Bankraub für Befreiungsbewegungen - Gabriel Kuhn - E-Book

Bankraub für Befreiungsbewegungen E-Book

Gabriel Kuhn

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Beschreibung

Als im April 1989 vier Männer als Verdächtige für den bis dahin erfolgreichsten Bankraub in der Geschichte Dänemarks verhaftet wurden, glaubte niemand, dass diese bald für eine zwanzigjährige kriminelle Laufbahn vor Gericht stehen würden – nicht zuletzt deshalb, weil sie nicht von den erbeuteten Millionenbeträgen profitiert zu haben schienen. Stattdessen hatten sie das gesamte Geld an Befreiungsbewegungen im Trikont weitergeleitet. Das Verfahren gegen die sogenannte Blekingegade-Gruppe – benannt nach der Kopenhagener Straße, in der ihre konspirative Wohnung aufflog – wurde zum aufsehenerregendsten Rechtsfall in der Geschichte Dänemarks und löste zahlreiche Diskussionen zu linker Politik, internationaler Solidarität, Moral, Gewalt, Justiz, Polizei und Geheimdienstwesen aus. "Bankraub für Befreiungsbewegungen" ist das erste Buch, in dem Mitglieder der Gruppe mehr als zwei Jahrzehnte nach ihrer Verhaftung ihre Aktivitäten reflektieren. Beleuchtet werden die marxistischen Gruppen, in denen sie organisiert waren (Kommunistisk Arbejdskreds, KAK, und Manifest – Kommunistisk Arbejdsgruppe, M-KA), der Antiimperialismus der 1970er und ‘80er Jahre, die Verbindungen zu Befreiungsbewegungen (insbesondere zur palästinensischen PFLP), die Theorie des ungleichen Tausches, die illegale politische Praxis sowie Verhaftung, Gerichtsverfahren und Gefängniszeit. In einem aktuellen Interview mit Torkil Lauesen und Jan Weimann, die zu den Kernmitgliedern der Gruppe zählten, wird zudem auf die heutigen Möglichkeiten sozialistischer Politik eingegangen. »Die Ausführungen zur ›Schmarotzerstaatentheorie‹ und die Frage nach dem revolutionären Potential der Arbeiterklasse in unterschiedlichen Teilen der Welt sind ebenfalls Themen, die zu diskutieren in syndikalistischen, sozialistischen und anarchistischen Kreisen auch heute noch spannend ist. Zudem hat die Geschichte fernab davon das Zeug zum Krimi-Bestseller und ist dementsprechend spannend zu lesen.« – Sebastian Kalicha, Direkte Aktion 221, Januar/Februar 2014 »Wer sich mit der Geschichte der radikalen Linken und ihrer ›illegalen Ableger‹ beschäftigen will, kommt um dieses Buch nicht herum.« – Jens Zimmermann, kritisch-lesen.de, 06.01.2015 »Das Buch zeigt in der Geschichte der Blekingegade-Gruppe ein Bild über antiimperialistische Solidarität, wie sie in den meisten anderen Zusammen- hängen ungewöhnlich war. Und es ist ein Versuch, sich die linke Bewe- gungsgeschichte nicht vom herrschenden Diskurs enteignen zu lassen.« – Robert Foltin, grundrisse nr. 49, Frühjahr 2014

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Seitenzahl: 363

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Gabriel Kuhn, geb. 1972 in Innsbruck, ist seit den späten 1980er Jahren in linken Zusammenhängen aktiv und lebt als Autor und Übersetzer in Stockholm. Zu seinen Publikationen zählen Jenseits von Staat und Individuum. Individualität und autonome Politik (2007) und »Neuer Anarchismus« in den USA. Seattle und die Folgen (Hg., 2008).

Gabriel Kuhn (Hg.)

Bankraub für Befreiungsbewegungen

Die Geschichte der Blekingegade-Gruppe

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Gabriel Kuhn (Hg.):

Bankraub für Befreiungsbewegungen

1. Auflage, Oktober 2013

eBook UNRAST Verlag, September 2023

ISBN 978-3-95405-165-6

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: kv, Berlin

Fotos S. 15, 16, 81: Rebecka Söderberg. Skizze S. 27: Herausgeber. Die restlichen Abbildungen mit freundlicher Genehmigung von Poul Mikael Allarp, Torkil Lauesen und Jan Weimann.

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

Handwerker der WeltrevolutionVorwort von Klaus Viehmann

»Antiimperialismus Undercover« – die Blekingegade-Gruppevon Gabriel Kuhn

Die Verhaftungen (1989)

Die Anfänge: KAK (1963-1978)

M-KA (1978-1989)

Gefängnis (1989-1995)

Nachspiel

Zu diesem Buch

Es geht immer um Politikvon Niels Jørgensen, Torkil Lauesen und Jan Weimann

Einleitung

Unsere Theorie, unsere Praxis und unsere Verbündeten

Die kriminellen Aktivitäten und das Gerichtsverfahren

Moral und Politik

Schluss

»Solidarität ist etwas, das du in der Hand halten kannst«Interview mit Torkil Lauesen und Jan Weimann

KAK und die Schmarotzerstaatentheorie

Das chinesisch-sowjetische Zerwürfnis und die antiimperialistische Perspektive

Die PFLP

Angebliche Verbindungen zur RAF

Das Liberation Support Movement, die Black Panther und der Weather Underground

Antiimperialistische Praxis und M-KA

Die Z-Kartei

Gefängnis

Die Schmarotzerstaatentheorie im Rückblick

Revolutionäre Perspektiven damals und heute

Dokumente

Sozialismus und bürgerliche LebensweiseGotfred Appel

Wofür steht KAK? Kommunistisk Arbejdskreds (KAK)

Manifest – Kommunistisk Arbejdsgruppe: eine kurze EinführungManifest – Kommunistisk Arbejdsgruppe (M-KA)

Was können Kommunisten in den imperialistischen Ländern tun? Manifest – Kommunistisk Arbejdsgruppe (M-KA)

Kritik der Analyse und Strategie der RAFKommunistisk Arbejdskreds (KAK)

Auf Illusionen lässt sich nichts aufbauenKommunistisk Arbejdskreds (KAK)

Anhang

Glossar politischer Organisationen

Zeittafel

Zu Haftstrafen verurteilte Mitglieder der sogenannten Blekingegade-Gruppe

Wechselkurse

Literatur

Anmerkungen

Handwerker der Weltrevolution

Vorwort von Klaus Viehmann

Die Essenz der Blekingegade-Gruppe[1] ist internationale Solidarität. Eine Solidarität, »die man in die Hand nehmen kann«. Gemeint ist: Geld. Viel Geld. Bei Überfällen erbeutet im metropolitanen Norden für den trikontinentalen Süden. Und das über Jahre. Respekt.

Auf die Idee, sich Geld bei den Reichen zu holen, sind schon viele gekommen. Auch Revolutionäre. Angesichts der Bankenpaläste und des hiesigen Reichtums darüber nachzudenken, wieso Kapitalismusanalysen Regalkilometer füllen, das große Geld aber immer noch nach oben fließt, ist ja nicht so abwegig. Und vielleicht wäre eine Geldbeschaffungsaktion sogar weniger entwürdigend als diese Antragsstellerei bei irgendwelchen Stiftungen? Wäre es nicht auch ein glücklicher Moment, das Projekt X in Lateinamerika oder die Gruppe Y in Südostasien ein wenig vom ewigen Ressourcenmangel zu befreien? Gab es nicht diesen Katalanen, der für eine halbe Million Kredite aufgenommen, das Geld aber an die Bewegung verschenkt hat, oder diesen alten Anarchisten, der mit perfekten Scheckfälschungen Millionen für die Bewegung abzweigte?

