die rote Mondsichel. Der Anblick des Gitters vor seinem Fenster schnürte Gerrit die Luft ab. Tief ausatmend setzte er sich mit dem Rücken zur Wand auf den Tisch.

Das war nun sein neues Zuhause! Die Zeit des Klosters war vorbei. Er dachte an das Gespräch mit Farie zurück. Sie hatte seine Kleidung aufgehoben – ein Zeichen von Achtung. Die Äbtissin hätte die Gegenstände vermutlich verkauft. Ja, Farie konnte den Kindern das Gefühl vermitteln, etwas Besonderes zu sein. Sie war immer wie eine Mutter zu ihnen. Mit dieser Feststellung überlegte Gerrit, wie wohl seine Mutter gewesen war. Vielleicht hatte sie nie die Möglichkeit bekommen, sich von ihm zu verabschieden.

 

Farie schreckte aus dem Schlaf, als sich die Tür zu ihrem Zimmer knarrend öffnete.

»Schlaft Ihr schon?«, flüsterte eine vertraute Stimme. Farie rieb sich die Augen. Sie sah anfangs nur die Silhouette einer Gestalt in der Tür stehen. Dann erkannte sie Gerrit in einem dünnen Hemd. »Gerrit!« Sie rutschte an die Seite ihres Bettes. »Komm schnell unter meine Decke, sonst wirst du kalt!« Sie wartete, bis er sich zu ihr gelegt hatte, und deckte ihn zu. »So etwas hast du ja noch nie gemacht.« Die kleineren Kinder schlichen sich da eher mal unter ihre Bettdecke.

»Was?« Er kuschelte sich mit seinem Rücken an sie heran.

Sie legte ihren Arm über seine Schulter. »Du kommst zum ersten Mal zu mir.«

»Ich werde Euch vermissen, Farie.« Gerrit flüsterte. »Euch, das Kloster, den Gesang der Messen, den Garten.« Er hörte sich sehr traurig an. »Eben alles.«

Dabei war sie noch nicht einmal weg. »Du hast hier einen eigenen Raum, das ist doch großartig! Vamun wird euch viel beibringen. Du wirst sehen, bald fühlst du dich hier zu Hause.«

»Ich kann nicht schlafen.« Er klang fast ein wenig trotzig.

»Es ist noch ungewohnt für dich. Du musst dir ein bisschen Zeit geben, dich einzugewöhnen.« Wie gut sie ihn verstehen konnte. Weder dieser Vamun noch diese Burg hatten etwas Einladendes an sich.

»Nein, das ist es nicht. Hier walten Kräfte, die mich nicht in Ruhe lassen. Ich kann an diesem Ort nicht schlafen.«

»Hab Geduld, du wirst dich hier bestimmt bald wohlfühlen.« Farie bemühte sich, ruhig zu klingen, obgleich sie Gerrit am liebsten wieder mit zurückgenommen hätte. »Eines Tages wird dir diese Burg ebenso vertraut sein wie das Leben im Kloster.«

»Habt Ihr den Boten und den Diener beobachtet?«, fuhr Gerrit unbeirrbar fort.

»Bitte Gerrit …« Farie konnte ihren Satz nicht beenden.

»Sie zeigen keinerlei Gefühle, ihre Gesichter, wie versteinert. Es sind leblose Lebende!«

Ein eisiger Schauer kroch ihr über die Schultern. »Genug, Gerrit! Du kannst einem ja Angst machen.« Natürlich war das Farie nicht entgangen. Sie fürchtete, dass Gerrit mehr wahrnahm, als er zu diesem Zeitpunkt auszudrücken wusste.

»Ihr habt es auch gesehen, stimmt’s?« Er schluckte hörbar. »Ihr habt Angst, mich hierzulassen!«

Unmöglich durfte sie ehrlich antworten, das könnte seine Empfindungen nur verschlimmern und eine Lüge hätte er sofort bemerkt. Gerrit war auffallend feinfühlig. Sie konnte nur beten, dass Vamun diese Gabe nicht zerstören würde.

Farie strich ihm zärtlich über die Stirn. Sie flüsterte. »Ich habe für dich immer viel zu viele Gefühle gehabt, Gerrit. Als Klosterschwester dürfte ich das gar nicht, das weißt du. Ich komme wieder, um nach euch zu sehen. Versprochen!«

Für einen Moment blieb er still liegen, vermutlich genoss er ihre Zuneigung. »Ich gehe jetzt in mein Bett.« Gerrit stand auf, drehte sich noch einmal um. Der weiße Mond schien so durch das Fenster, dass Gerrit genau im Lichtschein stand. Seine kurzen, welligen Haare glitzerten im Mondschein, sein kindliches Gesicht reflektierte das Mondlicht.

