Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die ersten drei Abenteuer der Reihe "Autsch! SadoMasoMärchen" vereint in einem Band. NEU: umfangreiches Stichwortregister und Liste der Hauptpersonen. Aufregung in der Feenamtlichen Märchenverwaltung! Anstößigste erotische Entgleisungen gefährden den Ausgang anständiger Märchen. Nur der hartgesottene Serendip kann noch helfen. Doch der professionelle Weltenretter will sich zur Ruhe setzen. Fee Lylla lockt mit einem unwiderstehlichen Angebot: Bringt er die Märchen zu einem Happy End, darf er in seinem eigenen die Prinzessin seines Herzens erobern. Zuckersüße Romantik trifft auf deftige Ausschweifungen. Und überall blühen malerisch sadomasochistische Praktiken. Ein kurzweiliges, nicht ganz ernst gemeintes Abenteuer abseits ausgetretener Genrepfade.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 400
Veröffentlichungsjahr: 2018
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Dieses Buch enthält die ersten drei im Autsch!-Zyklus erschienenen SadoMasoMärchen. Sie wurden überarbeitet und um ein umfangreiches Stichwortregister und eine Liste der Personen ergänzt.
Aschenpfläumchen
oder wie Serendip mithilfe einer Ombudsfee und eines Außendienst-Einhorns mit Gebietsschutz einer Unterdrückten und einem Übermütigen zu gemeinsamem Glück verhalf und wie er nebenbei die Welt vor dem Einsturz bewahrte
Kleptovulvia
oder wie eine albinoangoraigelwollene Königin ihr Reich beinahe ins Unglück stürzte, weil sie für ihr Leben gern Orden verlieh, und wie Serendip alles zum Besten fügte, indem er einen talentierten Unterleib und einen geläuterten Verstand zueinander führte
Unter Ferqln
oder wie Serendip eine langhaarige jungfräuliche Blondine an einen Orden ausschweifender Enthaltsamkeit frönender Lüstlinge verkuppelte und dadurch der Suche nach dem Höchsten Glück einen unschätzbaren Dienst erwies
„Manche Menschen gewinnen ihren Körperöffnungen nun einmal mehr Genüsse ab als andere.“
Schnarch*
Aschenpfläumchen
Kleptovulvia
Unter Ferqln
Quellen und weiterführende Literatur
Personen
Stichwortverzeichnis
Danke
oder...
...wie Serendip mithilfe einer Ombudsfee und eines Außendienst-Einhorns mit Gebietsschutz einer Unterdrückten und einem Übermütigen zu gemeinsamem Glück verhalf und wie er nebenbei die Welt vor dem Einsturz bewahrte
In einer längst vergangenen Zeit, als Eltern ihren Kindern vor dem Einschlafen noch keine Märchen zu erzählen wussten, weil die gerade eben erst erlebt wurden, begab sich Folgendes.
Serendip saß eines Abends in einer Schenke irgendwo im Königreich Cinderelien. Gerade hatte er für die Zeitfee Uhrsula den abhanden gekommenen Nachmittag eines Fauns aufgespürt. Die Suche nach der verlorenen Zeit hatte ihm nicht viel eingebracht. Uhrsulas Kunde, ein gewisser Niekinski, hatte noch während der Garantiefrist bei der Fee reklamiert und so hatte sie auf eigene Kosten nachbessern müssen. Wie nicht anders zu erwarten, hatte sie deshalb bei Serendips Honorar geknausert. Wenigstens hatte sie noch ein wenig Freizeit draufgelegt. Die verbrachte er nun grübelnd vor einem Krug Wein. Er war seines unsteten Lebens überdrüssig. Viele Jahre schon durchstreifte er wie ein einsamer Wolf abenteuernd die Welt. Er verdiente nicht schlecht mit der Weltenretterei, hatte in all den Jahren sogar ein erkleckliches Sümmchen beiseitegelegt. Doch das half ebenso wenig wie zweifelhafte Ehre und flüchtiger Ruhm gegen die Sehnsucht nach einem Mittelpunkt im Leben. Mit seiner Ernüchterung war er nicht allein, wie er beim letzten Stammtisch festgestellt hatte. Manch verdienter Kollege hatte über das Heldenhafte Reißen geklagt, die rheumatischen Beschwerden, die das ständige Nächtigen am Lagerfeuer mit sich brachte. Sie hatten ihre heimlichen Träume vom Sesshaftwerden ausgetauscht, einander die nächtlich einsame Sehnsucht nach Löffelchenliegen gestanden. Hatten gestanden, wie gern sie heimlich ‚Schlaflos im Sattel‘ anguckten und ein Tränchen dabei verdrückten. Und zu vorgerückter Stunde in den zeitlosen Augenblicken zwischen tiefster Nacht und dem ersten kühlen Hauch des taufeuchten Morgengrauens hatten sie von der Sinnkrise in den klammen Heldenherzen gesprochen. Beim zaghaften Glimmen des erwachenden Morgens hatten sie einander bei den Händen gefasst und wehmütig das Lied vom Rettich gesungen, das uralte Lied der Weltenretter:
Heut Rettich diese Welt und morgen jene.
Bald Rettich alle Welt, dann geh ich heme...
Eine fliederfarbene Wolke schwebte unvermittelt über Serendips Tisch, riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Im Handumdrehen verwandelte sie sich in eine ausnehmend hübsche Weibsperson, die rittlings auf seine Knie plumpste, so nah, dass beider Nasenspitzen sich berührten. Eine Locke ihrer fliederfarbenen Haarpracht kitzelte seine Stirn. Eine Fee. Offensichtlich. Sie lehnte sich zurück, stützte sich mit den Ellbogen auf dem Tisch ab und musterte Serendip, als wollte sie prüfen, ob sie auf dem Richtigen gelandet war. Sie duftete betörend nach Flieder. Ihr schlichtes weinfleckiges Gewand ließ sie aussehen wie eine der Bedienungen. Niemand beachtete sie.
„Sei gegrüßt, edler Serendip“, sprach die Fee.
„Ich bin Lylla, Fee in den Diensten der Feenamtlichen Märchenverwaltung, Referat III C – Märchensteuerung und Qualitätskontrolle. Seit Jahr und Tag verfolge ich aufmerksam deine Taten. Sie sind vorbildlich, tadellos und von unnachahmlicher Eleganz. Du bist unser bestes Pferd im Stall, brachtest mit Abstand die meisten Märchen zu einem glücklichen Ende. Ich bin hier, dich dafür mit einer Prämie zu belohnen.“
Ihre lilienhaften Arme schlangen sich um seinen Hals. Fliederfarbene Augen ruhten freundlich auf den seinen.
„Ich habe tief in dein Herz geschaut und weiß, wonach es sich sehnt. Ich schenke dir dein ganz eigenes Märchen, in dem du die Prinzessin deines Herzens erobern kannst!“
Selbst ihre Lippen hatten die Farbe des Flieders.
„Wie du vielleicht weißt, sind unbemannte Märchenprinzessinnen meldepflichtig. Sollen sie verheiratet werden, muss das in der Märchenwelt öffentlich ausgeschrieben werden. Das ist eine meiner Aufgaben. Hier…“
Lylla schnippte mit den Fingern. Ein dicker Foliant plumpste aus dem Nichts auf den Tisch. Er war in schweres Leder gebunden, speckig vom häufigen Gebrauch. Der Weinkrug wackelte bedrohlich.
„…ist ‚Der PRInzessinnen SCHickliche Reihung Mittels BEwertung ihres Liebreizes’, kurz: PRISCHREMBEL. Das feenamtliche Werk enthält die gesammelten aktuellen Ausschreibungen zu verheiratender Prinzessinnen. Suche dir eine aus!“
Lylla nahm Serendips Gesicht in beide Hände.
„Keine Garantie. Kein Umtausch.“
Sie hielt kurz inne, als suchte sie nach passenden Worten.
„Da wäre noch eine Kleinigkeit. Eine winzige. Anstößigste erotische Entgleisungen gefährden gerade den Ausgang einiger weniger Märchen. Die Feenamtliche Märchenverwaltung ist darob ein wenig beunruhigt. Unterwegs wirst du zuerst in den betroffenen Märchen vorbeischauen und sie für mich zu einem glücklichen Ende bringen. Sonst wird es nichts mit deiner Liebsten. Ich werde ein Auge auf dich haben!“
Sie knutschte unseren verdutzten Helden ab, dass ihm Hören und Sehen verging. Eine Fee. Zweifelsohne. Und ja, ihre Zunge schmeckte nach Flieder.
