Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden - Gabriel Kuhn - E-Book

Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden E-Book

Gabriel Kuhn

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Beschreibung

Das Buch richtet sich in politischer Absicht vor allem an Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen in linken und linksradikalen Zusammenhängen. Es versteht sich als Handbuch, das Hilfestellung leisten will zum Verständnis poststrukturalistischer Theorienbildung und ihrer revolutionären Potentiale, sowie zur Entfaltung eigener revolutionärer Theorie und Praxis. Gabriel Kuhn macht das oft als schwer zugänglich beschriebene poststrukturalistische Theoriengebäude zugänglicher, ohne es dabei zu trivialisieren. Einer Auseinandersetzung mit den explizit politischen Dimensionen poststrukturalistischen Denkens ist eine Auseinandersetzung mit seinen allgemeineren theoretischen Grundlagen vorangestellt. Die Einführung eignet sich so für alle, die an poststrukturalistischer Theorie interessiert sind und nach einer Einstiegshilfe in poststrukturalistische Theorienbildung suchen.

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»Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden« richtet sich in politischer Absicht vor allem an Aktivist/innen und Wissenschaftler/innen in linken und linksradikalen Zusammenhängen. Es sieht sich als Handbuch, das Hilfestellung leisten will zum Verständnis poststrukturalistischer Theorienbildung und ihrer revolutionären Potentiale, sowie zur Entfaltung eigener revolutionärer Theorie und Praxis.

Das Buch ist wesentlich darum bemüht, das oft als schwer zugänglich beschriebene poststrukturalistische Theoriengebäude zugänglicher zu machen, ohne es dabei zu trivialisieren. Einer spezifischeren Auseinandersetzung mit den explizit politischen Dimensionen poststrukturalistischen Denkens ist eine Auseinandersetzung mit seinen allgemeineren theoretischen Grundlagen vorangestellt. Die Einführung eignet sich so für alle, die an poststrukturalistischer Theorie Interesse pflegen und nach einer Einstiegshilfe in poststrukturalistische Theorienbildung suchen.

Gabriel Kuhn

Tier-Werden, Schwarz-Werden,Frau-Werden

Eine Einführung in die politische Philosophie des Poststrukturalismus

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Gabriel Kuhn - Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden

1. Auflage, Oktober 2005

eBook UNRAST Verlag, Juni 2020

ISBN 978-3-95405-066-6

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Dieter Kaufmann, March

Satz: UNRAST-Verlag, Münster

Inhalt

Vorwort

Anmerkungen des Autors zur Veröffentlichung des Textes

I. Einleitung

I.1 Vorbemerkungen

I.2 Sozialhistorische Zusammenhänge

I.3 Wissenschaftshistorische Zusammenhänge

Anmerkungen

II. Denkformen

II.1 Allgemeines

II.2 Zur Analyse herrschender Denkformen

II.2.1 Wahrheit, Universalität, Moral

II.2.2 Die Einheit als Identität, das Ganze und seine Teile, die Teile und ihr Ganzes, oder einfach: der Baum

II.2.3 Kontinuität und Kausalität

II.2.4 Das autonome Subjekt

II.2.5 Logozentrismus

II.2.6 Der Phallus

II.2.7 Signifikant und Repräsentation

II.2.8 Die Präsenz und der Phonozentrismus

Anhang: Zur Psychoanalyse

II.3 Poststrukturalistisches Denken

II.3.1 Ereignisse, Singularitäten, Intensitäten, Moleküle

II.3.2 Mannigfaltigkeiten, Vielheiten, Differenzen

II.3.3 Felder, Plateaus, organlose Körper, Konsistenzebenen

II.3.4 Rhizomatik

II.3.5 Wunsch

II.3.6 Nomadismus

II.3.7 Diskurs

II.3.8 Dekonstruktion und Asignifikanz

Anhang: Poststrukturalismus in der feministischen Rezeption

Anmerkungen

III. Politische Philosophie

III.1 Allgemeines

III.2 Zur Analyse herrschender Lebens- und Organisationsformen

III.2.1 Macht als produktives Netz

III.2.2 Die Disziplinar-Gesellschaft und die Bio-Macht

III.2.3 Die vielen Gesichter des Ödipus, oder: Es gibt kein Entkommen!

III.2.4 Vom Mikrobereich bis zur globalen Ordnung: der Staat

III.2.5 Kapitalismus als formale Axiomatik

Ergänzung: Zum Verhältnis von Kapitalismus und Staat

III.2.6 Der paranoid-reaktionäre Wunsch

III.3 Zu alteritären Lebensformen und revolutionärem Widerstand

III.3.1 Der schizo-revolutionäre Wunsch

III.3.2 Das Außen

III.3.3 Aktion statt Repräsentation

III.3.4 Lokale, spezifische, unmittelbare Kämpfe

III.3.5 Die nomadische Einheit

III.3.6 Minoritäten

III.3.7 Affirmation statt Kritik

III.3.8 Theorie und Praxis

III.3.9 Die Grenze und die energetischen Potentiale des Kapitalismus

III.3.10 Zum Umgang mit den Axiomen

III.3.11 »… wenn sie nur radikal sind«

III.3.12 Der ewige Krieg

III.3.13 Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden

III.3.14 Die Schizo-Analyse

III.3.15 Subjektivierung und Ethik

III.3.16 Hoffnungsvoller Zynismus: Baudrillard

Anmerkungen

Literatur

Vorwort

In der politisch-theoretischen Tradition, aus der ich komme, schreibt man eher diese Sätze über poststrukturalistische Theorie: »Die ›Nomaden‹ brauchen sich auch nicht wirklich zu bewegen, sie entziehen sich nur den Codes der Sesshaften, indem sie ›trips of intensity‹ unternehmen. … Krieg und Kriegsmaschine sind lautstarke Metaphern, die einem esoterischen philosophischen Diskurs den revolutionären Gestus eines Guerillakriegs verschaffen sollen.«[1] Warum hat mir dann das vorliegende Buch so gut gefallen? Nicht, weil es mich dazu bewegt hat, mit fliegenden Fahnen zum Poststrukturalismus überzugehen und meine marxistischen, sozialistisch-feministischen Perspektiven in den Wind zu schreiben. Zunächst einmal hat mir die Schreibweise des Textes großen Spaß gemacht und mich mit Leichtigkeit vom Anfang bis an den Schluss des damals noch 400 Seiten starken Manuskripts getragen. Die Schreibweise entspricht dem Gegenstand: Fundstellen aus einer breiten Auswahl poststrukturalistischer Texte werden unter zentralen Begriffen zusammengestellt. So entsteht ein Kaleidoskop vielfältiger Argumentationen, jeweils verknüpft durch kritische Fragen aus der Debatte, die die vorgestellten AutorInnen hervorgerufen haben, wie z.B.: Führt die Kritik des Wahrheitsbegriffs nicht zu einer kriterienlosen Beliebigkeit? Bedeutet der »Tod des Subjekts« nicht die Aufgabe der Vorstellung aktiv handelnder Individuen, und wie kann eine sich als revolutionär definierende Theorie das handelnde Subjekt ad acta legen? Hat Foucault in seinen letzten beiden Büchern dieser Kritik schließlich nachgegeben und eine »Wende zum Subjekt« vollzogen? Unterminiert die Abkehr vom Subjekt-Begriff gerade in dem Augenblick, in dem Frauen beginnen, sich als Subjekte zu konstituieren, nicht die feministischen Kämpfe? Ist die Aufforderung »Frau, Schwarz, Tier« zu werden, nicht eine Anbiederung weißer dominanter Männer an die Marginalisierten?

All diese Fragen werden nicht ›beantwortet‹ in dem Sinn, dass der Autor uns mitteilt, wie wir seiner Meinung nach die Texte lesen sollten, um die richtige Antwort zu finden. Vielmehr eröffnet er uns durch die kommentierende Zusammenstellung von Textstellen, die für die Diskussion dieser Fragen relevant sind, einen eigenen Zugang zu den Argumentationsweisen der poststrukturalistischen AutorInnen. Wir können uns einen Überblick verschaffen und entscheiden, ob und wo wir eingehender im Original nachlesen wollen oder ob wir mit der angebotenen Darstellung zufrieden sind. Der argumentierende Kontext, in dem die Texte vorgestellt werden, ermöglicht einen konstruktiven Umgang mit ihnen. Man könnte die Darstellungsweise als konstruktive Dekonstruktion bezeichnen.

Vielleicht sind inzwischen die AnhängerInnen poststrukturalistischen Denkens (zumindest unter den sich als progressiv verstehenden Studierenden und Lehrenden) zahlreicher als zu der Zeit, in der dieses Buch ursprünglich entstanden ist. Aber wie dies so oft bei kritischen (und weniger kritischen) Theorien der Fall ist, hat diese Verallgemeinerung auch zu einer Verflachung geführt: Dass es keine objektive Wahrheit gibt, sondern dass wir die Welt konstruieren, dass Subjekte unterworfene und nicht autonome AutorInnen ihres Handelns sind, dass alles im Fluss, im Werden ist, dass wir Differenzen respektieren müssen, statt auf einer einzigen Wahrheit zu beharren – solche Prinzipien sind inzwischen zu Mantras bzw. zum Gegenstand stets aufs Neue wiederholter Kritik geworden, ohne dass die ProtagonistInnen oder KritikerInnen je einen Blick in die Originalschriften geworfen hätten, weil die Texte nur noch durch ihre InterpretInnen zur Kenntnis genommen werden. Dieser Unsitte wird hier entgegengewirkt, indem die AutorInnen selbst zu Wort kommen. Der Charakter einer Einführung in die Texte stellt sich über die Kommentare und Zusammenfassungen her, die Klarheit schaffen, wo die Originalzitate für sich genommen zuweilen verwirren. Es wird jedoch kein Poststrukturalismus ›light‹ serviert. Die Anstrengung des Denkens ist nicht suspendiert, sondern es werden Wege ins Dickicht geschlagen, die die Anstrengung lohnend machen.

