Baum der Nacht - Truman Capote - E-Book

Baum der Nacht E-Book

Truman Capote

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Beschreibung

Wer den »vollkommensten Stilisten seiner Generation« (Norman Mailer) kennenlernen möchte, kommt an seinen Erzählungen nicht vorbei. In diesen schildert Capote die verschiedensten Wege, lieben zu lernen; beschreibt Verirrte und Verlassene, die zwischen Trotz und Traum straucheln; schafft es, Sonderlinge derart zu zeichnen, dass es unmöglich wird, nicht mit ihnen mitzufühlen. Seine Erzählungen verdanken ihren außergewöhnlichen Zauber vor allem einer Tatsache: Sie besitzen Seele. Capote war gerade mal neunzehn, als er für die Short Story Miriam den renommierten »O. Henry-Award« erhielt. Dieser Band versammelt Truman Capotes teils erstmals auf Deutsch erschienenen Erzählungen.

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Seitenzahl: 531

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INHALT

» Über den Autor

» Über das Buch

» Buch lesen

» Editorischer Nachweis, Impressum

» Weitere eBooks von Truman Capote

» www.keinundaber.ch

ÜBER DEN AUTOR

Truman Capote wurde 1924 in New Orleans geboren; er wuchs in den Südstaaten auf, bis ihn seine Mutter als Achtjährigen zu sich nach New York holte. Mit zwanzig Jahren veröffentlichte er seine erste Kurzgeschichte Miriam in Mademoiselle; für die Erzählung Die Tür fällt zu wurde ihm 1948 der »O.-Henry-Preis« verliehen. Im selben Jahr erschien sein Roman Andere Stimmen, andere Räume, der als das sensationelle Debüt eines literarischen Naturtalentes gefeiert wurde. Es folgten 1949 die Kurzgeschichtensammlung Baum der Nacht, 1950 die Reisebeschreibung Lokalkolorit, 1951 der Roman Die Grasharfe. Das 1958 veröffentlichte Frühstück bei Tiffany erlangte auch dank der Verfilmung mit Audrey Hepburn große Berühmtheit. 1965 erschien der mehrmals verfilmte Tatsachenroman Kaltblütig, 1973 Die Hunde bellen (Reportagen und Porträts), 1980 Musik für Chamäleons (Erzählungen und Reportagen). Postum wurden 1987 – unvollendet – der Roman Erhörte Gebete, 2005 das neu entdeckte Debüt Sommerdiebe und 2013 der Erzählband Yachten und dergleichen mit einer neu entdeckten Geschichte veröffentlicht. Truman Capotes Gesamtwerk erschien in neuer Übersetzung bei Kein & Aber. Der Autor starb 1984 in Los Angeles.

ÜBER DAS BUCH

Mit seinen Kurzgeschichten rührt Capote noch das unsentimentalste Herz. Er erzählt von verschiedensten Wegen, lieben zu lernen; beschreibt Verirrte und Verlassene, die zwischen Trotz und Traum straucheln; schafft es, Sonderlinge derart zu zeichnen, dass es unmöglich wird, nicht mit ihnen mitzufühlen. Seine Erzählungen verdanken ihren außergewöhnlichen Zauber vor allem einer Tatsache: Sie besitzen Seele.

Der Band enthält sieben unbekannte Erzählungen, die bisher nicht auf Deutsch erschienen sind: Die Wände sind kalt, Ein eigener Nerz, Der Stand der Dinge, Preachers überirdische Begegnung, Das Schnäppchen, Wüste und die neu entdeckte Geschichte Yachten und dergleichen.

»In seinen Erzählungen zeigte Capote seine Ängste, seine Sehnsüchte, er ging bis an den Rand des Traums und darüber hinaus.«

DIE ZEIT

Herausgegeben von Anuschka Roshani

INHALTSVERZEICHNIS

Die Wände sind kalt

Ein eigener Nerz

Der Stand der Dinge

Eine Flasche voll Silber

Miriam

Wie ich die Sache sehe

Preachers Begegnung

Baum der Nacht

Der kopflose Falke

Die Tür fällt zu

Kindergeburtstag

Der Schwarze Mann

Das Schnäppchen

Die Diamantgitarre

Ein Haus aus Blumen

Weihnachtserinnerungen

Wege ins Paradies

Der Thanksgiving-Gast

Wüste

Weihnachten mit Vater

Yachten und dergleichen

Editorischer Nachweis

DIE WÄNDE SIND KALT

»…und Grant sagte einfach, dann kommt doch mit auf eine tolle Party, tja, und das war auch schon alles. Wirklich, ich finde, es war einfach genial, sie aufzugabeln, bei Gott, vielleicht bringen sie ja ein bisschen Leben in die Bude.« Das Mädchen, das sprach, schnippte Zigarettenasche auf den Perserteppich und sah die Gastgeberin leicht zerknirscht an.

Die Gastgeberin zog ihr adrettes schwarzes Kleid zurecht und schürzte nervös die Lippen. Sie war sehr jung und klein und makellos. Ihr Gesicht war blass und von glatten schwarzen Haaren umrahmt, und ihr Lippenstift war eine Spur zu dunkel. Es war schon nach zwei, und sie war müde und wünschte, alle würden gehen, aber es war gar nicht so einfach, an die dreißig Leute loszuwerden, besonders, da die meisten den Scotch ihres Vaters intus hatten. Der Fahrstuhlführer war schon zweimal oben gewesen, um sich über den Lärm zu beschweren; also mixte sie ihm einen Highball, weil es ihm ohnehin immer nur darum geht. Und jetzt auch noch Matrosen … ach, zum Teufel damit.