„Beinahe hätte ich die Bedienungsanleitung für dein Märchen vergessen“, nuschelte sie, ohne mit dem Küssen aufzuhören.
„Regt es dich auf, geht es dich an!“
Dann war sie verschwunden. Wo sie gerade noch gesessen hatte, verpuffte ein Fliederwölkchen.
Serendip schenkte sich nach. Eine einzelne kleine Fliederblüte dümpelte im Weinkrug. Süßer Fliederduft umschmeichelte ihn, während er die PRISCHREMBEL studierte. Sie enthielt in drei Kapiteln die Steckbriefe Hunderter Heiratswilliger: die der gewöhnlich märchenhaften Prinzessinnen, gefolgt von denen der ungewöhnlich märchenhaften und endlich denen der außergewöhnlich märchenhaften. Innerhalb der Kapitel waren die Prinzessinnen nach ihrer Lieblichkeit in aufsteigender, mittels des Prinzesslichen Lieblichkeitskoeffizienten LP ermittelter Reihung sortiert, wie das Vorwort verriet. LP errechnete sich demnach kinderleicht, indem man die Summe des Brustumfangs UB und des Hüftumfangs UH mit dem Wirkungsgrad ŋ ihres Lächelns multiplizierte und das Ergebnis durch den Taillenumfang UT dividierte, und zwar anhand folgender unmittelbar einleuchtender Formel:
Je höher der LP-Wert, desto lieblicher die Person, las Serendip. Gespannt blätterte er sich durch die Steckbriefe. Zu jeder Heiratskandidatin stand geschrieben, wie ihr Herz zu erobern sei. Eine sei leider eingeschlafen, hieß es da, und müsse wachgeküsst werden; eine andere wolle partout nicht ins Bett, es sei denn, kräftige Prinzenhände versohlten ihr den Hintern. Diese gelte es aus einer Höhle zu befreien, wo ein Untier es an den Fels gekettet habe; jene sei so schrecklich zappelig, sie gebe sich nur dem hin, der sie in Ketten lege. Manche kamen von vornherein nicht in Frage, wie die Zwillingsprinzessinnen Sadomee und Sodemie, die zusammen Pferde züchteten und Männer züchtigten und auch sonst alles gemeinsam täten und tierliebe willige Zwillingsprinzen suchten. Oder wie der Ringkämpfer Prinz Transfranz, der für sein Leben gern Prinzessinnenkleider trage und dem Erstbesten gehören wolle, dem es gelinge, ihn mit seinem Büstenhalter zu fesseln. Oder wie Prinzessin Bytsch aus der Oberschlamperei, die in ein wohlhabendes Königreich mit Prinzenüberschuss einzuheiraten gedenke. Andere waren nicht uninteressant. Prinzessin Malwarea beispielsweise, die einen verruchten Kerl brauche, der es ihr ganz besonders dreckig besorge. Oder Prinzessin Wehschnittchen. Sie begehre einen wenig wehleidigen Prinzen. Dem wolle sie mit spitzen Fingernägeln Liebesschwüre in den Rücken ritzen, während er sie besitze. Könne er ihr diese vorlesen, wolle sie ihn behalten. Oder Prinzessin Glitta Glitsch von Fistingen, die sich jedem Beliebigen verspreche, sofern es ihm nur gelänge, ihren Schoß von innen zu lecken. Doch leider: So verlockend sie im Einzelfall auch sein mochten, keine einzige Prinzessin rührte Serendips Herz. Schon wollte er die PRISCHREMBEL enttäuscht zuschlagen, alles für einen üblen Feenschabernack haltend, da entdeckte er ganz am Ende ein dünnes Kapitelchen. Es war mit ‚OBACHT! VORSICHT!! GEFAHR!!!‘ überschrieben und enthielt nur einen einzigen Steckbrief. Das Porträt der jungen Frau zog ihn sofort magisch an. Prinzessin Eisglut heiße sie, stand darunter zu lesen. Von einem kalten Blick aus ihren eisblauen Augen habe einst sogar die Eisfee Gelatella einen Mordsschnupfen bekommen. In ihrem glühenden Herzen jedoch wabere der heiße Brodem der Mutter aller Leidenschaft. Beides, Eis und Glut, habe sich in diesem Wesen von schrecklichster Schönheit in schauriger Harmonie zusammengefunden. Die Prinzessin herrsche über das sagenhafte Reich Sinth, las Serendip wie gebannt weiter. Dort förderten Zwerge für sie unermessliche Schätze aus den Tiefen der Erde. Einen Mann suche sie, der Sinth ihr zu Ehren regiere, auf dass die beiden ausschweifend glücklich in verschwenderischem Reichtum lustvoll lebten bis ans Ende ihrer Tage. Jedem Freier werde sie eine x-beliebige Zahl Rätsel aufgeben. Und wer auch immer die Rätsel löse, den wolle sie zum Manne nehmen. Aber ihre fürchterliche Zwergenleibwache töte auf der Stelle jeden, der versagt. Nie zuvor hatte Serendip eine Frau gesehen, die sich an Lieblichkeit mit ihr hätte messen können! Kein Wunder, dass ihr LP-Wert als ‚Geheime Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch‘ ausgewiesen war. Unvermittelt erwachte ihr Porträt zum Leben. Die Prinzessin blickte ihn an, musterte ihn mit eiskaltem Blick. Er erschauerte. Reif schlug sich auf seinen Augenbrauen nieder. Jetzt schenkte sie ihm ein warmes Lächeln, das ihm den Schweiß auf die Heldenstirn trieb. Eine nie gekannte Glut erglomm in seiner Brust, entflammte sein Herz, das unversehens lichterloh brannte. Er hatte sich verliebt! Die musste er haben! Als sei sie mit ihrer Wirkung zufrieden, erstarrte die Prinzessin wieder zu einem leblosen Porträt. Serendip konnte gerade noch geistesgegenwärtig ihren Steckbrief aus der PRISCHREMBEL reißen, dann war der Wälzer auch schon verschwunden.
„Sei bedankt, Lylla!“ sprach Serendip. „Eisglut von Sinth ist die Prinzessin meines Herzens!“
Doch die Fee meldete sich nicht mehr.
*
Nach einer Nacht in der Schenke begann unser Held am folgenden Morgen sein neues Leben mit einem opulenten Gabelfrühstück. Es war ein nicht auszuhalten schöner Maimorgen im Königreich Cinderelien, wie geschaffen, mitten in ein – sein! – jungfräuliches Märchen hineinzureiten. Die übrigen würde er im Handumdrehen nebenbei erledigen. Er band seine üppige blonde Löwenmähne zu einem Pferdeschwanz, wie er es seit jeher zu tun pflegte, wenn er in ein neues Märchen aufbrach. Er gürtete sein Schwert Balsam, „Das Weitum Gefürchtete“, von dem noch zu berichten sein wird, schwang sich auf sein treues brünettes Ross Erdmuthe, „Die Viel Besungene“, über die auch hier nicht geschwiegen werden wird, nahm dankbar das Lunchpaket, das der Wirt ihm hatte bereiten lassen, und brach, gestärkt mit einem Gläschen Holunderblütensekt, frohen Mutes nach Sinth auf. Niemand hatte auch nur die leiseste Ahnung, wo das sagenhafte Reich zu finden sein mochte. Also überließ Serendip seiner gemächlich dahin trabenden Erdmuthe die Zügel, ab und an seufzend in Gedanken an seine Auserwählte schwelgend, in der sicheren Gewissheit, alles Weitere werde sich märchenhaft fügen.
Serendip war weit in der Welt herumgekommen wie kaum einer. Nie zuvor Gesehenes hatte er erblickt, Unerhörtes erlebt. Das seltsame Gespann indes, das ihn einige Meilen später jäh aus seinen Gedanken riss, verblüffte selbst ihn.