Wie immer man am Ende diese Theorien beurteilen mag, für mich hat der Autor gezeigt, dass sie Begründungen oder Perspektiven für Formen gesellschaftsverändernder (der Begriff ist mir lieber, weil bescheidener als ›revolutionär‹) Praxis liefern. Grund genug, sich mit ihnen auseinander zu setzen und sie in die interne Diskussion um Formen kritischer Theorie und Praxis einzubeziehen, selbst wenn man der Meinung bleibt, dass bestimmte Aspekte ebenso gut nach links wie nach rechts ausschlagen können – aber welche Theorie wäre dagegen ein für alle mal gefeit?

Nora Räthzel

Anmerkungen

1      Jan Rehmann: Postmoderner Links-Nietzscheanismus. Deleuze & Foucault. Eine Dekonstruktion. Hamburg: Argument-Verlag. S. 8

Anmerkungen des Autors zur Veröffentlichung des Textes

Die erste Fassung des hier vorgelegten Textes wurde vor etwa zehn Jahren als Universitätsarbeit geschrieben. Eine Publikation der Arbeit hatte damals (und in den folgenden Jahren) keine Priorität, und so kam es nicht dazu. Nichtsdestotrotz verbreitete sich der Text in Form von Handkopien, als Lehrveranstaltungsunterlage, über Bibliotheken. Ich stieß immer wieder auf Menschen, die meinten, die Arbeit sei für sie in der ein oder anderen Form hilfreich gewesen, während ich mich wunderte, woher sie die Arbeit überhaupt kannten. Was mir diese Begegnungen zudem jeweils in Erinnerung riefen, war, dass die Arbeit an Relevanz wenig einzubüßen schien: Tatsächlich scheint sich in den letzten fünfzehn Jahren im Rahmen so genannter kritischer Theorienbildung kein entscheidender Paradigmenwechsel vollzogen zu haben, und viele linke/linksradikale AktivistInnen wie WissenschaftlerInnen scheinen nach wie vor Anleihen bei poststrukturalistischer Theorie zu suchen – ohne dass ein spezifisch für sie geschriebener Einführungstext zur Verfügung stünde.

Hätte es die erwähnten Begegnungen in ihrer Regelmäßigkeit nicht gegeben, ich hätte die Arbeit wohl gut und gerne in irgendeiner Schublade vermodern lassen. So machte ich mich jedoch vor etwa drei Jahren daran, den Text noch einmal zu überarbeiten. Ich nahm dabei teils weit reichende Kürzungen vor und dämpfte an vielen Stellen den jugendlichen Eifer des Stils, der zwar ab und an durchaus inspirierend auf die LeserInnen gewirkt haben mag, mir allerdings mittlerweile meist eher peinlich war. Daraufhin begann ich, unter Ermutigungen von GenossInnen, mich noch einmal ernsthafter nach Publikationsmöglichkeiten umzusehen.

Dass es nun zu einer Publikation im Unrast Verlag kommt, freut mich insofern besonders, als dass dieser quasi ein ideales Forum bietet, um den Text in jener Weise einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, in der ich mir das wünschen würde: Es ging mir in meiner theoretischen Arbeit immer wesentlich darum, Menschen in linken und linksradikalen Zusammenhängen zu erreichen, in der Hoffnung, deren Tätigkeiten (als AktivistInnen, ForscherInnen, ArbeiterInnen, etc.) analytisch bereichern und/oder intellektuell anregen zu können. (Mehr dazu in den Vorbemerkungen der Arbeit.)

Als sich die Veröffentlichung des Textes konkretisierte, stellte sich notgedrungen die Frage, bis zu welchem Grade ich die Arbeit noch einmal einer Überarbeitung unterziehen wollte. Selbst die Überarbeitung, die ich vor etwa drei Jahren vornahm, war eher formaler und stilistischer denn inhaltlicher Natur. Die Frage hatte für mich vor allem zwei Dimensionen: Erstens: Wäre es notwendig, die zum Thema im letzten Jahrzehnt erschienene Literatur einzuarbeiten? Zweitens: Sollte ich noch einmal wesentlich bestimmte Inhalte bzw. bestimmte inhaltliche Fokussierungen ändern?

Die Beantwortung der ersten Frage fiel mir relativ leicht: Ich hielt eine diesbezügliche Überarbeitung für nicht notwendig. Für das Thema wesentliche Primärtexte sind im letzten Jahrzehnt nicht erschienen (die einzigen im Text wiederholt zitierten Autoren, die noch regelmäßig publizistisch tätig waren, waren Jacques Derrida, Julia Kristeva und Jean Baudrillard, ohne dabei jedoch die tragenden Ideen ihres Denkens entscheidend zu modifizieren). Was die Sekundärliteratur anlangt, so ließen sich mittlerweile zur Rezeptionsgeschichte des Poststrukturalismus eigene Bände schreiben, aber das ist nicht Absicht dieses Textes. Absicht dieses Textes ist es, einen Überblick über poststrukturalistische Theorienbildung zu ermöglichen, mit besonderem Augenmerk auf deren politische Dimensionen bzw. auf die Möglichkeiten, poststrukturalistische Theorie in linken/linksradikalen Zusammenhängen fruchtbar werden zu lassen. Dies soll geschehen im Rahmen des Versuchs, komplexe und sprachlich oft etwas verschlüsselte theoretische Konzepte zugänglicher zu machen, ohne sie dabei zu trivialisieren. Der Bezug auf Sekundärliteratur scheint mir für diese Aufgaben nicht von entscheidender Rolle zu sein.

Ich tat mich schwerer mit der Beantwortung der zweiten Frage, da die Arbeit einige inhaltliche Dimensionen enthält (manchmal subtil, aber doch), die ich ihr so heute nicht mehr geben würde. Namentlich: 1. Die Abgrenzung des Poststrukturalismus als revolutionärer Theorie zum Marxismus spielt vor allem in der Einleitung eine große Rolle, zu einem Grade, der meine Absichten als ›anti-marxistische‹ erscheinen lassen könnte. Dies wäre heute sicherlich nicht meine Intention; im Gegenteil, ich bin heute eher geneigt, mich gegen alle platten Anti-Marxismen jedweder Couleur zu verwehren und einzustehen für die Aufrechterhaltung einer kritischen marxistischen Tradition und Analyse. 2. Eine in diesem Zusammenhang manchmal immer noch bemerkbare Tendenz (trotz der diesbezüglichen Überarbeitung – und trotz gegenteiliger Behauptungen im Text selbst), den Poststrukturalismus als den neuen revolutionären Theorienkomplex zu präsentieren. 3. Damit einhergehend das Fehlen eines kritischen Tones, wo er mir aus heutiger Sicht angebracht schiene (etwa was die »libidinöse« Analyse des Kapitalismus anlangt; oder eine Terminologie, die positiven Bezug auf »Kriegsmaschinen« nimmt). 4. Ein manchmal ins Polemische ausartender Ton gegen alle (wahren oder vermeintlichen) Feinde poststrukturalistischer Theorie.

Zu guter letzt habe ich mich dann jedoch auch hier entschlossen, wenn überhaupt, dann nur geringfügige Änderungen vorzunehmen bzw. eine bescheidene Zahl aktueller Anmerkungen anzufügen. Der Grund war, dass mir die Leidenschaft, die damals Anfang der 90er Jahre in das Verfassen dieser Arbeit geflossen ist, aus heutiger Distanz zwar überzogen vorkommen mag, ich sie jedoch gleichzeitig wesentlich mit dieser Arbeit verbunden sehe. »Authentizität« ist ein schwieriges Konzept, und ich scheue davor zurück, mich auf ein solches zu berufen; aber in gewissem Sinne geht es mir wohl wirklich darum, die Arbeit der Intentionen, mit denen sie damals geschrieben wurden, nicht völlig zu berauben: Politisch gesehen war ich ein mich bedingungslos der autonomen Szene zurechnender Frühzwanzigjähriger, der meinte, dass das revolutionäre Potential des Marxismus tatsächlich versiebt war, und der demnach Ausschau hielt nach alternativen revolutionären theoretischen Konzepten und glaubte, diese im Rahmen poststrukturalistischer Theorie gefunden zu haben. Akademisch gesehen studierte ich die PoststruktualistInnen in einem universitären Klima, in dem diese, ihre Texte, so wie jene, die sie studierten, nicht nur auf wissenschaftliche Skepsis oder Ablehnung stießen, sondern oft genug auf schlichte ideologische Anfeindung. (Die Debatte, die sich letztes Jahr um den in der New York Times von Jonathan Kandell veröffentlichten Nachruf auf Jacques Derrida entspann, war in vielfacher Hinsicht ein Vermächtnis dessen, was im angelsächsischen Raum als die cultural wars bekannt wurde.) So schiene es mir der Arbeit gegenüber tatsächlich ungerecht, ihr jede Erinnerung an diese persönlichen wie sozialen Bedingungen zu entziehen, unter denen sie nicht nur entstand, sondern die in vielerlei Hinsicht die Motivationen waren, sie überhaupt in Angriff zu nehmen. In diesem Sinne lässt sich die Arbeit wohl auch als eine Art Zeitdokument einer um ihre Behauptung in politischen wie wissenschaftlichen Zusammenhängen kämpfenden Denkbewegung lesen.