Auf dem Beipackzettel von Expropriation forte stehen aber als mögliche Nebenwirkungen Repression und Knast. Nachhaltige Umverteilung erfordert also solides Handwerk, wenn es wirklich goldenen Boden haben soll. Wer sich darauf einlässt, sollte sich über einige Fragen im Klaren sein: Was willst du vom Leben? Selbstverwirklichung? Dein Glück? Das Glück anderer? Wie weit dürfen diese anderen weg sein? Solidarität bis zur Familiengrenze? Freundeskreisgrenze? Oder Landes- oder Kontinentgrenze? Sind revolutionäre, widerständige Bestrebungen deine Lebensperspektive oder eine nur temporäre Arbeitsgruppe? Willst du alt werden mit so einer Praxis? Denn unumgänglich unbequem sind die Rahmenbedingungen jeder illegalen Praxis: Organisationsdisziplin statt individueller Selbstverwirklichung, Kontinuität statt Spontaneität, eine womöglich spießige Fassade statt Subkultur, solide Überzeugungen statt aufgetürmter Diskursformationen, Verschwiegenheit statt Offenheit, Selbstlosigkeit statt Identitätspolitik…

Die individuelle Motivation – vielleicht auch Voraussetzung – für das Geldbeschaffungs-Handwerk ist die Hoffnung, effektiv zu einer neuen Welt beizutragen, den Herrschenden effektiv zu schaden, und das Begehren, die kapitalistische Entfremdung zu durchbrechen: sinnvoll leben statt gelebt zu werden. Das mag arg existenzialistisch klingen, aber das gesellschaftliche Sein und das politische Bewusstsein, das Denken und Handeln sind in der menschlichen Geschichte noch nie Einbahnstraßen gewesen. Die dialektische Verbindung von sinnlicher praktischer Erfahrung und analytischer Reflexion zu trennen, ist ein Irrweg, der zu akademischer Tatenlosigkeit führt oder bei kurzlebigem Aktionismus landet. Beide taugen nicht für die Organisation von Solidarität. Bei Tatenlosigkeit kommt nichts heraus, was sich »in die Hand nehmen lässt«, und spontaner Enthusiasmus ist zwar wunderschön, aber der Kampf um Befreiung ist lang und kann nicht in jeder Phase Begeisterungsstürme auslösen. Die Geschichte vieler Bewegungen lässt ja auch vermuten, dass jede politische Generation nur einmal im Leben die Kraft zur Rebellion hat – immerhin hält diese Kraft bei manchen Menschen viele Jahre; vermutlich, weil sie sozial organisiert und kollektiv reflektiert länger verfügbar ist.

(Internationale) Solidarität sollte, abstrakt gesehen, ein Verhältnis zwischen politischen Subjekten, Menschen und Organisationen sein, sie sucht keine karitativen Objekte der eigenen Projektionen und Revolutionswünsche. In einem solidarischen Verhältnis erstarrt niemand vor Ehrfurcht vor irgendwelchen ›Leadern‹ und niemand gibt das eigene Urteilsvermögen bei ihnen ab. Stattdessen Diskussionen, Streit auf Augenhöhe, Geben aus Notwendigkeit und Überzeugung, ohne Geschäft, Basiskontakte ohne Formalitäten. Diese Art Solidarität muss sich nicht alle paar Jahre enttäuscht ein neues Land suchen, ›in dem es gerade abgeht‹ oder neue ›Helden‹, sobald die alten verloren oder sich als korrupt entpuppt haben.

* * *

Die Blekingegade-Gruppe war ein Kind der späten 1960er Jahre. Marxisten-Leninisten, wenn auch sehr spezielle. Die Beharrlichkeit, mit der sie fast 20 Jahre lang ›Nationale Befreiungsbewegungen‹ und Flüchtlingslager unterstützt hat, unterschied ihre Praxis von der Sorte Solidarität, die irrlichternd über den Globus flackerte: Vietnam, Palästina, Südafrika, Zimbabwe, Chile, Portugal, Spanien, Nicaragua… Und ihre AkteurInnen waren offensichtlich konsequenter als die oft nach wenigen Jahren in der grünen Mittelschicht verschwundenen Arbeiterklassendarsteller der 1970er.

Keine andere ›ML-Gruppe‹ hat, soweit bekannt, so lange eine klandestine Struktur für illegale Aktionen gepflegt und solche Geldbeschaffungsaktionen durchgeführt. Und keine andere hat diese »Schmarotzerstaatentheorie« vertreten, die im Kern eine Kombination zweier Thesen war: Erstens die (›maoistische‹) These aus Che Guevaras Rede an die Trikontinentale Konferenz, dass die »Dritte Welt« der Motor der Weltrevolution sei und dass »die Dörfer die Städte einkreisen« sollen – eine im Gefolge der Entkolonialisierung und der Niederlage der USA im Vietnamkrieg durchaus verbreitete Ansicht. Zweitens die These, dass die Arbeiterklasse in den Metropolen von der imperialistischen Bourgeoisie mit Teilen der Extraprofite, die durch die Ausbeutung der menschlichen und natürlichen Ressourcen des Trikont entstanden, »bestochen« und befriedet werde. Diese »Arbeiteraristokratie« (Lenin) hatte sich schließlich schon im Ersten Weltkrieg lange auf die Seite ›ihrer‹ Nationen gestellt und würde dies auch im globalen Kontext tun: sozialpartnerschaftlicher ›Burgfrieden‹ statt Solidarität mit ihren Klassengenossen im Trikont.

Die Blekingegade-Gruppe hat aus diesen beiden Thesen eine Strategie entwickelt: Den Versuch, als revolutionäre Minorität die ›Massen‹ in den Metropolen zu mobilisieren, sah sie als aussichtslos an, ehe nicht die Extraprofite aus dem Trikont versiegen. Damit die ausbleiben, mussten die (revolutionären) Befreiungsbewegungen im Trikont siegen, sprich: gestärkt werden. Deshalb suchten Gruppenmitglieder Anfang der 1970er Jahre nach solchen Bewegungen im südlichen Afrika und dem Nahen Osten und brachten jahrelang Geld und Material dorthin. (Dass ihr wohl wichtigster Partner die palästinensische PFLP wurde, dürfte auch an deren damaliger personeller Präsenz in Westeuropa und ihrer offensiv sozialistisch-internationalistischen Ausrichtung gelegen haben.)

Die Blekingegade-Gruppe hat die politisch-ökonomischen Voraussetzungen für ihre antiimperialistischen Geldsendungen immer wieder hinterfragt und nicht gerade ML-typische Ansätze wie die des »ungleichen Tauschs« zwischen Metropole und Trikont und die Forderung nach einer »Abkopplung« entkolonialisierter Länder vom Weltmarkt aufgenommen. Andere, aus heutiger Sicht nahe liegende, revolutionäre Bestrebungen scheint sie erstaunlicherweise nicht diskutiert zu haben. So sei eine Erkenntnis ihrer Betriebsarbeit 1974 in Frankfurt am Main gewesen, dass die Arbeiter sich nicht für linke Flugblätter interessiert hätten, auch deshalb hätte sie lieber Befreiungsbewegungen im Trikont unterstützt. Gut. Aber: Wäre sie mit Flugblättern statt Geld in Beirut oder Südafrika aufgelaufen – hätte sich da jemand für sie interessiert? Andersherum: Wie wäre sie als solidarischer ›Geldgeber‹ von zum Beispiel migrantischen Arbeitergruppen aufgenommen worden, die seinerzeit gegen deutsche Facharbeiter und Unternehmer kämpften?

Zur »Schmarotzerstaatentheorie« lässt sich heute sagen: Eine Determinante – das ökonomische Interesse – kann nicht die ganze Erklärung der relativen metropolitanen Ruhe liefern. Wird die (männliche) Arbeiterklasse nicht auch durch die patriarchale Ausbeutung der Frauen »bestochen«? ›Weiße‹ ArbeiterInnen nicht auch durch die rassistische Ausbeutung migrantischer Arbeit? Sind Herrschaftstechniken wie die »kulturelle Hegemonie« (Gramsci) nicht vielfältiger als nur ökonomisch determiniert? Ist die psychische Lage, die Entfremdung, nicht ein Teil der materiellen Situation der Arbeiterklasse? Können Menschen trotz aller Verblendungszusammenhänge und Ängste ihre ›objektiven Interessen‹ überhaupt so einfach benennen? Und würden sie Frieden, Gesundheit, Glück wirklich für einen Zweitwagen aufgeben? Um es noch komplizierter zu machen: Die meisten Fragen ließen sich auch auf Verhältnisse im Trikont übertragen. Die alte Dichotomie ›Metropole – Dritte Welt‹ war immer nur ein Teil der Wahrheit.

