Außer Kontrolle - Sonja Vukovic - E-Book

Außer Kontrolle E-Book

Sonja Vukovic

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Beschreibung

Viele Eltern fühlen sich gefordert und ratlos: Das Internet nimmt immer mehr Raum im Leben ihres Kindes ein, Kiffen und sogar Essstörungen scheinen heutzutage ganz normal zu sein, Alkohol ab 13 kein Grund mehr, sich aufzuregen. Aber was ist noch liberal, was fahrlässig? Wie viel Autorität muss sein? Welche Verbote machen es schlimmer? In ihren Fallgeschichten lässt Vukovic Menschen zu Wort kommen, die keine Lobby haben und fast nirgendwo Gehör finden: Väter und Mütter suchtkranker Kinder. Sie zeigt das Leid der Familien - und wie sie heilen.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungVersVORWORT1 LEA – mit 13 Cannabis, mit 17 Crack: Eine Mutter trauertÜberblick: Drogen und Suchtsituation in Deutschland (Teil 1)2 LÜGEN – Kiffen bis die Lunge kollabiertÜberblick: Erziehung und andere Methoden bei Sucht3 HILFLOS – wenn das Kind nicht mehr isst: Ein Elternpaar gibt sich trotzdem nicht auf, und die Heilung beginntWas der Experte sagt: ein unlösbarer Konflikt4 ROLLENSPIEL – die Sucht nach Computer und Co: Ein Sohn und seine Mutter erzählenWas der Experte sagt: Medienabhängigkeit – Sucht der Zukunft5 GRENZGÄNGER – ein Seiltanz aus Traurigkeit und Wut: Katrins Suchtverhalten bestimmt das Leben ihrer FamilieÜberblick: Geschwister süchtiger Kinder6 GEISTER – Erniedrigung statt Liebe: Veronica Ludwig kämpft gegen den Alkoholismus – wie schon ihre ElternÜberblick: Drogen und Suchtsituation in Deutschland (Teil 2)7 Suche – Eine Frau kämpft gegen die Kokainsucht ihres Sohnes, der inzwischen selbst Vater istNACHWORTANHANG

Über dieses Buch

Viele Eltern fühlen sich gefordert und ratlos: Das Internet nimmt immer mehr Raum im Leben ihres Kindes ein, Kiffen und sogar Essstörungen scheinen heutzutage ganz normal zu sein, Alkohol ab 13 kein Grund mehr, sich aufzuregen. Aber was ist noch liberal, was fahrlässig? Wie viel Autorität muss sein? Welche Verbote machen es schlimmer? In ihren Fallgeschichten lässt Vukovic Menschen zu Wort kommen, die keine Lobby haben und fast nirgendwo Gehör finden: Väter und Mütter suchtkranker Kinder. Sie zeigt das Leid der Familien - und wie sie heilen.

Über die Autorin

Sonja Vukovic engagiert sich für eine Gesellschaft, in der der Wert des Menschen nicht in erster Linie von dessen Leistung und Funktion abhängig ist. Mit Schwerpunkt Biografie, Gesellschaftskritik und Sozialpolitik hat sie unter anderem für »Die Welt«, »stern.de« und »Berliner Morgenpost« geschrieben. Sie wurde mit dem »Grimme Online Award« und dem »Axel-Springer-Preis« ausgezeichnet. 2013 erschien ihr internationaler Bestseller »Christiane F. – Mein zweites Leben«. Nach dem Aufbau der »F. Foundation« für Suchtprävention und -aufklärung schreibt sie nun an weiteren Büchern. Heute lebt Sonja Vukovic in Berlin und ist Mutter einer Tochter.

Sonja Vukovic

AUSSER KONTROLLE

Unsere Kinder, ihre Süchte –und was wir dagegen tun können

BASTEI ENTERTAINMENT

Zur Wahrung der Rechte der Personen wurden einige Namen,Orte und Details geändert.

Originalausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Sylvia Gredig, Köln

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Autorenfoto: © Olivier Favre

Einband-/Umschlagmotiv: © FinePic/shutterstock

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-4976-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

FÜR MAMA

Der Panther

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe

so müd geworden, dass er nichts mehr hält.

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe

und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,

der sich im allerkleinsten Kreise dreht,

ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,

in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille

sich lautlos auf – dann geht ein Bild hinein,

geht durch der Glieder angespannte Stille –

und hört im Herzen auf zu sein.

Rainer Maria Rilke

VORWORT

Wenn ein geliebter Mensch süchtig ist, leiden wir in besonderem Maße. Wir müssen nicht nur die Tatsache verarbeiten, dass unsere Angehörigen leiden, vielleicht sogar sterben, sondern wir müssen auch Wege finden, zu verstehen und zu verarbeiten, dass dieses Leid zwar einerseits selbstverschuldet ist, aber doch auch eine anerkannte Krankheit.

Wir müssen zwischen Sucht und Süchtiger/m unterscheiden lernen und Ersteres bekämpfen – Letztere/n aber lassen. Wir müssen lernen, wie das geht: traurig und liebend zu sein – und gleichzeitig wütend und eigenverantwortlich.

Bis wir all das gelernt haben, vergehen oft Jahre. Manchmal lernen wir es nie.

Der Begriff der Co-Abhängigkeit ist in Fachkreisen nicht unumstritten, weil er hierzulande oft mit der Idee einhergeht, dass wir als Angehörige nicht nur mit betroffen, sondern auch mitschuldig sind. Und es ist wahr: Wo Sucht herrscht, sind ganze Systeme gestört, gesellschaftliche, soziale, aber vor allem familiäre. Sucht ist die Voraussetzung für Co-Abhängigkeit. Und emotionale Verstrickungen begünstigen Sucht.

Dennoch geht es nicht um Schuld, wenn wir diesen Begriff hier verwenden. Es geht um Zusammenhänge.

Die Strippen, die im Gefecht um Leid und Heilung dieser weit verbreiteten Krankheit zwischen Betroffenen und ihren Angehörigen gezogen werden, haben keinen Anfang und kein Ende. Beide Seiten sind vielmehr untrennbar miteinander verbunden – und durch die Sucht schließlich dermaßen schmerzlich und undurchschaubar miteinander verwickelt, dass sie kaum mehr zu entwirren sind.

Vor allem, wenn unsere Kinder Abhängigkeiten entwickeln, können wir einfach nicht loslassen. Zu groß ist die Angst, sie zu verlieren. Zu stark das Bedürfnis, doch noch an einem Ende zu ziehen, das den rettenden Ausweg ebnet. Unsere Kinder können wir einfach nicht aufgeben. Es bricht uns das Herz. Und wenn es sein muss, dann gehen wir lieber in ihrem Leid mit unter, als zu früh die Bande zu durchtrennen.

Oder?

Was, wenn das Leid ewig hält und nie ein Ende findet? Was, wenn wir physisch und psychisch leiden, an Schlaflosigkeit, an Erschöpfung, unter Ängsten und Depressionen? Was, wenn wir Job und Ehepartner verlieren? Und vor allem: Was, wenn da noch andere, nicht-süchtige Kinder sind?

Für dieses Buch habe ich mit Müttern und Vätern gesprochen, die ein Kind an die Sucht verloren haben – manche jahrelang. Andere für immer.

Es war sehr viel schwieriger als erwartet, überhaupt Eltern zu finden, die für ein Gespräch bereit sind. Ich dachte, dass da draußen ein Bedürfnis ist, sich Dinge von der Seele zu reden und andere an dem eigenen Schicksal teilhaben zu lassen. Von Betroffenen kenne ich es, dass neben all der Scham und dem Selbstzweifel und dem Selbsthass auch ein Wunsch nach Gehör und Mitteilung ist.

Aber wenn der Sohn oder die Tochter betroffen ist, bleibt da nichts als Schmerz. Scham. Die erdrückende Frage nach Ursachen und Schuld. Fesselnde Ohnmacht. Jedes Wort tut weh. Jede Erinnerung wirbelt das bisschen Zuversicht und Verzeihung, die man sich über Jahre hart erarbeitet hat, neu wieder auf. Selbst wenn die Krankengeschichte inzwischen lange her und durch harte, jahrelange Arbeit womöglich Heilungsgeschichte geworden ist. Zumindest ist es in den meisten Fällen so.