Was mir in jedem Fall positiv an der Publikation von Tier-Werden Schwarz-Werden Frau-Werden zum jetzigen Zeitpunkt erscheint, ist, dass sie in eine Zeit fällt, in der poststrukturalistische Theorie auf der einen Seite allzu oft feuilletonistisch als auslaufende französische Modeerscheinung trivialisiert und verniedlicht wird – und sich auf der anderen vielfach im Zuge einer Einbindung in akademische Lehrkanons institutionalisiert und verharmlost findet. Ich denke, es wäre höchst bedauerlich, wenn wir dadurch die aufrührerischen und subversiven Potentiale poststrukturalistischer Theorie aus den Augen verlieren würden, an die ich – bei allen Perspektivierungen, die ich vorzunehmen gewillt bin – heute noch so stark glaube wie vor zehn Jahren und die mir an Bedeutung nichts zu verlieren scheinen, solange wir mit einem ökonomisch-politischen Apparat zu kämpfen haben, der uns ein Leben in Selbstbestimmung, Solidarität und sozialer Gerechtigkeit verunmöglicht.

Ich bedanke mich an dieser Stelle noch einmal bei jenen, die mich (vor nunmehr schon recht langer Zeit) in unterschiedlicher Form beim Schreiben der ersten Fassung dieser Arbeit wesentlich unterstützt haben: Verena, Bernhard, Christian; bei allen, die aufgrund ihrer anhaltenden Lektüre und positiver Rückmeldung mein Interesse an einer Publikation der Arbeit aufrechterhielten; bei Willi, Martin und dem Unrast Verlag dafür, das Projekt schließlich aufzugreifen; und bei Nora, ohne deren hartnäckige Ermutigung und unermüdliches Engagement es letztlich trotz allem nicht dazu gekommen wäre.

Gabriel Kuhn, Juni 2005

I. Einleitung

I.1 Vorbemerkungen

Mein Verständnis des Begriffs Poststrukturalismus ist inhaltlich schwach und bescheiden. (»Du kannst jederzeit ein Wort durch ein anderes ersetzen. Wenn das eine dir nicht gefällt, dir nicht paßt, dann nimm ein anderes und setz es an dessen Stelle.«[1]) Er wird hier vornehmlich als deskriptiver Gruppenname verwendet, um anzudeuten, worum es in dem von ihm überschriebenen Text gehen soll – nämlich um das Denken jener Frauen und Männer, die im allgemeinen als PoststrukturalistInnen gehandelt werden: Gilles Deleuze, Félix Guattari, Michel Foucault, Jean-François Lyotard, Jacques Derrida, Roland Barthes, Jean Baudrillard, Luce Irigaray, Julia Kristeva, Hélène Cixious. Die Arbeiten dieser Männer und Frauen – und die Verbindungslinien, die ich zwischen ihnen ziehen will – werden den Text im Wesentlichen ausmachen. Dabei sollen Gemeinsamkeiten in ihrem Denken greifbar werden und mein Bild eines »poststrukturalistischen Denkens« entstehen. Letztlich wird wohl alleine deshalb vom Poststrukturalismus gesprochen, »weil es angenehm ist, wie jedermann zu reden und zu sagen, die Sonne geht auf, wo doch jeder weiß, daß das nur eine Redensart ist«[2].

Die Rede von einer politischen Philosophie des Poststrukturalismus mag unangebracht erscheinen, zumal dann, wenn wir mit Deleuze und Guattari übereinstimmen, die meinen: »alles ist politisch«[3]. Doch will ich das Politische nicht kategorisieren, sondern als Präzisierung verstanden wissen – als Erinnerung daran, was Philosophie ist: eben immanent politisch. Dass das Denken der PoststrukturalistInnen in dieser Arbeit vor allem in Zusammenhang mit konkreten Lebensverhältnissen gebracht wird, scheint, in dieser Hinsicht, bloße Konsequenz der Betonung dieses immanenten politischen Charakters des Philosophierens.

Warum ich über die politische Philosophie des Poststrukturalismus schreibe, hat einen einfachen Grund: Ich halte viele seiner Gedanken für wichtig, wenn es um den Kampf gegen reaktiv-faschistoide und zerstörerische Denk-, Lebens- und Organisationsformen geht. Mit dieser Überzeugung als Basis werde ich versuchen, so mit den DenkerInnen des Poststrukturalismus zu arbeiten, dass das Bild eines Denkens entsteht, dass sich gegen den Staat bzw. alles Staatliche richtet (vgl. III,2,5).

Das einzige formale Ziel der Arbeit besteht in der Entfaltung einer Schreibweise, für die gelten könnte: »Sie stellt sich außerhalb eines Textes und schafft ihm eine neue Äußerlichkeit, indem sie Texte aus Texten schreibt.«[4] »Es geht uns gewiß nicht um interpretierende Deutung nach dem Muster: Dieses bedeutet jenes.«[5] Dass das dabei entstehende Bild des Poststrukturalismus nur eine unter unzähligen möglichen Perspektiven sein wird, versteht sich von selbst.[6] Wobei sich die Perspektiven hoffentlich schon während der Lektüre zu multiplizieren wissen, denn »die Funktion des Werkes kann es nicht sein, denen den Mund zu verschließen, die es lesen«[7]: »Man nimmt das Buch als kleine asignifikante Maschine. Das einzige Problem ist, ob und wie sie funktioniert. Wie funktioniert sie für Euch? Wenn sie nicht funktioniert, wenn nichts passiert, muß man zu einem anderen Buch greifen. Jene andere Lektüre ist intensiv. Entweder kommt was rüber oder nicht. Es gibt nichts zu erklären, zu verstehen, zu interpretieren. Wie bei elektrischen Schaltungen.«[8]

I.2 Sozialhistorische Zusammenhänge

Poststrukturalistische AutorInnen beschreiben das politische Klima, in dem sie als Intellektuelle sozialisiert wurden, als von einem humanistisch argumentierenden Marxismus dominiertes. »Das Milieu, in dem ich zu schreiben begonnen habe«, meint etwa Derrida, »war sehr stark geprägt, um nicht zu sagen eingeschüchtert, vom Marxismus«[9], während Baudrillard vom »Imperialismus von Freud- und Marxinterpretationen«[10] spricht, und für Lyotard »der Marxismus … der letzte Zweig des doppelten Stamms von Aufklärung und Christentum«[11] ist. Foucault meint etwas zurückhaltender: »In den Jahren zwischen 1945 und 1965 (ich beziehe mich hier auf Europa) gab es eine bestimmte Art und Weise, richtig zu denken, einen bestimmten Stil des politischen Diskurses, eine bestimmte Ethik des Intellektuellen. Man mußte wohlvertraut sein mit Marx.«[12] In Frankreich war dieser Sachverhalt in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg besonders spürbar, da es der kommunistischen Partei (CPF) und den mit ihr verbundenen Intellektuellen gelang, ihr Engagement in der Résistance wirksam auszuspielen, wenn es darum ging, sich als ehrliche und entschlossene Bewegung zur Befreiung der Menschheit darzustellen. »Angelehnt an die Résistance und gestützt auf die UdSSR und das ›Sozialistische Lager‹ als alleinigem Besitzer der ›wahren Lehre‹ war die kommunistische Partei gleich dreifach legitimiert: historisch, politisch und theoretisch. Sie stellte das Gesetz für alles auf, was sich links gab – indem sie es ihm entweder unterordnete oder mit dem Bannstrahl traf. Sie magnetisierte gleichsam das politische Feld, indem sie die Eisenfeilspäne der Umgebung ausrichtete und ihnen einen Sinn auferlegte; man war entweder dafür oder dagegen, Verbündeter oder Gegner.«[13] Aus dieser marxistischen Stärke stiegen Leute wie Maurice Merleau-Ponty oder vor allem Jean-Paul Sartre zu beinahe unantastbaren Autoritäten in moralisch-politischen Fragen auf (Foucault-Biograph Eribon spricht von einer »ungeteilten Herrschaft, die Sartre fünfundzwanzig Jahre lang auf intellektuellem Gebiet in Frankreich ausgeübt hat«[14]), zumal dann, wenn sie (wie die beiden Erwähnten es taten) durch Kritik am real existierenden Sowjetsozialismus und bestimmten Strukturen der CPF jeden Anschein eines dogmatischen Stalinismus von sich weisen konnten. Foucault: »Als ich jung war, war gerade er (Sartre) es und alles, was er repräsentierte, der Terrorismus von Les Temps modernes, wovon ich mich befreien wollte.«[15] Barthes: »Meine Generation hatte das Bedürfnis, Sartres Unternehmung, die den Menschen in das Halseisen der historischen Dialektik einschließt, zu erschüttern.«[16]