»Ist schon gut, Mildred, wirklich. Auf ein paar Matrosen mehr oder weniger kommt es nicht an. O Gott, hoffentlich machen sie nichts kaputt. Würdest du bitte kurz in die Küche gehen und dich um Eis kümmern? Ich will mal sehen, was ich für deine neuen Freunde tun kann.«

»Wirklich, Schätzchen, ich glaube nicht, dass das nötig ist. Soweit ich weiß, akklimatisieren sie sich sehr schnell.«

Die Gastgeberin ging zu ihren unerwarteten Gästen. Sie standen dicht zusammengedrängt in einer Ecke des Salons, machten große Augen und schienen sich nicht gerade wie zu Hause zu fühlen.

Der Gutaussehendste des Sextetts drehte nervös seine Mütze in der Hand und sagte: »Wir wussten ja nicht, dass es so ’ne Art von Party ist, Miss. Ich meine, Sie wollen uns hier doch gar nicht haben, stimmt’s?«

»Aber natürlich sind Sie willkommen. Warum in aller Welt wären Sie denn hier, wenn ich Sie nicht hier haben wollte?«

Der Matrose war verlegen.

»Das Mädchen da, diese Mildred, und ihr Freund haben uns einfach irgendwo in ’ner Bar aufgegabelt, und wir hatten ja keine Ahnung, dass wir in so ’n Haus wie das da kommen.«

»Das ist doch lächerlich, absolut lächerlich«, sagte die Gastgeberin. »Sie sind aus den Südstaaten, habe ich recht?«

Er klemmte die Mütze unter den Arm und wirkte weniger befangen. »Ich bin aus Mississippi. Ich nehm’ nicht an, dass Sie da schon mal waren, Miss, oder?«

Sie blickte hinüber zum Fenster und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sie hatte das satt, so furchtbar satt. »O doch«, log sie. »Ein wunderschöner Staat.«

Er grinste. »Dann verwechseln Sie ihn bestimmt mit woanders, Miss. In Mississippi gibt’s nicht arg viel zu sehen, außer vielleicht um Natchez rum.«

»Natürlich, Natchez. Ich bin mit einem Mädchen aus Natchez zur Schule gegangen, Elizabeth Kimberly, kennen Sie sie?«

»Nein, nicht dass ich wüsste.«

Plötzlich merkte sie, dass sie und der Matrose allein waren; seine Kameraden hatten sich alle zum Klavier verzogen, wo Les gerade Cole Porter spielte. Mildred hatte recht mit dem Akklimatisieren.

»Kommen Sie«, sagte sie, »ich mache Ihnen einen Drink. Die anderen finden sich allein zurecht. Ich heiße Louise, also nennen Sie mich bitte nicht Miss.«

»Meine Schwester heißt auch Louise. Ich bin Jake.«

»Wirklich? Wie reizend! Ich meine, so ein Zufall.« Sie strich sich das Haar glatt und lächelte mit den zu dunklen Lippen.

Sie gingen in die Hausbar, und sie wusste, dass der Matrose beobachtete, wie ihr Kleid um ihre Hüften schwang. Sie duckte sich unter der Tür durch hinter die Bar.

»Nun«, sagte sie, »was darf’s sein? Verzeihung, wir haben Scotch und Bourbon und Rum; wie wär’s mit einem schönen Rum und Cola?«

»Wenn Sie meinen«, sagte er grinsend und ließ seine Hand über die verspiegelte Oberfläche der Theke gleiten, »also eine Wohnung wie die da hab ich noch nie gesehen. Die ist ja genau wie im Film.«

Sie wirbelte geschickt mit einem Rührstäbchen Eiswürfel in einem Glas herum. »Ich kann Sie ja ein wenig herumführen, wenn Sie möchten. Sie ist ziemlich geräumig, für eine Wohnung, meine ich. Wir haben ein Landhaus, das viel, viel größer ist.«

Das war nicht der richtige Ton. Es klang zu dünkelhaft. Sie drehte sich um und stellte die Rumflasche wieder in ihre Nische. Sie konnte im Spiegel sehen, dass er sie anstarrte, vielleicht durch sie hindurchsah.

»Wie alt sind Sie?«, fragte er.

Sie musste einen Moment nachdenken, wirklich nachdenken. Sie log diesbezüglich so konstant, dass sie gelegentlich selbst vergaß, wie alt sie war. Aber spielte es eine Rolle, ob er ihr wahres Alter kannte oder nicht? Also sagte sie es ihm.

»Sechzehn.«

»Süße sechzehn und nie geküsst …?«

Sie lachte, nicht über das Klischee, sondern über ihre Antwort.

»Vergewaltigt, meinen Sie.«

Sie hatte ihm das Gesicht zugewandt und sah, dass er schockiert war und dann amüsiert und dann noch etwas anderes.