Die Eltern, die hier zu Wort kommen, sind daher in vielerlei Hinsicht unglaublich mutig. Sie besitzen die Fähigkeit, diese starken Schmerzen abzukoppeln und uns an ihren Erfahrungen teilhaben zu lassen. Nicht zuletzt die Kraft, die Gespräche mit mir durchzuhalten, auch wenn während dieser womöglich bewusst wurde, dass man die eigene Abgeklärtheit überschätzt hatte.

Die hier vorkommenden Geschichten sind die von sieben Familien, die unterschiedlicher kaum sein könnten – sowohl was den sozialen als auch den Beziehungsstatus angeht, die Verhältnisse zu den Kranken und ihren Geschwistern sowie den eigenen Eltern. Väter kommen zu Wort, genauso wie Mütter. Selbst süchtige Eltern, wie solche, die zuvor nie mit dem Thema in Berührung gekommen sind. Mehr und weniger wohlhabende. Frauen und Männer, die mal besser, mal schlechter die Krankheit des Kindes akzeptieren und loslassen konnten.

Jedes Porträt hat daher auch seine ganz eigene Form gefunden, wie es erzählt wird.

Für alle Familien gilt: Die Kinder, um die es geht, sind schon erwachsen, teilweise selbst bereits Vater oder Mutter. Die hier offenbarten Geschichten reichen also Jahre und manchmal auch Jahrzehnte zurück. Das liegt daran, dass es ein hohes Maß an Stabilität und Reflexion brauchte, um wirklich tief in die Erinnerung einzutauchen und umfänglich und ehrlich Rede und Antwort zu stehen. Wenn die Kinder noch jung und die Wunden noch frisch sind, kann man solche Gespräche, die wir führten, kaum aushalten, und die Betroffenen können die Geschichte in ihren Entwicklungen noch gar nicht übersehen.

Alle Beteiligten in diesem Buch brechen mit einem Tabu: Sie erzählen ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit, sondern ganz persönlich und nah, von ihren Gefühlen, von dem, was ihnen in der schweren Zeit mit dem süchtigen Kind geholfen hat, von den Hintergründen der Familien, die womöglich zur Erkrankung der Tochter oder des Sohnes führten, vom Los der nichtsüchtigen Geschwisterkinder und all ihren Mühen, die Familie zu retten oder zu heilen.

Mithilfe dieser mutigen Familien möchte ich Menschen Gehör verschaffen, die sonst kaum eine Lobby haben: Süchtigen und ihren Angehörigen.

Für praktische Einordnungen und Tipps kommen darüber hinaus drei Experten zu Wort: Dr. Andreas Schnebel, Gründer von ANAD e. V., einer etablierten Münchener Einrichtung für essgestörte Mädchen und Jungen. Sowie Gordon Schmid und Claudius Boy, Leiter der Berliner Caritas-Beratungsstelle »Lost in Space« für Mediensüchtige und ihre Angehörigen.

Angehörige verstehen Angehörige in ihrem Fühlen, Denken, in ihrer Verzweiflung, Ohnmacht und Wut. Dieses einfühlende Verstehen soll anderen Familien helfen, sich zu erkennen, etwas für sich abzuleiten und womöglich: zu heilen.

1 LEA – mit 13 Cannabis, mit 17 Crack: Eine Mutter trauert

Die größte, schrecklichste, häufig alles bestimmende Angst aller Eltern, die ein suchtkrankes Kind haben, ist: dass es stirbt.

Was, wenn genau das passiert? Wie soll man als Mutter oder Vater so eine Tragödie verkraften? Wie nur weiterleben? Ina Milert erzählt von ihrer Tochter Lea, die viele Talente hatte, aber nie genug Selbstbewusstsein. Lea rutschte ab, sie begann schon früh die ersten Drogen zu nehmen und verlor sich bald in einem tiefen Sumpf von Hörigkeit und Abhängigkeit. Mit 18 Jahren nahm sich Lea das Leben.

Brief von Ina, 6. Oktober 2007:

Wuffi-Kindi, eigentlich habe ich dir dieses schöne Tagebuch zum Geburtstag geschenkt – in der Hoffnung, du würdest endlich mal schöne Dinge zum Aufschreiben haben. Nicht mehr all dieses Unglück aus den drei anderen Büchern. Nun ist alles noch viel schlimmer gekommen, jedenfalls für mich. Vielleicht bist du ja jetzt tatsächlich glücklich, an einem Platz, an dem es keine Tränen gibt, wie Tante Gaby geschrieben hat. Sosehr ich es mir für dich wünsche, sosehr vermisse ich dich und würde ich alles tun, könnte ich die Zeit zurückdrehen. Es wäre für mich ein wirklicher Trost, wenn du diese Entscheidung getroffen hättest, weil du wirklich nicht mehr leben wolltest. Aber das glaube ich einfach nicht. Ich glaube, du warst in dem Moment bloß so verzweifelt, dass du dir nicht vorstellen konntest, wie es weitergehen wird. Oder hast du geglaubt, der Sprung wäre nicht so gefährlich?

Warum?

Warum bist du nicht gekommen, wir hätten das doch irgendwie hinbekommen? Uns wäre doch etwas eingefallen. Und es war doch auch so, wie Frau Steffens auf deiner Trauerfeier sagte: Du hättest an jeder Hand einen Verehrer haben können. Und nicht nur an jeder Hand! An jedem Finger. Und einer davon wäre nett und gut zu dir gewesen. Was hat dich nur zu Typen wie Dustin oder Kai getrieben? Du hattest doch etwas viel Besseres verdient!

Und immer hast du gedacht, Oma und ich, wir gönnen dir das nicht. Was nicht gönnen? Dein Unglück?

Wir wollten doch nur, dass du glücklich bist und dass alles gut wird. Zumindest besser.

Es tut mir jetzt unendlich leid, dass ich so oft mit dir geschimpft habe. Aber es war für mich nahezu unerträglich, zuzusehen, wie du dein Leben zerstört hast. Der Gedanke an die Drogen, an das Anschaffen. Ich konnte und kann mir bis heute nicht vorstellen, dass du das warst. Du, mein wunderschönes Kind, auf dem Drogenstrich? Das geht nicht in meinen Kopf.

Das ganze Lügen, die vielen Jahre der Sorge, das hat mich zermürbt. Vielleicht hätte es jedem so zugesetzt, vielleicht hätte es aber auch andere Eltern gegeben, die weniger verzweifelt reagiert hätten. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich nur so sein konnte, wie ich war.

Das Schlimme ist ja, dass ich dich schon lange nicht mehr erreicht habe. Wie hätte ich dich retten können? Und ich habe es ja diesen Sommer noch versucht, so gut ich es konnte. Es war anstrengend, weißt du noch? Der heruntergefallene Bagel? Oder der verwischte Nagellack? Wie wenig du belastbar und wie schnell du in tiefen Löchern warst? Ich habe mir so sehr die alte Lea zurückgewünscht, vielleicht die aus der Realschule?

Hätte es mit der Schule geklappt, es hätte dir endlich ein besseres Leben ermöglicht. Ich war zwar skeptisch, du warst so fremd, so anders, ich konnte mir gar nicht mehr vorstellen, dass du noch lernen kannst. Du warst selbst ohne Drogen immer so krankhaft übertrieben. Weißt du noch die letzten Wochen, wie manisch du Yoga und Sport gemacht hast? Das hat mir wieder Angst gemacht, aber ich war schon über jeden kleinen Schritt froh. Dass du zum Beispiel an einem Nachmittag mit mir ins Café gegangen bist, weißt du noch? Doch immer hatte ich Angst, alles würde wieder kippen und der Alptraum beginnt von Neuem. Tat er dann ja auch. Und er währte nur kurz. Oder für immer. Immer und immer wieder läuft in meinem Kopf der Film ab. Immer die gleiche Frage: Hätte ich es verhindern können, wenn ich Dustin nicht rausgeworfen und das blöde Schloss zur Wohnung nicht ausgetauscht hätte?

