Aussetzer - Andrea Camilleri - E-Book

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Andrea Camilleri

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Beschreibung

Kühle Sprache, modernes Thema, analytische Prägnanz: Italiens erfolgreichster Krimiautor legt mit «Aussetzer» einen schonungslosen literarischen Thriller über das kriminelle Zusammenspiel von gierigen Topmanagern und korrupten Politikern vor. List, Täuschung und strategische Klarheit waren immer Mauro De Blasis große Stärken. Seit einiger Zeit jedoch befallen den Geschäftsführer eines wichtigen italienischen Unternehmens plötzliche Blackouts – beängstigende Aussetzer, die ihn vorübergehend handlungsunfähig machen. Als seine Firma durch die Finanzkrise ins Schleudern gerät, setzt Mauro einen riskanten Plan in die Tat um, der viele Köpfe rollen lässt. Er ahnt jedoch nicht, dass auch gegen ihn selbst Intrigen laufen, in die seine engsten Vertrauten verstrickt sind … Ein schwindelerregendes Verwirrspiel um Liebe und Hass, Leidenschaft und Gier, Verrat und Verlust. Eine atemberaubende und zugleich sehr kurzweilige Lektüre.

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Seitenzahl: 216

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Andrea Camilleri

Aussetzer

Roman

Aus dem Italienischen von Markus Kayser

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Kühle Sprache, modernes Thema, analytische Prägnanz: Italiens erfolgreichster Krimiautor legt mit «Aussetzer» einen schonungslosen literarischen Thriller über das kriminelle Zusammenspiel von gierigen Topmanagern und korrupten Politikern vor.

List, Täuschung und strategische Klarheit waren immer Mauro De Blasis große Stärken. Seit einiger Zeit jedoch befallen den Geschäftsführer eines wichtigen italienischen Unternehmens plötzliche Blackouts – beängstigende Aussetzer, die ihn vorübergehend handlungsunfähig machen. Als seine Firma durch die Finanzkrise ins Schleudern gerät, setzt Mauro einen riskanten Plan in die Tat um, der viele Köpfe rollen lässt. Er ahnt jedoch nicht, dass auch gegen ihn selbst Intrigen laufen, in die seine engsten Vertrauten verstrickt sind …

Über Andrea Camilleri

Andrea Camilleri wurde 1925 in Porto Empedocle, Sizilien, geboren. Er ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur und lehrte über zwanzig Jahre an der Accademia d’Arte Drammatica Silvio D’Amico. Seit 1998 stürmte jeder Titel des Autors die italienische Bestsellerliste. Mit seinem vielfach ausgezeichneten Werk hat er sich inzwischen auch einen festen Platz auf den internationalen Bestsellerlisten erobert. Im Kindler Verlag sind etliche seiner Werke erschienen, zuletzt «Mein Ein und Alles» (2014). Andrea Camilleri ist verheiratet, hat drei Töchter, vier Enkel und lebt in Rom.

Inhaltsübersicht

MottoHauptpersonenEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfAnmerkung des AutorsLeseprobe: FrauenAngelicaAntigoneBeatrice

Auf die Arbeit, die den Menschen adelt

Hauptpersonen

Der alte Manuelli, Aufsichtsratsvorsitzender des nach ihm benannten Unternehmens

Beppo Manuelli, sein Sohn, Stellvertretender Geschäftsführer der Firma Manuelli

Giuliana, Beppos Sekretärin

Mauro de Blasi, CEO der Firma Manuelli

Marisa de Blasi, seine Gattin

Anna Mengozzi, Mauros Sekretärin

Stella, Dienstmädchen bei den De Blasi

Marco, schöner Gigolo

Guido Marsili, Stellvertretender Geschäftsführer der Firma Manuelli, unter anderem zuständig für Human Resources

Bastianelli, Sicherheitschef der Firma Manuelli

Mannucci, Sicherheitschef der Manuelli-Zweigniederlassung in Nola

Birolli, Aufsichtsratsvorsitzender der Firma Artenia

Licia Birolli, seine Enkelin

Luigi Ravazzi, «das schwarze Loch», Erbe einer großen Industriegruppe und Chef von Licia Birolli

Der Abgeordnete Pennacchi, Staatssekretär im Wirtschaftsministerium

Aurelia Pennacchi, «die Schere», seine Gattin

Giancarlo Formiggi, Stellvertretender Polizeipräsident und Exfreund von Marisa

Guidotti, Lachiesa und Rotondi, Ärzte von Mauro De Blasi

Eins

Just in dem Moment überkam ihn die quälende Gewissheit seines nahenden Todes.