»Um Himmels willen, schauen Sie mich nicht so an, ich bin kein schlimmes Mädchen.« Er wurde rot, und sie kroch wieder durch die Tür und nahm seine Hand. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Wohnung.«

Sie führte ihn einen langen, in regelmäßigen Abständen mit Spiegeln versehenen Korridor hinunter und zeigte ihm Zimmer um Zimmer. Er bewunderte die weichen pastellfarbenen Teppiche und die harmonische Mischung aus modernen und antiken Möbeln.

»Das ist mein Zimmer«, sagte sie und hielt ihm die Tür auf, »entschuldigen Sie die Unordnung, sie stammt nicht nur von mir, die meisten Mädchen haben sich hier zurechtgemacht.«

Da war nichts, was er hätte entschuldigen müssen, im Zimmer herrschte peinliche Ordnung. Das Bett, die Tische, die Lampe waren allesamt weiß, aber die Wände und der Teppich waren in einem dunklen, kalten Grün gehalten.

»Nun, Jake … was meinen Sie, passt es zu mir?«

»So was hab ich noch nie gesehen, meine Schwester würd’s mir nicht glauben, wenn ich’s ihr erzählen tät … bloß die Wände gefallen mir nicht, wenn Sie verzeihen, dass ich das so sage … Das Grün da … die sehen so kalt aus.«

Das schien sie zu verwirren, und ohne recht zu wissen, warum, streckte sie die Hand aus und berührte die Wand neben ihrer Frisiertoilette.

»Sie haben recht, mit den Wänden, meine ich, sie sind kalt.« Sie blickte zu ihm auf, und einen Moment lang nahm ihr Gesicht einen Ausdruck an, dass er nicht recht wusste, ob sie lachen würde oder weinen.

»So hab ich das nicht gemeint. Ach, zum Teufel, ich weiß ja nicht mal recht, was ich gemeint hab!«

»Wissen Sie es nicht, oder wollen wir nur euphemistisch sein?« Das rief keine Reaktion hervor, und so setzte sie sich auf die Kante ihres weißen Bettes.

»Bitte«, sagte sie, »setzen Sie sich, und rauchen Sie eine Zigarette, wo ist eigentlich Ihr Drink geblieben?«

Er setzte sich neben sie. »Den hab ich draußen in der Bar gelassen. Ganz schön ruhig hier nach dem Radau da draußen.«

»Wie lange sind Sie schon bei der Marine?«

»Acht Monate.«

»Gefällt es Ihnen?«

»Es geht nicht drum, ob’s einem gefällt oder nicht … Ich hab schon viel gesehen, wo ich sonst nie hingekommen wär.«

»Warum haben Sie sich dann dazu gemeldet?«

»Weil sie mich eingezogen hätten und ich gedacht hab, die Marine ist mehr nach meinem Geschmack.«

»Ist sie es?«

»Na ja, ich sag mal so, das Leben da ist nichts für mich, ich mag’s nicht, von andern rumkommandiert zu werden. Sie vielleicht?«

Sie gab keine Antwort, sondern steckte sich stattdessen eine Zigarette in den Mund. Er hielt ihr ein Streichholz hin, und sie ließ ihre Hand die seine streifen. Seine Hand zitterte, und die Flamme war nicht sehr ruhig. Sie machte einen Lungenzug und sagte: »Sie würden mich gerne küssen, stimmt’s?«

Sie beobachtete ihn scharf und sah, wie langsam Röte sein Gesicht überzog.

»Warum tun Sie es dann nicht?«

»Weil Sie kein Mädchen von der Sorte sind. Ich hätt Angst, ein Mädchen wie Sie zu küssen, und überhaupt machen Sie sich ja bloß lustig über mich.«

Sie lachte und blies den Rauch in einer Wolke zur Decke. »Hören Sie auf, das klingt ja wie etwas aus einem uralten Melodram. Was ist eigentlich ›ein Mädchen von der Sorte‹? War nur so eine Idee. Ob Sie mich küssen oder nicht, hat nicht die geringste Bedeutung. Ich könnte es erklären, aber wozu? Am Ende würden sie mich womöglich noch für eine Nymphomanin halten.«

»Ich weiß ja nicht mal, was das ist.«

»Ach, zum Teufel, genau das meine ich. Sie sind ein Mann, ein richtiger Mann, und ich habe diese verweichlichten Schwächlinge wie Les so satt. Ich wollte einfach mal wissen, wie es wäre, mehr nicht.«

Er beugte sich über sie. »Sie sind schon komisch«, sagte er, und sie lag in seinen Armen. Er küsste sie, und seine Hand glitt ihre Schulter hinab und presste sich auf ihre Brust.

Sie entwand sich und versetzte ihm einen heftigen Stoß, und er fiel der Länge nach auf den kalten, grünen Teppich.

Sie stand auf und sah auf ihn hinunter, und sie starrten sich an. »Sie sind Dreck«, sagte sie. Dann schlug sie ihm in das verdutzte Gesicht.

Sie machte die Tür auf, hielt inne, zog ihr Kleid zurecht und ging zurück zu der Party. Er blieb noch einen Moment auf dem Boden sitzen, stand dann auf und fand den Weg in die Diele, und dann fiel ihm ein, dass er seine Mütze in dem weißen Zimmer vergessen hatte, aber es war ihm egal, er wollte nur noch hier raus.

Die Gastgeberin warf einen Blick in den Salon und bedeutete Mildred, zu ihr zu kommen.