Lea war ein Wunschkind. Ihr Vater und ich haben uns 1987 bei einem Gewerkschaftskongress in Berlin kennengelernt. Ich kam aus der DDR, hatte Asienwissenschaften mit Spezialisierung auf Laotistik studiert und dolmetschte. Er war Delegierter des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

1988 haben wir geheiratet, das war Anfang Juli. Und kurz danach bin ich auch schon nach Düsseldorf gezogen, wo mein Mann lebte.

Dann, im Mai 1989, kam Lea zur Welt.

Mit ihr habe ich Babyschwimmkurse und Krabbelgruppen besucht, und ich denke, es war alles in allem eine schöne Zeit. Lea hat mir viele glückliche Momente beschert, wenn ich auch meine Probleme damit hatte, nur Mutter und Hausfrau zu sein. Das war in meiner Sozialisation einfach nicht vorgesehen. In Ostberlin hatten bis zur Wende alle Frauen einen Job. Ich wollte das auch, aber es war problematisch, als ostdeutsche Frau im Westen einen Job zu finden. Und dann noch mit einem so exotischen Studium wie meinem.

Ich war nicht unglücklich, das nicht. Ich liebte mein Kind, natürlich liebte ich mein Kind! Aber dieser Vollzeitkinderdienst war einfach nichts für mich.

Als wir 1991 nach Berlin zogen, weil ein neuer DGB-Vorsitzender gewählt worden war und mein damaliger Mann einen neuen Posten erhalten hatte, versuchte ich beruflich neue Wege, galt dann aber meist als überqualifiziert. Es war und blieb nicht einfach. Also habe ich noch einmal studiert: Publizistik.

Von Leas Vater habe ich mich getrennt, als Lea drei Jahre alt war. Ich wollte einfach nicht mehr, ich kann gar nicht so richtig erklären, warum. Wie sich später herausstellen sollte, war ich in Beziehungen nie so richtig ausdauernd. Wenn ich ehrlich bin: Ich habe in Beziehungen einfach nie wirklich gut funktioniert, habe auf vermeintliche Zurückweisung immer verzweifelt reagiert. Ich hatte zu wenig Selbstvertrauen. Bei meiner ersten Trennung war ich noch jung. Ich habe im Lauf der Zeit viel dazugelernt. Mit meinen heute 56 Jahren stelle ich ganz nüchtern fest: Ich bin einfach auch ganz gern allein.

Leas Vater blieb für sie ansprechbar, wenngleich das Verhältnis mit ihm nie so innig war wie mit mir. Lea übernachtete viele Jahre lang jedes zweite Wochenende bei ihm, und sie hat auch Peter sehr gemocht, meinen neuen Partner, den ich etwa ein Jahr nach der Scheidung fand.

Trotzdem machte ich mir Sorgen. Lea war zwar lieb und kreativ, sie hat immer gemalt und fantasiereich gespielt, auch mit Alltagsgegenständen. Zum Beispiel hat sie einmal Pinsel zu Puppen umfunktioniert und ihnen eine Wohnung aus Pappe gebaut. Sie war auch unternehmungslustig, wollte immer raus und auf den Spielplatz.

Aber zugleich gab sie sich immer wahnsinnig ängstlich und unsicher.

Sie hat immer freiwillig die Schaukel geräumt, wenn andere Kinder kamen. Und wenn sie anderen einen Keks anbieten sollte, ist sie fast gestorben vor Angst. Ihr Bedürfnis, es anderen recht zu machen, war schon als Kind derartig groß, dass ich sie in Absprache mit ihren Grundschullehrerinnen schon im zweiten Schuljahr zum Schulpsychologischen Dienst schickte. Der verwies sie weiter an eine Therapeutin in Berlin-Grunewald, wo Lea dann einmal alle zwei Wochen hingegangen ist. So lange, bis sie irgendwann zu mir meinte: »Ina, jetzt können wir aufhören, jetzt bin ich frech genug.«

Lea hat mich immer schon beim Vornamen genannt. Das lag sicher auch an unserem Leben mit Peter. Und Kleinkinder nennen sich selbst ja auch beim Vornamen, kennen noch kein Ich und kein Mein und kein Dein und kein Du. Jedenfalls blieb es so. Ich war Ina.

Nur wenn sie sehr traurig war, nannte sie mich Mama.

Manchmal rief sie mich dann auch »Wuffi-Mami«. Wuffi war ein Kuscheltier, ein Hund, den hat sie mir mit zehn oder elf Jahren einmal geschenkt. Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam. Jedenfalls war ich fortan Wuffi-Mama und sie Wuffi-Kindi. Und unsere Katze Luna, die war Wuffi-Katzi.

Leas Unsicherheit blieb. Leider. Sie wollte gemocht werden, um jeden Preis. Hat unter Zurückweisung, zum Beispiel, wenn sie nicht zu einem Geburtstag eingeladen war, wahnsinnig gelitten. Hilfreich war es vielleicht nicht, dass ich nach Abschluss der dritten Klasse mit ihr von Berlin nach Hamburg zog. Da ging sie dann nur noch ein Jahr zur Grundschule und dann zur weiterführenden Schule, musste sich so also ihren Freundeskreis zweimal binnen kurzer Zeit ganz neu aufbauen.

Aber ich hatte im Norden Arbeit gefunden!

Ein Freund, der dort einen leitenden Posten bei einem Verlag erhalten hatte, konnte mir mit seinen Kontakten helfen. Seither habe ich erst als Redaktionsassistentin bei diversen Medien gearbeitet. Nun bin ich schon seit vielen Jahren als Redakteurin bei einer Fernsehzeitschrift.

Natürlich habe ich versucht, Leas Selbstwertgefühl zu stärken. Aber das ist mir ganz offenbar nicht sonderlich gut geglückt. Ich habe sie bestärkt, damit sie sich mal was traute. Und ich habe Erklärungen dafür gesucht, warum eine Freundin so oder so reagiert hatte. Es hat mir das Herz zerrissen, als Lea immer häufiger weinte. Dass ich in ihr ein Gefühl der Ausgrenzung und der Verletzungen spürte – und scheinbar einfach gar nichts dagegen tun konnte.

Ich hätte alles getan.

Sch, kleines Baby, wein’ nicht mehr, die Mami kauft dir einen Teddybär. Und wenn der Teddybär nicht mehr springt, kauft dir die Mami einen Schmetterling. Und fliegt der Schmetterling ganz weit, kauft dir die Mami ein rotes Kleid. Und wenn das rote Kleid zu rot, kauft dir die Mami ein Segelboot. Und wenn das Segelboot zu nass, kauft dir die Mami den größten Spaß. Und ist der größte Spaß zu klein, kauft dir die Mami den Sonnenschein …

Dieses Lied von Marlene Dietrich, das war Leas Geburtstagslied. Ich habe es jedes Jahr zu ihrem Geburtstag am 17. Mai gespielt. Damit wollte ich ihr sagen, dass sie alles bekommt. Und dass sie das schönste Kind der Welt ist. Denn die letzte Strophe heißt ja:

Und wenn der Mond verweht im Wind,

bist du noch immer das schönste Kind.

Ich habe immer versucht, alles zu ermöglichen, was sie wollte. Nicht übertrieben, ich bin ja nicht reich. Aber zum Beispiel, als sie Schauspielerin werden wollte, da haben wir uns bei zwei Kinder-Casting-Agenturen vorgestellt, eine Setcard gemacht, und Lea hat dann mit großer Freude zuerst ein paar Modeljobs gemacht, ehe sie sogar eine Rolle in einem Abschlussfilm einer Filmhochschule bekommen hat. Kostja Ullmann spielte darin ihren Bruder. »Strandnähe« hieß der Film, glaube ich. Er handelte von einem Mädchen, das Mukoviszidose hat. Danach hat Lea sogar eine Schauspielschule besucht. Und sie hat getanzt, voltigiert und ist gesegelt.