Die sozialistische Weltrevolution, von deren Notwendigkeit die Blekingegade-Gruppe überzeugt war und – eher im Stillen – Linke auch immer noch sind, ist nur ein gedachter idealer Schnittpunkt, kein konkreter Wegweiser. Aus einem fast schon messianischen Projekt tagesaktuelle Bestimmungen der eigenen – womöglich illegalen – Politik ableiten zu wollen, ist völlig aussichtslos. Auch wenn allgemeine Bedingungen des Weltmarktes viele Faktoren determinieren, denen wir im Alltag begegnen, lassen sich konkrete Entscheidungen für Aktionen nicht aus abstrakten Gesetzmäßigkeiten ableiten, ohne die widersprüchlichen Bedingungen und vielfältigen Wünsche der Menschen an ihren jeweiligen Orten zu kennen und zu berücksichtigen. Niemand kann diesem komplexen globalen Geflecht von Imperialismus/Kolonialismus, Nationalismus, Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus entkommen und in diesem Geflecht gibt es auch keine statischen einfachen Wahrheiten oder den einen Hauptwiderspruch.

* * *

Kapitalismus und Weltmarkt haben sich seit den 1980ern massiv entwickelt, der Klassenkampf von oben, um ihn nicht gleich Refeudalisierung zu nennen, und der Backlash gegen alles Rebellische, was Google oder Apple nicht vermarkten können, ist eindeutig am Drücker. Die metropolitanen Arbeiterklassen halten still oder werden da, wo sie seit dem Ende der UdSSR nicht mehr so fordistisch »bestochen« werden, hegemonial und repressiv im Zaum gehalten. An ihren prekären Rändern knistert es, aber es brennt nicht. Extraprofite strömen aus alten und neuen Quellen, die militärischen Kapazitäten werden immer asymmetrischer und in den »Dörfern« sind Widersprüche aufgebrochen. Manche »Dörfer« wie China wurden zu »Städten« und manche »Städte« in der europäischen Peripherie drohen in der Krise zu »Dörfern« zu werden. ›Nationale Befreiungsbewegungen‹ wie die nicaraguanische FSLN, die PFLP oder der südafrikanische ANC haben ihren emanzipatorischen Gehalt unter dem Druck der Kräfteverhältnisse und durch eigene Fehler verloren. Da sind noch Cuba und Guerillagruppen wie die kolumbianischen FARC und ELN – nicht ohne Makel und nicht auf der Siegerstraße, aber sie sind da. Und überhaupt noch zu existieren, ist ein Erfolg angesichts all derer, die in den letzten 30, 40 Jahren vernichtet oder kooptiert wurden. Es gibt antidiktatorische Pyrrhussiege wie das Ende der Apartheid und den ›arabischen Frühling‹, es gibt emanzipatorische Entwicklungen in Ländern wie Venezuela oder Bolivien, es gibt neue Streikbewegungen und Organisierungsprozesse in Indien, China oder Bangladesch. Die Zusammenarbeit/Auseinandersetzung mit transnationalen MigrantInnen und Flüchtlingen ist zum Alltag antirassistischer Gruppen geworden. Besuche im lakandonischen Urwald sind heute viel einfacher als die Reise in ein Flüchtlingscamp anno 1970 und die heutigen internationalen Treffen zwischen sozialen Bewegungen wirken viel hierarchieflacher als die früheren »Kaderkontakte zu ausländischen Genossen«. Es gibt mit den Blockupy-Aktionstagen und den Mobilisierungen gegen G8-Treffen von Seattle über Genua bis Heiligendamm transnationale Kampagnen, wie sie 30 Jahre zuvor nicht möglich gewesen wären.

So weit, so gut? Aber sind die eingangs gestellten alten Fragen nach den individuellen Konsequenzen und Entscheidungen oder den Grenzen der Solidarität heute beantwortet? Geht es noch darum, »alle [globalen] Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«? Leben oder gelebt werden? Ist die revolutionäre Umwälzung in den Metropolen keine Voraussetzung mehr für globale Gerechtigkeit? Wie könnte eine der heutigen globalen Situation entsprechende revolutionäre Strategie aussehen? Hat sich die (Welt-)Revolution erledigt? Oder sind diese Fragen angesichts der schwierigen Kräfteverhältnisse und möglicher repressiver Konsequenzen mittlerweile so oft verschämt von der linken Agenda gestrichen worden, bis ihre Berechtigung verdrängt war? Verdrängung ersetzt aber keine politische Diskussion, zumal die metropolitane Linke mit diesen Fragen ohnehin konfrontiert bleiben wird, da sie in anderen Ländern und historischen Situationen unvermeidlich präsent sind.

* * *

Die Blekingegade-Gruppe war keine Stadtguerilla, ihr revolutionäres Subjekt war im Trikont verortet, nicht im Viertel oder der Fabrik. Sie unternahm keine Angriffe auf den Staat, gab nie Kommuniques heraus und tarnte ihre Überfälle als kriminelle Aktionen. Sie musste ihre Aktionen nicht gegenüber der Linken oder der Öffentlichkeit vertreten. Sie suchte und brauchte keine breitere Basis. Für sie war Öffentlichkeit eine Gefahr, kein propagandistischer Zweck ihrer Praxis. Sie ging nie in die völlige Illegalität und hatte lange keine Gefangenen im Knast. All das unterschied sie sehr von den zur selben Zeit aktiven Stadtguerillagruppen in der BRD oder Italien. Berührungen mit RAF, Bewegung 2. Juni oder Brigate Rosse vermied sie, um nicht in den Fokus ›antiterroristischer‹ Repression zu geraten. Nur, dass ihre AktivistInnen legal und halbwegs solide lebten, um alle ein, zwei Jahre eine Aktion zu machen, ähnelt der organisatorischen Aufstellung der Revolutionären Zellen; ob dieses Modell auch bei der Blekingegade-Gruppe im Lauf der Zeit zu einem schleichenden Ende der Aktivitäten geführt hätte, bleibt offen; ebenso, ob die Blekingegade-Gruppe aufgrund des Rechtsrucks in Dänemark und der Beteiligung dänischer Truppen am Irak- und Afghanistankrieg in den 1990er Jahren anders agiert hätte.

Im Buch wird die Wollweber-Organisation erwähnt, eine antifaschistische Sabotage-Truppe, die fernab der offiziellen KP-Politik Waffen für die Republikaner nach Spanien schmuggelte und in dänischen Werften Schiffe sprengte, die noch von der Spanischen Republik geordert worden waren, die aber Franco erhalten hätte. Der logistische Hintergrund der Wollweber-Organisation (der sowjetische Militärgeheimdienst) ist wahrlich obsolet, aber ihre Erwähnung als Beispiel für eine militante Minorität, die internationalistisch-antifaschistische Sabotage betrieb, lässt eine gewisse historische (Selbst-)Einordnung der Blekingegade-Gruppe erkennen.

Aus der Erfahrung des Faschismus muss ja auch geschlossen werden, dass zumindest Teile der ›Massen‹ für konterrevolutionäre, imperialistische, antisemitische und rassistische Ziele zu gewinnen sind. Zudem wäre ein imperialistischer Krieg im Trikont zur Sicherung der Extraprofite oder wichtiger Rohstoffe womöglich populär. Keine Linke kann auf den Versuch verzichten, eine gewisse Schlagkraft für solche Situationen aufzubauen. Im alten Jargon gesprochen: die strategische Defensive organisieren – denn die (revolutionäre) Linke wird in den Metropolen auf unabsehbare Zeit eine gesellschaftliche Minorität bleiben. Die Blekingegade-Gruppe hat sozusagen versucht, aus dieser Not eine Tugend zu machen. Die Probleme, die mit jeder Sabotage der metropolitanen Maschinerie aus einer Minorität heraus einher gehen, sind aber gravierend: Kann es wirklich um (Gegen-)Macht gehen? Gar um Hegemonie? Worum dann? Wie hoch ist der Preis? Wer gewinnt heute, morgen, in einem Jahr? Wer organisiert wen? Wie wird eine gesellschaftliche Teilung in Kader/Avantgarde und ›Andere‹ vermieden? Wie eine immerwährende gesellschaftliche Isolation?

Die logistischen Aspekte der eigenen Fähigkeiten lassen sich von der politischen Unterstützung durch eine gesellschaftliche Basis nicht trennen. Auch die Erfahrung der Blekingegade-Gruppe lehrt in dieser Hinsicht große Vorsicht: Wenn die Repression aufgrund praktischer Fehler oder einer geänderten Staatsräson in kleine Strukturen einbricht, wird aus einer Unachtsamkeits-Mücke der politische Elefant: der Verlust der Handlungsfähigkeit.