»Um Gottes willen, Mildred, schaff diese Leute hier raus; was glauben diese Matrosen eigentlich, wo sie sind … in der Seemannsmission?«

»Was ist denn los, hat dich der Typ belästigt?«

»Nein, nein, das ist nichts weiter als ein Dorftrottel, der so etwas noch nie gesehen hat, und das ist ihm irgendwie zu Kopf gestiegen. Das Ganze ist nur so furchtbar lästig, und ich habe Kopfschmerzen. Würdest du sie bitte für mich loswerden … und zwar alle?«

Mildred nickte, und die Gastgeberin ging wieder den Korridor hinunter und betrat das Zimmer ihrer Mutter. Sie legte sich auf die Samt-Chaiselongue und starrte auf das abstrakte Picasso-Gemälde. Sie griff nach einem kleinen Spitzenkissen und drückte es sich, so fest sie konnte, auf das Gesicht. Sie würde heute Nacht hier schlafen, hier, wo die Wände blassrosa waren und warm.

EIN EIGENER NERZ

Mrs. Munson befestigte eine Leinenrose in ihrem kastanienbraunen Haar und trat einen Schritt vom Spiegel zurück, um die Wirkung zu begutachten. Dann strich sie sich mit den Händen über die Hüften … das Kleid war einfach zu eng, und damit war alles gesagt. »Nochmals ändern hilft auch nichts mehr«, dachte sie ungehalten. Mit einem letzten abschätzigen Blick auf ihr Spiegelbild drehte sie sich um und ging ins Wohnzimmer.

Die Fenster standen offen, und der Raum war erfüllt von lautem, gellendem Kreischen. Mrs. Munson wohnte im zweiten Obergeschoss, und auf der anderen Straßenseite lag der Pausenhof einer öffentlichen Schule. Am Spätnachmittag war der Lärm fast unerträglich. Herrgott, wenn sie das doch nur gewusst hätte, bevor sie den Mietvertrag unterschrieb! Leise stöhnend machte sie beide Fenster zu, und was sie anbelangte, konnten sie das die nächsten zwei Jahre gerne bleiben.

Doch Mrs. Munson war viel zu aufgeregt, um sich wirklich zu ärgern. Vini Rondo wollte sie besuchen kommen, man stelle sich das mal vor, Vini Rondo … und zwar an eben diesem Nachmittag! Wenn sie daran dachte, spürte sie ein Kribbeln im Bauch. Es war fast fünf Jahre her, und Vini war die ganze Zeit in Europa gewesen. Wann immer sich Mrs. Munson in einer Runde befand, in der über den Krieg gesprochen wurde, verkündete sie unweigerlich: »Tja, wissen Sie, ich habe eine sehr liebe Freundin, die derzeit in Paris lebt, Vini Rondo, sie war selbst dort, als die Deutschen einmarschiert sind! Ich habe wahre Albträume, wenn ich daran denke, was sie durchmachen muss!« Mrs. Munson sagte es, als wäre sie diejenige, deren Schicksal an einem seidenen Faden hing.

Falls sich jemand in der Gruppe befand, der die Geschichte noch nicht gehört hatte, beeilte sie sich, Näheres über ihre Freundin mitzuteilen. »Sehen Sie«, begann sie dann, »Vini war einfach unglaublich begabt, interessiert an Kunst und lauter solchen Sachen. Tja, sie war nicht unvermögend, und so fuhr sie mindestens einmal im Jahr nach Europa. Als dann ihr Vater starb, packte sie ihre Siebensachen und ging für immer. Meine Güte, was hat sie sich dort amüsiert, und dann heiratete sie einen Grafen oder Baron oder so ähnlich. Vielleicht haben Sie schon von ihr gehört … Vini Rondo … Cholly Knickerbocker erwähnte sie früher ständig.« Und so ging es immer weiter, wie in einer Geschichtsstunde.

»Vini wieder in Amerika«, dachte sie und konnte sich gar nicht genug an dieser wundervollen Tatsache weiden. Sie plusterte die kleinen, grünen Kissen auf der Couch auf und setzte sich. Mit durchdringendem Blick betrachtete sie prüfend das Zimmer. Komisch, dass man die eigene Umgebung nur dann richtig wahrnimmt, wenn Besuch erwartet wird. Tja, Mrs. Munson seufzte zufrieden, das neue Mädchen hatte, was heutzutage eine Seltenheit war, das Vorkriegsniveau wiederhergestellt.

Plötzlich läutete es an der Tür. Es klingelte zweimal, bevor sich Mrs. Munson rühren konnte, so aufgeregt war sie. Schließlich fasste sie sich und ging öffnen.

Zuerst erkannte Mrs. Munson sie nicht. Die Frau, die vor ihr stand, hatte keine schicke Hochfrisur … tatsächlich hing das Haar sogar schlaff herunter und machte einen ungepflegten Eindruck. Ein Kattunkleid im Januar? Mrs. Munson versuchte, ihrer Stimme die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, als sie sagte: »Vini, Schätzchen, ich hätte dich überall wiedererkannt.«

Die Frau stand noch immer auf der Schwelle. Unter dem Arm trug sie eine große, rosa Schachtel, und ihre grauen Augen sahen Mrs. Munson eigenartig an.