Aber sie hat alles abgebrochen – weil sie sich nie gut genug fühlte.

Sie glaubte immer, dass es nicht reichte. Also ließ sie es sein, nach einer Weile.

Gab es auf.

Gab sich und ihre Träume auf.

Jedes Mal, von Jahr zu Jahr, ein bisschen mehr.

Auszug aus der Grabrede von Lehrerin Steffens, vom 1. Oktober 2007:

Lea hat mir einmal erzählt, wie sie vor etwa einem Jahr ein Sushi-Restaurant im Schanzenviertel besucht hatte – Lea liebte Sushi. Doch sie hatte den Abend nicht genossen, an den Nebentischen hätten so viele Studenten gesessen. Sie hätte gar nicht gewusst, dass man sich auch auf diese Art und Weise und über ihr komplett fremde, seltsame Themen so angeregt unterhalten könne. Das hat sie eingeschüchtert.

Dabei hat sie viel gelesen, nicht nur über Drogen, sondern auch Klassiker der Moderne und Literatur mit Bezug zur deutschen Geschichte. Sie ist schwierigen Themen nicht ausgewichen, hat nur ihrem eigenen Wissen nicht getraut. (...) Und in ein paar Jahren hätte sie sehr wohl bei solchen Gesprächen mithalten oder gar vorlegen können. Aber das hat sie nicht erkannt – und unseren Ermunterungen hat sie vermutlich nicht geglaubt.

Am Ende des vierten Schuljahrs hat Leas damalige Klassenlehrerin mir gesagt, ich solle Lea lieber auf die Gesamtschule schicken, nicht aufs Gymnasium. Für das Gymnasium sei sie nicht selbstbewusst genug, auf der Gesamtschule könne sie sich noch entwickeln.

Darauf habe ich gehört.

Das war ein riesiger Fehler.

Heute weiß ich: Ein unsicherer Mensch orientiert sich nicht nach oben. Denn bei den Besseren fühlt er sich von Anfang an nicht richtig und zum Scheitern verurteilt. Ein unsicherer Mensch orientiert sich nach unten. Und so kommt er mit anderen unsicheren Menschen zusammen und mit all den Dingen, die sie so gegen ihr mangelndes Selbstbewusstsein tun: rebellieren, sich berauschen, Macht demonstrieren.

Im Gymnasium, bilde ich mir ein, wäre die Chance größer gewesen, dass Lea nicht in solche sehr schlechten Kreise gezogen worden wäre. Das war auf dieser Schule, wo Lea nun hinging, der Fall. Sie kam in eine unheilvolle Clique, in der nur so abgehangen, geraucht und wohl auch gekifft wurde. Mit diesen Freunden schwänzte Lea dann den Unterricht. Sie machte plötzlich nichts mehr für die Schule, wurde dann selbst irgendwann beim Stehlen erwischt.

Und dann fing es an: Lea haute ab, wenn wir uns gestritten hatten.

Sie lief weg von zu Hause und kam einfach nicht wieder. Manchmal blieb sie ein, zwei Nächte lang fort. Ohne eine Nachricht. Ohne ein Lebenszeichen.

Ich bin fast verrückt geworden vor Angst.

Als sie gerade einmal zwölf Jahre alt war, wusste ich mir schon nicht mehr zu helfen. Also ging ich 2001 mit ihr zu einem Kinder- und Jugendpsychiater in dem Hamburger Stadtteil, in dem wir lebten. Ich saß da, weinte, klagte mein Leid. Das Einzige aber, was der Berater mir daraufhin zu sagen hatte, war: »Ihr Kind braucht keine depressive Mutter, sonst sitzt es mit 14 Jahren da und nimmt Drogen.«

Da bin ich dann raus, fühlte mich missverstanden und im Stich gelassen. Überfordert. Aber vor allem: Ich fühlte mich schuldig.

Ich leide vermutlich mein ganzes Leben schon unter Depressionen. Aber das war mir lange gar nicht klar, weil ich trotzdem eine gewisse Disziplin habe und recht normal funktioniere. In Berlin, 1996, war ich schon einmal in einer psychosomatischen Klinik, nachdem ich wieder so eine Phase hatte, in der ich nur weinte und nicht mehr leben wollte. Vor Lea habe ich diese Phasen nie ausgelebt, aber womöglich hat sie trotzdem gespürt, dass es mir nicht gut geht. Viel später, als sie ein Teenie und bereits süchtig war, da habe ich sicher häufiger gesagt, dass ich nicht mehr kann.

Es gab Zeiten, da habe ich Lea in den Kinderladen gebracht und mich danach wieder ins Bett gelegt. Oder ich bin aufgestanden, habe ihr Frühstück gemacht, sie zur Schule geschickt und habe mich danach wieder ins Bett gelegt. Das waren vorwiegend jene Zeiten, in denen ich arbeitslos war. Zeiten, die es auch in Hamburg immer mal wieder gab, weil die Medienprojekte eingestellt wurden, für die ich eingeteilt war.

Aber wenn ich so drüber nachdenke: Ich glaube, ich bin auch tatsächlich ziemlich kompliziert. Ich erwarte zu viel oder empfinde zu wenig. Oder das Falsche. In jedem Fall bin ich vom Menschentyp her ein Melancholiker, wie mein späterer Psychiater sagte. Und darum habe ich wohl auch so eine latente Depression.

Doch für mich war das zunächst nichts anderes als meine Schilddrüsenerkrankung: Man muss sich manchmal eben ein bisschen mehr anstrengen mit dem Leben.

Trotz dieser depressiven Phasen habe ich ein ganz normales Leben geschafft. Bestimmt habe ich auch deshalb keine Hilfe gesucht.

Erst als Lea sieben war, habe ich mit einer ambulanten Therapie angefangen. Damals war meine Beziehung zu Peter zerbrochen, und ich habe gedacht: Es kann ja nicht sein, dass immer nur die anderen die Bekloppten sind.

Das muss mit mir zusammenhängen.

Daraufhin habe ich die Behandlung angefangen und relativ bald auch Tabletten genommen. Das war für mich, als könnte ich plötzlich dreidimensional sehen. Vom Gefühl her. Eine Dimension hatte mir zuvor immer gefehlt. Jetzt ging es mir besser, und ich dachte: Wahnsinn, wie anders sich das Leben plötzlich anfühlt.

Aber die Tabletten nutzten sich ab. Ich habe dann, im Lauf der Jahre, ganz häufig die Präparate gewechselt, auch die Kombination. Habe unter anderem eine Behandlung mit Lithium probiert. Lea wusste davon. Hatte damit, meines Wissens nach, aber kein Problem.

Aber wir hatten auch so genug Schwierigkeiten.

Ich kam an mein Kind nicht mehr ran, und das Gefühl, dass unsere Situation normale Pubertätsprobleme bei weitem überstieg, hielt an. 2002 waren wir deshalb beim Jugendamt. Ich wollte einen Internatsplatz für Lea, um sie zu schützen. Nicht nur wegen meiner Depressionen. Sondern auch vor dieser Clique, in die sie geraten war. Einer der Jungs aus dieser Gruppe hatte quasi per Erziehungsmaßnahme gerade Internatszeit verpasst bekommen.

Aber dort sahen die Fachleute vom Jugendamt Lea noch nicht. Es gab es also erst einmal Erziehungshilfe. Die kam dann einmal in der Woche zu uns nach Hause. Lea hat sich der Dame dann immer gegenüber aufs Sofa gesetzt, die Arme verschränkt, auf die Uhr geschaut, und als die Zeit vorbei war, hat sie gefragt: »Kann ich jetzt gehen?«

Es gab dann noch weitere Maßnahmen, unter anderem Erziehungsberatung mit festen Terminen außer Haus, auch da hat sich Lea eher verweigert. Den Jugendnotdienst habe ich angerufen, als Möbel durch die Wohnung flogen – Lea wollte weg, obwohl sie nicht sollte. Keine Worte konnten sie abhalten. Nicht einmal, dass ich sie festhielt.