Wie auch immer: Wer es wissen möchte, weiß, dass ein Ende der globalen Ausbeutung ohne eine Schwächung der imperialistischen Metropolen und ›Sabotage‹ ihrer ökonomischen, finanziellen, militärischen Ressourcen nicht einmal ansatzweise aufscheinen wird. Aus dem Dilemma globaler Notwendigkeiten und begrenzter Möglichkeiten kommt niemand so bald heraus.

Klaus Viehmann, August 2013

»Antiimperialismus Undercover« – die Blekingegade-Gruppe

von Gabriel Kuhn

Ein Glossar politischer Organisationen, eine Zeittafel, eine Liste der verurteilten Mitglieder der Blekingegade-Gruppe, Wechselkurse und Literaturhinweise finden sich im Anhang des Buches.

Die Verhaftungen (1989)

Am 13. April 1989 werden vier Männer und eine Frau im Großraum Kopenhagen als Verdächtige in einem Raubüberfall verhaftet, der sechs Monate zuvor ganz Dänemark in Atem gehalten hat. In den frühen Morgenstunden des 3. November 1988 flüchteten fünf Männer mit mehr als 13 Millionen Kronen vom Postamt in der Købmagergade im Zentrum Kopenhagens, nachdem sie dort im Hof einen Geldtransporter ausgeraubt hatten. Noch nie zuvor war es bei einem Raubüberfall in Dänemark zu einer so hohen Beute gekommen. Doch der Überfall erregte auch deshalb besonderes Aufsehen, weil er ein Menschenleben gefordert hatte. Als zwei Streifenwagen am Tatort auftauchten, feuerten die Räuber einen Schuss aus einer abgesägten Schrotflinte ab. Eine der Schrotkugeln traf den 22-jährigen Polizeibeamten Jesper Egtved Hansen im Auge. Er verstarb wenig später im Krankenhaus.

Die am 13. April 1989 Verhafteten sind Peter Døllner, Niels Jørgensen, Torkil Lauesen, Jan Weimann und Niels Jørgensens frühere Freundin Helena[2]. Die vier Männer waren beinahe zwanzig Jahre lang vom dänischen Geheimdienst PET (Politiets Efterretningstjeneste) als kommunistische Aktivisten mit engen Verbindungen zu Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt beschattet worden. Es war eine Zusammenarbeit zwischen dem PET und der Kopenhagener Kriminalpolizei, welche die vier zu Verdächtigen im Købmagergade-Fall gemacht hatte. Während Helena bereits einen Tag später freigelassen wird, bleiben die vier Männer in Untersuchungshaft. Gleichzeitig fahndet die Polizei nach einem weiteren Mann, der mit ihnen in Verbindung gebracht wird: Carsten Nielsen. Dieser befindet sich auf der Flucht.

Die Blekingegade in Amager/Kopenhagen im April 2013

Der Polizei fehlen deutliche Beweise. Nur mit viel Mühe vermag sie, einen Kopenhagener Richter davon zu überzeugen, die Untersuchungshaft der Verdächtigen auf drei Wochen festzulegen. Sollten die Beamten bis dahin nicht in der Lage sein, eine überzeugende Anklage zu präsentieren, würden die vier freigelassen. Trotz aller Bemühungen gelingt es den Sicherheitskräften zunächst nicht, an belastendes Material zu gelangen. Sorgfältige Durchsuchungen der Wohnungen der Verdächtigen ergeben genauso wenig Resultate wie Verhöre von Familienmitgliedern, Freunden und Arbeitskollegen. Der mit Abstand stärkste Anhaltspunkt, den die Polizei hat, sind drei Schlüssel, die sowohl Jørgensen als auch Lauesen und Weimann bei ihrer Verhaftung bei sich trugen. Polizeibeamte testen diese an Tausenden von Kopenhagener Wohnungen, doch auch dies führt zu wenig mehr als aufgeschreckten Mietern.

Am Morgen des 2. Mai 1989, einen Tag vor dem Entlassungstermin, wird ein Streifenwagen nördlich von Kopenhagen zu einem Autounfall gerufen. Auf einer Landstraße war ein Mann mit einem gemieteten Toyota Corolla gegen einen Strommasten geprallt. Er ist schwer verletzt und nicht ansprechbar. Später wird er als Folge des Unfalls sein Augenlicht, seinen Geruchssinn und das Gehör auf einem Ohr verlieren. Mehrere Gegenstände im Auto machen die Polizei misstrauisch: auf dem Rücksitz und im Kofferraum finden sich Perücken, Dietriche und Geldbündel in verschiedenen ausländischen Währungen. Der bewusstlose Fahrer wird schließlich als Carsten Nielsen identifiziert. Auch er trägt die Schlüssel bei sich, die bei Jørgensen, Lauesen und Weimann gefunden wurden. Von besonderer Bedeutung ist jedoch ein kleiner Zettel, den die Beamten unter den zahlreichen Papieren in dem Toyota entdecken. Es handelt sich um eine Telefonrechnung, ausgestellt auf eine Wohnung im ersten Stock des Hauses Nr. 2 in der Blekingegade, einer unscheinbaren Straße im Kopenhagener Stadtteil Amager, südlich des Stadtzentrums.

Der Eingang zur Blekingegade 2 im April 2013 – der weiße Erker im ersten Stock gehört zur von der Blekingegade-Gruppe gemieteten Wohnung

Polizeibeamte treffen dort kurz nach 15 Uhr ein. Problemlos lässt sich die Wohnungstür mithilfe der gefundenen Schlüssel öffnen. Damit beginnt der aufsehenerregendste Fall der modernen Rechtsgeschichte Dänemarks, während der Geschichte der antiimperialistischen europäischen Linken eines ihrer bemerkenswertesten Kapitel hinzugefügt wird.

Die Blekingegade-Wohnung lässt sich schnell als Drehscheibe vielfältiger krimineller Aktivitäten identifizieren. Die Polizei findet Radioempfänger, Sendeanlagen und Antennen, Masken, falsche Bärte und Polizeiuniformen, gefälschte Dokumente und Maschinen zur Herstellung derselben sowie ausführliche Notizen zum Købmagergade-Überfall und anderen illegalen Tätigkeiten. In einem separaten Raum, der nur durch eine Geheimtüre zugänglich ist, findet sich außerdem das größte illegale Waffenlager, das je in Dänemark entdeckt wurde: kistenweise Sprengstoff, Pistolen, Gewehre, Handgranaten, Landminen, Maschinengewehre und 34 Panzerabwehrraketen. Darüber hinaus ein Surfbrett, das bei den Beamten Verwunderung auslöst.

Die Männer, die Zugang zur Wohnung hatten, werden bald als ›Blekingegade-Bande‹ bezeichnet. Auch der etwas weniger dramatische Begriff der ›Blekingegade-Gruppe‹ findet Verwendung. Torkil Lauesen zufolge waren diese Bezeichnungen das Resultat von »besonders einfallslosem Journalismus«.[3] Trotzdem sind sie bald so stark im öffentlichen Bewusstsein verankert, dass sich alle – die Gruppenmitglieder eingeschlossen – gezwungen sahen, sie zu verwenden.

Die Anfänge: KAK (1963-1978)

Die Ursprünge der Blekingegade-Gruppe reichen in das Jahr 1963 zurück, als der charismatische und mit dem Maoismus sympathisierende Literaturhistoriker Gotfred Appel von der Moskau-loyalen Kommunistischen Partei Dänemarks (Danmarks Kommunistiske Parti, DKP) ausgeschlossen wird. Wenige Monate später gründet er mit anderen abtrünnigen DKP-Mitgliedern die erste maoistische Organisation Europas, den Kommunistischen Arbeitskreis (Kommunistisk Arbejdkreds, KAK). Der KAK fungiert bald als offizieller dänischer Verbündeter der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) und Appel reist regelmäßig nach Peking. Bald gründet der KAK den Verlag Futura, der eng mit der chinesischen Botschaft in Kopenhagen zusammenarbeitet und maoistische Flugblätter, den Newsletter der Botschaft sowie Maos Rotes Buch druckt. Die Zeitschrift des KAK, Orientering, erscheint erstmals im Dezember 1963 und nennt sich ab September 1964 Kommunistisk Orientering.