Er war dabei, sich mit Rasierschaum einzuseifen, als er erst zusammenfuhr und dann innehielt, die schaumigen Finger auf der rechten Wange. Sein Spiegelbild entsprach der Haltung, die er auf dem Cover der letzten Business & Communication eingenommen hatte, einem ganzen Heft über die bedeutendsten Manager des Landes, inklusive eines langen Interviews mit ihm selbst.

In Gedanken hatte er eben noch bei dem gestrigen Abendessen verweilt, bei dem der alte Birolli in Begleitung einer zwanzigjährigen Enkelin zu Gast gewesen war, als diese Worte urplötzlich vor ihm aufgetaucht waren. Oder vielmehr: er sie gelesen hatte. Doch wo? Auf dem Spiegel?

Ja, aber nicht eigentlich auf dem Spiegel, sondern anstelle des Spiegels. Denn für die Länge eines Wimpernschlags musste der Strom ausgefallen sein. Und in dieser Dunkelheit hatte sich der Spiegel in eine Kinoleinwand verwandelt, auf der klar und deutlich in weißen Buchstaben ebenjener Satz erschienen war, in Kursivschrift, wie eine Ankündigung am Ende eines Stummfilms.

Allerdings hatte er den Satz nicht gelesen. Irgendjemand hatte ihn mit lauter Stimme ausgesprochen.

Also wirklich, er war doch nicht im Kino! Er war in seinem Badezimmer.

Daher konnte nur er selbst es gewesen sein. Er hatte diese Worte gesagt.

Das war das erste Mal, dass ihm so etwas passierte. Oder vielleicht war es ihm auch schon andere Male passiert, nur hatte er es nicht bemerkt?

Erste Anzeichen des Alters? Mit zweiundvierzig Jahren? Sehr witzig …

Allerdings konnte er sich den Luxus nicht leisten, Dinge laut auszusprechen, über die er keine Kontrolle mehr hatte. Nicht auszudenken, wenn ihm das während einer Vorstandssitzung passierte oder während einer komplizierten Verhandlung!

Er nahm sich vor, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit mit Guidotti zu reden.

Dann begann er sich zu rasieren, doch wirklich wohl war ihm dabei nicht.

Just in dem Moment überkam ihn die quälende Gewissheit seines nahenden Todes.

Vor allem störte ihn die Fremdartigkeit dieses Satzes. Zu elegant, zu gut formuliert. Er redete nicht so, und er schrieb auch nicht so. Das war der Satz eines Schriftstellers. Und er hatte doch niemals das Bedürfnis zu schreiben verspürt, auch als Junge nicht, wenn die erste Verliebtheit einen dazu antreibt, Worte zu Papier zu bringen. Dieser Satz musste wirklich wie von außen auf ihn projiziert worden sein, es war ausgeschlossen, dass er ihn in seinem Inneren, aus sich heraus erdacht hatte.

Und außerdem: Wer war denn das Subjekt des Satzes?

Oder das Objekt?

Kurz gesagt, zu wem gehörte dieser Tod?

Doch sicher nicht zu ihm!

Es sei denn, er hatte jetzt auch noch angefangen, über sich selbst in der dritten Person zu reden. Wie der alte Manuelli. «Manuelli hatte keine Ahnung, was eine Fabrik überhaupt war, als er mit sechzehn als Schweißerlehrling dort eintrat.» Manuelli redete stets so, als würde er aus seiner eigenen Biographie vorlesen. Und alle lachten heimlich über ihn.

 

Nackt verließ er das Bad und ging ins Ankleidezimmer. Er legte seine Armbanduhr an und warf einen prüfenden Blick aufs Zifferblatt. Es war noch viel Zeit, erst in einer Stunde würde der Wagen ihn abholen. Er wollte die Schublade mit der Unterwäsche schon aufziehen, als er es sich anders überlegte und ins Schlafzimmer ging.

Marisa schlief noch; bestimmt würde sie, wie sonst auch, nicht vor zehn Uhr aufstehen. Sie liebte die Wärme, daher ließen sie auch nachts die Heizung auf vollen Touren laufen. Doch offenbar war es ihr nun zu heiß geworden, denn sie lag quer auf dem Bett, bäuchlings, das Laken zerknüllt neben ihr. Ihre Schenkel waren leicht gespreizt, eines ihrer langen Beine, das linke, baumelte über den Bettrand hinunter.