»Wirklich, Bertha?« Ihre Stimme war ein sonderbares Flüstern. »Das ist nett, sehr nett. Ich hätte dich auch wiedererkannt, obwohl du ziemlich dick geworden bist, stimmt’s?« Dann ergriff sie Mrs. Munsons ausgestreckte Hand und trat ein.

Mrs. Munson war peinlich berührt und wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Arm in Arm gingen sie ins Wohnzimmer und nahmen Platz.

»Wie wäre es mit einem Sherry?«

Vini schüttelte den dunklen kleinen Kopf. »Nein, danke.«

»Tja, wie wäre es mit einem Scotch oder etwas anderem?«, fragte Mrs. Munson verzweifelt. Die Figurinen-Uhr auf dem unechten Kaminsims schlug leise. Mrs. Munson hatte noch nie bemerkt, wie laut das sein konnte.

»Nein«, sagte Vini entschieden, »nichts, danke.«

Resigniert lehnte sich Mrs. Munson auf der Couch zurück. »Und jetzt, Schätzchen, musst du mir alles erzählen. Seit wann bist du wieder in den Staaten?« Ihr gefiel, wie sich das anhörte. »In den Staaten.«

Vini stellte die große, rosa Schachtel zwischen ihren Beinen ab und faltete die Hände. »Ich bin schon fast ein Jahr wieder hier«, sie hielt inne, sprach dann hastig weiter, als ihr die verdutzte Miene ihrer Gastgeberin bewusst wurde, »aber ich war nicht in New York. Sonst hätte ich mich natürlich früher bei dir gemeldet, aber ich war drüben in Kalifornien.«

»Ah, Kalifornien, ich liebe Kalifornien!«, rief Mrs. Munson aus, obwohl sie in Wahrheit noch nie weiter westlich als Chicago gewesen war.

Vini lächelte, und Mrs. Munson bemerkte, wie unregelmäßig ihre Zähne waren, und kam zu dem Schluss, dass sie mal wieder gründlich geputzt werden müssten.

»Und«, fuhr Vini fort, »als ich letzte Woche nach New York zurückkam, habe ich sofort an dich gedacht. Ich hatte schreckliche Mühe, dich zu finden, weil ich mich nicht mehr an den Vornamen deines Mannes erinnern konnte …«

»Albert«, warf Mrs. Munson unnötigerweise ein.

»… aber dann fiel er mir wieder ein, und da bin ich. Weißt du, Bertha, ich habe wirklich sofort an dich gedacht, als ich beschloss, meinen Nerzmantel loszuwerden.«

Mrs. Munson sah die jähe Röte in Vinis Gesicht.

»Deinen Nerzmantel?«

»Ja«, sagte Vini und hob die rosa Schachtel hoch. »Du erinnerst dich doch an meinen Nerzmantel. Du hast ihn immer so bewundert. Du hast immer gesagt, das sei der schönste Mantel, den du je gesehen hast.« Sie begann das zerschlissene Satinband aufzuknüpfen, das die Schachtel zusammenhielt.

»Natürlich, aber natürlich«, sagte Mrs. Munson und ließ das »natürlich« sanft abwärts trillern.

»Ich sagte zu mir: ›Vini Rondo, wozu brauchst du eigentlich diesen Mantel? Warum soll ihn nicht Bertha haben?‹ Weißt du, Bertha, ich habe mir in Paris einen sagenhaften Zobel gekauft, und da kannst du dir sicher denken, dass ich wirklich keine zwei Pelzmäntel brauche. Außerdem habe ich ja noch meine Silberfuchsjacke.«

Mrs. Munson sah zu, wie sie das Seidenpapier in der Schachtel auseinanderschlug, sah den abgesplitterten Lack auf den Nägeln, sah, dass die Finger unberingt waren, und plötzlich wurde ihr noch sehr viel mehr klar.

»Also dachte ich an dich, und wenn du ihn nicht willst, dann behalte ich ihn eben, weil ich es nicht ertragen könnte, dass ihn eine andere hat.« Sie stand auf und hielt den Mantel hoch, drehte ihn hin und her. Der Mantel war wunderschön; das Fell glänzte seidig und sehr warm. Mrs. Munson streckte die Hand aus und ließ ihre Finger darübergleiten, fuhr gegen den Strich über die feinen Härchen. Ohne nachzudenken, sagte sie: »Wie viel?«

Mrs. Munson zog die Hand so schnell zurück, als hätte sie sich verbrannt, und dann hörte sie Vinis Stimme, dünn und schwach.

»Ich habe fast tausend Dollar dafür bezahlt. Sind tausend zu viel?«

Drunten auf der Straße konnte Mrs. Munson den ohrenbetäubenden Lärm des Schulhofs hören, und ausnahmsweise war sie dankbar dafür. Er bot ihr eine Gelegenheit, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, auf etwas, das die Heftigkeit ihrer Gefühle milderte.

»Tut mir leid, das ist zu viel. Das kann ich mir wirklich nicht leisten«, sagte Mrs. Munson zerstreut, noch immer auf den Mantel starrend, da sie Angst hatte, den Blick zu heben und das Gesicht der anderen Frau zu sehen.