Gleichzeitig sah mensch sich am Ende der 60er Jahre neuen Herausforderungen gegenüber: der Totalisierung des Sowjetblocks; der zunehmenden Angepasstheit der eurokommunistischen Parteien; der immer bedrohlicheren Stärke des imperialistischen Kapitalismus; der sozialen und ökonomischen Probleme der entkolonialisierten Länder; der Stagnierung sozialistischer Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt; der Stärkung neuer selbstbewusster Bewegungen, die sich nicht mehr mit einer Nebenwiderspruchsposition abfinden wollten (die Frauenbewegung, Black Power Bewegungen, die SchwulenLesbenbewegung – als Beispiele); der veränderten politischen Situation in den westlichen Industriestaaten (»Sozialdemokratisierung«); dem empirischen Verschwinden einer Arbeiterklasse als Revolutionssubjekt; Problemkreisen neuer Dringlichkeit (ökologische Katastrophen, Aufrüstung, selbstzerstörerische Tendenzen in der Metropolenjugend) und auch neuen wissenschaftlicher Arbeiten (vgl. I,3). Die Frage, inwieweit ein humanistischer Marxismus noch in der Lage war, auf diese Entwicklungen zu antworten, wurde unausweichlich. Zumal, da immer offensichtlicher zu werden schien, wie festgefahren die gesamte marxistische Bewegung zu dieser Zeit bereits war: »Gewerkschaften trugen dazu bei, die Ausbeutung der Arbeitskraft zu steuern, die Partei diente dazu, die Entfremdung des Bewusstseins zu modulieren, Sozialismus war ein totalitäres Regime, und Marxismus war nichts anderes mehr als ein … Raster von Worten.«[17] Die Tatsache, dass einige Intellektuelle, von obigen Fragestellungen ausgehend, kein Vertrauen mehr in den Marxismus und Humanismus setzten und nach neuen bzw. anderen theoretischen Perspektiven suchten, um den genannten Herausforderungen gewappnet begegnen zu können, war zweifelsohne eine wichtige Bedingung der Entwicklung poststrukturalistischen Denkens. »Vielleicht seit der Oktoberrevolution in Rußland 1917 … gibt es zum ersten Mal auf der Welt nicht einen einzigen Punkt, durch den das Licht einer Hoffnung scheinen könnte. Es gibt keine Orientierung mehr. Auch nicht in der Sowjetunion, das versteht sich von selbst … Es gibt keine einzige revolutionäre Bewegung, erst recht kein einziges ›sozialistisches‹ Land, auf das wir uns berufen könnten … Wir sind zurückgeworfen auf das Jahr 1830, das heißt: Wir müssen neu beginnen. … Wir müssen ganz von vorne anfangen und fragen: Von wo aus kann man die Kritik an unserer Gesellschaft leisten, … da ja alles, was diese sozialistische Tradition in der Geschichte hervorgebracht hat, zu verurteilen ist.«[18] Es verbreitete sich ein entschlossener anti-marxistischer Elan: »Man kann sagen, daß das, was seit 68 geschehen ist - und wahrscheinlich dasjenige, was 68 vorbereitet hat -, zutiefst antimarxistisch war. Wie werden die revolutionären Bewegungen Europas sich vom ›Marx-Effekt‹ freimachen können, von den dem Marxismus des 19. und 20. Jahrhunderts eigenen Institutionen? Das war die Ausrichtung dieser Bewegung. Bei diesem Wieder-in-Frage-Stellen der Identität Marxismus=revolutionärer Prozeß, eine Identität, die eine Art Dogma bildete«[19], kam es zu einer »theoretischen Revolution, die sich nicht nur gegen bürgerliche Staatstheorien richtet, sondern auch gegen die marxistische Konzeption der Macht und ihrer Beziehungen zum Staat. Es hat den Anschein, als ob endlich etwas Neues seit Marx auftauchte. Es sieht so aus, als sei die Komplizenschaft hinsichtlich des Staates zerrissen.«[20]

Das Ereignis, das diese Entwicklung radikaler und revolutionärer, aber deshalb gerade nicht marxistischer Theorien ganz entscheidend vorangetrieben hat, war schließlich der Mai 68:»Der Mai ’68 erweist sich als Stichdatum des zeitgenössischen französischen Denkens; er ist als Resultat intellektueller Vorarbeit bezeichnet worden und hat alle wesentlichen Strömungen der Philosophie seither nachhaltig beeinflußt.«[21]

Die unter dem Namen Pariser Mai bekannten Proteste, Demos, Straßenschlachten und Streiks trafen Frankreich 1968 völlig unvorbereitet – »ein totaler Überraschungseffekt«[22], »das wohl überraschendste und für linke Intellektuelle aufregendste Ereignis überhaupt«[23]. Das Lauffeuer anti-institutioneller Revolten, das durch einen Allerweltsanlass in der Vorstadtuni von Nanterre entzündet wurde, seine Höhepunkte in den Pariser Barrikadennächten (3.-11. Mai) und in einem zweiwöchigen Generalstreik (14.-27. Mai) hatte, und sein jähes Ende nach dem Einschreiten de Gaulles (am 29. Mai) fand, konnte so von niemandem erwartet werden. »’68, ein noch immer unerklärtes Ereignis, ein Gegenstand unzähliger Fehleinschätzungen, sogar auf seiten derer, die mitgemacht hatten.«[24]

Von den Ereignissen überrollt wurde auch die (marxistische) Linke, deren Revolutionsbild derart spontaneistisches Aufbegehren offenbar nur schlecht erfasste, und die dementsprechend wenig mit dem, was sich im Mai ereignete, umzugehen wusste. Diese Unfähigkeit, sich in plötzlich auftretende Proteste angemessen einzuschalten, war einer der Gründe, warum der so gewaltig und massiv erscheinende Mai-Aufstand letztlich so rasch wieder verebbte und neutralisiert wurde, und sie war damit Beleg dafür, dass auf einen theoretisch wie organisatorisch festgefahrenen Marxismus kaum noch zu setzen war, wenn es um die Umwälzung der bestehenden Staats- oder Produktionsverhältnisse ging. Im Gegenteil: mensch musste vielmehr den Eindruck gewinnen, dass die linken Organisationen in echten Konfliktsituationen die Seite des staatlichen Status quo ergreifen und sich gegen die Revoltierenden wenden. Es lag der Gedanke in der Luft, »daß sich während dieser entscheidenden Perioden etwas wie ein Wunsch innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung manifestiert hat und dann von den Ordnungskräften ebenso wie von den Parteien und den sogenannten Arbeiterorganisationen, den Gewerkschaften und, bis zu einem gewissen Grade, selbst von den linksgerichteten Organisationen unterdrückt oder liquidiert worden ist«.[25] »Verstört, bestürzt und schockiert mußten die Protestierenden des Mai … feststellen, dass die ›proletarischen Führer‹ rasch dabei waren, ihre Bewegung zu verurteilen.«[26] »Im Mai 1968 waren es die Gewerkschaften, die das Regime gerettet haben.«[27] Der Mai bestätigte, dass der Marxismus keine Antworten mehr bieten konnte für die veränderten Lebensverhältnisse sowohl im Trikont als auch in den westlichen Industriestaaten, die aktualisierte Analyse- und Widerstandsformen erforderten. »Der Antiautoritarismus der französischen Gauchisten gewann seine besondere Note dadurch, daß er sich nicht nur gegen die Herrschaftsstrukturen des bürgerlichen Staats und seiner Institutionen wandte, sondern fast schärfer noch gegen die Kommunistische Partei und die Gewerkschaft CGT. PCF und CGT wurden im Mai als mächtige Organisationen erlebt, die den direkten Zugang der Gauchisten zu den Arbeitern … effektiv verhinderten. Die Reaktion war ein aggressiver Antikommunismus, der die ›stalinistischen Apparate‹ von KP und CGT ins Visier nahm und eines der Hauptmotive für den Aktionismus der Maoisten im Nachmai abgab.«[28]

Zu denen, für die der Mai 68 (unter anderem) so etwas wie ein revolutionäres Versagen des Marxismus darstellte, gehörten diejenigen Frauen und Männer, die hier als PoststrukturalistInnen vorgestellt werden. Exemplarisch für die Arbeitsvoraussetzungen der nächsten Jahre hat es sich bei der Zusammenarbeit von Deleuze und Guattari »weniger darum gehandelt, daß wir unser Wissen gemeinsam nutzen wollten, sondern darum, daß wir uns mit unseren Ungewißheiten, ja, sagen wir in der gewissen Verwirrung zusammentun wollten, in die uns die Wende, die die Ereignisse nach dem Mai 68 genommen hatten, versetzt hat.«[29]

I.3 Wissenschaftshistorische Zusammenhänge

Wichtig für den Poststrukturalismus sind zunächst die Strukturalisten Louis Althusser und Michel Serres sowie Claude Lévi-Strauss, Jacques Lacan und der Genfer Linguist Ferdinand de Saussure, denen zwar allen (mehr oder weniger, aber doch immer ein bisschen) Respekt gezollt wird, die aber oft auch Ziele heftiger Attacken sind (vor allem was Lacan betrifft, werden wir davon noch hören).

Unter den zum gängigen philosophiehistorischen Kanon zählenden DenkerInnen nimmt Nietzsche insofern eine herausragende Stellung ein, als dass die im Poststrukturalismus regelmäßig zu findenden Bezugnahmen auf Nietzsche durchweg anerkennend bis huldigend und nie schlicht ablehnend sind. »Ein tiefsitzender Nietzscheanismus«[30], der Deleuze fragen lässt, »wer unsere heutigen Nomaden sind, wer wirklich unsere Nietzscheaner sind«[31].

Marx und Freud geben zwar ebenfalls zu vielen Auseinandersetzungen Anlass, werden aber weit skeptischer behandelt, denn »Marx und Freud sind vielleicht der Beginn unserer Kultur, aber Nietzsche ist etwas ganz anderes, nämlich der Beginn einer Gegenkultur«[32].

Weiter in der Philosophiegeschichte: die Sophisten, Wittgenstein und Kant werden vor allem Lyotard zu wichtigen Bezugspunkten; bei Deleuze wird, durchaus zurecht, von einer Bezugslinie »Epikur, Lukrez, Duns Scotus, Spinoza, Hume, Bergson«[33] gesprochen; weitere oft referierte DenkerInnen sind Paul de Man (bei Derrida), der Kopenhagener Linguist Louis Hjelmslev sowie der Ethnologe Pierre Clastres (Deleuze und Guattari), Gaston Bachelard (Foucault), die christlichen MystikerInnen (Irigaray), und allgemein George Bataille und Pierre Klossowski.