Im Unterholz des den Weg säumenden Waldes rumorte es. Eine junge Frau sprang vor Erdmuthe in schnellem Lauf aus dem Gehölz auf die Straße. Ihr Rock war über den Po hinauf gerafft, von den Fesseln bis zur Taille entblößend, was zu entblößen sich zu Beginn eines anständigen Märchens wie diesem nicht ziemte. Auf ihren Schultern saß ein spindeldürrer Greis in klobigen Reitstiefeln. Der krallte sich mit einer Hand in ihre üppige Lockenpracht. Mit der Reitgerte in der anderen schlug er ungestüm auf ihr nacktes Hinterteil ein. Als sei der Quälerei noch nicht genug, gab er ihren zarten Flanken tüchtig die Sporen.
„Bleib auf der Straße, du störrisches Luder!“, schimpfte er.
„Auauauauauau!“ jammerte sie.
Schon waren die beiden in wildem Zickzack hinter der nächsten Biegung verschwunden.
,Regt es dich auf, geht es dich an!‘, hatte die Fee gesagt. Sollte Serendip sich über die schamlose öffentliche Entblößung unter zumindest zweifelhaften Umständen aufregen? Er setzte den beiden nach. Im gestreckten Galopp holte Erdmuthe sie geschwind ein. Auf gleicher Höhe mit ihnen packte Serendip den Alten am Kragen, riss ihn in hohem Bogen von seinem menschlichen Ross und brachte sein eigenes zum Stehen. An Serendips ausgestrecktem Arm baumelte zeternd und mit der Gerte wild um sich fuchtelnd der verhinderte Reiter. Die unversehens reiterlose junge Dame zeigte sich alles andere als dankbar. Sie verbiss sich in eine Wade ihres Retters. Der griff die rabiate Beißerin mit seiner freien Hand und hielt sie sich mit ausgestrecktem Arm vom Leib. Nun erst bemerkte er den Reitsattel auf ihren schmalen Schultern. Fest umschnürten dessen straff gespannte Gurte ihren Busen. So saß unser bärenstarker Held mitten auf der Straße auf seinem Pferd, am einen Arm einen wütenden Alten, am anderen eine nicht minder echauffierte junge Dame. Anstand und guter Geschmack verbieten es, die unfeinen Worte wiederzugeben, mit denen ihn beide lautstark beschimpften. Geduldig wartete Serendip, bis das seltsame Gespann sich beruhigt hatte.
„Gestattet, mich euch vorzustellen“, eröffnete er das Gespräch. „Ich heiße Serendip und bin auf dem Weg in das Königreich Sinth. In meiner Eigenschaft als Weltenretter kann ich die öffentliche Entblößung und Misshandlung einer holden Jungfer nicht dulden! Ich erwäge ernsthaft, mich aufzuregen! Sprecht! Was geht hier vor?“
„Mein Name ist Perpedes“, entgegnete der Greis unwirsch. „Ich will den dreisten Überfall entschuldigen, wenn du mich unverzüglich zurück auf meine Reitsklavin setzt. Mein Arzt verschrieb mir viel Bewegung an frischer Luft, welche mir zu verschaffen ich im Begriffe war, als du mich unsanft aus dem Sattel rissest!“
Er hielt Serendip ein Dokument entgegen: ein ärztliches Attest. Es bescheinigte Perpedes eine akute Altersbösartigkeit in Verbindung mit einer fortschreitenden Versteifung des verlängerten Rückens, wogegen im Rahmen der ambulanten Altenpflege ein täglicher Ausritt auf einer diplomierten Pflegefachkraft angeraten sei. Da gab es nichts zu beanstanden. Serendip gab die Sklavin frei. Mit folgenden Worten setzte er Perpedes zurück auf ihre Schultern:
„Verzeih mir, werter Perpedes. Gegen einen ärztlich verordneten Ausritt ist selbstverständlich nichts einzuwenden.“
Kein Grund zur Aufregung also. Das ging ihn nichts an. Das war nicht sein Märchen.
„Du bist selbst schuld daran, dass sie dich biss“, entgegnete der Alte nicht ohne Schadenfreude. „Mit der Disziplin hapert es noch“, fügte er versöhnlich hinzu, während er sich im Sattel zurechtsetzte.
„Mich biss sie, als ich ihr die Trense anlegen wollte. Also reite ich sie ohne Zaumzeug. Das Aas ist widerborstig wie selten eines, dabei herrlich unbändig wie eine Meute Jagdhunde bei der Bärenhatz. Sie wird bestimmt das beste Pferd in meinem Stall. Sieben Pflegekräfte habe ich nun, für jeden Wochentag eine und alle auf Rezept! Jetzt entschuldige mich. Ich muss Mittwoch noch gründlich zureiten. Habe die Ehre!“
Ohne auf eine Entgegnung zu warten, riss er am Haarschopf der diplomierten Reitsklavin. Grob drückte er die Sporen seiner Stiefel in ihre Weichen. Seine Gerte sauste auf ihren Hintern nieder.
„Aaaaua!!“ protestierte sie.
Mit einem Satz war sie samt Reiter im Unterholz verschwunden.
*
Über die segensreichen Fortschritte der modernen Medizin nachsinnend setzte Serendip seinen Weg fort. Ohne die kleinste Aufregung verflog ihm darüber der herzerwärmende Maivormittag im Nu. Bis er auf eine verlassene Kutsche am Wegesrand aufmerksam wurde. Nicht weit davon stand mit Händen und Füßen rücklings an einen Baum gefesselt eine lauthals lamentierende, selbst in ihrem erbärmlichen Zustand noch überaus liebreizende Prinzessin – für den Eingeweihten leicht an ihrem Prinzessinnenkrönchen auf dem goldgelockten Haupt erkennbar. An ihr machte sich eine Räuberbande zu schaffen. Es herrschten Zucht und Ordnung. In Reih und Glied standen die Räuber vor dem Baum an. Wer an der Reihe war, ging ihr wacker an die Wäsche und vergnügte sich in anstößigster Art und Weise an ihr. Sodann überließ er sie, nicht ohne sich vorher bei der ohne Unterlass Jammernden höflich bedankt zu haben, dem nächsten in der Räuberreihe und stellte sich wieder hinten an. Serendip beobachtete das Geschehen eine Weile, um sich zu vergewissern, ob nicht etwa sein Einschreiten vonnöten wäre. Denn von den Bediensteten der Prinzessin war keine Hilfe zu erwarten. Die lagen allesamt fein säuberlich verschnürt und bis auf die Unterwäsche ausgeraubt im Straßengraben. So sehr weinte die Prinzessin, dass ihre Tränen bereits ihr Gewand durchnässten. Hauteng klebte es an ihrem wogenden Busen, ihn mehr betonend als verhüllend. Eine derart unzüchtige öffentliche Zurschaustellung geheimster Reize mochte er nicht dulden. Er war nahe daran, sich aufzuregen. Kurz entschlossen zog Serendip blank. Da erst bemerkte die Unglückliche unseren Helden. Sie fixierte ihn, schüttelte den Kopf und blinzelte krampfhaft.
‚Offenbar hat sie etwas im kummervollen Äuglein und kann sich nicht helfen’, dachte Serendip bei sich. Er wollte eben von seinem Pferd springen, den Räubern den Garaus zu machen, das tränennasse Gewand der Prinzessin zu bedecken und ihr das Etwas aus dem Äuglein zu entfernen. Da rief sie ihm zu:
„Halte ein, edler Fremdling! Ich warte auf meinen in dieser Angelegenheit zuständigen Retter, Prinz Prokrastinus von Escargotien. Er hat sich wie immer ein wenig verspätet. Sicherlich wird er sogleich auf seinem edlen Retterross heransprengen. Also habe verbindlichsten Dank für dein unnötiges Bemühen.“
Sie musterte ihn gründlich. Was sie sah, schien ihr zu gefallen. Mit ihrem vornehmen Häuptlein auf die Räuberschlange deutend lud sie ihn ein:
„Wenn dir danach ist, darfst du dich gern hintan stellen um dir ein wenig die Zeit an mir zu vertreiben.“
Sie zwinkerte ihm verführerisch lächelnd zu. Die Räuber nickten zustimmend, wollten ihm gar den Vortritt lassen. Wie Schuppen fiel es unserem Helden von den Augen: Er war mitten in einen inszenierten Überfall geplatzt! Gewiss sollte der das glückliche Ende oder den vielversprechenden Anfang, so genau wusste man das nie, eines Märchens befördern. Also brauchte Serendip sich auch hier nicht aufzuregen. Nicht ohne sich in aller Form dafür zu bedanken, schlug er das schmeichelhafte Angebot aus.