Vini warf den Mantel auf die Couch. »Ich möchte aber, dass du ihn hast. Das Geld ist nicht so wichtig, ich finde nur, dass sich meine Investition irgendwie lohnen sollte … Wie viel könntest du dir denn leisten?«

Mrs. Munson schloss die Augen. O Gott, das war ja grauenhaft! Schlicht und einfach grauenhaft!

»Vielleicht vierhundert«, antwortete sie matt.

Vini nahm den Mantel wieder in die Hand und sagte munter: »Dann wollen wir mal sehen, wie er passt.«

Sie gingen ins Schlafzimmer, und Mrs. Munson probierte den Mantel vor dem Ganzkörperspiegel ihres Wandschranks an. Ein paar kleine Änderungen, die Ärmel kürzer, und vielleicht würde sie ihn auffrischen lassen. Ja, er machte wirklich etwas her.

»Ach, er ist wunderschön, Vini. Wie lieb von dir, dass du an mich gedacht hast.«

Vini lehnte sich an die Wand, und das durch die großen Schlafzimmerfenster einfallende Sonnenlicht machte ihr blasses Gesicht hart.

»Du kannst den Scheck auf mich ausstellen«, sagte sie desinteressiert.

»Ja, natürlich«, sagte Mrs. Munson, jäh aus ihren Träumen gerissen. Man stelle sich das mal vor, Bertha Munson mit einem eigenen Nerz!

Sie gingen zurück ins Wohnzimmer, und sie schrieb den Scheck für Vini aus. Nachdem Vini ihn sorgfältig zusammengefaltet hatte, verstaute sie ihn in ihrem perlenbesetzten Handtäschchen.

Mrs. Munson bemühte sich angestrengt, Konversation zu machen, stieß jedoch bei jedem Thema gegen eine kalte Wand. Einmal fragte sie: »Wo ist denn dein Mann, Vini? Du musst ihn einmal mitbringen, damit Albert sich mit ihm unterhalten kann.« Und Vini antwortete: »Ach, der! Den habe ich ewig nicht gesehen. Der ist immer noch in Lissabon, soviel ich weiß.« Und damit hatte es sich.

Schließlich, nachdem sie versprochen hatte, am nächsten Tag anzurufen, ging Vini. Als sie fort war, dachte Mrs. Munson: »Die arme Vini, die ist ja nichts weiter als ein Flüchtling!« Dann nahm sie ihren neuen Mantel und ging ins Schlafzimmer. Sie konnte Albert nicht sagen, wie sie dazu gekommen war, das stand fest. Du meine Güte, was würde er wegen des Geldes toben! Sie beschloss, den Mantel in der hintersten Ecke ihres Wandschranks zu verstecken und ihn dann eines Tages hervorzuholen und zu sagen: »Albert, schau dir diesen himmlischen Nerz an, den ich auf einer Auktion gekauft habe. Ich bekam ihn geradezu geschenkt.«

Während sie im Dunkel ihres Wandschranks herumtastete, verfing sich der Mantel an einem Haken. Sie zerrte kurz und hörte zu ihrem Entsetzen, dass etwas riss. Rasch knipste sie das Licht an und sah, dass der Ärmel ein Loch hatte. Sie hielt die Ränder auseinander und zog leicht. Das Loch wurde größer und dann noch größer. Mit einem Übelkeit erregenden Gefühl der Leere erkannte sie, dass das ganze Ding mürbe war. »O mein Gott«, sagte sie und griff nach der Leinenrose in ihrem Haar. »O mein Gott, man hat mich übers Ohr gehauen, und wie man mich übers Ohr gehauen hat, und ich kann nichts auf der Welt dagegen tun, nichts auf der Welt!« Denn plötzlich wurde Mrs. Munson klar, dass Vini weder morgen noch jemals wieder anrufen würde.

DER STAND DER DINGE

Eine kleine, schmächtige Frau mit weißer Pompadour-Frisur kam schwankend durch den Gang des Speisewagens und schob sich auf einen Platz am Fenster. Sie strich mit einem Bleistift ihre Bestellung an und spähte kurzsichtig über den Tisch, wo ein Marine-Infanterist mit roten Backen und ein Mädchen mit herzförmigem Gesicht saßen. Mit einem Blick bemerkte sie den goldenen Ring am Finger des Mädchens, das rote Stoffband, das in die Haare geflochten war, und kam zu dem Schluss, dass das Mädchen billig war; versah es innerlich mit dem Etikett Kriegsbraut. Sie lächelte zurückhaltend, signalisierte Gesprächsbereitschaft.

Das Mädchen strahlte sie an. »Sie ham Glück, dass Sie so früh dran sind, wo’s doch so voll ist. Wir ham nix zu Mittag gekriegt, weil da ham die russischen Soldaten gegessen … oder was. Mann, die hätten Sie erleben sollen, die sehen alle aus wie Boris Karloff, ehrlich!«

Die Stimme glich einem pfeifenden Teekessel und veranlasste die Frau, sich zu räuspern. »Zweifellos«, sagte sie. »Vor dieser Reise hätte ich mir nie träumen lassen, dass es so viele auf der Welt gibt, Soldaten, meine ich. Man wird sich dessen erst bewusst, wenn man in einen Zug steigt. Ich frage mich immer wieder, wo sie nur alle herkommen.«

»Vom Musterungsausschuss«, sagte das Mädchen und kicherte dann albern.