Ebenso unversehens wie drängend überfiel ihn ein heftiges Begehren. Am Abend zuvor hatten sie nicht miteinander geschlafen, obwohl er gewollt hätte: Sie waren erst um zwei Uhr im Bett gewesen, und kaum hatte Marisa sich hingelegt, hatte sie behauptet, furchtbar müde zu sein.

Doch das geschah nur selten. In den fünf Jahren ihrer Ehe hatte sich Marisa ihm nur in Ausnahmefällen verweigert; ja, eigentlich war sie diejenige gewesen, die meistens die Initiative ergriffen hatte. Er betrachtete sie: Ihr Körper war makellos wie der einer Zwanzigjährigen, doch mit dem reifen Selbstbewusstsein einer Dreißigjährigen.

Sie aufwecken?

Er kannte sie gut genug; außer einem gereizten «Verschwinde, lass mich schlafen» hätte er nichts bewirkt.

Sie verschloss sich in ihren Schlaf wie ein Küken in sein Ei – wehe, wenn die Schale vor der Zeit aufgebrochen wurde!

Doch je länger er sie betrachtete, umso drängender wurde sein Verlangen. Wenn er es jetzt nicht stillte, würde er es auch noch mit ins Büro nehmen, und es würde ihn benebeln und seine Konzentrationsfähigkeit einschränken.

Dabei war das ein Vormittag, an dem er seine volle Aufmerksamkeit dringend brauchte.

Er trat näher, legte sich aufs Bett, achtete aber darauf, dass sein Gewicht die Matratze nicht aus der Balance brachte, dann stützte er sich auf die linke Hand, schwang das rechte Bein über ihren Körper und setzte erst das Knie und dann die rechte Hand auf. Eine akrobatische Meisterleistung, auf die er stolz sein konnte.

Langsam senkte er sich auf Marisa herab, bis er dicht genug über ihr schwebte, damit sein Geschlecht den feinseidigen Spalt unter ihm berühren konnte.

 

Marisa ist in dem Moment wach geworden, als sie sein Gewicht auf der Matratze gespürt hat, doch sie hat sich weiter schlafend gestellt. Sie hat sich auf die Zunge beißen müssen, um die Welle von Ekel zu unterdrücken, die in ihr aufgestiegen ist, als sie sein Glied zwischen ihren Pobacken fühlte.

Nicht einmal, als Mauro nach einer Ewigkeit zum Ende gekommen und ins Bad zurückgekehrt ist, hat sie sich gerührt. Mit gespitzten Ohren liegt sie da, um die Geräusche aus dem Ankleidezimmer zu orten. Endlich, jetzt ist er in die Küche runtergegangen, um zu frühstücken. Vorsichtig steht sie auf, läuft barfuß ins Bad, um den Schmutz abzuwaschen, der an ihr klebt. Dann legt sie sich wieder ins Bett.

Wie ist es nur möglich, dass Mauro nicht sieht, nicht begreift, dass alles anders geworden ist? Dass sie es nicht mehr erträgt, von ihm angefasst zu werden? Einen Monat ist es her, dass …

Früher war sie nur eine Larve, aber dann ist da jemand gekommen und hat sie in einen Schmetterling verwandelt. Ja, seit diesem Moment, diesen wenigen zauberhaften Tagen, hat sie das Gefühl, nicht mehr zu gehen, sondern zu schweben. Innerhalb von drei Stunden, an einem ganz normalen Nachmittag, hat sich dieses Wunder ereignet.

Ihr ist klar, dass sie jetzt sowieso nicht mehr einschlafen wird.

Nach einer Weile steht sie auf, wirft einen Blick in den Flur und schleicht zur Treppe. Sie kann nichts hören, Mauro muss schon weg sein. Sie kehrt ins Schlafzimmer zurück, nimmt ihr Handy aus der Handtasche und wählt eine Nummer.

«Überraschung! Buongiorno, amore!»

«Buongiorno! Wie kommt’s, dass du schon wach bist?»

«Mauro hat etwas fallen lassen und mich …»

«Und, wie ist es gestern Abend gelaufen?»

«So was von langweilig!»

«Was machst du gerade?»