Er zog es vor, aus seinem Sattel heraus der Prinzessin Kirre von Rammdösien, als jene stellte sie sich vor, die Wartezeit zu verkürzen. Man plauderte ein wenig. Interessiert lauschte sie seinen Betrachtungen über das blendende Wetter an diesem Bilderbuchmaimittag und vergaß darüber sogar zu schluchzen, während die „Räuber“ gewissenhaft ihrem Handwerk nachgingen.
Und wirklich: Bald schon trabte scheppernd und klirrend der heiß herbeigesehnte Retter gemächlich heran, ein waffenstarrender Ritter in voller Rüstung, einen Knappen im Gefolge. Der Ankömmling, von dem hinter dem offenen Visier nur ein beschattetes Gesicht zu erahnen war, grüßte Serendip freundlich. In Personen von Stand geziemender Ausführlichkeit stellten sie sich einander vor. Als dem Anstand solchermaßen Genüge getan war, klappte Prinz Prokrastinus sein Visier herunter und vertrieb ohne Umschweife und ernsthafte Gegenwehr die Räuber. Er kletterte von seinem Ross, was trotz tatkräftiger Unterstützung seines Knappen nicht ohne Anstrengung vonstattenging. So schnell das viele Blech es zuließ, eilte er zu seiner überglücklichen und neuerdings wieder Tränen, nun jedoch echte Freudentränen, vergießenden Prinzessin. Er entschuldigte sich für die Verspätung:
„Ein Mädchen“, drang es dumpf aus dem geschlossenen Helm, „das am Wegesrand Blumensträuße feil bot, hielt mich erst für den berühmten Ritter Prinz Eysenschmerz, was ich ihr angesichts meiner blendenden Erscheinung nicht verdenken mochte, und sodann auf, indem sie ein Autogramm von mir erbat. All meine Widerrede fruchtete nicht, nicht einmal der diskrete Hinweis auf das Wappen derer von Escargotien, das ich im Schilde führe. Erst als ich meine Rüstung abgelegt hatte, um ihr meinen Ausweis zu zeigen, den ich ungeschickterweise in der Brieftasche in meinem Wams trug, sah sie ihren Irrtum ein. Wenn wir zu Hause in meiner Burg ankommen, werde ich als erstes meinen Rüstungsschmied anweisen, mir eine Brieftaschenklappe in die Rüstung zu schmieden.“
Wie praktisch solch eine Vorrichtung sein würde, demonstrierte er der weiterhin an den Baum Gefesselten an Ort und Stelle. Er öffnete eine Klappe im Schritt seiner silberglänzenden Rüstung, holte sein ritterliches Geschlecht hervor und tat es zum Entzücken Prinzessin Kirres so forsch den verjagten Räubern gleich, dass ihr Krönchen recht ordentlich wackelte. Mittendrin hielt er inne.
„Hätte ich es doch beinahe vergessen!“, sprach er laut zu sich.
„Den Strauß!“, befahl er seinem Knappen. Mit einem entschlossenen Ruck riss er Kirres Kleid und Mieder auf. Ihr vornehm mondscheinblasser Busen hob und senkte sich in höchster Aufregung. Der Knappe reichte ihm den Strauß, ein geschmackvolles Gebinde aus Vergissmeinnicht, Brennnesseln und Kitzelkraut.
„Für dich, mein Augentrost. Den kaufte ich dem Mädchen ab!“
Kirres Augen weiteten sich. Die Röte wich aus ihrem erhitzten Gesicht. Sie wurde bleich. Sie ahnte, was ihr bevorstand. Zärtlich streichelte Prokrastinus mit dem Strauß Kirres Brüste.
„Autsch! Auaah! Haaaahhaahiihi!“ brach es aus der Prinzessin hervor.
Die Nesseln brannten höllisch, versengten ihre schneeweiße Haut, bissen in die kleinen, beinharten Nippel. Gleichzeitig kitzelte das Kitzelkraut so schrecklich unwiderstehlich! Kirre wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. So tat sie beides. Der Prinz führte den Strauß fester über ihren ganzen Oberkörper. Mehr und mehr rote Pusteln sprossen auf der Haut wie Pilze nach dem Regen. Kirre wand sich verzweifelt in den Fesseln. Sie schrie ihren Schmerz hinaus und prustete Prokrastinus ihr Lachen entgegen, bis sie keine Luft mehr bekam. Mit harten Schlägen bestrich der Prinz jetzt ihren schutzlosen Busen. Bei jedem Streich zuckte Kirre zusammen. Sie stöhnte. Ganz nah trat der Prinz an sie heran. Durch das geschlossene Visier seines Helm sah sie in seine Augen. Prokrastinus legte eine schwere, eiserne, eiskalte Rüstungshand auf ihren Busen. Und drückte zu. Kirre erschauerte. Laut stöhnte sie auf.
Wortlos schob der Prinz mit der anderen Hand den Strauß unter ihr Gewand. Kirre stockte der Atem. Sie begriff, was jetzt kommen würde.
„Jaahh!“, hauchte sie. „Ich bin ganz dein...“
Der Prinz stieß den Strauß zwischen ihre bebenden Schenkel. Mit der anderen Hand fummelte er an der Klappe im Schritt seiner Rüstung. Er streifte ein dort befestigtes eisernes Kettenhemd über sein pralles Gemächt! So bewehrt drängte er sich zwischen ihre Schenkel. Mit kurzen, harten Stößen schob er den Blumenstrauß in ihren Schoß, zur Blumenvase kürend, was als Gefäß ganz anderes aufzunehmen gewohnt war. In Kirres überfülltem Rosengarten kitzelte und brannte es unerträglich. Sie zuckte wild. Sie jammerte, sie lachte, sie rang nach Luft. Das Krönchen kullerte zu Boden und eine Glücksträne über ihre glühende Wange.
Serendip nickte anerkennend. Dieser blecherne Lüstling war ein ausgemachter Connaisseur. Der wie Serendip in Sadobotanik bewanderte Leser versteht, warum. Allen anderen sei es enthüllt: Das Vergissmeinnicht im Blumenstrauß bewirkte, dass Kirre jedes Mal, wenn sie sich an dieses Geschehen erinnerte, es wieder am eigenen Leibe spüren würde.
In der sicheren Gewissheit, dass dieses Märchen seiner nicht bedurfte, nahm Serendip diskret Abschied und ritt in den wonnigen Mainachmittag hinein.
*
Eine geraume Weile schon trottete Erdmuthe inmitten eines löwenzahngoldenen Wiesengrunds einen munter plätschernden Bach entlang. In einem wirklich wahren Märchen wie diesem geschieht bekanntlich nichts zufällig. Unser Weltenretter war deshalb keineswegs überrascht, als ihn das Schluchzen eines Mädchens jäh aus seinen Gedanken riss. Gerade rechtzeitig, eine große Dummheit zu verhindern, die das unglückliche Geschöpf eben vermeintlich begehen wollte. Es stand im Schatten der Ufererlen, nackt und schmutzig. Gerade schickte es sich an, in den Bach zu steigen. Serendip wollte ihm noch zurufen, wie schön das Leben trotz gelegentlicher, zugegebenermaßen lästiger Unbilden doch sei, viel zu schön jedenfalls, es so mir nichts, dir nichts wegzuwerfen. Da stand es schon bis zu den Knien im Wasser – und wusch sich. Es heulte zum Steinerweichen, eine solche Inbrunst an den sinnberückenden Tag legend, dass Serendip meinte, die Last allen Unglücks dieser Welt drücke die schmalen Schultern der bedauernswerten Gestalt. Eine Schar Gänse beobachtete ihr Tun vom Ufer aus. Sie waren es auch, die unseren Helden jetzt bemerkten und laut zu schnattern anhoben. Das Mädchen sah ihn, erschrak, sprang ans Ufer, griff sein Kleidchen, das wir in Anbetracht seines erbärmlichen Zustands mit Fug und Recht einen Lumpen nennen dürfen, und machte Anstalten, wegzulaufen.