»Ich liebe Euch, Farie!« Er sah ihr bei diesen Worten in die Augen und ging dann zur Tür hinaus.

 

Farie hatte das Gefühl, als würde ein Messer ihr Herz durchbohren. Wie konnte Gerrit in diesem Moment so etwas sagen? Ihr schlechtes Gewissen, ihn in Vamuns Obhut zu geben, war groß genug, die Last, nichts daran ändern zu können, unerträglich. Sie grübelte. Im Morgengrauen erst fiel sie in einen bleiernen Schlaf.

Am nächsten Morgen waren die Jungen mit Vamun früh aufgebrochen, sodass Farie sich auf den Weg machen musste, ohne die Kinder noch einmal zu sehen.

 

LERNEN

»Für euch beginnt jetzt die Zeit des Lernens.« Vamun schaute seine Zöglinge nacheinander an. Die standen aufgereiht vor ihm. »Ihr seid in den Wald gekommen, um einige Tage hier zu leben. Ihr werdet hier schlafen und in der Natur eure Nahrung suchen.«

»Ähm … bleibt Ihr denn nicht bei uns?« Talons Augen weiteten sich.

»Ihr sollt lernen!« Vamun betonte das erste Wort besonders deutlich. »Dort drüben am Baum«, er wies mit der Hand in die Richtung, »hängt ein Klangholz. Wenn ihr in Not seid, könnt ihr dagegen schlagen, dann komme ich euch zur Hilfe. Das gibt allerdings weiße Striche.«

»Was«, Ramou schluckte, »bedeuten weiße Striche?«

»Ich werde euer Handeln bewerten. Rote Striche sind zu sammeln, weiße besser nicht. Bei einer größeren Anzahl von negativen Strichen erhaltet ihr einen anderen Raum, nämlich im Burgverlies. Das wird auch bei Verstößen gegen meine Gesetze der Fall sein. Diese sind zu besprechen, wenn ihr das hier überstanden habt.« Vamun schwenkte wiederholt seine Blicke von Talon zu Hanar, Ramou über Erylan zu Gerrit und wieder zurück. »Die Regeln für diese Aufgabe stellt ihr selbst auf. Ob ihr zusammen oder einzeln arbeitet, ist euch überlassen. Jeder bekommt ein kleines Messer und eine Decke. Das ist alles.«

»Aber wie sollen wir denn …« Talon kam nicht zum Ende.

»Das ist alles, habe ich gesagt!« Vamun erhob seine Stimme, seine Augen funkelten. »Euer Auftrag ist beendet, wenn ich sieben Mal das Klangholz ertönen lasse. Dann werdet ihr euch hier versammeln.« Er nickte wie zur Bestätigung, drehte sich um, legte die versprochenen Gegenstände auf den Boden und ließ die Kinder stehen.

 

Es vergingen einige Momente, bis den Jungen bewusst wurde, dass Vamun seine Worte ernst gemeint hatte und sie tatsächlich hier draußen, einen halben Tagesmarsch von der Burg entfernt, auf sich allein gestellt waren.

Talon sah zu Hanar. »Was für eine närrische Aufgabe!«

Ramou schaute in die Runde. »Wir gehen zurück zum Kloster.«

»Ich vermute mal, dafür gibt es weiße Striche.« Hanar drehte sich um, als stünde jemand hinter ihm.

»Aber im Kloster könnten wir uns etwas zu essen besorgen, das merkt Vamun doch gar nicht.« Über Talons Gesicht zog ein triumphierendes Grinsen.

Gerrit hob die Hand und zeigte in den dichten Wald, durch den sie hergekommen waren.

Talon trat an Gerrit heran. »Hat unser großer Meister was zu sagen?«

»Macht, was ihr denkt! Ich in eurer Situation wäre nur vorsichtig mit dem, was ich sage. Wir werden nämlich beobachtet.« Entschlossen nahm Gerrit eine Decke sowie ein Messer, um sich seiner Aufgabe zu stellen. Genau drei Schritte weit kam er, dann fiel er unsanft zu Boden. Talon lag auf ihm.