In den folgenden Jahren entwickelt Appel seine charakteristische snylterstatsteori, zu Deutsch: die ›Schmarotzerstaatentheorie‹. Deren Kern besagt, dass die Arbeiterklassen der von Appel als ›imperialistisch‹ bezeichneten Länder (die Länder Westeuropas und Nordamerikas sowie Australien, Neuseeland und Japan) aufgrund ihrer Privilegien im Kontext des globalen Kapitalismus zu Verbündeten der herrschenden Klassen geworden sind. Ihre objektiven Interessen stehen denen der Kapitalisten näher als jenen der ausgebeuteten und unterdrückten Massen der Dritten Welt. Daher sind die Arbeiterklassen der imperialistischen Länder nicht mehr als revolutionäre Kräfte zu betrachten. Nur die sozialen Bewegungen der Dritten Welt stellen eine Bedrohung für das kapitalistische System dar. Auch das Wiederaufleben des Sozialismus in den imperialistischen Ländern ist vom Erfolg dieser Bewegungen abhängig, da nur revolutionäre Umwälzungen in der Dritten Welt zu einer Krise des Kapitalismus auch in der imperialistischen Welt führen können, was wiederum den Verlust der Privilegien der dortigen Arbeiterklassen und eine neue sozialistische Notwendigkeit zur Folge hätte.

Gotfred Appel trifft Repräsentanten der KPC in Peking 1964

Der Vietnamkrieg dient Appel als empirische Bestätigung seiner Theorie. Im Februar 1965 organisiert der KAK eine der ersten europäischen Demonstrationen gegen den Kriegseintritt der USA. Die Tatsache, dass die dänische Arbeiterschaft der Demonstration großteils fernbleibt, obwohl intensiv in einigen von Kopenhagens größten Fabriken mobilisiert wurde, ist für Appel Bestätigung der Korrumpiertheit und Selbstzufriedenheit der dänischen Arbeiterklasse. Gleichzeitig findet er eine Reihe junger Anhänger, die sich vom KAK aufgrund des von ihm gegründeten Vietnamkomitees (Vietnamkomité), seiner Militanz, seiner provokanten Thesen und nicht zuletzt der Persönlichkeit Appels angezogen fühlen.

1968 gründet der KAK den Kommunistischen Jugendverband (Kommunistisk Ungdomsforbund, KUF), der seine eigene Zeitschrift Ungkommunisten [Der junge Kommunist] herausgibt und das Antiimperialistische Aktionskomitee (Antiimperialistisk Aktionskomité) initiiert, dessen Mitglieder im antiimperialistischen Milieu gezielt um KAK-Sympathisanten werben.

Plakat KUF/Antiimperialistisches Aktionskomitee, ca. 1969: »Ohne Sieg in der Dritten Welt kein Sozialismus hier!«

Für den KAK spielt der Jugendverband eine außerordentlich wichtige Rolle und zählt bald jene Männer in seinen Reihen, die zwanzig Jahre später als Mitglieder der Blekingegade-Gruppe verhaftet werden. Peter Døllner, ein junger Tischler, und Jan Weimann, ein leidenschaftlicher Vogelbeobachter und ausgezeichneter Schachspieler, schließen sich 1968 unmittelbar nach dem Ende ihrer Schulzeit an. Beide waren in Gladsaxe aufgewachsen, einem Vorort Kopenhagens. Ein weiteres frühes KUF-Mitglied aus Gladsaxe ist Jan Weimanns Schulfreund Holger Jensen, ein allseits beliebter und energischer junger Mann, der bald zu einer treibenden Kraft des Jugendverbandes und des KAKs selbst wird. Niels Jørgensen tritt dem KUF 1969 als erst sechzehnjähriger Schüler bei, und zwei Jahre später wird Torkil Lauesen, ein Medizinstudent aus dem etwa hundert Kilometer westlich von Kopenhagen gelegenen Korsør offiziell aufgenommen.

Im Jahr 1969 enden die Beziehungen zwischen dem KAK und der chinesischen Regierung. Auf der Basis seiner Schmarotzerstaatentheorie wirft Gotfred Appel KPC-Funktionären immer wieder vor, das revolutionäre Potenzial und die Rolle der Arbeiterklasse in den europäischen Protestbewegungen der späten 1960er Jahre maßlos zu überschätzen. Der Konflikt spitzt sich zu, bis schließlich die offiziellen Kontakte zwischen dem KAK und der KPC abgebrochen und der Vertrag des Futura-Verlags mit der chinesischen Botschaft aufgelöst werden. Von diesem Zeitpunkt an ist der KAK mit keinen anderen Organisationen mehr offiziell verbündet und verfolgt einen unabhängigen marxistisch-antiimperialistischen Kurs. Es werden Kontakte zu zahlreichen Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt aufgebaut. Appel entwickelt dabei ein besonderes Interesse für die 1967 auf Initiative des Kinderarztes George Habash gegründete Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP). Appel schätzt die marxistischen Grundlagen der Organisation und sieht den Nahen Osten als strategisch zentrale Region im Kampf gegen den Imperialismus an. Im Jahr 1970 reist er daher nach Jordanien, um sich mit PFLP-Repräsentanten zu treffen. In den darauf folgenden Jahren schickt er mehrmals KUF-Mitglieder in den Nahen Osten, um die Beziehungen aufrechtzuerhalten. KUF- und KAK-Mitglieder reisen auch in andere Regionen, um deren politische und ökonomische Bedingungen zu studieren und sich mit Befreiungsbewegungen und antiimperialistischen Solidaritätsorganisationen auszutauschen. Beispielsweise treffen die jungen Dänen in Tansania Vertreter der FRELIMO, ZANU und MPLA, in Nordirland republikanische Widerstandskämpfer und in Kanada Mitglieder des Liberation Support Movement (LSM).

Um ihrer politischen Arbeit eine kontinuierliche praktische Dimension zu verleihen, rufen KUF-Mitglieder 1972 das Projekt Tøj til Afrika (TTA) ins Leben, zu Deutsch: ›Kleider für Afrika‹. TTA sammelt vor allem Kleider, Zelte, Medizin und Geld für von afrikanischen Befreiungsbewegungen verwaltete Flüchtlingslager. Bald gibt es mehrere TTA-Gruppen in Dänemark und das Projekt sichert dem KAK einen starken Unterstützerkreis.

Der KAK selbst hält sich in den frühen 1970er Jahren eher bedeckt. Im Jahr 1970 war die Organisation zur Zielscheibe der Sicherheitskräfte geworden, nachdem KUF-Mitglieder während der Proteste gegen den Weltbank-Kongress in Kopenhagen in Straßenschlachten mit der Polizei verwickelt waren. Appel, zu jener Zeit in Jordanien, war darüber alles andere als glücklich. Für die Proteste war eine Strategie vereinbart worden, die sich auf klandestine militante Aktionen und nicht auf offene Konfrontationen mit der Staatsmacht konzentrierte. Appel klagte die KUF-Mitglieder ›politischer Unreife‹ an. Der KAK betont nunmehr die Entwicklung theoretischer Studien und den Aufbau einer disziplinierten Organisation. Öffentlichkeitsarbeit findet kaum noch statt. Die Herausgabe des Ungkommunisten wird 1970 eingestellt und Kommunistisk Orientering gönnt sich von 1970 bis 1974 eine Pause. Der KAK hat höchstens dreißig Mitglieder und keine Absichten, eine Massenbewegung zu werden. Die Organisation wird eher als Ausbildungslager für revolutionäre Kader gesehen. In Appels Augen müssen diese darauf vorbereitet werden, im Falle einer Krise in den imperialistischen Ländern den revolutionären Prozess entscheidend zu beeinflussen. 1975 wird der KUF offiziell aufgelöst. Die verbliebenen Mitglieder werden in den KAK integriert.

Es gibt jedoch einen weiteren Grund für die Zurückgezogenheit des KAK während der frühen 1970er Jahre. Zu jener Zeit entwickelt die Organisation das, was später als ›illegale Praxis‹ bezeichnet wird. In einfachen Worten geht es darum, mithilfe von Raubüberfällen und Betrügereien die materielle Unterstützung für Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt zu stärken. Nur wenige KAK-Mitglieder sind in die illegale Praxis involviert. Dies schafft einen ›inneren Kreis‹ der Organisation, zu dem die im April 1989 Verhafteten zählen. Dieser Kreis markiert den Beginn der Blekingegade-Gruppe.