„Gemach, Mädchen, halte ein! Sei unbesorgt, ich tue dir nichts!“
Aus seinem Sattel heraus brach Serendip ein Pläuschchen vom Zaun. Das allerdings war recht einseitig, heulte das Mädchen doch in einem fort. Unverdrossen erging er sich in Betrachtungen über das blendende Wetter an diesem Bilderbuchmainachmittag, über Maikäfer, Maibowle und das fachgerechte Aufstellen eines Maibaums, worüber die Unbekannte schließlich ihre Scheu ablegte. Sie blieb. Serendip machte es sich am Ufer gemütlich. Sie setzte, noch immer erbärmlich schluchzend, ihre Wäsche fort. Blutergüsse in allen Farben des Regenbogens kamen unter einer dicken Dreckkruste zum Vorschein. Sie verunzierten ihre schlanken Arme, die wohlgeformten Beine und selbst ihre entzückenden apfelblütenrosigzarten Birnenbrüste. Ihr Rücken, den Serendip vorsichtig waschen durfte, trug frische Striemen, die von einer Peitsche herrühren mochten. Zum Schluss wusch die schöne Unbekannte, mit bitteren Tränen unablässig den Bach speisend, das armselige Lumpenkleidchen und breitete es zum Trocknen über einen Ast. Nun, da der Dreck entfernt war, schätzte er ihr Alter auf keine 20 Lenze. Das Haar reichte ihr bis zu den Schultern. Wie das Büschelchen zwischen ihren Beinen war es von krebsroter Farbe.
Serendip nahm seine Kuscheldecke vom Sattel und hüllte die Saubere darin ein. Nicht, dass sie etwa gefroren hätte, sondern weil er spürte, wie sehr sie sich ihrer Blessuren schämte. Im Schatten einer Erle ruhend hielt er das auch jetzt noch pausenlos weinende sommersprossige Bündelchen Elend in seinen starken Heldenarmen. Dem Erste Hilfe Beutel, den er am Sattel stets mit sich führte, entnahm er ein Spitzenschnupftüchlein, benetzte es mit einigen wohlriechenden Spritzern Lavendelwasser. Damit tupfte er der Weinenden die Tränen von den Wangen. Schließlich fischte er aus dem Beutel „Des Weltenretters Wunderhorn“, ein zerfleddertes Büchlein mit fröhlichen Liedern. Im Laufe der Jahre hatte es sich oft genug als hilfreicher Tröster in allerlei Nöten erwiesen. Er musste es beinahe ganz durchsingen, bevor der Tränenstrom des Häufleins Elend endlich versiegte. Dreimal wrang er unterdessen das patschnasse Schnupftüchlein aus. Als der Kummer, wenn nicht vergessen, so doch wenigstens nicht mehr gar so arg schien, stimmte sie mit wackliger Stimme tapfer in das letzte Liedchen ein:
„Lieb Mägdelein, magst froh sein,
fest steht und treu der Held...“
Ihr Magen übernahm mit vernehmlichem Knurren die dritte Singstimme, was Serendip an seine Nachlässigkeit erinnerte. Er breitete sein Lunchpaket vor ihr aus. Es enthielt vom Gabelfrühstück Käse, Brot und roten Wein, nebst einigen süßen Leckereien. Das ließ man sich nun schmecken.
Hernach fragte Serendip: „Nun, möchtest du mir erzählen, wie du heißt und warum du so schrecklich geweint hast?“
„Ich bin das Aschenpfläumchen. Meine böse Stiefmutter Bosberta und meine fiese Stiefschwester Truglinde quälen mich pausenlos“, entgegnete das Mädchen. „Meine Mutter starb bei meiner Geburt und mein lieber Vater zog mich alleine groß. Drei Jahre ist es nun her, dass er Bosberta zur Frau nahm. Seit er kurz darauf von uns ging, zeigte meine Stiefmutter ihren schäbigen Charakter. Sie lebt in Saus und Braus, verschleudert mit ihrer Tochter, die gerade so alt ist wie ich, für eitle Lustbarkeiten, was mein Vater mit unserem stolzen Gutshof hart erarbeitete. Mich behandeln die beiden schlechter als den Hofhund. Ich hause in einem dunklen Verschlag neben der Küche. Noch vor dem ersten Morgengrauen muss ich aufstehen, plage mich mit schwerer Arbeit durch den Tag und erst, wenn alle anderen längst schlummern, nimmt auch für mich die Mühsal ein Ende. Allabendlich weine ich mich in den Schlaf und wache morgens mit tränennassen Augen auf.“
Schon wollten sich Aschenpfläumchens traurige Augen erneut mit Tränen füllen, doch tapfer fuhr es fort.
„Alles haben Bosberta und Truglinde mir genommen. Die wunderschönen Kleider, die mein Vater mir schenkte, den Schmuck, der mir von meiner Mutter geblieben war, ja sogar mein Bett. In Haus und Hof muss ich vor aller Augen splitternackt gehen. Nur wenn ich wie jetzt das Anwesen verlasse, darf ich mein einziges Kleid tragen. Ich musste es mir aus Lumpen selbst zusammennähen. Von früh bis spät schikanieren mich die beiden. Wie sehr ich mich auch immer mühe, kann ich es ihnen doch nie recht machen. Bei Tisch muss ich sie mit knurrendem Magen in meiner schändlichen Blöße bedienen. Ich ernähre mich von den Krumen, die sie übrig lassen. Satt werde ich nie davon. Heute musste ich dem Klempner zu Willen sein, als Lohn für die Reparatur der Latrine; gestern dem Kesselflicker, vorgestern dem Scherenschleifer. Und am Tag davor der Kaminkehrerin. Vorhin ging mir beim Abwasch die Suppenschüssel zu Bruch, da strafte mich die Stiefmutter mit der Peitsche. Nur hier beim Gänsehüten bin ich ein kleines Weilchen vor all den Gemeinheiten sicher. Doch wehe, ich komme nicht rechtzeitig zurück, dann schlägt sie mich grün und blau. So leide ich tagein, tagaus von früh bis spät und weiß nicht ein noch aus vor lauter Kummer. Längst bin ich im heiratsfähigen Alter, aber kein Mann mag so ein schmutziges, bettelarmes Ding wie mich haben! Ach, könnte ich doch weggehen von hier, noch heute wollte ich es tun! Doch wo soll ich hin, mittellos und ganz allein?“
Die Leidgeprüfte barg ihr liebliches Gesicht in zitternden Händen und weinte abermals bitterlich. Serendip drückte sie an seine Heldenbrust und streichelte ihren Rotschopf. Sie hatten alle seine Vorräte verzehrt. Womit sollte er sie nun trösten? Er holte die Mappe mit Zeitungsausschnitten über seine Heldentaten aus der Satteltasche. Gemeinsam blätterten sie darin, während er von sich erzählte. Und siehe da, seine Worte linderten Aschenpfläumchens Kummer.