Der Ehemann errötete entschuldigend. »Fahr’n Sie die ganze Strecke, Ma’am?«

»Wahrscheinlich, aber der Zug ist ja so langsam wie … wie …«

»Wie Sirup!«, rief das Mädchen aus und fuhr atemlos fort mit: »Gott, bin ich aufgeregt, das können Sie sich nicht vorstellen. Ich schau mir schon den ganzen Tag die Landschaft an. Da, wo ich herkomm, in Arkansas, ist alles flach, drum kribbelt’s bei mir bis in die Zehen, wenn ich die Berge da seh.« Und an den Ehemann gewandt: »Liebling, meinst du, wir sind in Carolina?«

Er schaute aus dem Fenster, wo sich die Abenddämmerung hinter der Scheibe verdichtete, rasch das blaue Licht und die Hügel aufsog, die miteinander verschmolzen und eins wurden. Er blickte blinzelnd wieder in die Helligkeit des Speisewagens. »Muss Virginia sein«, riet er und zuckte mit den Schultern.

Aus der Richtung der Personenwagen torkelte plötzlich unbeholfen ein Soldat auf sie zu und sackte auf dem freien Platz am Tisch zusammen wie eine Stoffpuppe. Er war klein, und seine Uniform hing in knitterigen Falten an ihm herunter. Sein Gesicht, hager und mit scharfgeschnittenen Zügen, stand in blassem Gegensatz zu dem des Marine-Infanteristen, und sein schwarzer Bürstenschnitt glänzte im Lampenlicht wie eine Mütze aus Seehundsfell. Mit müden Augen musterte er die drei benommen, als sähe er sie durch einen Schleier, und zupfte dabei nervös an den zwei Winkeln, die an seinem Ärmel aufgenäht waren.

Die Frau rückte unbehaglich etwas ab und drückte sich enger ans Fenster. Sie stempelte ihn taktvoll als betrunken ab, und als sie das Mädchen die Nase rümpfen sah, wusste sie, dass es zu dem gleichen Urteil gekommen war.

Während der Neger mit der weißen Schürze sein Tablett ablud, sagte der Korporal: »Ich will nur Kaffee, eine große Kanne voll, und eine doppelte Portion Sahne.«

Das Mädchen tunkte die Gabel in das Hühnerfrikassee. »Ich frag’ Sie, was die hier für ihr Zeug verlangen, ist doch unverschämt, oder?«

Und dann fing es an. Der Kopf des Korporals begann ruckartig unkontrolliert zu zucken. Ein kurzes Baumeln, wobei sein Kopf grotesk nach vorn verrenkt war; eine Muskelkonvulsion, die seinen Hals seitwärts riss. Sein Mund verzog sich abstoßend, und die Halsadern traten hervor.

»Ach, du lieber Gott«, kreischte das Mädchen, und die Frau ließ ihr Buttermesser fallen und legte automatisch empfindsam die Hand vor die Augen. Der Marine-Infanterist schaute einen Moment ausdruckslos drein, fasste sich dann rasch wieder und holte ein Päckchen Zigaretten hervor.

»Da, Kumpel«, sagte er, »steck dir eine an.«

»Bitte, danke … sehr freundlich«, murmelte der Soldat und schlug dann mit der krampfhaft geballten Faust auf den Tisch. Silberbesteck wackelte, Wasser schwappte über Gläserränder. Eine jähe Stille hing in der Luft, und eine Lachsalve weiter hinten drang ungehindert durch den Wagen.

Das Mädchen, sich der Aufmerksamkeit bewusst, schob sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Die Frau blickte auf und biss sich auf die Lippen, als sie sah, wie der Korporal versuchte, seine Zigarette anzuzünden.

»Lassen Sie mich das machen«, bot sie an.

Ihre Hand zitterte so heftig, dass das erste Streichholz ausging. Als es beim zweiten Versuch klappte, rang sie sich ein nichtssagendes Lächeln ab. Nach einer Weile beruhigte er sich. »Ich schäme mich so … bitte verzeihen Sie.«

»Aber das ist doch verständlich«, sagte die Frau. »Das ist doch absolut verständlich.«

»Hat’s weh getan?«, fragte das Mädchen.

»Nein, nein, es tut nicht weh.«

»Ich hatt’ schon Angst, weil ich gedacht hab, es tut weh. Es sieht jedenfalls so aus. Isses so ähnlich wie Schluckauf?« Sie zuckte plötzlich zusammen, als hätte ihr jemand einen Tritt gegeben.

Der Korporal fuhr mit dem Finger die Tischkante entlang, und danach sagte er: »Alles war gut, bis ich in den Zug gestiegen bin. Sie haben gesagt, ich schaffe das. Und: ›Sie sind völlig in Ordnung, Soldat.‹ Aber es ist die Aufregung, das Bewusstsein, dass man in den Staaten ist und frei und dass die gottverdammte Warterei ein Ende hat.« Er wischte sich über die Augen.

»Tut mir leid«, sagte er.