Kein KAK-Mitglied wurde jemals für illegale Aktivitäten, zu denen es in den 1970er Jahren kam, verurteilt. Sie bleiben jedoch die Hauptverdächtigen für eine Reihe von Aktionen in Kopenhagen: einen Einbruch in ein Waffendepot der dänischen Armee 1972 (Waffen aus dem Depot wurden 1989 in der Blekingegade-Wohnung entdeckt), einen Überfall auf einen Geldtransporter 1975 (mit einer Beute von 500.000 Kronen), einen Überfall auf ein Postamt 1976 (mit einer Beute von 550.000 Kronen) und einen raffinierter Postüberweisungsbetrug desselben Jahres, der mit anderthalb Millionen dänischer Kronen eine Rekordsumme für Betrügereien in Dänemark einbrachte. Alle Fälle teilen Merkmale, die auch die Verbrechen charakterisieren sollten, derer die Blekingegade-Gruppe in den 1980er Jahren angeklagt wird: eine hochprofessionelle Ausführung, eine reiche Beute und keinerlei Hinweise auf die Täter.

Als die Blekingegade-Wohnung 1989 entdeckt und die Geschichte der Gruppe rekonstruiert wird, gibt es viele Spekulationen darüber, ob Gotfred Appel über die illegalen Aktivitäten Bescheid wusste. Er selbst bestreitet dies bis zu seinem Tod 1992. Frühere KAK- und Blekingegade-Gruppe-Mitglieder sprechen jedoch von einer strikt hierarchischen Organisation, in der nichts ohne das Wissen der Führung geschah. Während der frühen 1970er Jahre bestand diese aus Appel, seiner Lebenspartnerin Ulla Hauton und dem jungen Holger Jensen. Im Jahr 1975 stieß Jan Weimann dazu.

Die illegale Praxis – ebenso wie alle anderen Aktivitäten des KAK – wird 1977 eingestellt. Die Organisation schlittert in eine tiefe Krise. Diese beginnt, als Frauen der Organisation, vor allem Ulla Hauton, männlichen Mitgliedern dominantes Verhalten vorwerfen. Während Appel selbst – allen Berichten zufolge ungerechtfertigterweise – von der Kritik ausgenommen wird, werden andere Männer zu ›Kritik und Selbstkritik‹-Sitzungen zitiert. Es kommt auch zu physischen Maßregelungen, an denen sich männliche Mitglieder beteiligen müssen, um ihren Willen zur Veränderung unter Beweis zu stellen.

Nach einigen Monaten der sogenannten ›Anti-Frauendiskriminierungskampagne‹ meinen die meisten KAK-Mitglieder, darunter viele Frauen, dass die Kampagne außer Kontrolle geraten sei. Nun richtet sich ihre Wut gegen Appel und Hauton – besonders Letzterer wird vorgeworfen, die Frauen der Organisation aufgrund persönlicher Interessen und interner Führungsstreitigkeiten manipuliert zu haben. Anscheinend gibt es vor allem zwischen Ulla Hauton und Holger Jensen seit Langem starke Spannungen.

Nachdem Appel und Hauton jede Kritik empört von sich weisen, werden sie bei einem Mitgliedertreffen am 4. Mai 1978 aus der Organisation ausgeschlossen. Ein paar Tage später schließen sie selbst alle anderen Mitglieder aus dem KAK aus. Ein Streit um den Namen Kommunistisk Arbejdskreds entbrennt, den Appel und Hauton schließlich auf juristischem Wege für sich entscheiden. Letzten Endes spaltet sich der ehemalige KAK in drei neue Gruppen auf:

1. Appel, Hauton und ein paar Verbündete setzen ihre Tätigkeit unter dem Namen KAK fort und publizieren weiterhin Kommunistisk Orientering. Im Jahr 1980 werden alle Tätigkeiten eingestellt.

2. Einige ehemalige KAK-Mitglieder gründen die Marxistische Arbeitsgruppe (Marxistisk Arbejdsgruppe, MAG). Diese will die Geschichte des KAK analysieren, aus begangenen Fehlern lernen und neue Formen politischer Praxis entwickeln. Der Gruppe ist jedoch wenig Erfolg beschieden und sie löst sich nach zwei Jahren auf.

3. Einige weitere ehemalige KAK-Mitglieder gründen die Kommunistische Arbeitsgruppe (Kommunistisk Arbejdsgruppe, KA), die nach ihrer Zeitung bald als Manifest – Kommunistisk Arbejdsgruppe (M-KA) bekannt wird. Die meisten Tøj til Afrika-Aktivisten entschließen sich, mit M-KA zusammenzuarbeiten. Die Zeitung Manifest erscheint von Oktober 1978 bis Dezember 1982. Danach steht der Name vor allem für einen Verlag, der Texte der Organisation herausgibt sowie Materialien für Befreiungsbewegungen druckt. M-KA gehören unter anderem Holger Jensen, Jan Weimann, Peter Døllner, Niels Jørgensen und Torkil Lauesen an. Keiner von ihnen hat je wieder Kontakt mit Appel oder Hauton.

Jan Weimann, Niels Jørgensen und Torkil Lauesen formen das Rückgrat von M-KA und der Blekingegade-Gruppe bis zu ihrer Verhaftung im Jahr 1989. Holger Jensen verunglückt 1980 tödlich. Er befindet sich in einem geparkten Lieferwagen, als dieser von einem LKW gerammt wird, dessen Fahrer die Kontrolle über das Fahrzeug verloren hat. Peter Døllner verlässt M-KA 1985.

M-KA (1978-1989)

Ideologisch unterschied sich M-KA nicht allzu sehr vom Kommunistischen Arbeitskreis. Die Gruppe hielt im Großen und Ganzen an der Schmarotzerstaatentheorie von Appel fest. Allerdings wurden auch neuere marxistische Analysen in den theoretischen Rahmen mit einbezogen, vor allem jene des aus Griechenland stammenden und in Paris lehrenden Ökonomen Arghiri Emmanuel. Emmanuel sah den auf Widersprüchen zwischen Warenproduktion, Lohnniveau und Marktpreis beruhenden ›ungleichen Tausch‹ zwischen Metropole und Peripherie als wesentlichen Erklärungsgrund für die globale ökonomische Ungerechtigkeit an. M-KA-Mitglieder reisten des Öfteren nach Paris, um sich mit ihm auszutauschen. Emmanuel schrieb auch ein Vorwort für das 1983 von M-KA herausgegebene Buch Imperialismen idag: Det ulige bytte og mulighederne för socialisme i en delt verden [Imperialismus heute: Ungleicher Tausch und die Möglichkeiten des Sozialismus in einer geteilten Welt].

Niels, Lisa und Torkil in Paris 1982

Der Hauptunterschied zwischen dem KAK und M-KA war die Organisationsstruktur. M-KA hatte keine zentrale Führungsfigur, ließ breitere interne Debatten zu und zeigte sich anderen linken Gruppen gegenüber aufgeschlossener. Die Mitgliederzahl blieb klein. Es waren nie mehr als fünfzehn Leute in M-KA organisiert. Was die praktische Arbeit betraf, so war weiterhin die materielle Unterstützung von Befreiungsbewegungen vorrangig. Nach der komplizierten Spaltung des KAK konnten sich die M-KA-Mitglieder das Vertrauen der PFLP-Führung sichern und auch die Kontakte zu anderen Befreiungsbewegungen aufrechterhalten.

Anzeige für die 1986 erschienene englische Ausgabe des M-KA-Buches Imperialismen idag

Die illegale Praxis wurde fortgesetzt. Sie war wiederum auf einen ›inneren Kreis‹ beschränkt, über dessen Tätigkeiten der Rest der Mitglieder nicht Bescheid wusste. Neben Døllner, Jørgensen, Lauesen und Weimann wurden später drei weitere Männer für ihre Zugehörigkeit zu diesem Kreis verurteilt. Karsten Møller Hansen, ein TTA-Mitglied aus Odense, schloss sich ihm 1982 an. Er zog sich ein paar Jahre später wieder zurück, wusste aber über die meisten Aktionen weiterhin Bescheid und half gelegentlich bei der Erledigung kleinerer Aufgaben. Ebenfalls 1982 stieß Jan Weimanns jüngerer Bruder Bo zur Gruppe. Er arbeitete vor allem an der umstrittenen ›Z-Kartei‹ (Z für Zionismus), in der Informationen gesammelt wurden, die der PFLP bei der Identifizierung israelischer Agenten in Dänemark helfen sollten. Bo verließ die Gruppe 1988. Im Jahr 1987 hatte sich Carsten Nielsen von der TTA-Gruppe in Århus als Letzter der Blekingegade-Gruppe angeschlossen.