Leider hat mein Hilferuf auch keine weitere Veränderung gebracht. Der Jugendnotdienst kam, man sprach mit Lea, alles beruhigte sich – bis zum nächsten Tag.

Insgesamt war das schon ein ganzes Paket an Maßnahmen, was stattfand, später gab es ja noch Erziehungskonferenzen, und dann kam sie sogar zu einer Pflegemutter.

Gleichwohl: Geholfen hat nichts.

Unter all denen, die ich um Hilfe bat, war leider auch keiner dabei, von dem ich gesagt hätte: Wow, cooler Typ, der reißt das rum!

Der Kerl, dem Lea dann hoffnungslos verfiel, heißt Kai. Kai war zwei Jahre älter als sie, ging aber in dieselbe Klasse. Kai hat gekifft, Kai kifft heute noch. Vor lauter Zorn auf das Leben hat Kai immer alles kaputt gemacht – auch meine Lea.

Brief von Lea, undatiert:

Na Lea,

ich weiß nicht, was aus dir geworden ist. Ich hoffe, etwas Gutes. Ich hoffe, du hast deinen Abschluss geschafft und dass Kai sich verändert hat, falls wir noch zusammen sind. Dass ich regelmäßig zum Sport gehe, hoffe ich ebenfalls, sodass ich sagen kann, ich sehe gut aus. Und dass ich bei der Arbeit viel Geld für schöne Dinge verdiene.

Ich hoffe so sehr, dass Kai nicht mehr kifft, nicht mehr so aggressiv ist und dass er mich noch liebt. Dass wir eine schöne Zeit haben. Ich wünsche mir, wenn es möglich ist, dass wir zusammen wohnen und alles gut ist.

Ich wünsche mir außerdem mehr Zeit für mich, am Wochenende auf Partys gehen zu können und nicht so oft Langeweile zu haben. Vielleicht kann ich beim Film und Fernsehen oder als Model für eine Zeitschrift ab und zu einen Auftrag bekommen.

Kai ist mir aber das Wichtigste. Bitte mach, dass er sich ändert.

Ich liebe ihn über alles.

Ich habe nicht verstanden, was sie zu einem Typen wie ihm hingezogen hat. Er war furchtbar schlecht zu ihr, hat sie andauernd erniedrigt und gegen mich aufgebracht. Nach Leas Tod habe ich Chatprotokolle gefunden, da war unter anderem Folgendes zu lesen:

Lea, 30. August 2004, 14.36 Uhr: Meine Oma ist da.

Kai, 30. August 2004, 14.37 Uhr: Deine Oma? Wenn du dich mit der mal darüber unterhältst, wie deine Mutter früher war, wirst du bestimmt erstaunliche Antworten erhalten.

(…) Kai, 30. August 2004, 14.37 Uhr: Deine Mutter ist neidisch auf dich pur, weißt du? Immer, wenn sie selber keinen Stecher hat, ist sie sauer.

Kai, 30. August 2004, 14.38 Uhr: Sie war die größte Schlampe, darauf wette ich …

Kai, 30. August 2004, 14.38 Uhr: … und nun ist sie sauer, dass du es leichter und besser hast.

(…) Lea, 30. August 2004, 14.38 Uhr: Sie heult … weil sie sich Sorgen macht und ich wieder wegwill zu dir.

Kai, 30. August 2004, 14.38 Uhr: Siehste, sie macht auf Mitleid.

Kai, 30. August 2004, 14.39 Uhr: Sie hat ein Rad ab.

(…) Kai, 30. August 2004, 14.41 Uhr: Deine Mutter ist egoistisch, sie dürfte keine Kinder haben. Sie beneidet dich und lässt Frust an dir ab. Sie ist derbe faul und schickt dich zum Einkaufen. Und, und. Sie ist scheiße.

Lea, 30. August 2004, 14.42 Uhr: Ja, ist gut.

(…) Kai, 30. August 2004, 14.43 Uhr: Sie ist ein Ossi.

Lea, 30. August 2004, 14.43 Uhr: Ja, mein Schatz, ist gut.

Von diesen Chats wusste ich damals noch nichts, aber ich wusste, dass er mich gegenüber Lea schlechtredet und sie gegen mich aufstachelt. Und dass er sehr schlecht zu ihr war.

Sie weinte andauernd, weil er sie beleidigt oder sich tagelang nicht gemeldet oder ihr irgendetwas kaputt gemacht hatte, was ihr wichtig war. Ihr Handy oder so.

Wie in dem Lied von Marlene Dietrich, in dem das Baby alle Dinge, das es bekommt, damit es sich beruhigt, wieder verliert.

Kai hat ihr alles immer kaputt gemacht. Im Streit. Zur Demonstration seiner Macht. Und er hat es ihr dann nicht wieder ersetzt. Im Lauf der Jahre haben sich so fast 1000 Euro Schulden angesammelt. Die hat Kais Mutter mir nach Leas Tod teilweise erstattet.

Kai war einfach ein kleines Monster, der andere systematisch niederzumachen versuchte, um sich selbst besser zu fühlen. Schaden habe ich versucht abzuwenden oder zumindest einzugrenzen, indem ich den Kontakt so weit wie möglich unterband. Kai durfte nicht zu uns nach Hause, und übernachten durfte er erst recht nicht bei uns. Das führte aber bloß zu jeder Menge Streitereien zwischen mir und Lea – die ich, zumindest fühlte es sich so an, ganz oft verlor. Sie war wie besessen von diesem Kerl, und wenn ich nicht wollte, dass sie sich trafen, haute sie einfach ab.

Und ich blieb zurück. In fürchterlicher Sorge.

Im März 2003, Lea war damals 13, habe ich ihre Chatprotokolle gelesen. Macht man nicht, ist nicht ehrenwert, ich weiß. Aber zu dem Zeitpunkt war ich schon so verzweifelt, weil nichts, was ich unternahm, zu irgendeiner Verhaltensänderung führte – ich wusste mir nicht anders zu helfen.

Und ich sah mich bestätigt.

Denn in diesem Chat habe ich gelesen, dass eine Freundin von Cannabis schwärmte und Lea begeistert fragte: »Wollen wir nicht mal Heroin ausprobieren?«

Da schrillten bei mir natürlich alle Alarmglocken, und ich war wieder sicher: Es gibt nur einen Weg, Lea muss fort aus Hamburg! Sie muss weg von diesen Freunden und von Kai. Also habe ich ihren Vater angerufen, der nach Zypern ziehen wollte, weil er mit einer Zypriotin zusammen war und dort ein Haus gebaut hatte. »Wenn du da hinziehst, nimmst du Lea mit«, habe ich ihm gesagt. »In Hamburg habe ich keine Möglichkeiten, sie vor dem Unheil zu bewahren. Sie will Drogen nehmen.«

Allein die Vorstellung, dass sie so weit von mir entfernt sein würde, brach mir das Herz. Aber ich wollte, dass sie zurück auf einen Weg findet, der sie nicht ins Verderben führt. Also habe ich mit ihrem Klassenlehrer gesprochen und sie dann ein paar Tage später vormittags aus der Klasse geholt, ins Auto verfrachtet, die Türen verriegelt und am Flughafen in einen Flieger nach Zypern gesetzt.

Direkt aus dem Unterricht in ein neues Leben.

Dann bin ich nach Hause und habe tagelang geweint.

Ich habe mich so unfähig gefühlt und habe um meine verlorene Tochter getrauert. Ich dachte, ich hätte sie für immer verloren.

Dann erreichten mich ihre Briefe, die konnte ich kaum lesen.

Brief von Lea, 06. Mai 2003:

Hi Ina,

wie geht es dir? Wie es mir geht, brauche ich erst gar nicht zu sagen.