«Ich liege auf dem Bett, nackt. Und mit ganz viel Lust auf dich. Würdest du … würdest du mir eins aufsagen?»

«Jetzt?»

«Ja, jetzt.»

«Amore mio, das ist jetzt wirklich nicht der richtige Moment. Ich fahre gerade ins Büro, ich habe kein Headset, und der Verkehr ist die reinste Hölle.»

«Ach, bitte – nur ein ganz kurzes!»

«Na gut.»

Marisa berührt sich mit der Hand zwischen den Beinen.

«Gerade so gerundet, mich zu quälen,

Löse die Schenkel einen vom andren …

Lass deinen Zorn eine bittere Nacht lang währen!»

«Weiter, weiter!»

«Nein! Das reicht erst mal.»

«Von wem war das?»

«Von Ungaretti.»

«Ich habe zwar nicht viel verstanden, aber es hat mir gefallen. Schaffst du’s heute um fünf?»

«Wahrscheinlich.»

«Weißt du, ich kann’s kaum mehr aushalten. Seit einer Woche …»

«Ich genauso wenig. Entschuldige, amore, aber ich sitze im Auto und …»

 

«Das Frühstück ist fertig, Dottore.»

Er antwortet ihr nicht einmal und fährt fort, seine Krawatte zu binden. Anka, das Hausmädchen, geht wieder.

Sein Vater hat darauf bestanden, dass er sie einstellt. Er scheint sie ein paar Monate lang gevögelt zu haben, in allen erdenklichen Positionen, und dann hat er wie bei all seinen Gespielinnen genug von ihr gehabt und sie seinem Sohn untergeschoben.

Anka ist Rumänin, irgendwo zwischen dreißig und vierzig, zugegebenermaßen eine echte Schönheit, mit einem unglaublichen Hintern und unglaublichen Titten, sie spricht perfekt Italienisch und hat in ihrem Heimatland einen Abschluss als Vermessungstechnikerin gemacht.

Ihre Hauptaufgabe ist, in seiner Wohnung herumzuspionieren, dem Herrn Papà mitzuteilen, wie der Filius sich benimmt, ob er zu viel trinkt, ob er kifft … Das hat er sofort gemerkt. Andererseits, auch Giuliana, seine Sekretärin, ist eine Hinterlassenschaft seines alten Herrn. Und was für eine! Doch mit Giuliana …

Verdammter Mist, ständig gehen ihm die Haare aus!

Und abnehmen müsste er auch, der Gürtel ist schon im letzten Loch.

Er geht ins Esszimmer hinunter.

Nach drei Jahren in den Staaten, wohin sein Vater ihn zur Ausbildung geschickt hat, frühstückt Beppo jetzt immer auf amerikanische Art.

Er setzt sich so, dass er das lebensgroße Porträt seines Vaters im Rücken hat, das der Alte unbedingt im Esszimmer aufgehängt sehen wollte. Und zwar zu dem einzigen Zweck, ihn unausgesetzt daran zu erinnern, wer sein Frühstück, sein Mittag- und sein Abendessen bezahlt.

Genüsslich zerstört er den Aufbau aus Tellerchen, Schüsselchen, Gläschen, Tässchen und Kännchen, den Anka so sorgsam hergerichtet hat.

«Ihre Sekretärin ist am Telefon. Sie fragt, ob sie vorbeikommen soll, um Sie abzuholen.»

Was grinst die blöde Kuh denn so?

«Ja, sie soll kommen.»

Seit sechs Monaten hat er keinen Führerschein mehr. Eingezogen wegen Fahrerflucht, nur weil er so einen alten Trottel auf dem Fahrrad angefahren hat und dann abgehauen ist. Nicht mal zu sterben war der alte Sack in der Lage. Gerade mal einen Monat im Krankenhaus. Er hatte sich in Sicherheit gewiegt, aber dann war da plötzlich der übliche Blödmann vom Dienst aus dem Busch gekommen, der, statt sich um seinen eigenen Scheiß zu kümmern, anderen auf die Eier gehen muss und sich das Kennzeichen seines Mercedes aufgeschrieben und an die Carabinieri weitergegeben hat. Und wenn Papà nicht gewesen wäre, hätte die Sache noch schlimmer ausgehen können. Daher bietet Giuliana sich an, ihn morgens abzuholen. Doch vorher klingelt sie einmal durch, denn manchmal fährt er mit dem Taxi oder lässt sich einen Firmenwagen kommen.