„Aufregend und gefährlich ist mein Leben als Weltenretter, Aschenpfläumchen. Im Märchengeschäft tummeln sich Amateure und Profis, musst du wissen. Amateure stolpern unverhofft in ein Märchen. Dort verheiraten sie sich und das Märchen ist aus. Den Rest ihres Lebens verbringen sie auf dem Thron irgendeines Königreiches ohne noch einmal auffällig zu werden. Profis wie ich hingegen machen das alles erst möglich: Wir ziehen von einem Märchen ins nächste, retten Welten jeder Größenordnung und sorgen zuverlässig dafür, dass Liebende am Ende glücklich vereint sind. Dafür werden wir bezahlt. Erfolgsverwöhnt genoss ich lange Jahre sorglos dieses Leben, stets aus dem Vollen schöpfend, in Luxus und schönen Frauen schwelgend. Am Höhepunkt meiner Laufbahn arbeitete ich für die legendäre A. R. Thuss TmbH, eine Tafelrunde mit beschränkter Heldenzahl. Der Name stand für Qualität. Ihr Wahlspruch ‚Für das Unmögliche bezahlen, um das Unglaubliche zu bekommen’ war Programm. Handverlesen aus den Besten der Besten waren die zehn tapferen Helden, die neben dem Chef A. R. Thuss und meiner Wenigkeit das Rückgrat des Unternehmens bildeten. Wie ein jeder in der Runde war ich allein verantwortlich für sämtliche Weltenrettungen in einer der zwölf Himmelsrichtungen. Eine eigene Luxusdienstkutsche hatte ich, ein Dienstzauberschwert mit dem unternehmenseigenen Schwertzauber und eine zauberhafte Sekretärin. Wie es nur den ganz Großen der Weltenretterbranche vergönnt war, arbeiteten wir direkt mit der Feenamtlichen Märchenverwaltung zusammen. Nur Unsereins erwies sie die besondere Gunst, eine persönliche Assistenzfee abzustellen. Eine solche griff ihrem Helden bei Gefahr diskret unter die starken Arme. Für die Tafelrunde hatte die Märchenverwaltung einen eigenen Bereitschaftsdienst eingerichtet. Die zwölf Feen der Feenbereitschaft, jede Woche wechselte die Besetzung, standen uns Tag und Nacht zur Verfügung. Man musste nur drei Mal an seinem Schwert reiben, schon erschien die persönliche Assistenzfee, zu jeder erdenklichen Hilfeleistung bereit. Solch außergewöhnliche Gunst war natürlich nicht umsonst zu haben. Thuss entlohnte die Feen mit den GRAL, den ‚Geheimen Regelmäßigen Absetzbaren Lustbarkeiten’, die er als Bewirtungskosten von der Steuer absetzte. Zu jedem Vollmond lud er in seinen Firmensitz, die GRAL-Burg. Zur Tafelrunde gesellten sich dann jedes Mal Dutzende Feen. Noch heute wird mir warm ums Herz, wenn ich an die ausschweifenden Gelage denke, die sich für gewöhnlich über drei Tage und drei Nächte hinzogen. Nach einer solchen GRAL hatten wir zwölf Helden regelmäßig allesamt blaue Flecken am ganzen Körper, als wären wir von einer Armee von Riesen verprügelt worden. Wir waren von Kopf bis Fuß zerkratzt, als hätten wir uns nackt einen Weg durch die Rosenhecke gebahnt, die das Schloss dieser schläfrigen Prinzessin umgeben soll, von der man sich neuerdings erzählt. Und ein jeder von uns hatte ein Lächeln im Gesicht, als sei er höchsten Glückes teilhaftig geworden. Vielleicht waren wir das damals ja auch. Leider kann ich dir nicht erzählen, was sich während der GRAL abspielte. Die Feen waren natürlich auf ihren guten Ruf bedacht und sorgten dafür, dass kein Außenstehender je von den Orgien erfahren würde. Es wäre ihnen ein Leichtes gewesen, der Tafelrunde mittels eines Zaubers die Erinnerung zu nehmen, doch das brauchten sie gar nicht: Sie stellten Unvorstellbares mit uns an. Was man sich nicht vorstellen kann, kann man auch nicht in Worte fassen. Und worüber man nicht reden kann, muss man bekanntlich schweigen.1 So einfach war das."
Aschenpfläumchen war sprachlos. Ihr Respekt vor Serendip wuchs ins Unermessliche.
„Ich stand auf Du und Du mit der internationalen Hautevolee. Wir Zwölf von der Tafelrunde retteten die Welten der Reichen und Vornehmen und verdienten prächtig daran. Anfangs dachte ich mir nichts dabei, auch einmal auszurücken, nur um einen vergessenen Regenschirm oder einen entlaufenen Pudel zu finden, denn die Entlohnung war mindestens fürstlich. Doch insgeheim machte sich Unzufriedenheit in meinem Heldenherzen breit. Allmählich wurde ich einer Weltenretterei überdrüssig, die sich im Streben nach maximalem Gewinn in Banalitäten verlor. Ich kündigte und zog wieder als Freiberufler auf eigene Rechnung durch die Märchen. Bis gestern Abend.“
Serendip erzählte, wie er sein bisheriges Leben für Prinzessin Eisglut aufgegeben hatte und was ihm seitdem widerfahren war. Gespannt hing Aschenpfläumchen an Serendips Lippen.
„...und so begegnete ich dir, mein Kleines“, endete er schließlich.
Eine Weile schwiegen sie miteinander, bis Aschenpfläumchen zögernd anhob: „Du hast es bestimmt sehr eilig, diese Prinzessin zu erobern...?“
Es wagte nicht, Serendip anzublicken. Zu deutlich musste er die unausgesprochene Bitte vernommen haben. Da erst wurde unserem Helden klar, wie sehr er sich über Aschenpfläumchens trauriges Los aufgeregt hatte. Also ging es ihn etwas an, so sah es Lyllas Gebrauchsanweisung vor!
„Was hältst du davon, Aschenpfläumchen, wenn ich dir helfe, völlig unentgeltlich, versteht sich?“
Überglücklich fiel es ihm um den Hals. Er war in seinem Märchen angekommen!
*
Auf der treuen Erdmuthe ritten sie zum nahen Gutshof, wo Serendip sich einzumieten gedachte. Sie trafen Bosberta und Truglinde bei Tische an. Die Stiefmutter war eine füllige Person mit kleinen hinterhältig blitzenden Augen. Ihre Tochter Truglinde war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Bosberta taxierte ihn unablässig wie ein Viehhändler einen Ochsen auf dem Markt, während sie ihm mit zuckersüß gespielter Unterwürfigkeit für Kost und Logis einen stattlichen Batzen Geldes abhandelte.
Dabei spachtelte sie, ebenso wie ihre wortlos glotzende Tochter, unablässig einen Berg von Torte in sich hinein. Um keinen Verdacht zu erregen, gab sich Serendip als Raubtierdompteur aus. Er suche, erklärte er Bosberta, für seine nächste Zirkusnummer Schwärme wilder Honigbienen, die er im Schwarmkunstflug zu dressieren gedächte. Gegen einen stolzen Aufpreis erhielt er das bestens ortskundige Aschenpfläumchen als seine persönliche Dienerin und Führerin. Serendip bezahlte den Preis gern, wusste er es damit doch dem Zugriff der bösen Stiefmutter entzogen. Von nun an würde es auf seinem Bettvorleger nächtigen.
Vor dem Einschlafen sprach Serendip: „Ich schaffe dein Problem aus der Welt, Aschenpfläumchen. Noch heute Nacht werde ich eine Lösung erschlafen, damit gleich morgen die Weltenretterei beginnen kann.“
Er spürte, wie der Armen im Dunkel der anbrechenden Nacht erneut bange wurde. Mit einer Geschichte aus seinem bewegten Leben suchte er ihr Mut zu machen.
„Sei unbesorgt, Aschenpfläumchen. Bislang habe ich noch jede Welt gerettet. Mit unglücklichen Mädchen wie dir habe ich besonders viel Erfahrung. Höre und staune! Vor langer Zeit, ich stand damals noch ganz am Anfang meiner Laufbahn, herrschten im Königreich Hypokrisien hellste Aufregung und dunkelste Verzweiflung. Prinzessin Hypochondrita war fürchterlich unglücklich und nichts und niemandem war es gegeben, sie aus ihrer Trübsal zu erlösen, nicht einmal dem Hofnarren. Das machte Hypochondritas Eltern ebenfalls unglücklich und schließlich samt und sonders alle Untertanen. Landauf, landab hingen tränennasse Schnupftüchlein an den Wäscheleinen, die nicht recht trocknen wollten. Denn selbst die Sonne versteckte sich vor Kummer hinter dunkelgrauen Regenwolken. Die Vögelchen verstummten, die Blumen weigerten sich zu blühen. Keiner meiner berühmten, hochbezahlten Kollegen vermochte der bedauernswerten Prinzessin zu helfen. Da kam ihrem Vater, König Hypotoni, mein Angebot gerade recht, mich zu Werbezwecken an einer Gratis-Weltenrettung zu versuchen. Ich befragte die unglückliche Prinzessin, doch die heulte nur in einem fort. Das hörte ich mir einen Vormittag, ein Mittagsmahl und einen Mittagsschlaf lang an, dann gab ich ihr eine Backpfeife, dass es nur so klatschte. Ganz Hypokrisien hielt entsetzt den Atem an. Diese Ungeheuerlichkeit hatte vor mir noch niemand gewagt, nicht einmal ihre Eltern. Nichtsdestotrotz hörte Hypochondrita schlagartig auf zu weinen und klagte mir ihr Herzeleid.