Ich habe für dich zwei Bilder gemalt, ich hoffe, sie gefallen dir. Vielen, vielen Dank für die Bücher und den Schmuck und die Süßigkeiten. (…) Zum Geburtstag wünsche ich mir, nach Hause zu kommen. Und Gutscheine für Anziehsachen. Und ein Nike-Schweißband (weiß). Und das Computerspiel Anno 1503. (…) ich habe mir heute ein Notizbuch gekauft, da schreibe ich meine Träume und so rein. (…) Aber bitte, bitte, ich halte das hier nicht aus. Lass mich wieder zu dir nach Hause. Ich habe mich geändert und bereue auch, dass ich so oft scheiße zu dir war. Ich weiß, dass ich viele Fehler gemacht habe. Aber nobody is perfect. Du schließlich auch nicht. Ich kann hier aber nicht leben. Wirklich nicht, ich probiere das. Aber da lebe ich lieber gar nicht als hier.

Bitte komm zu meinem Geburtstag.

Schöne Grüße an die Tiere und dich, und sag Oma und Opa, sie sollen öfter schreiben. Und du auch.

Hab dich lieb, Lea

Ich hätte sie so gern zurückgeholt. Ich habe mein Kind so sehr vermisst. Und ihre Briefe und ihre Anrufe waren so fürchterlich. Immer wieder bettelte sie: »Bitte, Ina, hol mich zurück. Bitte, ich mache auch alles gut. Bitte, Ina, gib mir noch eine Chance.«

Es war mir beinahe unerträglich, auf dieses Flehen nicht einzugehen – denn ich wollte sie so sehr bei mir haben. Aber für mich. Das war ein egoistisches Gefühl. Für Lea, das sagte ich mir immer wieder, war es das Beste, nicht hier in Hamburg zu sein. Eines Tages, hoffte ich, würde sie das verstehen.

Dann trennte sich mein Exmann von seiner Frau. Er zog zurück nach Berlin.

Und Lea kam wieder zu mir.

Das war im Juni 2003, also nur wenige Wochen, nachdem ich sie abgeschoben hatte.

Nach dem ganzen Ärger, den Lea auch an ihrer Schule wegen unentschuldigter Fehlstunden und mangelndem Engagement hatte, wollte ihre alte Schule sie nicht mehr annehmen. Eine neue Gesamtschule aber auch nicht, weil Lea in den Gesprächen leider ausgeprägtes Desinteresse zeigte. Dann waren wir bei einer Behörde, und die Dame dort hat ihr ihre alte Schule zugewiesen. Die mussten sie aufnehmen, weil sie noch schulpflichtig war. Und so war sie dann wieder da, wo ich sie rund drei Monate zuvor rausgeholt hatte.

Selbe Stufe, andere Klasse. Altes Leben.

Ein Jahr lang blieb es dann relativ ruhig.

Auszug aus einem rechtsmedizinischen Gutachten des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf vom 28. Juli 2004:

»Sehr geehrte Frau Milert,

in Ihrem Auftrag habe ich am 27. Juli 2004 gegen 12.45 Uhr Ihre Tochter untersucht.

Vorgeschichte

Das Mädchen berichtete, am 26. Juli 2004 gegen 22.30 Uhr im Bereich von St. Pauli körperlich angegriffen worden zu sein. Das Mädchen war nicht bereit, zu berichten, wie sie verletzt wurde und wer sie verletzt hat.

Rechtsmedizinische Untersuchung

Anlässlich der Untersuchung berichtete das Mädchen, dass ihr heute Morgen etwas schwindelig war. Anlässlich des Vorfalls soll sie leicht aus dem Mund geblutet haben. Unterhalb der linken Augenbraue war eine deutliche Schwellung des Unterhautfettgewebes feststellbar. Das linke Augenoberlid wies eine bandförmige, ca. 3,5 cm lange und 0,5 breite bläuliche Verfärbung auf. Das linke Augenoberlid war stark geschwollen, das Mädchen konnte im Bereich des linken Auges nur durch einen schmalen Spalt sehen.

(…) Die Haut im Bereich der rechten Wange war bläulich verfärbt. Das darunterliegende Gewebe war stark geschwollen.

(…) An der Unterlippe, ca. in der Mitte, war ein ca. erbsengroßer Schleimhautdefekt sichtbar.

Rechtsmedizinische Beurteilung

Anlässlich der rechtsmedizinischen Untersuchung konnte festgestellt werden, dass Lea Milert Spuren von mehrfacher äußerer, stumpfer Gewalteinwirkung aufwies. Als Folge dieser Gewalteinwirkung sind oben beschriebene Verletzungen anzusehen. Bei der Verletzung im Bereich der rechten Wange kann es sich aufgrund des Verletzungsmusters auch um einen Tritt handeln.

Die Mutter von Lea wurde gebeten, sich mit ihrer Tochter in der chirurgischen Notaufnahme des Universitätsklinikums Eppendorf vorzustellen zwecks einer radiologischen Untersuchung des rechten Jochbogenknochens.«

Kai hatte Lea zusammengeschlagen. Ich habe ihn natürlich angezeigt und dazu dieses Gutachten erstellen lassen. Aber vor Ort wollte Lea nicht mit der Sprache herausrücken, wie es zu den Verletzungen gekommen war. Und sie hat auch nicht gegen Kai bei der Polizei ausgesagt. Leider kam es daher nicht zum Prozess.

Chat von Lea, 13. September 2004, 7.02 Uhr: Bitte, Kai, es tut mir so leid. Ich weiß, ich bin an allem schuld, weil ich viel zu eifersüchtig bin. Es tut mir leid. Bitte!

Kai, 13. September 2004, 10.49 Uhr: Du bist ’ne Schlampe, das sagen alle. Deine Mutter ist eine missgeburtige Schlampe, und da ist zu viel durchgekommen.

Kai, 13. September 2004, 10.50 Uhr: Ich schneide dir deine Halsschlagadern mit meinen Zähnen durch.

Kai, 13. September 2004, 10.51 Uhr: Ich beiß deinen Kitzler ab und spül ihn im Klo runter.

Kai, 13. September 2004, 10.58 Uhr: Ich brauch dich nicht mehr, ich habe fast ’ne Neue. Und außerdem sind die ganzen Schlampen auch nicht schlecht, die ich haben kann. Deswegen fick dich!

Es machte mich unendlich traurig, was ich gelesen hatte. Kai hat sie systematisch erniedrigt, doch sie blieb immer bei ihrem: Ich bin schuld an allem. Bitte, bitte, verzeih mir, ich will auch alles richtig machen.

Tagebucheintrag von Lea, 20. Oktober 2004:

»Er hat sich LE in den Arm geritzt, und er meint, das A müsste ich mir verdienen. Das hat mich voll berührt, dass er das gemacht hat. Ich liebe ihn über alles, und ich glaube daran, dass alles gut wird, weil ich keine Scheiße mehr baue.«

Im selben Jahr wollte sie ins betreute Wohnen. Aber sie wurde nirgendwo angenommen oder sie entschied sich dann am Ende doch anders, so richtig weiß ich das nicht mehr. Ich erinnere mich aber noch, dass eine Bedingung für das Leben in so einer betreuten Wohngruppe war, dass man keine Drogen konsumiert. Weil das angesprochen wurde und Lea so zögerlich reagierte, meinte ich, dass ich mit meinem vagen Verdacht wohl richtiglag: Meine 15-jährige Tochter nimmt Drogen.

Ich stamme aus der DDR. Ich will nicht sagen, da gab es keine Drogen. Aber ich hätte gar nicht gewusst, von wem man Drogen überhaupt bekommt. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nie mit dem Thema zu tun gehabt. Ich wusste nicht, was eine »Tüte« ist, ja ich erkannte nicht einmal diese blöde Fahne mit Cannabisblatt, die Lea auf eine Tasche genäht hatte. Ich kannte den Geruch von Cannabis nicht, wusste nicht, wie die Leute aussehen und wie sie sich verhalten, wenn sie drauf sind.

Und so hatte ich auch nicht mitbekommen, wann Lea damit angefangen hatte, Drogen zu nehmen.