Er blickt auf die Uhr, steht auf und sagt zu Anka:

«Schicken Sie Giuliana zu mir ins Arbeitszimmer.»

Kaum sitzt er am Schreibtisch, läutet das Telefon. Sein Vater. Direktverbindung.

«Ciao, Papà.»

«Ciao, Beppo. Ich wollte dir sagen, dass ich heute nicht ins Büro komme. Die letzte Nacht war nicht ganz ohne, ich bin etwas mitgenommen.»

Mit fünfundsiebzig die Nacht mit einer Minderjährigen zu verbringen scheint ziemlich anstrengend zu sein. Seit einiger Zeit hat der Alte das Frischfleisch für sich entdeckt und ist ganz begierig danach.

«Was ich dir noch sagen wollte: Lass dich heute nicht bei Mauro blicken. Mach einen großen Bogen um ihn, verstanden?»

«Willst du, dass ich nicht ins Büro gehe?»

«Das habe ich nicht gesagt. Tu nicht so, als würdest du mich nicht verstehen! Ich habe nur gesagt, es wäre besser, wenn du dich heute nicht bei ihm blicken lassen würdest.»

«In Ordnung, Papà.»

«Ciao.»

Er schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. Ist er nun Stellvertretender Geschäftsführer oder nicht? Wie kann es sein, dass Mauro De Blasi darüber bestimmen will – und man ihm das auch noch zugesteht –, dass er bei wichtigen Entscheidungen nicht hinzugezogen wird? Er ist doch kein Kind mehr, verdammte Scheiße! Er ist fünfundvierzig Jahre alt und weiß seinen Kopf durchaus zum Denken zu gebrauchen, verflucht! Doch diesem Riesenarsch, der sich für den Allergrößten hält, seit er auf der B&C abgebildet war, wird er es schon noch zeigen. Wenn alles nach Plan läuft, bricht in der Firma bald die Revolution aus. Und Papà wird’s ihm danken.

Es klopft an der Tür.

«Dottore, Signorina Giuliana ist da.»

«Soll reinkommen.»

«Buongiorno, Dottore.»

«Buongiorno, Giuliana. Kommen Sie rein, ich muss mit Ihnen reden.»

Zwei einstudierte Sätze für das Hausmädchen.

Giuliana tritt ein und schließt die Tür. Sie ist hochelegant, perfekt frisiert, dezent parfümiert – ganz die aktive, engagierte Frau. Sie bleibt in der Nähe der Tür stehen und sieht Beppo fragend an, der ihren Blick erwidert.

Daraufhin wendet sie sich um, dreht geräuschlos den Schlüssel im Schloss, geht einmal um den im Sessel sitzenden Beppo herum und kniet zwischen seinen Beinen nieder.

«Nein», sagt Beppo.

Ohne einen Ton zu sagen, steht Giuliana auf, zieht ihren Rock hoch, stützt sich mit den Händen auf den Schreibtisch und beugt sich vor. Sie trägt keinen Slip. Den hat sie in der Handtasche und wird ihn erst anziehen, wenn Beppo fertig ist.

 

«Ist Marsili schon da?», fragt Mauro, als er am Schreibtisch seiner Sekretärin vorbeikommt.

«Ja, Direttore.»

«Dann bitten Sie ihn in mein Büro.»

Auf seinem Schreibtisch befinden sich zwei Computer, vier Telefone, eine Sprechanlage, ein Mini-MP3-Player und ein Faxgerät. Außerdem ein Kugelschreiber, ein Bleistift und Marisas Foto in einem Silberrahmen.

Kein einziges Blatt Papier, kein Notizblock, nichts zum Schreiben. Im gesamten Raum sieht man kein Regal, nicht einmal ein kleines Bücherbord.

Es klopft. Die Tür öffnet sich einen Spalt, Marsili steckt den Kopf herein.

«Darf ich?»

Während Marsili eintritt und die Tür hinter sich schließt, spricht Mauro in die Sprechanlage.

«Anna? Für die nächsten zehn Minuten bin ich für niemanden zu sprechen. Auch keine Anrufe.»

Guido Marsili ist einer seiner beiden Stellvertreter. Unter anderem ist er für Human Resources zuständig. Der zweite Stellvertretende Geschäftsführer ist Beppo Manuelli, eine absolute Null, den sein Vater, der Aufsichtsratsvorsitzende des Unternehmens, auf diesen Posten gehievt hat.