Inzwischen war es im persönlichen Leben der Kernmitglieder zu ein paar bedeutenden Veränderungen gekommen. Jan Weimann war verheiratet, hatte zwei Kinder und arbeitete als IT-Fachmann für Regnecentralen, Dänemarks älteste und renommierteste Computerfirma. Sein Bruder Bo, verheiratet und Vater einer Tochter, war ebenfalls dort angestellt. Die Familienangehörigen der Weimann-Brüder wussten nichts von deren illegalen Aktivitäten. Auch ihre Arbeitskollegen zeigten sich nach den Verhaftungen völlig verblüfft. Die Anklagen der Polizei wurden von vielen öffentlich infrage gestellt.

Torkil Lauesen hatte sich zum Laborassistenten ausbilden lassen, arbeitete jedoch nur gelegentlich. 1984 gebar seine Frau Lisa eine Tochter. Bereits 1982 war Niels Jørgensen Vater eines Sohnes geworden. Auch er wechselte seine Jobs häufig.

Im Jahr 1982 intensivierten die M-KA-Mitglieder die illegale Praxis unter dem Eindruck der israelischen Invasion des Libanon und der damit einhergehenden Vertreibung der PFLP-Führung aus Beirut. Die PFLP-Führung, die einen Großteil ihrer Infrastruktur und Ausrüstung verloren hatte, bat ausdrücklich um Unterstützung, vor allem in der Form von Waffen. Daher brachen die M-KA-Mitglieder im November 1982 in Flen, etwa hundert Kilometer westlich von Stockholm, in ein Waffendepot der schwedischen Armee ein. Die Beute beinhaltete mehrere Kisten Sprengstoff, über hundert Handgranaten sowie die 34 später in der Blekingegade-Wohnung gefundenen Panzerabwehrraketen.

Der Blekingegade-Gruppe wurden später außerdem mehrere Raubüberfälle zur Last gelegt, die sich in den 1980er Jahren im Großraum Kopenhagen ereignet hatten: ein Überfall auf ein Postamt im Jahr 1982 (mit einer Beute von 768.000 Kronen), ein Überfall auf einen Geldtransporter 1983 (mit einer damaligen Rekordbeute von 8,3 Millionen Kronen – zwei Palästinenser wurden drei Wochen später am Flughafen Charles de Gaulle in Paris mit sechs Millionen Kronen in bar festgenommen, aber niemals nach Dänemark ausgeliefert), ein weiterer Überfall auf ein Postamt 1985 (mit einer Beute von 1,5 Millionen Kronen) und ein Überfall auf das Einkaufszentrum Daells im Herzen Kopenhagens kurz vor Weihnachten 1986 (mit einer Beute von 5,5 Millionen Kronen). Der ausgeklügelte Plan, Jörn Rausing, einen Angehörigen der reichsten Unternehmerfamilie Schwedens, zu entführen, wurde nie ausgeführt. Zwar hatten – wie Funde in der Blekingegade-Wohnung belegten – die M-KA-Mitglieder bereits ein norwegisches Sommerhaus in ein Versteck umgebaut und detaillierte Vorbereitungen getroffen, um ein Lösegeld von 25 Millionen US-Dollar zu fordern, doch wurde das Vorhaben im Sommer 1985 aufgegeben. Eine Folge dieser für alle sehr aufwühlenden Episode war Peter Døllners Austritt aus der Gruppe.

Die Vorbereitungen für ihren letzten Coup, den Købmagergade-Überfall, begannen die Mitglieder Ende 1987. Der PET und der dänischen Polizei zufolge fehlte jedoch ein Mann, um den Plan ausführen zu können. Deshalb soll sich die Blekingegade-Gruppe mit der Bitte um Unterstützung direkt an die PFLP gewandt haben, die angeblich Marc Rudin, einen Schweizer Staatsbürger und ein langjähriges PFLP-Mitglied, nach Kopenhagen schickte.

Der Überfall selbst lief wie geplant. Nach exakt 99 Sekunden stiegen die Mitglieder der Gruppe in ihr Fluchtauto, einen orangefarbenen Toyota-Lieferwagen. Sie hatten ausgerechnet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine Polizeipatrouille in weniger als zwei Minuten zum Posthof gelangen würde, bei weniger als einem Prozent lag. Als sie aus dem Posthof in die angrenzende Gasse einbogen, wurde diese jedoch von einem Streifenwagen blockiert. Carsten Nielsen, der das Fluchtauto fuhr, gelang es, den Wagen an den Polizisten vorbeizumanövrieren, woraufhin diese das Feuer eröffneten. Eine Kugel zerschlug die Heckscheibe des Wagens und bohrte sich in den Fahrersitz.

Grobe Skizze des Fluchtwegs nach dem Købmagergade-Überfall: der Schuss Richtung Streifenwagen 2 wurde abgegeben, nachdem der Fluchtwagen kurz am markierten Standort angehalten hatte

Als das Fluchtauto in die Købmagergade einbog, sahen die Räuber einen weiteren Streifenwagen hinter sich. Carsten Nielsen hielt an und einer der Räuber stieg aus, um einen Schuss aus der für solche Zwecke mitgeführten Schotflinte abzufeuern. Mitglieder der Blekingegade-Gruppe erklärten später, dass der Schuss potenzielle Verfolger abschrecken und im Idealfall die Reifen des Streifenwagens beschädigen sollte. Er sei ungezielt und aus Hüfthöhe abgegeben worden. Die kriminaltechnischen Untersuchungen bestätigten dies. Die meisten Schrotkugeln durchlöcherten das Schaufenster eines Schuhgeschäfts – eine jedoch traf den 22-jährigen Polizeibeamten Jesper Egtved Hansen, der gerade aus dem Streifenwagen gestiegen war, im Auge. Er wurde ins Spital gebracht, wo er noch am selben Tag verstarb. Den Räubern gelang die Flucht.

Der Tod von Jesper Egtved Hansen führte zu einer engen Zusammenarbeit dänischer Sicherheitsbehörden, vor allem des PET und der Kopenhagener Kriminalpolizei. Diese Zusammenarbeit führte schließlich zur Verhaftung und Verurteilung der Blekingegade-Gruppe.

Vor dem Købmagergade-Überfall war das Interesse an einer derartigen Kooperation von beiden Seiten gering gewesen. Während des Gerichtsverfahrens wurde bekannt, dass der PET die Mitglieder der Blekingegade-Gruppe über einen Zeitraum von beinahe zwanzig Jahren immer wieder beschattet hatte. Die Kopenhagener Kriminalpolizei hatte sogar nach ein paar der Überfällen, die später der Gruppe angelastet wurden, Hinweise vom PET erhalten, aber nicht reagiert. Gleichzeitig hielt der PET viele Informationen zurück, da er mehr an den internationalen Kontakten der Gruppe interessiert schien als an ihren illegalen Tätigkeiten in Dänemark.

Die vereinten Kräfte der Sicherheitsbehörden waren jedoch nicht der einzige Grund für die Verhaftungen und Verurteilungen. Die Mitglieder der Blekingegade-Gruppe waren mit den Jahren nachlässiger geworden, was ihre Sicherheitsvorkehrungen betraf. Manche von ihnen erklärten später, dass es nicht zu einer Anklage gekommen wäre, hätten sie sich an ihre eigenen Standards gehalten.[4] Die marxistischen Revolutionäre, die zu Dänemarks erfolgreichsten Bankräubern avancierten, waren scheinbar müde geworden.

Gefängnis (1989-1995)

Nach der Entdeckung der Blekingegade-Wohnung wurde eine Reihe weiterer Personen verhaftet, die Verbindungen zu M-KA hatten. Karsten Møller Hansen noch am 2. Mai, Bo Weimann, Torkil Lauesens Frau Lisa und Møller Hansens ehemalige Frau Anna[5] am 10. August. Lisa und Anna wurden ein paar Wochen später freigelassen. Sie mussten sich nicht vor Gericht verantworten und wurden nie eines Verbrechens für schuldig befunden. Karsten Møller Hansen und Bo Weimann hingegen landeten neben Døllner, Jørgensen, Lauesen, Nielsen und Jan Weimann auf der Anklagebank.