Neben diesen theoretischen Anknüpfungspunkten ist es ein Charakteristikum poststrukturalistischen Schreibens, immer wieder Bezug zu nehmen auf SchriftstellerInnen und KünstlerInnen, auf soziale Gruppen und Bewegungen: angloamerikanische Erzähler (Melville oder Fitzgerald), die Beatniks (Kerouac oder Burroughs), Größen erotischer Literatur (de Sade oder Miller). Virginia Woolf, James Joyce, Stéphane Mallarmé oder Antonin Artaud werden ebenso geschätzt wie die Maler Paul Cézanne oder Robert Delaunay, der Filmemacher Jean-Luc Godard oder der Musiker John Cage, ganz zu schweigen von dem Interesse, das gezeigt wird an den Lebensformen der Inhaftierten und Psychiatrisierten, an den Existenzweisen der Randgruppen und Subkulturen oder an den Aktivitäten militanter GenossInnen.

Anmerkungen

1      Deleuze/Parnet, Dialoge, S. 11.

2      Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 12.

3      ebda., S.290. – Oder sogar: »Vor dem Sein gibt es die Politik« (ebda., S. 278). Und selbst oft als ›apolitisch‹ eingestufte PoststrukturalistInnen schreiben: »Ach, der ›Bereich des Politischen‹! Ich würde sogar sagen, daß ich an nichts anderes denke, auch wenn es nicht so aussehen mag« (Derrida, in: Philosophien, S. 66).

4      Foucault, in: Antworten der Strukturalisten, S. 166. – »Die Grenzen eines Buches sind nie sauber und streng geschnitten: über einen Titel, die ersten Zeilen und den Schlußpunkt hinaus, über seine innere Konfiguration und die es autonomisierende Form hinaus ist es in einem System der Verweise auf andere Bücher, andere Texte, andere Sätze verfangen: ein Knoten in einem Netz« (Foucault, Archäologie des Wissens, S. 31).

5      Deleuze/Guattari, Kafka, S. 12.

6      Deleuze und Guattari leiten ihr Buch Kafka unter anderem mit folgenden Worten ein: »Also steigen wir einfach irgendwo ein, kein Einstieg ist besser als ein anderer, keiner hat Vorrang, jeder ist uns recht … Das Prinzip der vielen Eingänge behindert ja nur das Eindringen des Feindes, des Signifikanten; es verwirrt allenfalls jene, die ein Werk zu ›deuten‹ versuchen, das in Wahrheit nur experimentell erprobt sein will« (Deleuze/Guattari, Kafka, S. 7).

7      Barthes, Kritik und Wahrheit, S. 84.

8      Deleuze, Kleine Schriften, S.15. – »Diese Art, intensiv zu lesen, in Beziehung zum Außen, Strom gegen Strom, Maschine mit Maschine, Experimenten, Ereignissen, die nichts mit einem Buch zu tun haben; das Buch zerfetzen, es mit anderen, egal welchen Dingen zusammen funktionieren lassen etc… So liest man, wenn man verliebt ist« (Deleuze, ebda., S. 17).

9      Derrida, in: Philosophien, S. 56.

10    Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, S. 7.

11    Lyotard, Die Mauer, der Golf und die Sonne, S. 11.

12    Foucault, Dispositive der Macht, S. 225.

13    Foucault, Von der Freundschaft, S. 125f.

14    Eribon, Michel Foucault, S. 249.

15    Foucault, zit.n.: Eribon, Michel Foucault, S. 401.

16    Barthes, zit.n.: Altwegg, Die Republik des Geistes, S. 185.

17    Lyotard, Streifzüge, S. 119.

18    Foucault, zit.n.: Schiwy, Kulturrevolution und ›Neue Philosophen‹, S. 19f. – »Alles beginnt mit Marx, setzt sich fort mit Lenin und endet bei ›Willkommen Herr Breschnew!‹« (Deleuze/Guattari, Anti-Ödipus, S. 487).

19    Foucault, Die Mikrophysik der Macht, S. 107.

20    Deleuze, in: Der Faden ist gerissen, S. 109. – Und weiter: »Wenn die derzeitigen Kämpfe kaum etwas mit dem Marxismus zu tun haben, so deshalb, weil er sich auf Grund seiner Identifikation von Macht und Staat den wirklichen Volkskämpfen gegen die Machtmechanismen entgegengesetzt« (Deleuze, in: Der Faden ist gerissen, S. 133).

21    Altwegg/Schmidt, Französische Denker der Gegenwart, S. 23.

22    Guattari, Psychotherapie, Politik und die Aufgaben der institutionellen Analyse, S. 73.

23    Hobsbawm, Revolution und Revolte, S. 322.

24    Lyotard m.a., Immaterialität und Postmoderne, S. 37.

25    Interview mit Deleuze und Guattari in: La Quinzaine littéraire 143/1972. (Übersetzungen aus französischen und englischen Originaltexten alle vom Autor.)

26    Descombes, Das Selbe und das Andere, S. 157.

27    Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, S. 46.

28    Paas, Frankreich: der integrierte Linksradikalismus, S. 194f.

29    Deleuze/Guattari-Interview in: La Quinzaine littéraire 143/1972.

30    Deleuze, Foucault, S. 100.

31    ebda., S. 121.

32    Deleuze, Nietzsche, S. 106. – »Wenn die beiden großen Verlierer … der Marxismus und die Psychoanalyse sind, so liegt das daran, daß sie mit den Herrschaftsmechanismen … allzu eng verquickt waren« (Foucault, Mikrophysik der Macht, S. 129). – »Nicht, daß uns die Texte von Freud und die Texte von Marx nichts mehr angingen. Die ganze Frage besteht darin, zu wissen, was für ein Gebrauch davon gemacht werden soll. Es gibt, wie für jede Äußerung, zwei mögliche Arten von Gebrauch: einen Gebrauch, der sich des Textes als eines Mittels der Wahrnehmung bedient, um die wirklichen gesellschaftlichen Verbindungen und die Verkettung der Kämpfe zu klären, und einen Gebrauch, der dazu neigt, die Wirklichkeit auf den Text einzuengen, zu reduzieren« (Guattari, in: Antipsychiatrie und Wunschökonomie, S. 96).

33    Hermann Kocyba, in: Metzler Philosophen Lexikon, S. 174.

II. Denkformen

II.1 Allgemeines

Die, gerade im Poststrukturalismus betonte und theoretisch thematisierte, unauflösliche Verbundenheit von Denk-, Sprach- und Lebensverhältnissen (deren Explikation im Poststrukturalismus bis zu den Bemerkungen reicht, »daß der Kapitalismus eine neue, aber verschobene Schaltstation des Platonismus ist, ein Platonismus des gesellschaftlichen und ökonomischen Lebens«[1]) erfordert einen Blick auf jene Teile poststrukturalistischen Arbeitens, die nicht von den unmittelbaren gesellschaftlichen Organisationsformen handeln, sondern es sich zur Aufgabe machen, jene Denkverhältnisse zu analysieren, zu bekämpfen und zu überwinden, die notwendigerweise mit herrschaftlich-totalitären Lebensformen korrelieren. Denn heute gilt: »Das Denken als solches ist bereits konform mit einem Modell, das es vom Staatsapparat übernommen hat und das ihm Ziele und Wege, Leitungen, Kanäle, Organe, ein ganzes Organon vorschreibt«[2] (»kein Wunder, daß der Philosoph ordentlicher Professor oder Staatsbeamter geworden ist«[3]).

Die nicht aufzulösende Verwobenheit von Denk-, Sprach- und Lebensverhältnissen wird im Poststrukturalismus expliziert und zur Basis des Arbeitens. Wo nämlich diese Einheit (»eine komplexe Einheit: ein Schritt für das Leben und ein Schritt für das Denken. Die Lebensformen erregen die Denkweisen und die Denkformen erschaffen die Lebensweisen. Das Leben aktiviert das Denken und das Denken bejaht auf seine Weise das Leben«[4]) geleugnet wird, kennen wir »nur noch Beispiele, in denen das Denken das Leben zügelt, verstümmelt und vernünftig macht«[5]. »Anstelle der Einheit von aktivem Leben und es bejahendem Denken sieht man, wie das Denken sich die Aufgabe gibt, über das Leben zu urteilen, ihm angeblich höhere Werte entgegenzustellen und es an diesen Werten zu messen und zu begrenzen – das Denken verdammt das Leben. Zur gleichen Zeit, als das Denken derartig negativ wird, bemerkt man, wie das Leben an Wert verliert, aufhört, aktiv zu sein und sich auf seine schwächsten Formen reduziert, auf kränkliche Formen, die allein mit den sogenannten höheren Werten harmonieren. Ein Triumph der ›Reaktion‹ über das aktive Leben, und die Negation des bejahenden Denkens. (…) Die Entartung der Philosophie wird mit Sokrates klar sichtbar. … Er macht aus dem Leben eine Sache, die beurteilt, gemessen und eingegrenzt sein muß, und aus dem Denken macht er ein Maß, eine Grenze, die im Namen höherer Werte – wie das Göttliche, das Wahre, Schöne und Gute – arbeitet… Mit Sokrates erscheint der Typus des freiwillig und spitzfindig geknechteten Philosophen.«[6] Das Denken, das sich die PoststrukturalistInnen wünschen, ist: »Statt einer sich dem Leben entgegenstellenden Erkenntnis ein Denken, das das Leben bejahte. Das Leben wäre die aktive Kraft des Denkens, aber dieses die bejahende Macht des Lebens. Beide gemeinsam, sich wechselseitig ziehend, gingen sie in dieselbe Richtung, im Gleichschritt, vorwärts im Bemühen um eine bisher noch beispiellose Schöpfung. Denken würde bedeuten: entdecken, neue Möglichkeiten des Lebens erfinden.«[7] Diese Haltung impliziert jene theoretischen Basis-Positionen, die die Unterschiede zwischen den poststrukturalistischen und vielen anderen Denkweisen markieren und oft eine vehement ablehnende Haltung zum Poststrukturalismus mit sich bringen.