„Alle meine Freundinnen beneiden mich. Ich bin die Schönste, die Beste im Tischdeckchenbesticken, im Blumenbinden, in Latein und Mathematik, ja selbst im Schlagballweitwurf. Ich tanze anmutig wie eine Elfe und wenn ich singe, verstummt verschämt die Nachtigall. Ich bin dem schönsten, stärksten, tapfersten, liebevollsten und potentesten aller Prinzen versprochen, der mich jedes Mal in allerhöchstes Verzücken versetzt, wenn wir uns heimlich hinter dem Liebstöckel im Lustgarten vergnügen. Ich sehe einer Zukunft entgegen, wie sie glücklicher nicht sein kann. Und doch bin ich unglücklich! Meine Freundinnen teilen ihre täglichen Probleme und kleinen und großen Unglücke miteinander, doch mich schließen sie aus, kann ich selbst doch nicht das kleinste Kümmerlein beisteuern. Oh, wie beneide ich meine Freundinnen um ihre täglichen Sorgen! Ich bin so unglücklich, weil ich glücklich bin!“
Kaum hatte sie geendet, begann sie wieder hemmungslos zu heulen. Nun, da das Problem bekannt war, schlief ich eine Nacht darüber und am nächsten Morgen wusste ich Abhilfe. Ich bestellte den Königlichen Schmied, den Königlichen Klempner und den Königlichen Steinmetz zu einer Besprechung ein – der verzweifelte König hatte mir alle Vollmachten gegeben. Ich beauftragte den versammelten Sachverstand, nach meinen Vorgaben eine Maschine zu bauen, die nichts anderes tun sollte, als Steine zu erzeugen. Die gedachte ich der Prinzessin in den Weg ihres qualvoll glücklichen Lebens zu legen.
Der erste war nicht größer als die Erbse, die man unlängst einer Kusine Hypochondritas unter die Matratze geschmuggelt hatte. Die Prinzessin bemerkte ihn unter dem Kissen auf ihrem Stuhl, als sie anlässlich der nachmittäglichen Teestunde eben im Begriffe stand, ein Schlückchen Orangenblütentee zu kosten. Ihr Tässchen geriet ins Wanken. Etwas Tee schwappte auf das Untertässchen.
„Upps!“, entfuhr es der Überraschten.
Aufgeregt eilte sie zu ihren Freundinnen, ihnen ihr kleines Malheur zu klagen. Die lauschten voller Mitgefühl und trösteten sie. Da lächelte Hypochondrita zum ersten Mal seit langer Zeit.
Der zweite Stein war bereits beträchtlich größer, etwa von der Größe des Steines, der einst König Sodomaik vom Herzen fiel, als er den goldenen Reichsapfel des Königs Popander wiederfand. Die beiden hatten beim Betriebsausflug der Nördlichen Könige nach ein paar Humpen Wein zu viel mit König Rektalbert Reichskleinodien verstecken gespielt, aber das ist schon wieder ein ganz anderes Märchen. Hypochondrita setzte sich am folgenden Tag auf den besagten Stein, als sie während eines trauten Stelldicheins hinter der Liebstöckelstaude mit dem kleinen Prinzen ihres großen Prinzen spielte. Der Stein war für den zarten Prinzessinnenpopo zu kalt und so musste sie niesen, just in jenem Moment, als der kleine Prinz den Gipfel höchsten Vergnügens erklomm. So schwappte, was er zu spenden hatte, auf das himmelblaue Seidenkleidchen Hypochondritas.
„Hoppla!“, entfuhr es der Erschrockenen. Reichlich außer sich eilte sie zu ihren Freundinnen, ihnen ihr mittelschweres Missgeschick zu klagen. Die lauschten voller Mitgefühl, nahmen sie in ihre Mitte und trösteten sie. Da lachte Hypochondrita zum ersten Mal seit langer Zeit.
Der dritte Stein schließlich war so groß wie ein Zahnstein des Riesen Gingivitus vom stolzen Riesenvolk der Prämolaren. Gänzlich versperrte er den Weg, auf dem die Prinzessin am folgenden Tag zu ihrem Prinzen in den Lustgarten eilte. Sie brauchte eine Weile, um über das Hindernis zu klettern. Verspätet erschien sie hinter der Liebstöckelstaude, nur um Zeugin zu werden, wie ihr Prinz mit den Liebstöckeln zweier Gärtner spielte.
„Sapperlot!“, entfuhr es der Erschütterten. Völlig aufgelöst eilte sie zu ihren Freundinnen, ihnen ihr riesiges Unglück zu klagen. Die lauschten voller Mitgefühl, nahmen sie eine nach der anderen in den Arm, drückten und trösteten sie. Da schwappte Hypochondritas Herz über vor Glück und zum ersten Mal seit langer Zeit jubilierte sie!
„Ich bin so glücklich, weil ich wieder unglücklich sein darf!“, rief sie.
Mit der Prinzessin strahlte auch die Sonne wieder, die Vögelchen zwitscherten fröhlich und die Blumen überboten einander allerorten mit farbenfrohster Blütenpracht. Endlich konnten Hypochondritas Eltern sich wieder freuen. Selbstverständlich waren auch die Untertanen wieder glücklich untertänig. Das Wohl Hypokrisiens war gerettet.“
„Du bist wirklich ein Held, Serendip! Alles wird gut. Das glaube ich jetzt ganz fest.“
Mit diesen Worten kroch Aschenpfläumchen zu Serendip ins Bett und schmiegte sich an ihn. Löffelchen liegend schliefen beide friedlich ein.
Am nächsten Morgen war Serendip das weitere Vorgehen sonnenklar. Aschenpfläumchens Angelegenheit war zweifelsfrei ein Fall für die Ombudsfee für Häusliche Gewalt. Er erklärte dem Mädchen, wie es bei der Ombudsfee eine Eingabe zu machen hatte. Ein formloser schriftlicher Interventionsantrag würde genügen. In ihm beschrieb das Aschenpfläumchen seine missliche Lage ganz so, wie es sie Serendip geschildert hatte. Den Antrag vergruben sie gemeinsam in einem gut verschlossenen und an die Fee adressierten Tonkrug mitternachts unter einer alten Eiche. Nun konnte man nur noch auf die Antwort der Ombudsfee warten. Tagsüber vertrieben sich Serendip und Aschenpfläumchen die Zeit in der märchenhaft schönen Umgebung des Gutshofes, vorgebend, wilde Bienenvölker auszukundschaften. Womit, soll beider Geheimnis bleiben, hat es doch mit dem Fortgang der Geschichte nicht das Geringste zu tun.
*
Das Geschehen erfuhr zu gleicher Zeit an ganz anderer Stelle eine märchenhafte Wendung, als König Verbatimm von Cinderelien beschloss, dass es für seinen leichtfüßigen Sohn Prinz Flaps an der Zeit sei zu heiraten. Die schamlosen Umtriebe seines Sprösslings waren ihm ein Dorn im Auge. Flaps schwänzte ständig den Unterricht bei seinem Königlichen Hauslehrer, feierte unverfroren ein Gelage nach dem anderen, verlustierte sich ungeniert mit den Schlampen des Reiches und dachte nicht im Traum daran, den schweren Bürden eines künftigen Königs auch nur annähernd gerecht werden zu wollen. Also ließ Verbatimm im ganzen Reich die Heiratspläne seines Sohnes verkünden. Um ihm Gelegenheit zu geben, die Bräute in spe gründlich in Augenschein zu nehmen, entschied König Verbatimm, in seinem Schloss an drei aufeinander folgenden Samstagen jeweils einen Ball zu veranstalten. Höchstselbst wollte er allen beiwohnen, über die Umtriebe seines Sohnes zu wachen und insgeheim selbst eine jede Bewerberin auf Herz und Nieren zu prüfen. Schließlich sollte die künftige Schwiegertochter nicht nur ausnehmend hübsch, sondern selbstverständlich auch klug, in den weiblichen Fertigkeiten tüchtig und vor allem charakterlich so gefestigt sein, dass sie einen Wildfang wie Flaps dauerhaft zu zähmen vermochte. Aschenpfläumchens Stiefmutter und Stiefschwester waren außer sich vor Aufregung, als der Königliche Herold zu den Brautfindungsbällen einlud.