Der Kellner stellte ihm den Kaffee hin, und die Frau wollte ihm helfen. Mit einer ärgerlichen kleinen Bewegung stieß er ihre Hand weg. »Nein, bitte nicht. Ich kann das!« Peinlich berührt und verwirrt drehte sie sich zum Fenster und begegnete dort ihrem Spiegelbild. Das Gesicht war ruhig, und das überraschte sie, da ein flaues Gefühl der Unwirklichkeit sie erfasst hatte, als schwebte sie zwischen zwei Traumfetzen hin und her. Um ihre Gedanken auf etwas anderes zu lenken, verfolgte sie den gemessenen Weg der Gabel des Marine-Infanteristen vom Teller zum Mund. Das Mädchen aß jetzt sehr gierig, doch ihr eigenes Essen wurde kalt.

Dann fing es wieder an, nicht so heftig wie zuvor. Im grellen Scheinwerferlicht eines entgegenkommenden Zuges verschwamm das verzerrte Spiegelbild, und die Frau seufzte.

Er fluchte leise vor sich hin, und es klang eher, als ob er betete. Dann presste er die Hände schraubstockartig seitlich an den Kopf.

»Hör mal, Kumpel, du solltest besser zum Arzt gehen«, empfahl der Marine-Infanterist.

Die Frau legte ihre Hand auf den erhobenen Arm des Korporals. »Kann ich irgendetwas für Sie tun?«, sagte sie.

»Die haben mir immer in die Augen gesehen, damit es aufhört … solange ich jemand in die Augen sehe, ist es weg.«

Sie schob ihr Gesicht dicht vor seines. »Genau«, sagte er, auf der Stelle ruhiger, »genau so. Sie sind ein Engel.«

»Wo ist es passiert?«, fragte sie.

Er runzelte die Stirn und sagte: »Da waren viele Orte … es sind die Nerven. Sie sind völlig zerrüttet.«

»Und wohin fahren Sie jetzt?«

»Nach Virginia.«

»Und dort sind Sie daheim, stimmt’s?«

»Ja, dort bin ich daheim.«

Die Frau spürte einen Schmerz in den Fingern und lockerte den Griff, mit dem sie plötzlich seinen Arm umklammert hatte. »Dort sind Sie daheim, und Sie müssen immer daran denken, dass alles andere unwichtig ist.«

»Ich sag Ihnen was«, wisperte er. »Ich liebe Sie. Ich liebe Sie, weil Sie sehr unbedarft und sehr naiv sind und weil Sie nichts anderes kennen, als was Sie im Kino sehen. Ich liebe Sie, weil wir in Virginia sind und ich fast daheim bin.« Die Frau blickte abrupt weg. Eine beleidigte Spannung schlich sich in die Stille.

»Und Sie glauben, damit hat es sich?«, sagte er. Er stützte sich auf den Tisch und betatschte apathisch sein Gesicht. »Das ist die eine Sache, aber es gibt auch so etwas wie Würde. Was ist, wenn es bei Menschen passiert, die ich schon immer kenne? Glauben Sie, ich will mich mit denen oder jemand wie Ihnen an einen Tisch setzen und sie anwidern? Glauben Sie, ich will einem jungen Ding wie der da drüben Angst einjagen und sie Vermutungen über ihren eigenen Kerl anstellen lassen? Ich habe monatelang gewartet, und die sagen mir, dass ich gesund bin, aber gleich beim ersten Mal …« Er brach ab, und seine Augenbrauen zogen sich angestrengt zusammen.

Die Frau legte zwei Scheine auf ihre Rechnung und schob ihren Stuhl zurück. »Würden Sie mich bitte durchlassen?«, sagte sie.

Der Korporal hievte sich hoch und sah hinunter auf den unangerührten Teller der Frau. »Nun essen Sie schon, verdammmt nochmal«, sagte er. »Sie müssen essen!« Und ohne sich noch einmal umzublicken, verschwand er in Richtung der Personenwagen.

Die Frau bezahlte den Kaffee.

EINE FLASCHE VOLL SILBER

Nach der Schule arbeitete ich früher im Drugstore Valhalla. Er gehörte meinem Onkel, Mr.Ed Marshall. Ich nenne ihn Mr.Marshall, weil jeder, einschließlich seiner Frau, ihn Mr.Marshall nannte. Trotzdem war er ein netter Mensch.

Der Drugstore war vielleicht altmodisch, aber dafür groß und dunkel und kühl: In den Sommermonaten gab es keinen angenehmeren Ort im Städtchen. Zur Linken, wenn man eintrat, war der Tabak- und Zeitschriftenstand, hinter dem, in der Regel, Mr.Marshall saß: ein untersetzter Mann mit eckigem Gesicht, rosiger Haut und einem gezwirbelten, mannhaften weißen Schnurrbart. Nach diesem Stand kam der Ausschank mit der wunderschönen Theke. Sie war antik und aus edlem, vergilbtem Marmor, glatt anzufühlen, aber ohne eine Spur von billigem Glanz. Mr.Marshall hatte sie 1910 auf einer Auktion in New Orleans gekauft und war sichtlich stolz darauf. Wenn man auf den hohen, zierlichen Barhockern saß und über die Theke blickte, konnte man sich weich, wie bei Kerzenschein, in einer Reihe alter Spiegel mit Mahagonirahmen reflektiert sehen. Alle Artikel des täglichen Bedarfs waren in vitrinenartigen Schränken mit Glastüren ausgestellt, die mit Messingschlüsseln zugesperrt waren. Und immer hing in der Luft der Geruch von Sirup und Muskat und anderen Köstlichkeiten.

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