Diese Positionen lassen sich negativ wie positiv beschreiben:

Der Poststrukturalismus wendet sich gegen…

… die Idee einer Wahrheit, die es zu erkennen, entdecken oder erfassen gilt, die auf einer abstrakten Konstruktion einer dualistischen Welt (Sein-Schein, Tiefe-Oberfläche, Wissen-Meinung, Bewusstsein-Gegenstand, Innen-Außen) beruht, und die ein Instrumentarium zur intellektuellen Legitimation der Herrschaft bereitstellt (»das Sein, das Wahre, das Wirkliche sind … Arten, das Leben zu verstümmeln, es reaktiv werden zu lassen«[8]).

… die Idee einer Wesenheit, die den Charakter des Seins (mehr oder weniger) bestimmt, und dieses auf (mehr oder weniger) starre, unveränderbare Zustände festlegt, sodass das Entfalten fluktuierender und revolutionärer Theorien als unangemessen und chaotisch diffamiert und bekämpft wird.

… die Idee eines autonomen, rationalen und bewusstseinstragenden Subjekts, die erstens eine Trennung zwischen dem vernünftigen Menschen und der (als etwas Minderwertiges konstruierten) Natur, den Wilden und Wahnsinnigen (denen allen zum wahren Mensch-Sein etwas Wesentliches fehlt) postuliert, und die zweitens eine Individualisierung der (ja jeweils ›autonomen‹) Einzelnen vorantreibt, die mit der Entwicklung des individuell ökonomisierten (›kapitalisierten‹) und diszipliniert-unterworfenen Bürgertums korreliert.

… die Idee von der Verfügbarkeit der Sprache, die versucht, Sprache als Instrumentarium der Wirklichkeits-Abbildung im Dienste kommunikativer ›Interessen‹ und ›Bedürfnisse‹ der Menschen darzustellen, was zur Unterbindung einer zur Gestaltung lebendigen Daseins notwendigen Ausdrucksvielfalt beiträgt.

… und alle damit in Zusammenhang stehenden Ideen (vgl. III,2), die sich (wie jeder Streit rund um den Poststrukturalismus) in irgendeiner Form immer auf die vier angeführten zu beziehen scheinen.

Diese Ideen werden als von den konkreten und vielfältigen Lebensverhältnissen abstrahierende Konstruktionen gesehen, die mit bestimmten Machtverhältnissen Hand in Hand gehen, und – genauso wie die jeweiligen Machtverhältnisse – keinen Anspruch auf allgemeine Akzeptanz im Sinne irgendeiner (intellektuellen, religiösen, moralischen oder anderen) Legitimation erheben können, sondern sich ihre Akzeptanz selbst terroristisch-diskursiv erarbeiten und absichern (vgl. zum Diskurs III,2,3). Eigen ist diesen Konstruktionen dabei nicht nur die aktuelle Stützung bestimmter Machtverhältnisse, sondern auch die Verhinderung theoretischer Entwicklungen, die aus einem Sich-Einlassen auf die Pluralität dessen, was wir Wirklichkeit nennen, Konzeptionen zur Entfaltung bringen könnten, die als Analyse- und Denkformen gleichzeitig Existenz- und Widerstandsformen wären.

Plakativ formuliert ergibt sich aus den vier erwähnten grundlegenden Ablehnungen traditioneller Voraussetzungen abendländischer[9] Philosophie Folgendes:

Die Frage »wahr oder falsch?« ist bedeutungslos bzw. falsch gestellt (im Unterschied etwa zu: »was gilt als wahr?« oder »wie funktioniert da oder dort der Ausdruck ›wahr‹?«), das Darstellen (oder vielleicht: Unterstellen) von Essenzen bzw. Wesenheiten völlig uninteressant, das autonome Subjekt ein Schwindel und die Verfügbarkeit des Menschen über die Sprache eine maßlose Selbstüberschätzung. Das heißt kurzum: Theorien, die auf die Erkenntnis oder Erkenntnismöglichkeit der Wahrheit bauen (oder auch nur auf die Möglichkeit der Annäherung an das nicht aufgegebene Ideal der Wahrheit), auf unveränderliche Seinszustände, auf Rationalität oder Intentionalität des Subjekts, oder auf das kommunikative Modell der Sprache, werden vom Poststrukturalismus grundlegend in Frage gestellt. Was schließlich zur Folge hat, dass jegliche von Platon, Aristoteles, Descartes, Kant oder Hegel herrührenden Denksysteme abgelehnt werden, und zwar brüsk – weswegen die Differenzen zwischen den PoststrukturalistInnen und ihren GegnerInnen tatsächlich oft unüberbrückbar scheinen, weil sie grundlegende Auffassungen von Theorie, Erkenntnis, Welt, Mensch, Sprache und Leben betreffen. Anders gesagt: Wer an einem Erkenntnisideal welcher Art auch immer (»aber stimmt das jetzt auch?«), an der Vorstellung welttranszendenter oder weltimmanenter Konstanten (»aber was ist es jetzt wirklich?«), an der Intentionalität eines Autors (»was hat er mitzuteilen?«), an der repräsentativen Funktion von Sprache (»was will sie damit jetzt genau sagen?«) oder an allem, was ähnliche Fragen impliziert (»wer hat jetzt recht?«, »aber was verbirgt sich dahinter?«, »warum kann er das nicht klar unddeutlich sagen?« oder vielleicht sogar »was ist sein wahres Ich?«) festhält, der oder die wird mit dem Poststrukturalismus nicht viel anfangen, nicht mit ihm arbeiten können, und wird Schwierigkeiten haben, sich mit Feststellungen abzufinden wie: »Es gibt keine Natur, keine Geschichte, keinen lieben Gott, es gibt keinen verbindlichen, gegebenen, offenbarten oder enthüllten Sinn, es gibt Energien (eine Redensart) in den Farben, den Klängen und den Sprachen, die nur ausnahmsweise invarianten Ordnungen folgen; es ist an uns, mit ihnen zu spielen, wie mit allen anderen Materien, um Perspektiven und Beziehungen daraus zu machen. In diesen Spielen geht es nicht darum, die Wahrheit zu suchen, das Glück zu erlangen oder seine Meisterschaft zu demonstrieren, sondern ganz einfach um die Lust an Perspektivierungen, und sei’s auch nur in kleinem Maßstab«[10]; ja solche Behauptungen werden ihm/ihr vielleicht wirklich nichts anderes als Zeugnis schlimmster Irrationalität, Beliebigkeit, Unseriosität und Unwissenschaftlichkeit sein, etwas für der Argumentation unfähige Chaoten[11], die die reine akademische Landschaft mit ihrem nichts sagenden und blödsinnigen Schrott verpesten, Ausdruck bloßer Scharlatanerie und wichtigtuerisches Indiz einer bedrohlichen intellektuellen Dekadenz, und darüber hinaus noch präsentiert von SympathisantInnen theoretischen und politischen Terrors.

Den PoststrukturalistInnen ist das mehr oder weniger egal, weil sie – da es um die Unterstützung von Wünschen und nicht um Wahrheitsideale geht (»man sollte nicht danach forschen, ob eine Idee richtig oder wahr ist«[12]) – niemandem etwas aufdrängen wollen, das nicht gewollt wird: »Wir wenden uns nicht an jene, die finden, daß es der Psychoanalyse gut geht und daß ihre Ansicht vom Unbewußten richtig ist. Wir wenden uns an jene, die finden, daß Ödipus, die Kastration, der Todestrieb usw. … monoton, trübselig und ein Röcheln sind.«[13] »Wir haben nicht den Plan, wahr zu sein«[14], weil »sich nicht mehr die Frage stellt ›Glaube ich daran oder nicht?‹, sondern ›Was fange ich damit an?‹«[15] »Das ist nie falsch, was irgend jemand sagt, es ist nicht falsch, sondern dumm oder völlig belanglos. … Die Begriffe Wichtigkeit, Notwendigkeit, Interesse sind tausendmal entscheidender als der Begriff der Wahrheit.«[16] Dementsprechend bescheiden fällt die Beurteilung der eigenen Arbeit, des Bücherschreibens, aus: »Heute richtig zu lesen heißt, dahin zu gelangen, mit einem Buch nicht anders umzugehen als mit einer Schallplatte, die man sich anhört, mit einem Film oder mit einer Fernsehsendung, die man sich anschaut, einem Chanson, das man zuhörend zu verstehen sucht: Jede Einstellung zum Buch, die dem Leser einen besonderen Respekt abverlangt, eine andersartige Aufmerksamkeit, ist obsolet. Begriffe sind wie Töne, Farben oder Bilder – Intensitäten, die dir passen oder nicht, die passieren oder nicht.«[17] Wer mit den Büchern der PoststrukturalistInnen nichts anfangen kann (wem sie nicht wichtig sind, wen sie nicht interessieren), kann eben nichts damit anfangen – na und?; als gäbe es sonst nichts Gutes und Wichtiges: »Behandelt mein Buch wie eine Brille, die auf die Außenwelt gerichtet ist, und wenn sie euch nicht paßt, nehmt eine andere, findet selber euer Instrument, euer Kampfgerät.«[18]