Marsili ist so alt wie er selbst, kompetent, intelligent, reaktionsschnell. Was auch immer man ihn zu erledigen bittet, er zieht es durch, eine echte Dampfwalze, die sich von nichts und niemandem aufhalten lässt.

Durch einen reinen Zufall hat Mauro erfahren, dass Marsili ein Faible für Gedichte hat. Im ersten Moment war er völlig baff. Bei einem wie Marsili hatte er so etwas nicht erwartet. Doch solange dieses seltsame Hobby keine Auswirkungen auf seine Arbeit hat …

«Hast du was erreicht?», fragt Mauro.

«Die gebratene Taube ist mir sozusagen in den Mund geflogen. Ein gewisser Pistilli, einer von den Abteilungsleitern, der aus Neapel kommt – will sagen: eine Klatschbase, wie sie im Buche steht –, hat sich an mich gewendet.»

«Und, was wollte er?»

«Nichts, er wollte sich nur bei mir bedanken. Er hat nämlich einen Sohn, der schon zweimal durchs Abitur gerasselt ist, und er hat mich gebeten, für den Fall, dass ich jemanden kennen würde … Kurz und gut, der Fisch hängt an der Angel.»

«Was heißt das?»

«Er hat dein Interview in der B&C gelesen und war begeistert. Ich musste ihm daraufhin die Enttäuschung seines Lebens bereiten.»

«Inwiefern?»

«Indem ich ihm zu verstehen gegeben habe, dass der Journalist dich falsch zitiert hätte und du darüber äußerst verärgert gewesen wärst. Umso mehr, weil er einen ganzen Teil weggelassen hätte. Eben den, in dem du sagst, dass wir wegen der Krise Probleme bekommen hätten, die uns vielleicht – das ‹vielleicht› habe ich zweimal betont – in Kürze dazu zwingen würden, ein paar hundert Personaleinheiten zu entlassen und mindestens ein Werk zu schließen. Und selbstverständlich habe ich ihm ans Herz gelegt, niemandem gegenüber auch nur ein Wort darüber zu verlieren.»

«Ist er in die Falle getappt?»

«Mit beiden Füßen.»

«Und was, wenn er aus lauter Dankbarkeit dir gegenüber tatsächlich den Mund hält?»

«Ich bitte dich, du kennst doch die Neapolitaner! Die können doch den Rand nicht halten. Hätte ich ihn beim Blut von San Gennaro schwören lassen, dann vielleicht … Er wird reden, sei unbesorgt.»

«Na gut … In einer halben Stunde kommt übrigens Birolli. Ist alles vorbereitet?»

«Ja.»

«Er war gestern bei mir zum Abendessen. Weißt du, was er herumerzählt? Dass er so etwas wie mein zweiter Vater wäre, weil ich meinen ersten Job in einem seiner Unternehmen hatte …»

Marsili meint, eine Veränderung in Mauros Stimme wahrgenommen zu haben. Vielleicht ist er innerlich bewegt – er weiß, dass Mauro seinen Vater nie kennengelernt hat, weil dieser zwei Monate vor seiner Geburt gestorben ist. Vermutlich eine Wunde, die sich nie ganz geschlossen hat. Marsili ist blitzschnell, wenn es darum geht, die Schwächen anderer zu erkennen.

«Würde es dir denn leidtun, auch ihn zu verlieren?»

Mauro lächelt. Marsili hat keine Ahnung von Menschen. Nicht ohne Grund haben sie ihn zum CEO bei der Manuelli gemacht und Marsili nur zu seinem Stellvertreter. Er übergeht seine Frage.

«Warum hast du ihn zum Abendessen eingeladen?», will Marsili wissen.

«Hin und wieder mache ich das. Und außerdem war gestern mein Geburtstag.»

«Herzlichen Glückwunsch nachträglich!»

«Danke. Aber Birolli hat mir den ganzen Abend versaut.»

«Wieso?»

«Er saß da mit einem Gesicht wie ein hungriger Köter, der um einen Knochen bettelt …»

«Ich hoffe, du lässt dich nicht erweichen.»

Schon wieder drauf reingefallen, der gute Marsili! Unser kleiner Dichterfreund. Wirklich nicht schwer, ihm was vorzumachen.