Wie ich später medizinischen Gutachten entnehmen konnte, war Lea schon als 15-Jährige nicht mehr nur bei Alkohol und Cannabis, sondern sogar schon bei Kokain. Speed. Ecstasy. Ja, sie nahm sogar Heroin! Man kann sich fragen: Wie kann eine Mutter so etwas denn nicht bemerken? Mir ist es so passiert. Ich habe es irgendwann schon vermutet, aber einen Beweis hatte ich lange Zeit nicht. Und wenn ich Lea mit meinem Verdacht konfrontierte, hat sie es immer abgestritten.

Hinzu kam: Lea blieb immer häufiger, ohne Bescheid zu sagen, über Nacht fort, kam manchmal sogar mehrere Tage und Nächte nicht nach Hause. Beharrlich habe ich jedes Mal eine Vermisstenanzeige gemacht. Bis die Polizei mir irgendwann sagte, ich bräuchte mich nicht mehr zu melden, es habe keinen Zweck.

Eines Tages, Lea war schon wieder seit Tagen verschwunden und ließ nichts von sich hören, da wusste ich mir nicht mehr anders zu helfen, als Tabletten zu nehmen. Viele Tabletten. Schlaftabletten mit Alkohol. Immer mehr, eine nach der anderen, alle hintereinander.

Bis die Packung leer war.

Das Telefon, das immer wieder läutete, ließ ich klingeln. Dann habe ich fürchterlich geweint. Mein Körper hat gebebt, so als schüttele er die ganze Anspannung ab.

Da klopfte es an der Wohnungstür. Es war die Nachbarin. Meine Mutter hatte sie angerufen, damit sie nach mir sieht. Als hätte sie es geahnt. Sie hatte die ganze Zeit versucht, mich anzurufen, sie wusste, wie schlecht es mir wegen Lea ging. Wir sind dann gemeinsam ins Krankenhaus.

Eine Kohlelösung musste ich trinken. Und eine Nacht zur Überwachung bleiben. Dann wurde ich entlassen. Und meldete mich in einer Tagesklink zur Therapie an.

Lea kam dann im Herbst zu einer Pflegefamilie. Das wollte sie so, weil Kai es ihr eingeredet hatte. Aber ich war zu dem Zeitpunkt auch schon unglaublich aufgezehrt, und der Gedanke, dass sie bei diesen Pflegeeltern sicherer aufgehoben war als bei mir, der verschaffte mir auch Erleichterung. Wir sind gemeinsam zum Jugendamt, und das hat diese Pflegeeltern gefunden, wir lernten zunächst aber nur die Frau kennen, eine Erzieherin, recht zugänglich und nett. Lea und ich haben sie einmal getroffen, Lea fand sie okay und ist mit all ihren Sachen dort hingezogen. Ich fand die Frau auch ganz in Ordnung, aber ich hätte im anderen Fall auch keinen Einspruch erhoben, denn Lea wollte ja in jedem Fall weg von mir.

Tagebucheintrag von Lea, 18. Oktober 2004:

Ich habe meine Sachen fertig gepackt, und Papa hat mich nach Niendorf gefahren. Ich habe ein Zimmer in der unteren Etage bekommen. Ist ganz schön. Habe nicht so gut geschlafen, aber das ist ja normal in einer neuen Umgebung. (…) Nach der Schule war ich bei Ikea, und weiß schon, was für ein Bett, Schrank und Sessel ich bekomme. Einen Fernseher kaufen wir auch, und rauchen darf ich bei offener Tür. Wird bestimmt alles ganz schön. Barbara will Kai kennenlernen am Mittwoch.

Die Spielregeln bei Barbara waren wohl andere. Zum Beispiel durfte Kai zu Besuch kommen und auch dort schlafen.

Tagebucheintrag von Lea, 21. Oktober 2004:

Mittwoch war mein Schatz das erste Mal bei mir und hat Barbara kennengelernt. Voll heftig, sie wusste aus zwei Stunden Gespräch, dass Papa noch was von Ina will. Kai hat ganz viel geredet, und sie meinte, er brauche eine Therapie. (…) Ich habe mich geärgert, weil er sich später noch mit Steffi getroffen hat, und ich dachte natürlich, sie schläft bei ihm. Als ich Donnerstag nach der Schule zu ihm ging, war sie da. Er meinte, sie hätte bei einer Freundin geschlafen. Okay, ich versuche, ihm zu vertrauen, auch wenn ich keinen Grund dazu habe. Ich habe mein altes Tagebuch gelesen. Daher weiß ich, dass er mich mal angelogen hat, dass er mit keinem anderen Mädchen was hatte. Später hat er mir gestanden, dass da doch was war. Nun habe ich Angst, dass er das wieder tut, um mich zu verletzen. (…) Wir haben mein Zimmer eingeweiht. Er ist so süß, geil, lieb … unbeschreiblich. Ich liebe ihn.

Eigentlich durfte sie erst einmal keinen Kontakt zu mir haben. Aber warum sollte sie sich daran halten? Sie kam immer, wenn es ihr nicht gut ging. Und sie hat dann auch bei mir geschlafen. In meinem Bett. Das war total schön.

Tagebucheintrag von Lea, 24. Oktober 2004:

Sonntag bin ich zu Kai. Er ist irgendwann duschen gegangen, vorher hat er mich nicht wirklich beachtet. Nach dem Duschen hat er sich auf einmal aufgeregt, meinen Vokabelzettel zerrissen und mir plötzlich eine geklatscht. Er meinte noch irgendetwas von wegen, dass ich gestern mit drei Typen gefickt und dann Koks gezogen haben soll. Er hat mich dann noch mal gehauen (Faust), davon hatte ich eine kleine Stelle unterm Auge. Die allerdings niemand außer Ina bemerkt hat. Zu ihr musste ich, um für ihn Geld zu holen. Bis Gärtnerstraße sind wir zusammen gefahren, dann meinte er: Du Nutte kommst nachher mit Geld, dann kannst du dich verpissen. Ich war dann bei Ina. (…) Als ich zu seinem Kumpel bin, stand er vor der Tür. Dann hat er mich noch einmal angeschrien, und als er los ist, war ich natürlich so dumm und bin ihm hinterhergelaufen. Ich weiß, dass das falsch war. Aber ohne das Gefühl, dass alles in Ordnung ist, kann ich nicht von ihm weg. (…) Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll. Ich komme mir so überflüssig vor. Wofür bin ich denn da? Es wird schon wieder alles voll scheiße. Seit Tagen heul ich wieder, und mir geht’s scheiße. Ich bin nichts. Mein ganzes Leben macht nicht mal Spaß. (…)

Ich war immer glücklich, wenn sie trotz des Kontaktverbots kam, obwohl wir dann einen Anschiss vom Jugendamt bekamen. Ich dachte dann, dass sie mich ja doch liebhat. Und so lagen wir eines Tages da, sie hielt meine Hand, der Schweiß war ihr ausgebrochen, sie krümmte sich und zitterte ganz stark. Und dann hat sie gestanden, was sie all die Zeit vehement abgestritten hatte. Sie sagte mir, dass sie Drogen nimmt. Dass sie heroinabhängig ist. Und dass das Zittern vom Entzug käme – sie wolle damit aufhören, sagte sie.

Heute denke ich: Durch die Distanz zu mir, als sie noch bei der Pflegemutter wohnte, hat sie vielleicht bemerkt, dass es zu Hause so übel doch nicht war – in dieser Zeit kam ich ihr so nah wie nie zuvor. Sie vertraute sich mir an, und das war eine Chance, die ich, obwohl ich schon sehr aufgezehrt war, voller Angst und Sorge, ergreifen wollte. Wir sprachen bald über Therapie und sahen uns in den folgenden Tagen gemeinsam eine Klinik für eine Langzeittherapie in Schleswig an.