Dies ist jedoch nicht mit einer Ist-ja-alles-nicht-so-wichtig-Beliebigkeit zu verwechseln. Der Poststrukturalismus baut durchaus auf starken Prinzipien auf: Die Ablehnungen der Wahrheit, der Wesenheit, des autonomen Subjekts und einer bloßen Kommunikationssprache sind erstens mit starken politischen Wünschen verbunden (dazu werden wir noch ausführlich kommen) und stellen zweitens jene (durchaus starken) Kriterien dar, die es etwa möglich machen, dem Poststrukturalismus gerecht werdendes Denken und Schreiben von ihm nicht gerecht werdendem zu unterscheiden. Das heißt auch, dass der Poststrukturalismus nicht deshalb unendliche Möglichkeiten der Theorienbildung eröffnet und seine eigenen nicht als die subversiven Theorien verkauft, weil er alles der Beliebigkeit und Willkür überlässt, sondern weil er zwar ein Denken, gegen das er wirken will, genau ausmacht und benennt, ihm aber nicht das andere oder revolutionäre Denken gegenüberstellt, sondern nur um Spuren für spezifische und vielfältige Entfaltungen subversiven und beweglichen Denkens bemüht ist - was uns zur positiven Beschreibung des poststrukturalistischen Denkens führt:

a) Der Poststrukturalismus ist pluralistisch-univok. Die Pluralität und die Differenz, die nicht in einer höheren und wahren Ganzheit oder Identität negiert werden können, ohne sich in die oben beschriebenen und abgelehnten Denkschemata zu begeben, spielen im Poststrukturalismus eine entscheidende Rolle. Allem (Ereignissen, Diskursen, Lebensformen…) muss mensch in seiner singulären und unaustauschbaren Einzigartigkeit gerecht werden, jede Absicht, das Einzigartige einer Gesamtheit unterzuordnen, tut ihm Gewalt an. Dieser Versuch, ein Denken der Differenz zu entfalten, ist nicht vom Kampf gegen alle Hierarchisierungen der Wirklichkeit zu trennen, das heißt, dass weder nach dem Wirklichsten des Wirklichen noch nach dem wirklich Wirklichen noch nach der wirklichen Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit gesucht wird, sondern dass es ein sich stets veränderndes Feld der Wirklichkeit gibt, mit dem wir zu tun haben, das somit zwar eines, aber kein identisches, sondern ein vielfältiges ist. Auf diesem Feld bewegt sich das Denken der PoststrukturalistInnen.

b) Der Poststrukturalismus ist materialistisch. Nicht in einer vulgären Version eines es-gibt-keine-Seele-hab’-nie-eine-gesehen, sondern als konsequente Entsprechung der Verabschiedung erkenntnistheoretischer Paradogmen[19] der Zweiteilung der Welt (Geist und Bewusstsein vs. Körper und toter Materie), als Materialismus, der der stofflichen Verwobenheit der Spiele und Bewegungen des Lebens angemessen ist (aus denen nichts mehr als unabänderlich ›Totes‹ ausgegrenzt wird – deshalb steht bei den PoststrukturalistInnen der Vitalismus hoch im Kurs: »Alles, was ich geschrieben habe, war vitalistisch, zumindest hoffe ich es«[20]).

c) Der Poststrukturalismus ist heidnisch-atheistisch. Ohne eine Metaphysik-ist-sinnlos-weil-unbeweisbar-Attitüde zu bemühen, stößt der Poststrukturalismus alle Varianten des göttlichen Thrones (universale Monotheismen, königliche Despotien, humanistische Ideale, liberalistische Universalrechte usw.) um, die das fröhliche Umherschweifen der PaganInnen einzusperren trachten.

d) Schließlich ist der Poststrukturalismus ein Funktionalismus und Pragmatismus, dem es erstens nicht darum geht, wahre Theorien zu entwerfen, sondern Theorien als Erklärungspraktiken verschiedener Zusammenhänge zu produzieren, die als solche gut oder weniger gut zu gebrauchen sind (gut oder weniger gut funktionieren: »einzig der Gebrauch, den man (…) macht, zählt. Kein Problem des Sinns, nur mehr des Gebrauchs«[21]), und der zweitens bestehende Theorien nicht dahingehend analysiert, ob sie wahr oder falsch sind, sondern wie sie funktionieren, wozu sie wem bzw. was von Nutzen sind, wie sie legitimiert werden, in welchen Wechselbeziehungen sie mit anderen Theorien stehen, mit welchen Machtverhältnissen sie korrelieren, welche sie verhindern, usw. (»Ich weise nicht den Dialog zurück, aber mir ist es lieber, wenn der Dialog nicht zu ideologischen Einwendungen führt. Was mir gefällt, sind die maschinellen Einwendungen. Sagt man mir, mit einem anderen Wort als ›Begehren‹ liefe es besser, gut, dann bin ich aufmerksam und gespannt wie die Jungs, die sich über den Motor ihres Mopeds beugen«[22]).

Der Poststrukturalismus »ist der erklärte Verzicht jeglicher Bezugnahme auf ein Zentrum, auf ein Subjekt, auf eine privilegierte Referenz, auf einen Ursprung oder auf eine absolute arche«.[23] Deutlicher kann kaum veranschaulicht werden, dass der Poststrukturalismus auf starken Prinzipien aufbaut und dass nichts an ihm beliebig ist.

Handelt es sich nun beim Poststrukturalismus um ein ›neues‹ Denken? Keineswegs, und keine PoststrukturalistIn behauptet das. Es geht schlicht um ein Denken und Leben, das es als gegenwärtig unterworfenes und/oder in seiner Radikalität nicht zur Entfaltung kommendes gibt (und immer gegeben hat) und das sie zu stärken trachten.

II.2 Zur Analyse herrschender Denkformen

In diesem Abschnitt werden bereits angesprochene zentrale Ideen abendländischer Denkgeschichte genauer analysiert und um einige untrennbar zu ihnen gehörende ergänzt, um jenes Denken zu beschreiben, gegen das sich der Poststrukturalismus wendet. Die hier analysierten Ideen werden abgelehnt aufgrund ihrer Unterdrückung werdender Denkformen, ihrer Unangemessenheit bezüglich einer Welt der Vielheit, mit der wir umzugehen haben, und aufgrund ihres herrschaftlichen Charakters, der sich daraus ergibt. Der in diesem Denken wirkende Philosoph »gibt vor, sich den Erfordernissen der Wahrheit und der Vernunft zu unterwerfen; aber unter diesen Erfordernissen der Vernunft kann man oft Kräfte bemerken, die gar nicht so vernünftig sind: Staaten, Religionen und gerade im Umlauf befindliche Werte. Die Philosophie ist nicht mehr als die Bestandsaufnahme aller Gründe, die der Mensch sich gibt, um zu gehorchen.«[24] »Somit bleibt die Geschichte der Philosophie von den Sokratikern bis zu den Hegelianern eine Geschichte langer Unterwerfungen des Menschen und der Gründe, die er sich gibt, um sie zu legitimieren.«[25] »Die Philosophie ist ganz und gar durchdrungen von dem Plan, zur offiziellen Sprache eines reinen Staates zu werden. Das Denken in seinem Vollzug paßt sich so den Zwecken des realen Staates an, den herrschenden Bedeutungen wie den Anforderungen der etablierten Ordnung.«[26] »Der Staat als Modell für das Buch und das Denken hat eine lange Geschichte: der Logos, der Philosoph als König, die Transzendenz der Idee, die Innerlichkeit des Begriffs, die Gelehrtenrepublik, das Tribunal der Vernunft, die Sachwalter des Denkens, der Mensch als Gesetzgeber und Subjekt. Die Anmaßung des Staates, das verinnerlichte Bild einer Weltordnung zu sein und den Menschen zu verwurzeln.«[27] Allgemeines Motto des Angriffs auf dieses Denken und diese Denkverwaltung: »Die Transzendenz: eine typisch europäische Krankheit.«[28]

II.2.1 Wahrheit, Universalität, Moral

Es war oben von der Ablehnung der Wahrheit die Rede. Das ist wichtig, denn was von den PoststrukturalistInnen abgelehnt wird, ist erstens, dass es eine ewige, unantastbare Wahrheit gibt (denn es gibt »kein letztes Wort, kein Kriterium an sich, keinen Richter und keinen Herrn«[29]), und zweitens, dass eine Vorstellung deshalb als wahr gelten kann, weil ihr etwas Reelles entspricht oder weil das Bild der Wirklichkeit (in unserem Bewusstsein oder sonst wo) mit der Wirklichkeit übereinstimmt; was nicht behauptet wird, ist, dass es so etwas wie Wahrheit überhaupt nicht gäbe.