«Die Gefahr besteht nicht. Entweder tritt er alles an uns ab, oder die Sache ist gegessen. Schließlich sind wir nicht die Caritas. Wir werden ihm zum Ende der Verhandlungen hin eine bestimmte Summe für sein Aktienpaket anbieten. Die Verluste können wir bei uns als gewinnmindernd verbuchen: Solange die Aktien in seinem Besitz sind, bringen die einhundert Millionen Verlust null, aber wenn wir sie in unsere Bilanz aufnehmen, können wir vierzigtausend davon abschreiben. Rechne dir mal die Relationen aus … Auf diese Weise wird er seine Gläubiger los, und wir verdienen wesentlich mehr, als wir dafür zahlen müssen. Und können uns eins ins Fäustchen lachen … Lass dich bloß nicht von ihm ins Bockshorn jagen! Ich kenne ihn nämlich, den guten Birolli, er wird ein riesiges Theater veranstalten, er wird sagen, dass er vor lauter Kummer sterben wird, wenn er das Unternehmen hergeben muss, und so weiter. Ach, übrigens, was die Kündigungen und Kapitalbewegungen anbelangt: Lass uns das Thema einfach übergehen. Ich habe ihm gegenüber das Treffen mit dem Staatssekretär erwähnt und die geplanten Maßnahmen hinsichtlich unseres Personalbestands angedeutet. Er geht davon aus, dass wir uns bei den Artenia-Mitarbeitern im üblichen Rahmen bewegen.»

Nun ist Marsili derjenige, der lächelt, ohne etwas zu sagen.

 

«Mein Lieber!»

Strahlend erhebt sich Mauro und geht mit ausgebreiteten Armen auf Birolli zu. Sie umarmen sich.

Birolli hat eine dicke Aktentasche bei sich. Er sieht schlecht aus.

«Geht’s dir gut?»

«Ich habe kaum geschlafen. Dein Abendessen ist schuld.»

Birolli drückt Marsilis ausgestreckte Hand, der leicht den Kopf neigt, wie um seinen Respekt für einen der Väter des Wirtschaftswunders auszudrücken. Auch wenn sich dieser inzwischen komplett ins Abseits manövriert hat. Alles ist bestens gelaufen, bis vor drei Jahren Birollis Sohn Giacomo bei einem Autounfall ums Leben kam. Der Alte nahm die Geschicke des Unternehmens wieder in seine Hände, doch er war nicht mehr derselbe wie früher, machte einen Fehler nach dem anderen, bis schließlich die weltweite Krise dem angekränkelten Betrieb den Todesstoß versetzte.

«Bist du alleine gekommen?», fragt Mauro.

«Meine Enkelin hat mich gefahren.»

Birolli fährt nicht mehr selbst, er sieht nur noch wenig.

«Was kann ich dir anbieten?», fragt Mauro.

«Nichts, danke dir.»

«Nehmen wir doch Platz.»

Mauro deutet auf einen Tisch mit zwölf Stühlen, der in einer Ecke seines geräumigen Büros steht.

Birolli sieht ihn verblüfft an. «Wo ist denn Manuelli?»

«Der alte Herr hat vorhin angerufen. Er lässt sich entschuldigen, letzte Nacht ging’s ihm nicht gut. Er hat mir alle Vollmachten übertragen. Und außerdem ist das hier ja sowieso nur ein informelles Treffen, nicht wahr?»

Birolli nimmt enttäuscht Platz. Er will die Aktentasche öffnen, die er vor sich auf den Tisch gelegt hat, doch Mauro kommt ihm zuvor. Er legt seine Hand auf die von Birolli.

«Lass gut sein.»

«Aber hier habe ich … Ihr müsst doch wissen, was …»

«Wir haben Erkundigungen eingeholt. Wir wissen alles, was wir wissen müssen.» Er schenkt ihm ein Lächeln. «Und außerdem sollten wir mit den gleichen Waffen kämpfen, denkst du nicht? Weder Marsili noch ich haben ein Blatt Papier vor uns liegen. Wir reden erst mal ein bisschen bei offenem Visier, dann treffen wir eine Vereinbarung, und dann gehen wir zum schriftlichen Teil über. Wir alle haben wenig Zeit – und außerdem sind wir hier doch unter Ehrenmännern, nicht wahr?»

Birollis Augen bekommen einen träumerischen Ausdruck.

«Ja, das waren noch Zeiten, als die großen Geschäfte per Handschlag besiegelt wurden!»