„Königin! Königin von Cinderelien! Ach! Immer schon habe ich Königin werden wollen. Und wozu habe ich es gebracht?! Schnöde Gutsbesitzerin bin ich“, ereiferte sich Bosberta. „Aber du, Truglinde, wirst dir diesen Prinzen schnappen. Du wirst zu diesen Bällen gehen. Für mich sollst du Königin werden!“
Aschenpfläumchen hingegen wurde herb enttäuscht. Bosberta verbot ihr, was niemanden verwundern wird, an den Bällen teilzunehmen. Wie sehr verzehrte sich das Mädchen nach einem Prinzen, der sie aus ihrem Elend befreite!
Auf dem ersten Ball langweilte sich Flaps, ein quirliger, hoch aufgeschossener Jüngling mit rotem Lockenschopf und mehr Flausen im Kopf als Sommersprossen im Gesicht, schrecklich. Mit einer jungen Dame um der anderen nach der strengen höfischen Etikette zu tanzen und Konversation zu betreiben, war wenig befriedigend. Obendrein erwies es sich als anstrengend. Sein Vater hatte einen Katalog von 99 Fragen ersonnen, die einer jeden Bewerberin während des Tanzens zu stellen er seinen Sohn nötigte. Prinz Flaps hatte die Fragen mühselig auswendig lernen müssen. Der Königliche Schreiber, den ihm sein Vater an die Seite gestellt hatte, tanzte nun ständig mit Tintenfass, Feder und Fragebogen neben ihm her. Er schrieb die Antworten der Möchtegernbräute gewissenhaft und vollständig nieder und soufflierte Flaps, wenn der Prinz sich im Reigen der Fragen verhedderte. Der König würde die Antworten höchstpersönlich anhand eines Zahlenschlüssels auswerten. Nach dem ersten Ball war Prinz Flaps herzlich wenig von der Aussicht angetan, mit einer derartigen Schinderei zwei weitere endlos lange Ballnächte zuzubringen. Verzweifelt sann er darüber nach, wie er den Bällen ein bisschen mehr Spaß abgewinnen konnte. Da kam ihm ein für ihn glücklicher, für den Fortbestand der Welt allerdings bedrohlicher Umstand zu Hilfe.
Die privaten philosophischen Forschungen seines Vaters forderten unvermittelt dessen ganze königliche Aufmerksamkeit. Man muss wissen, dass der König täglich nach Feierabend in seine ausgelatschten purpurnen Filzpantoffeln und sodann in seine philosophische Werkstatt in den Tiefen der Schlossgewölbe zu schlüpfen pflegte, sich dort höchstselbst grundlegenden Fragen der Philosophie zu widmen. Als Mitglied der Internationalen Philosophischen Gesellschaft korrespondierte der König regelmäßig mit den Kapazitäten dieser höchsten aller hehren Wissenschaften. Vor Jahren hatte er mit einer umfänglichen Streitschrift im seit Langem schwelenden Universalienstreit die Position der Realisten gestärkt.
„Rechtfertigt es die Ähnlichkeit von Dingen, beispielsweise einer Gruppe von Thronen, anzunehmen, in ihnen existiere etwas Allgemeines, das für die Ähnlichkeit verantwortlich sei? Oder anders gefragt: Wie gewinnen wir aus individuellen Dingen allgemeine Begriffe, das heißt Ideen oder Universalien?“
So fragte König Verbatimm in seiner Streitschrift, um sogleich die Antwort nachzuliefern:
„Die Frage nach dem Wesen dieses Allgemeinen, das man im Falle des Thrones als Eigenschaft des ‚Thron-Seins‘ oder der ‚Thronheit‘ bezeichnen könnte, ist vom begriffsrealistischen Standpunkt aus ganz klar wie folgt zu beantworten. Die Universalien, also die Allgemeinbegriffe, Vorstellungen oder Ideen, die wir von den Dingen haben, existieren unabhängig von und ontologisch vor den Dingen real. Nichts ist realer als die Idee von einem Thron. Denn wir alle erkennen einen Thron als solchen, sobald wir ihn sehen, obwohl ein jeder Thron anders aussieht als alle anderen. Diese Eigenschaft des Thron-Seins muss also vor den Dingen selbst wirklich existieren. Nur so können wir einen jeden Thron immer und überall gleichermaßen erfolgreich erkennen. Es gibt diese Eigenschaft genauso wie es Liebe und Hass und all die anderen Gefühle gibt. Ein jeder kennt sie, ein jeder erlebt sie tagtäglich an sich selbst und an seinen Mitmenschen. Doch niemals sieht man die Gefühle selbst, nur die Handlungen und Reaktionen der Menschen, die sie ausdrücken. Und doch würde niemand behaupten, es gebe keine Gefühle, keine Liebe, keinen Hass. So verhält es sich mit allen Allgemeinbegriffen, die wir in unserem Verstand vorfinden. Sie sind in unserem Verstand, weil es sie gibt. Und nur deshalb können wir sie begreifen. Daraus folgt messerscharf, glasklar und unwiderlegbar, dass alles, was in unserem Verstand ist, existiert. Wenn ich also die Idee eines blauen Einhorns in meinem Verstand habe, so gibt es dieses auch. Dass ich vielleicht noch nie eines gesehen habe, ist kein Gegenargument. Schließlich habe ich auch meinen Hunger noch nie gesehen.“
Damals hatte König Verbatimm unter der Leitung seines Ratgebers Fucktotum eine Expedition losgeschickt, den Beweis für seine Thesen zu erbringen. Fucktotum war übrigens auch Oberster Standesbeamter. Als solcher hatte er nur eine Aufgabe: anstelle Verbatimms das königliche Recht auf die erste Nacht mit einer jeden frisch Vermählten des Reiches wahrzunehmen. Der König hatte ihn in dieses Amt berufen, um mehr Zeit für seine philosophischen Studien zu haben. Ein Jahr war ins Land gegangen, da brachte besagte Expedition dem König tatsächlich ein blaues Einhorn, das man einem Zirkus im fernen Königreich Zirrzensien abkaufen zu können das außerordentliche Glück gehabt hatte. Von dem empirischen Erfolg beflügelt war Verbatimm dem Gedanken verfallen, die Inhalte seines königlichen Verstandes systematisch zu erforschen, um so Kenntnis von weiteren aufregenden Allgemeinbegriffen oder Ideen oder Universalien zu erlangen, die ihrer Entdeckung in der äußeren Welt harren mochten. Fand er einen neuen Allgemeinbegriff in seinem Verstand, sandte er sogleich Fucktotum aus, dessen dingliche Entsprechung ausfindig zu machen. Das war für den Königlichen Ratgeber nicht immer leicht, hatte der König doch oft genug selbst keinerlei Vorstellung davon, was sich hinter einem Begriff verbergen mochte, auf den er bei der Begehung seines philosophischen Verstandes gestoßen war. Nichtsdestotrotz förderten Fucktotums Expeditionen eine Fülle gehörig unvergleichlicher Dinge zutage, die dem königlichen Verstand entsprungen waren: den Fahnenstangensellerie; den Fiehsen Dreist und den Dreisten Fiehs; die Katarrhsis, die Reinigung des Gemüts durch Schnupfen; den Kuschelwuschelpuschel; das Nichts und das Gewisse Etwas; die Parallelallee; das Rglbrmpft, welches noch heute, doppelt gewürzt und rückwärts vorgeknetet, insbesondere verheiratete junge Damen zur Freude aller Beteiligten abends unter dem Nachthemd ins eheliche Schlafgemach schmuggeln; den Ritterbitter, einen gern getrunkenen Kräuterschnaps; den Rüstungswettlauf, eine bei Hofe seitdem sehr beliebte ritterliche Sportart; den Spucht; den Stolpersteinbruch; das Gemeine Undsoweiterundsofort; ja sogar den Unsamen Bold – um nur einige wenige aus der Unmenge herausragender Exponate zu erwähnen, die das Königliche Kuriositätenkabinett bald aus allen Nähten platzen ließ. Verlief eine Expedition ergebnislos, hatte der König eine ebenso einfache wie einleuchtende Erklärung parat: War etwas nicht zu finden, bedeutete dies, dass es bislang nur in dem wirklich wahren Verstand des Königs existierte, in der Außenwelt indes rein zufällig noch keine Entsprechung hatte.
Eines Tages sprang Verbatimm, er regierte gerade, urplötzlich vom