Natürlich gibt es Wahrheit, alle reden dauernd davon, sie dient als Kriterium zur Aburteilung von Gesetzesbrechern, zur offiziellen Geschichtsschreibung oder zur objektiven Regierungsinformation, sie dient zur moralischen Legitimation von Kriegshandlungen in anderen Ländern wie zur innerstaatlichen Repression, sie ist Spielball verschiedenster religiöser Gruppierungen im Kampf um ihre Anhängerschaft. Zweifellos gibt es die Wahrheit; aber nicht als Ergebnis eines genialen Erkenntnisprozesses, sondern als Produkt vielfältiger Diskursivierungen (»die Wahrheit ist untrennbar mit einer Prozedur verbunden, die sie etabliert«[30]), die jeder Gesellschaft bzw. jeder Gruppe ihre Wahrheit und deren jeweiligen Funktionen schaffen, die meistens darum kreisen, was die Menschen als richtig akzeptieren, was sie gelten lassen[31] bzw. was sie ablehnen, nicht gelten lassen; sodass es »nicht so ist, daß ich etwas beweisen kann, weil die Realität so ist, wie ich es sage, sondern solange ich beweisen kann, ist es erlaubt zu denken, daß die Realität so ist, wie ich es sage«.[32] Oder: »Die Wahrheit ist von dieser Welt; in dieser wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie über geregelte Machtwirkungen. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre ›allgemeine Politik‹ der Wahrheit: d.h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren läßt; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus festlegen, in dem die einen oder die anderen sanktioniert werden; es gibt bevorzugte Techniken und Verfahren zur Wahrheitsfindung; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht.«[33] »Diese Idee, daß die Wahrheit nicht etwas ist, das schon da ist, daß sie nicht zu entdecken, sondern auf jedem Gebiet erst zu schaffen ist, ist evident.«[34]

Es gibt die Wahrheit und sie hat ihre Funktionen, deren Analysen in der Beschreibung spezifischer gesellschaftlicher Machtverhältnisse einen ganz wichtigen Platz einnehmen, denn »die ›Wahrheit‹ ist zirkulär an Machtsysteme gebunden, die sie produzieren und stützen, und an Machtwirkungen, die von ihr ausgehen und sie reproduzieren. ›Herrschaftssystem‹ der Wahrheit.«[35] – Was es nicht gibt, ist eine philosophische Erkenntnis als Abbildung der Welt, so wie sie wirklich ist, im menschlichen Geist. Diese Abbildtheorie der Wahrheit, mit wenigen Ausnahmen (Pyrrhoniker, einige Pantheisten, Nietzsche, der Pragmatismus) des Öfteren variiertes Zentrum abendländischer Erkenntnistheorie (»Auf diese Weise dauert heute der Platonismus fort – als Vorurteil, es gäbe eine Wirklichkeit zu erkennen«[36])[37], ist selbst Produkt von Diskursen, die wesentlich mit jenen konstruierten Dualismen operieren, die bereits erwähnt wurden: Mensch-Welt, Innen-Außen, Subjekt-Objekt usw.; die Abbildtheorie der Wahrheit ist als Ideal einer Erkenntnistheorie dort zu finden, wo die Welt hierarchisiert wird und zur permanenten Bestätigung der Hierarchisierungen und zur Legitimation der mit diesen einhergehenden Gewalttaten einer entsprechenden Erkenntnistheorie bedarf.

So wohnen in den Bergen nicht deshalb keine Geister, weil es keine gibt, sondern weil die Regeln, die bei uns Europäern Wahres von Unwahrem trennen (substantielle Ausgedehntheit, empirische Messbarkeit, objektive Beobachtungsmöglichkeit usw.) keinen Platz für sie haben (»Wenn die Ethnologen kommen, so lautet ein haitianisches Sprichwort, verlassen die Geister die Insel«[38]). Oder: Dass jemand ›wirklich‹ geisteskrank ist, hat nicht damit zu tun, dass wer wirklich geisteskrank ist, sondern mit den Regeln, die uns als Geisteskranke kategorisieren. Dass es keine Geister, dafür aber Geisteskranke geben soll, hat nichts mit der wahren Wirklichkeit zu tun, sondern mit der Herrschaft einer dem Bürgertum entstammenden ökonomischen Zweckrationalität, der Geister im Weg und Geisteskranke (ökonomisch, sozial und politisch) dienlich sind.

Dass das von immenser politischer Bedeutung ist, dass »in unserer Gesellschaft die Wahrheitswirkungen … gleichzeitig Machtwirkungen sind«[39], liegt auf der Hand und ist gleichzeitig Erklärung dafür, dass etwa erkenntnistheoretische Paradigmen nicht die Sieger eines demokratisch-intellektuellen Wettstreits sind, sondern aufgrund ihrer gesellschaftspolitischen Funktion für die herrschenden Verhältnisse Denken und Leben bestimmen (was nicht heißt, dass die herrschenden Eliten eine passende Erkenntnistheorie propagieren, sondern, dass sich bestimmte gesellschaftskonstituierende Diskurse und bestimmte Machtverhältnissen wechselseitig bedingen und behaupten – vgl. dazu auch II,3,7).

Am gewalttätigsten wird die Wahrheit dann, wenn sie im Sinne eines allgemein-universalen und absoluten Anspruchs größenwahnsinnige Expansionsbestrebungen begleitet, denn »der Terror beginnt, wenn man die Einheit sucht«.[40] Der Poststrukturalismus versucht, die Vielheit zu denken. Das absolut Allgemeine versucht, die Vielheit auszulöschen. Es soll einen Gott für alle geben, eine Art des Denkens, eine des Lebens. Geben tut es freilich tausende differente Lebensformen, was weder zu leugnen noch zu überwinden ist[41], außer irgendjemand beginnt damit, tausende Lebensformen zu vernichten: »Nur eines war möglich: entweder man gab die Nicht-Universalität dieses GESETZES zu, oder aber man rottete die Indianer aus, um alle Beweise dafür zu vernichten«[42] (dass mann dabei recht erfolgreich sein kann, ist heute bewiesen). Untrennbar mit diesen Vernichtungsfeldzügen verbunden sind die Proklamationen, allgemeine und absolute Wahrheiten zum (angeblichen) Wohle aller verbreiten zu müssen: »Natürlich ist der Mord die Tat derjenigen, die das Universelle im Blick haben«[43]; »der Wunsch nach Wahrem, allerorts ein Nährboden für den Terrorismus«[44]. Unter dem Banner der Universalität und Absolutheit auftretende Gruppen sind immer gefährlich für die Mannigfaltigkeit der Lebensverhältnisse, da ihr Programm auf einer Negation derselben beruht und unweigerlich deren tatsächliche Auslöschung zum Ziel hat. Daher die poststrukturalistische »Weigerung, irgendeinem Diskurs eine – und sei es auch nur bescheiden epistemologische – Autorität gegenüber allen anderen und für immer zuzusprechen«[45], aus Angst vor dem »Raunen des Wunsches, den Terror ein weiteres Mal zu beginnen, das Phantasma der Umfassung der Wirklichkeit in die Tat umzusetzen«[46], und in der Hoffnung, dass »der Untergang, und vielleicht sogar Zerfall, der Idee der Universalität … das Denken und das Leben von der Obsession der Totalität befreien«[47] kann.

Am greifbarsten wird die Herrschaftlichkeit der Verbindung von Wahrheit und Absolutheit dort, wo die Moral ins Spiel kommt. Die Moral ist das Paradebeispiel eines theoretischen Herrschaftsinstruments. Sie dient der Unterwerfung der Einzelnen unter eine Gewalt, die durch Verweise auf die Aufrechterhaltung und Verbreitung der wahren und richtigen Lebensweise legitimiert wird, während doch »gut und böse … nur das Ergebnis einer aktiven und vorläufigen Selektion sind, die immer wieder vorgenommen werden muß«[48]. Sie ist ein abstraktes Konstrukt, das immer Feind der Pluralität der Lebensverhältnisse ist. Jeder Verweis auf die Moral dient nur der Selbstbeweihräucherung und der Errichtung eines Herrschaftssystems. »Das Leben ist durch die Kategorien von Gut und Böse, Verstoß und Verdienst, Sünde und Erlösung, vergiftet.«[49]

Die Wahrheitsproduktion und die mit ihr verbundenen Universalismen sind wesentliche Bestandteile der herrschenden Denk- und Lebensformen. Wer diese unerträglich findet und überwinden will, muss die Wahrheit (wie die Moral und alles weitere, was sich auf sie stützt) bekämpfen, und zwar nicht im Namen einer anderen, einer ›wahreren‹ Wahrheit – denn angegriffen werden »nicht die falschen Anmaßungen der Wahrheit, vielmehr die Wahrheit selber und als Ideal«[50] – noch im Sinne einer Befreiung der unschuldigen Wahrheit von ihrer missbräuchlichen Verwendung durch die Macht: »Es geht nicht darum, die Wahrheit von jeglichem Machtsystem zu befreien – das wäre ein Hirngespinst, denn die Wahrheit selbst ist Macht –, sondern darum, die Macht der Wahrheit von den Formen gesellschaftlicher, ökonomischer und kultureller Hegemonie zu lösen, innerhalb derer sie gegenwärtig wirksam ist.«[51] Die Wahrheit muss bekämpft werden als herrschaftliches Instrumentarium in ihrer Produktion, ihrer Legitimation, ihren Wirkungsweisen usw. »Seien wir … bereit den Glauben an die Wahrheit in allen seinen Formen zu zerstören«[52], um nicht mehr »die Bewegung des Lebens der Sorge um die Wahrheit zu opfern«[53]. »Alle eure Fragen werden nur durch die Referenz auf diesen Diskurs, durch die Referenz auf das Wort Wahrheit gestützt. Wir lassen uns durch diese Referenz nicht einschüchtern, denn ihr wißt nichts über die Wahrheit und werdet niemals etwas darüber wissen; wir aber wissen, daß sie die Waffe der Paranoia und der Macht … ist, die Signatur der Einheit-Totalität im Raum der Worte, die Rückkehr des Terrors. Kämpfen wir also gegen den weißen Terror der Wahrheit, mit und für die rote Grausamkeit der Singularitäten.«[54]

Dass in diesem Kampf andere Formen der Wahrheit auftauchen können, mag richtig sein, doch ist das nicht schlimm, sind doch Formen der Regelungen von wahr und falsch, von gelten und nicht gelten lassen denkbar[55], die sich nicht mehr auf ein Ideal, an das zu glauben