Die sechs wurden ursprünglich zahlreicher Verbrechen angeklagt, die von illegalem Waffenbesitz und Urkundenfälschung bis zu Mord und Terrorismus reichten. Die Terrorismusanklage wurde allerdings noch vor Prozessbeginn fallen gelassen. Dies führte zu Spekulationen, ob die dänischen Behörden politischem Druck bzw. der Angst vor PFLP-Vergeltungsanschlägen nachgegeben hätten. Von vielen Seiten wurden diese Vermutungen jedoch als mediale Aufbauschung des Sachverhalts beschrieben, auch von den Mitgliedern der Blekingegade-Gruppe selbst. Viele Beobachter sind sich einig, dass 1989 die dänische Gesetzeslage eine derartige Anklage schlicht nicht zuließ, da als terroristische Handlungen nur Angriffe auf den dänischen Staat galten. Heute wären die juristischen Voraussetzungen freilich völlig andere. Nachdem sich der frühere dänische Ministerpräsident und derzeitige NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen Anfang der 2000er Jahre als einer der treuesten europäischen Unterstützer des ›Krieges gegen den Terror‹ hervortat, wurden die dänischen Gesetze entsprechend geändert.

Das Gerichtsverfahren gegen die Blekingegade-Gruppe dauerte acht Monate; vom 3. September 1990 bis zum 2. Mai 1991. Die Polizei und die Staatsanwaltschaft leisteten sich eine Reihe von Pannen und die Geschworenen sprachen die Angeklagten schließlich in fast allen Anklagepunkten frei, auch vom Mord an Jesper Egtved Hansen. Die Person, die den Schuss abgefeuert hatte, konnte nicht identifiziert und gleichzeitig keine kollektive Tötungsabsicht festgestellt werden. Die Geschworenen sprachen sich auch gegen die Anwendung eines dänischen Spezialparagraphen aus, dem zufolge bei besonders schwerwiegenden Umständen die Höchststrafen für Verbrechen um 50 Prozent angehoben werden können.

Letzten Endes wurden Jørgensen, Lauesen, Nielsen und Jan Weimann des Købmagergade-Überfalls für schuldig befunden, Bo Weimann der Zusammenstellung der Z-Kartei und alle der Angeklagten, inklusive Møller Hansen und Døllner, geringerer Verstöße wie unerlaubtem Waffenbesitz und Urkundenfälschung. Jørgensen, Lauesen, und Jan Weimann wurden zu zehn Jahren Haft verurteilt, Carsten Nielsen zu acht, Bo Weimann zu sieben, Karsten Møller Hansen zu drei und Peter Døllner zu einem Jahr. Døllner und Møller Hansen wurden unmittelbar nach Prozessende entlassen, da in Dänemark Entlassungen nach zwei Dritteln der verbüßten Strafzeit Gewohnheit sind. Bo Weimann und Carsten Nielsen wurden im April 1994 freigelassen, Jørgensen, Lauesen und Jan Weimann im Dezember 1995. Vor allem die drei Letztgenannten engagierten sich während ihrer Haftzeit stark für Gefangenenrechte.

Marc Rudin wurde am 14. Oktober 1991 von einer türkischen Patrouille nahe der syrischen Grenze festgenommen. Nachdem er in der Türkei der illegalen Einreise angeklagt und verurteilt worden war, wurde er im Oktober 1993 an Dänemark ausgeliefert, wo er für seine angebliche Teilnahme am Købmagergade-Überfall zu acht Jahren Haft verurteilt wurde. Im Februar 1997 wurde er in die Schweiz überstellt. Die Einreise nach Dänemark ist ihm bis heute untersagt.

Nachspiel

Die Geschichte der Blekingegade-Gruppe beschäftigt Dänemark seit über zwanzig Jahren. Besonders stark lebte sie im Jahr 2007 wieder auf, als der renommierte dänische Journalist Peter Øvig Knudsen ein zweibändiges, insgesamt über 800 Seiten starkes Werk mit dem Titel Blekingegadebanden vorlegte. Eine einbändige ›Luxusausgabe‹, die auch zahlreiche Originaldokumente von den polizeilichen Ermittlungen und dem Gerichtsverfahren enthält, erschien ein Jahr später. Insgesamt wurden 350.000 Exemplare des Buches in Dänemark verkauft, was es zu einem der meistverkauften Sachbücher in der Geschichte des Landes macht. Im Deutschen erschien es 2010 in einer gekürzten Fassung im Osburg-Verlag unter dem Titel Der innere Kreis: Die Blekingegade-Bande. Bo Weimann war das einzige ehemalige Mitglied der Blekingegade-Gruppe, das mit Øvig Knudsen zusammengearbeitet hatte. Bo Weimann fungierte auch als Hauptfigur in dem 2009 ausgestrahlten Dokumentarfilm Blekingegadebanden.

Zwei weitere Bücher, die zu jener Zeit erschienen, hatten großen Einfluss auf die Debatte. Sie entstanden aus einer Zusammenarbeit zwischen den Journalisten Anders-Peter Mathiasen bzw. Jeppe Facius und dem Leiter der polizeilichen Untersuchungen im Blekingegade-Fall, Kriminalinspektor Jørn Moos: Blekingegadebetjenten – kriminalinspektør Jørn Moos fortæller [Der Blekingegade-Beamte: Kriminalinspektor Jørn Moos erzählt] (2007) sammelt Erinnerungen aus Moos' Arbeitsleben, während Politiets hemmeligheder: Kriminalinspektør Jørn Moos genåbner Blekingegadesagen [Die Geheimnisse der Polizei: Kriminalinspektor Jørn Moos rollt den Blekingegade-Fall auf] (2009) vor allem auf die umstrittene Rolle des PET im Blekingegade-Fall eingeht. Politiets hemmeligheder bildete auch die Grundlage für den 2010 erschienenen Dokumentarfilm Blekingegade – sagen genoptaget [Blekingegade: Die Wiederaufnahme des Falles].

Schließlich kam es auch zu dramaturgischen Verarbeitungen des Stoffes. Im Januar 2009 hatte das Theaterstück Blekingegade, verfasst von Claus Flygare, im Kopenhagener Husets Teater Premiere, und im Dezember 2009 begann im dänischen TV 2 die Ausstrahlung der TV-Serie Blekingegade, in der Fakten und frei Erfundenes offen (und eher willkürlich) vermischt wurden.

Zu diesem Buch

Dieses Buch wurde nicht zuletzt aufgrund der Darstellung der Blekingegade-Gruppe in den oben genannten Medien zusammengestellt.

Im Jahr 2008 schrieben Niels Jørgensen, Torkil Lauesen und Jan Weimann eine Antwort auf das Werk von Øvig Knudsen. Der Artikel »Det handler om politik« wurde in einer Blekingegade-Spezialnummer der dänischen Zeitschrift Social Kritik im März 2009 veröffentlicht. Eine aktualisierte Version erschien wenig später auf der Website snylterstaten.dk. Der Artikel erzählt die Geschichte der Blekingegade-Gruppe aus der Perspektive ihrer langjährigsten Mitglieder und wurde für dieses Buch als »Es geht immer um Politik« übersetzt. Die deutsche Version wurde in Zusammenarbeit mit Torkil Lauesen und Jan Weimann – Niels Jørgensen verstarb im September 2008 – leicht überarbeitet. Abschnitte, die ein detailliertes Wissen der Rechtslage und Innenpolitik Dänemarks oder die Lektüre von Øvig Knudsens Werk voraussetzen, wurden gekürzt.

Der zweite Teil des Buches besteht aus einem Interview mit Torkil Lauesen und Jan Weimann, das im Frühjahr 2013 geführt wurde. Es enthält zusätzliche Informationen zur Geschichte der Blekingegade-Gruppe sowie Diskussionen über gegenwärtige sozialistische und internationalistische Politik.

Der dritte Teil des Buches sammelt historische Dokumente: einen Aufsatz von Gotfred Appel aus dem Jahr 1966 mit dem Titel »Sozialismus und bürgerliche Lebensweise«, Selbstdarstellungen von KAK und M-KA, das Kapitel »Was können Kommunisten in den imperialistischen Ländern tun?« aus dem M-KA-Buch Imperialismen idag sowie Kritiken an der RAF und dem Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW), die 1975 in Kommunistisk Orientering veröffentlicht wurden.