»Ich mache dich fertig!« Talon setzte sich auf seinen Rücken und griff, wie Gerrit im Augenwinkel erfasste, nach einem handgroßen Stein. Er musste nicht warten, bis dieser auf seinem Kopf landete. Gerrit stemmte seinen Oberkörper auf, holte Schwung und rammte Talon seinen Ellenbogen ins Gesicht. Der stöhnte auf. Gerrit nutzte den Schreckmoment. Er entledigte sich durch eine geschickte Drehung seines schweren Widersachers. Beinahe gleichzeitig sprangen die Jungen auf und standen sich gegenüber. Talon hatte noch immer den Stein in der Hand, den er nun Gerrit an den Kopf zu werfen versuchte. Mit einer Seitwärtsbewegung wich Gerrit aus und der Stein hätte zu Boden fallen müssen.

Talon wich erschrocken zurück, während Gerrit sich umdrehte, als habe er Vamun, der den Stein aufgefangen hatte, bereits bemerkt.

»Wenn ihr etwas töten wollt, dann sucht euch ein Kaninchen.« Seine Worte klangen drohend. »Ich erwarte von euch, dass ihr euch mit Achtung begegnet. Jeder von euch besitzt besondere Fähigkeiten, die es unter meiner Obhut zu entfalten gilt. Dieser Vorfall wird sich nicht wiederholen. Fang!« Vamun warf Talon den Stein entgegen, der jedoch schwerfällig auf dessen Brust landete und ihm ein hörbares Stöhnen entlockte. Talon stand da wie versteinert. »An deinen Reaktionen solltest du dringend arbeiten.« Vamun drehte sich um. Er verschwand hinter den Baumstämmen im Gebüsch.

Gerrit dachte augenblicklich an die Erzählung von den zwei gegensätzlichen Brüdern aus den Mondsagen. Talon erinnerte ihn sehr an Han. Er musste achtgeben, dass sie nicht eines Tages das gleiche Schicksal erleiden würden. Jedenfalls mochte er diese Aufgabe nicht mit ihm lösen müssen. Er nahm seine Sachen und wollte gehen.

»Komm schon, Gerrit«, warf ihm Erylan nach, »bleib hier!«

»Wenn wir zusammenhalten«, Ramou sah zu Talon, »ist es doch für uns alle einfacher.« Er schwenkte seinen Blick zu Hanar, Erylan und Gerrit. »Womöglich bereitet es uns am Ende noch Vergnügen!«

Gerrit setzte sich auf einen umgefallenen Baumstamm. »Womit wollt ihr anfangen?«

»Zuerst müssen wir uns überlegen, wovon wir uns ernähren können.« Hanar schaute abwartend in die Runde.

»Kaninchen!« Talon nahm sich ein Messer.

»Die sind verdammt flink!« Erylan ergriff den Deckenstapel sowie die Messer und verteilte sie. »Ich bezweifle, dass wir die kleinen Rammler überhaupt zu fassen bekommen.«

»Als Erstes brauchen wir eine Quelle oder einen Bach.« Hier im Wald verspürte Gerrit zwar Hunger, jedoch war Wasser wichtiger als Nahrung. »Angenehm wäre ein Lagerfeuer, sonst wird uns heute Nacht sehr kalt. Zudem wäre ein Schutz vor Regen auch nicht verkehrt.«

»Gerrit!« Verächtlich sprach Talon seinen Namen aus. »Du weißt ja immer alles besser.«

»Hör auf, Talon! Gerrit hat recht.« Ramou steckte sich sein Messer an den Gürtel. »Vielleicht sollten wir uns zuerst aufteilen, um nach Wasser zu suchen. Die Sonne zeigt die Mittagsstunden an. Wenn sie die Baumkronen erreicht hat, treffen wir uns hier wieder.«

Talon verdrehte seine Augen, als sei ihm jedes gesagte Wort zu viel. Ohne darauf einzugehen, ging er los.

»Ich meine, dein Vorschlag ist gut.« Erylan strich sich durch sein langes Haar. »Machen wir uns auf den Weg!«

 

Die Sonne stand tief über den Baumwipfeln, als vier der Jungen sich aus verschiedenen Richtungen am Ausgangspunkt zusammenfanden. Die ersten dunklen Wolken zogen über den Himmel.

»In dieser Richtung liegt ein kleines Dorf.« Erylan wies den Weg zurück, den er gekommen war.

»Das Einzige, was ich gefunden habe, ist ein stinkender Pfuhl. Brackwasser, nicht zu gebrauchen.« Ramou setzte sich auf den umgefallenen Baumstamm.