 

Dank des perfekten Zusammenspiels von ihm und Marsili hat es keine drei Stunden gedauert, Birolli weichzukochen.

«Ich werde dem Aufsichtsrat Bericht erstatten. Und euch anschließend über dessen Entscheidung in Kenntnis setzen», sagt der Alte.

Doch allen ist klar, dass es sich um eine reine Formalität handelt. Der Aufsichtsrat der Artenia wird angesichts der Lage nichts anderes tun können, als die Kröte zu schlucken und die Verträge zu unterzeichnen. Sämtliche Banken haben Birolli bei seinen verzweifelten Bemühungen, der Krise zu trotzen, abblitzen lassen. Überall verschlossene Türen. Bis es keinen anderen Ausweg mehr für die Artenia gab.

«Wir werden unverzüglich die Überweisung für den Ankauf deines Aktienpakets veranlassen», versichert Mauro ihm.

Birolli atmet erleichtert auf.

«Tust du mir einen Gefallen? Kannst du deine Sekretärin bitten, meine Enkelin anzurufen und ihr zu sagen, dass ich hier fertig bin?»

«Aber sicher. Wie ist ihre Telefonnummer?»

Mauro lernt die Telefonnummer, die Birolli ihm nennt, gleich auswendig. Man kann nie wissen, wozu es mal nützlich sein wird.

«Anna», sagt er über die Sprechanlage zu seiner Sekretärin, «rufen Sie doch bitte die Enkelin von Dottor Birolli an und sagen Sie ihr …»

«Aber sie ist schon hier!»

Birolli erhebt sich von seinem Platz. Marsilis Verbeugung ist diesmal mehr als eine bloße Andeutung, eine Respektbezeugung vor der Flagge des besiegten Gegners.

«Ich begleite dich», sagt Mauro lächelnd.

Zwei

Licia, die Enkelin, wartet im Vorzimmer auf ihren Großvater.

Was für eine Frau! Mauro streckt ihr die Hand entgegen.

Sie hält sie ein bisschen zu lange fest, ihre Augen funkeln amüsiert.

Er hat schon am Abend zuvor gemerkt, dass sie ihn nicht unsympathisch findet.

«Ich bringe dir deinen Großvater aus der Löwengrube zurück, heil und unversehrt.»

«Etwas anderes habe ich auch nicht erwartet», sagt Licia mit einem Lächeln.

Sich diesen herrlichen Leckerbissen einzuverleiben, in kleinen Häppchen, um das Vergnügen so lange wie möglich auszukosten … Er wiederholt in Gedanken ihre Handynummer.

 

Vor dem Mittagessen ruft er noch schnell den Alten an.

«Und, wie ist es gelaufen?»

Manuelli hält sich nicht lange mit höflichem Geplänkel auf. Er wird den ganzen Vormittag über neben dem Telefon gesessen und auf seinen Anruf gewartet haben.

«Die Runde ging an uns.»

«Wie hat er es aufgenommen?»

«Wie soll er es schon aufgenommen haben? Schließlich haben wir ihn komplett geplündert.»

«Der Arme! Aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben – noch ist der Sack nicht zu.»

«Ich bitte dich! Was soll sein Aufsichtsrat denn jetzt noch ausrichten? Wir haben ihm die Aktien doch sogar mit Aufpreis entschädigt. Was steuerlich gesehen für uns nur von Vorteil ist …»

«Aber – wie viel hast du ihm denn angeboten?»

«Zweihundert Millionen. Nicht mal wegen der Kündigungen und der Namensänderung hat er Theater gemacht.»

Manuelli scheint es die Sprache verschlagen zu haben, doch Mauro lässt ihm keine Zeit, allzu lange darüber nachzudenken:

«Aber, wie geht es dir?»

«Mir? Gut.»

«Heute Morgen hat man mir gesagt, dass du …»

«Ach, da war nichts. Ich wollte mich nur nicht vor Birolli blicken lassen. Wir sind alte Freunde, wie du weißt. Manuelli und Birolli haben am selben Tag angefangen zu arbeiten, haben zusammen die Gewerkschaft aufgemischt, dann ist Manuelli unter die Unternehmer gegangen, Birolli wollte ihm nicht nachstehen und …»

Diese Selbstbeweihräucherung in der dritten Person wird unendlich weitergehen, wenn Mauro ihn jetzt nicht bald mit der Begründung unterbricht, dass er zu einem wichtigen Termin muss.