Im späteren Verlauf ihrer Sucht hätte ich gern öfter so nachsichtig und unterstützend reagiert wie bei dieser ersten Drogenbeichte. Aber je öfter sie mir dann doch wieder sagte, dass sie wieder Drogen genommen hat, desto mehr klangen ihre Versicherungen, sie wolle nun wirklich endlich aufhören, es sei tatsächlich das allerletzte Mal, wie Lügen. Ich wurde später immer öfter wütend und wohl auch verzweifelt. Oft verdächtigte ich sie, dass sie wieder was genommen hat, manchmal sicher auch zu Unrecht. Und wenn sie dann doch wieder beichtete, dann hat mir diese Gewissheit das letzte bisschen Hoffnung geraubt, dass mein Kind noch zu retten war. Ich wusste, was sie macht, bringt sie um. Und ich wusste auch, dass all meine Mühen vergebens waren. Das schürte in mir fürchterliche Angst. Aber diese Angst, ich weiß auch nicht, die äußerte sich in Wut. Ich war wütend darauf, dass ich nichts tun konnte, um sie von alldem abzuhalten.

Hätte ich meine Verzweiflung nicht immer so rausgebrüllt, hätte ich sie nicht angeschrien, ihr gesagt, dass das dumm ist, was sie tut, vielleicht wären wir einander näher gekommen, und Lea hätte mir vielleicht mehr vertraut. Sich von mir mehr leiten lassen.

Aber den Gedanken, dass mein Kind sich selbst umbringt, den hielt ich einfach nicht aus.

Brief von Ina, 14. Oktober 2007:

Wuffi-Kindi, ich vermisse dich so. Immer wieder geht mir durch den Kopf, was nie wieder sein wird.

Nie wieder wirst du in die Wohnung gestürmt kommen, deine Sachen halb ausgezogen, weil du so dringend aufs Klo musst.

Nie wieder wirst du meinen Bademantel anhaben.

Nie wieder an der Wohnungstür Wuffi-Mami sagen.

Nie wieder wirst du anrufen und fragen: Ina?

Nie wieder wirst du in meinem Bett schlafen.

Nie wieder kann ich dir eine Wärmflasche machen.

Nie wieder kann ich dir sagen, wie lieb ich dich hab. Hätte ich es dir doch bloß öfter gesagt in der letzten Zeit. Immer und immer wieder. Aber ich war doch so verzweifelt wegen der ganzen Drogengeschichte. Ich konnte das auch nicht mehr. Vielleicht hätte ich es einfach so akzeptieren sollen, dass das dein Weg war, und dir trotzdem immer zeigen sollen, dass ich dich über alles liebe. Jetzt muss ich es ja auch akzeptieren, dass du gesprungen bist.

Hätte ich noch einmal die Chance, ich würde es alles anders machen.

Ich halte es beim Wiederlesen kaum aus, was ich in meinen Kalendertagebüchern notiert habe. Wenn ich in Leas Zimmer oder bei ihren Sachen irgendetwas fand, was auf Rauschmittel hinwies, Spritzen oder Löffel, »Tütchen« oder Pfeifen, dann bin ich jedes Mal ausgerastet und habe sie sofort angeschrien. Ich habe keine Lösungen gesucht, ich habe sie nur beschimpft. Das ist nicht mehr gutzumachen. Sie kann mir ja nicht mehr verzeihen oder sagen: »Ist okay, hätte jeder gemacht.«

Meine Kalendertagebücher helfen mir, mich zu erinnern: Nachdem wir uns diese Klinik in Schleswig angesehen hatten, wollte sie dort aber nicht hin. Sie lebte zu dieser Zeit weiterhin bei Pflegemutter Barbara, doch auch dort lief es nicht gut. Im Gegenteil. Schuld daran war, wieder einmal, Kai. Oder sagen wir: Leas Liebe zu ihm. Sagen wir: Ich bin schuld, denn womöglich liegt es ja an mir, dass sie immer nur auf Typen wie Kai geflogen ist.

Tagebucheintrag von Lea, 27. Oktober 2004:

Ich bin Mittwoch nach der Fünften zu Kai, aber es ging mir voll komisch, ich habe die ganze Zeit geweint. (…) Als wir bei Barbara ankamen, gab es voll Ärger, weil wir zu spät waren. Ich habe es wieder so gemacht, dass er gut dasteht. Ich bin ja egal. Was ich mache, geht sowieso schief, weil ich alles falsch mache. (…) Es ist so schwer: Manchmal ist alles so schön bunt und sonnig, dann falle ich wieder in dunkle Tiefe. Nur die ist länger da. Es ist nur schön, wenn ich für eine gewisse Zeit, auch wenn sie nur kurz ist, bei ihm bin. Und diese kurze Zeit ist noch das einzig Lebenswürdige. Sonst ist alles scheiße. Wenn er nicht bei mir ist, aber ich weiß, er ist sauer. Ich muss dann bei ihm sein, damit er alles an mir auslassen kann. Sonst ginge es mir noch schlechter. Ich kann das nicht mehr aushalten, dass er sauer ist und ich an allem schuld bin. (…) Ich bin so dumm. So unendlich dumm. Er hat mich mal wie einen Engel behandelt. Ich habe es selber kaputt gemacht, weil ich es nicht geschätzt habe, wahrscheinlich. Wenn ich jetzt zurückdenke, war die Zeit am Anfang schön. Auch wenn ich jeden zweiten Tag geweint habe. Es war alles okay, bis auf meine Schüchternheit und so. Bis ich alles immer mehr falsch gemacht habe. Mit einem Mal ist alles schlecht geworden. Durch einen Vorfall hat sich alles geändert. Was das war, weiß ich nicht. So gesehen nichts Supergroßes. Aber es hat alles in Gang gesetzt. (…) Aber warum? Warum muss mir das passieren? Warum geht alles in meinem Leben kaputt? Warum bin ich zu dumm, um zu erkennen, warum alles so schiefgeht? Ich weiß nicht, wie ich das alles in den Griff bekommen soll. Ich glaube, es ist so bestimmt worden. Ich werde irgendwann zu irgendwas gebraucht werden. Ich will was, das meinem Leben Inhalt gibt. Nein, das ist das falsche Wort: Ich will glücklich sein. Aber das kann ich nicht.

Ich weiß nicht, worum Kai und Lea sich andauernd gestritten haben. Vermutlich hatte er den Verdacht, dass sie sich prostituierte, um Geld für Drogen zu haben. Diese fürchterliche Sache habe ich ab einem gewissen Punkt auch geahnt, und schließlich bestätigte Lea mir meine Befürchtung irgendwann. In einem ihrer Tagebücher habe ich nach ihrem Tod außerdem Notizen gelesen – Sätze wie: »Oh, krass, früher haben wir 50 Euro am Tag verdient. Wahnsinn, was wir jetzt kriegen.« Irgendwoher musste das Geld ja auch kommen. Natürlich war das scheiße. Aber warum hat sie all das wohl unter anderem getan? Eigentlich wäre das mit Kai simpler Teenie-Liebeskummer gewesen – aber so hart, wie er sie erniedrigt hat, trug auch er zu einem nicht unbedeutenden Teil zu ihrem Absturz bei.

Im Frühjahr 2005 hat Lea sich eine Insulinspritze von Kai, der Diabetiker ist, eingejagt. Daraufhin kam sie in die Psychiatrie Lüneburg, warum dorthin, weiß ich nicht. Vielleicht einfach, weil dort ein Platz frei war. Ich weiß auch nicht, wie genau sie gefunden wurde, ich wurde von Barbara informiert. Ich weiß nur: Mit Insulin kann man sich umbringen. Ich musste dann zum Amtsgericht, eine Zwangseinweisung beantragen, wie es das Jugendamt empfohlen hatte. Denn ich hatte für Lea immer noch das Sorgerecht. Es gab dann wieder im Jugendamt eine Erziehungskonferenz, wo dann alle, also die Pflegemutter, ich, Leas Vater und der Jugendamtsbetreuer, zusammenkommen und entscheiden, was nun passiert. Es blieben zwei Optionen: Langzeittherapie oder Rauswurf aus allen Maßnahmen.