»Bäume, Büsche und Wald.« Gelangweilt ließ sich Talon neben Ramou nieder.

»Ich habe keine Vermutung, was dieser Vamun von uns erwartet. Ein wenig Unterstützung, ein paar Hinweise wären uns hilfreich gewesen.« Hanar blickte zum Himmel. »Es wird bald regnen.«

»Gerrit scheint sich verlaufen zu haben.« Talon sah sich kurz um. »Lasst uns ins Dorf gehen!«

»Bestimmt gibt es dafür weiße Striche«, Erylan fuhr sich erneut durch sein Haar, »und vor Einbruch der Dunkelheit werden wir es nicht erreichen. Ich habe es lediglich aus der Ferne gesehen.«

»Nicht mit mir! Dieser Vamun will aus uns Narren machen.« Talon stand auf. »Von mir aus kann er sich mit anderen vergnügen. Ich gehe zum Kloster zurück!«

»Ja«, auch Ramou erhob sich, »ich sehe keinen Sinn in dieser Aufgabe.«

»Gerrit! Da bist du ja!« Erylan ging auf ihn zu. »Wir überlegen, was wir tun sollen.«

»Reisig und Holz sammeln wäre ein Anfang für einen trockenen und warmen Abend.« Gerrit machte eine Kopfbewegung in die Richtung, aus der er gekommen war. »Wir müssen wieder ein gutes Stück zur Burg zurückgehen.«

Außer Gerrit hatte keiner der fünf Jungen einen Plan, wie sie die Nacht über im Wald verbringen sollten. Seine Entschlossenheit überzeugte sogar Talon, der ein wenig widerwillig seinen Kameraden hinterherlief. Zwischendurch bückten sie sich hier nach Zweigen, dort nach dürren Ästen, bis jeder von ihnen einen Haufen brennbares Material auf dem Arm trug.

Ein kräftiger Wind zog auf, rüttelte damit weitere lose Äste und Kienzapfen hinunter. Die Luft kühlte sich merklich ab, als die Sonne von den dunklen Wolken verdrängt wurde. Anfangs folgten die Jungen Gerrit, ohne zu fragen. Doch ihre Ungeduld wuchs mit der Zunahme der dichten Wolken, die finsterer und drohender am Himmel erschienen. Ihr Schritttempo verdoppelte sich. Bald klatschten die ersten Regentropfen auf den Boden.

»Wir haben es noch geschafft, bevor die Sintflut niedergeht!« Gerrit blieb vor einer Felswand stehen.

»Verstehe ich nicht.« Erylan sah an der Wand entlang.

»Beim roten Mond!« Talon klang begeistert. »Das ist wirklich ein großartiges Versteck.«

Gerrit schob die Äste und Zweige der dichten Büsche zur Seite und zwängte sich in die Höhle; Talon und die anderen folgten ihm.

»Herrje, ist das finster hier drin!« Talons Stimme hallte unheimlich. Nahe des Höhleneingangs, wo noch etwas Licht hineinfiel, zerkleinerte Gerrit mit seinem Messer einige Holzstückchen. Seine Kameraden kamen dazu. Gerrit nahm ein Stöckchen zwischen die Hände. Er setzte es auf ein Stück Holz und drehte es schnell hin und her. Es dauerte ein wenig, aber letztlich fingen dessen Späne Feuer und brachten die gesammelten Zweige zum Brennen. Ein wärmendes Feuer beleuchtete ihr Versteck. An den Felswänden liefen zahlreiche Rinnsale an den Wänden entlang. Es gab genügend Vertiefungen, unter die Gerrit seine Hände hielt, um daraus zu trinken. Die anderen taten es ihm gleich.

Vom Eingang her drang ein immer lauter werdendes Rauschen in die Höhle. Es verursachte einen unheimlichen Klang. Neugierig drängten sich Erylan und Ramou neben den Höhleneingang.

»Als würden die Monde sämtliche Wasser über uns ergießen!«, schrie Erylan gegen den Krach an. Ramou nickte und kehrte zum Feuer zurück.

»Mein Magen knurrt!« Ramou legte seine Hand auf den Bauch. »Ich habe Hunger.«

»Glaubst du vielleicht, wir nicht?« Talon warf einen Ast auf die Flammen.

Erylan sah seine Kameraden an. »Mit dem Messer ein Kaninchen zu fangen, ist mehr als eine Herausforderung.«

»Und …«, Hanar rieb sich über die Stirn, »wenn wir uns einen Speer aus Holz schnitzen?«