Bayern in der Friedlichen Revolution 1989/90 - Michael Richter - E-Book

Bayern in der Friedlichen Revolution 1989/90 E-Book

Michael Richter

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Beschreibung

Nach einer ausführlichen Studie über die Bildung des Freistaates Sachsen in den Jahren 1989/90 legt der Autor erstmals die Geschichte eines westdeutschen Flächenlandes in der Friedlichen Revolution vor. Dabei wird die Föderalisierung als Teil der Friedlichen Revolution verstanden. Bayern spielte in mehrfacher Hinsicht eine Sonderrolle. Der Freistaat sah sich als Drehkreuz von Massenflucht und Übersiedlung über Ungarn und Prag mit besonderen Herausforderungen konfrontiert. Nach der Grenzöffnung Mitte November 1989 erlebte Franken einen Massenansturm von Besuchern aus der DDR. Überall entlang der innerdeutschen Grenze feierten Menschen ihr Wiedersehen. Bayern war aber nicht nur ein Akteur des Prozesses, sondern selbst betroffen. So brachte das Ende der Zonenrandlage Franken und der Oberpfalz wichtige wirtschaftliche und touristische Impulse. Bewohner von beiderseits der innerdeutschen Grenze ließen ihre fränkische Verbundenheit wiederaufleben. Bayern halfen Thüringen und Sachsen passfähig für das bundesdeutsche föderale System zu machen. Politiker und Beamte beteiligten sich am Aufbau von Judikative, Exekutive und Legislative. Dabei agierte Bayern in Rivalität und Kooperation mit Baden-Württemberg. Von der Bundesregierung forderte der Freistaat eine Beteiligung der Bundesländer an den Verhandlungen über die staatliche Einheit mit der DDR. Bayerische Parteien beteiligten sich als Akteure der Revolution an Demonstrationen und Wahlkämpfen in der DDR. Dabei wurde die bayerische CSU mit der Gründung von CSU-Verbänden in Thüringen und Sachsen konfrontiert. Diese sorgten für eine Wiederbelebung der von Franz Josef Strauß 1976 in Wildbad Kreuth angeregten Diskussion über eine bundesweite Expansion der CSU. Jetzt ging es jedoch sowohl um eine CSU-Ausweitung sowohl in der DDR als auch im vereinten Deutschland. Unter dem Druck Helmut Kohls entschied sich die CSU jedoch für ihre Erhaltung als bayerische Regionalpartei und gegen eine Unterstützung von CSU-Verbänden in der DDR. Stattdessen forcierte man in München die Bildung einer DSU als kleiner Schwesterpartei der CSU. Diese behinderte die bayerische CSU jedoch bei ihren Kontakten zu neuen politischen Kräften in der DDR und hatte keine Aussicht, auf der politischen Bühne des vereinten Deutschlands zu bestehen.

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Inhalt

Einleitung

Historische Hintergründe und die Bedeutung der deutschen Staatsbürgerschaft

Bayern München und der Beginn der Friedlichen Revolution

Vogtland, Coburg, Henneberger Land - Historische Verbindungen zwischen Franken, Thüringen und Sachsen

Fränkische Kreise in Thüringen

Historische Beziehungen zwischen Bayern und Sachsen

Die Bedeutung des Grundgesetzes und der Beibehaltung einer einheitlichen deutschen Staatsbürgerschaft durch die Bundesrepublik.

Der 40. Jahrestag der DDR zwischen Agonie, Repression und Massenflucht

Parallele Welten: Bayern und die DDR bis zum Sommer 1989

Ausreisen aus der DDR in die Bundesrepublik von 1984 bis 1988

Flüchtlinge und Ausreisewillige im Frühjahr 1989

Die Fälschung der ohnehin nur simulierten Kommunalwahlen

Der Besuch Michail S. Gorbatschows in Bonn im Juni 1989 und die Bedeutung der deutsch-sowjetischen Erklärung für das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen

Die Krise der CSU und die Europawahl im Juni 1989

Die Massenflucht über Ungarn ab Mai und die Errichtung von Auffanglagern in Bayern im August und September 1989

Die Öffnung der ungarischen Grenze im Mai 1989

Ausreisen aus der DDR bis Anfang August

Die Massenflucht über Ungarn und Auffanglager in Bayern zwischen August und Mitte September

Die Situation in Bayern vom 1. bis 4. September

Der „Zeltstreit“ zwischen dem Bundesministerium des Innern und dem Bayerischen Roten Kreuz am 4. und 5. September

Die Auffangstellen an der Autobahn aus Österreich und die Lage in den Erstaufnahmelagern vom 5. bis 11. September

Die Öffnung der ungarischen Grenze am 11. September

Flüchtlinge und Lager vom 12. bis Ende September

Die Suche der bayerischen Wirtschaft nach Fachkräften unter den Flüchtlingen.und Übersiedlern

Die Folgen der Flucht in der DDR: Diskussionen, Proteste, Flucht und Ausreiseanträge

Die Massenflucht in die bundesdeutsche Botschaft in Prag und die Sonderfahrten der Deutschen Reichsbahn durch die DDR nach Hof Ende September Anfang Oktober 1989

Die Flucht über Prag nach Bayern im September

„Der Sonderzug nach Bayern“: Die erste Zugdurchfahrt von Prag nach Hof am 30. September und 1. Oktober

Die Lage in der Prager Botschaft Anfang Oktober

Diplomatische Kontakte und die zweite Zugdurchfahrt am 3. Oktober

Die Schließung der DDR-Grenze und die Verschärfung des Grenzregimes

Die Schließung der Grenze der DDR zur Tschechoslowakei am 3. Oktober

Verstärkte Grenzsicherung ab dem 4. Oktober

Die Zunahme von Fluchtversuchen über die tschechische Grenze Anfang Oktober

Die Ablehnung der SED-Politik unter der Bevölkerung des Bezirkes Karl-Marx-Stadt im Grenzbereich zur ČSSR und zu Bayern im Oktober

Die Eskalation der Gewalt in Dresden am 3. bis 5. Oktober 1989

Proteste Ausreisewilliger am Dresdner Hauptbahnhof am 3. und 4. Oktober

Der Einsatz der Armee gegen die Bevölkerung am 4. und 5. Oktober in Dresden

Massenzuführungen in „Zuführungspunkten“ in Dresden am 4. und 5. Oktober

Die dritte Zugdurchfahrt nach Hof und Proteste entlang der Bahnstrecke am 4. und 5. Oktober 1989

Die Lage in der Prager Botschaft und die dritte Zugdurchfahrt

Proteste entlang der Bahnstrecke

Der Einsatz der „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ und Gewalt gegen Protestierende im Bezirk Karl-Marx-Stadt

Ankunft in Hof und Weiterleitung in Auffanglager

Proteste um den 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 und dieweitere Verschärfung des Grenzregimes

Proteste im Bezirk Karl-Marx-Stadt um den 40. Jahrestag am 7. Oktober

Gewaltsame Proteste der Bevölkerung im Oktober

Die Vorbereitung der SED-Führung auf eine militärische Niederschlagung der Bevölkerungsproteste

Die Aktivierung der Bezirkseinsatzleitungen und die Verstärkung des Grenzregimes am 8. Oktober

Militärische Vorbereitungen zur Niederschlagung der Proteste

Die Einrichtung von „Isolierungslagern“

Ankündigung einer „chinesischen Lösung“ durch Erich Honecker

Dresden und Leipzig am 8. und 9. Oktober 1989 zwischen „chinesischer Lösung“ und Dialogpolitik

Die Dresdner „Gruppe der 20“ und der Beginn einer Dialogpolitik am 8. Oktober

Die Änderung der Haltung des Leiters der Bezirkseinsatzleitung Dresden, Hans Modrow: Keine Gewalt

Erstes Rathausgespräch und freie Volksversammlungen in Kirchen am 9. Oktober in Dresden

Der 9. Oktober in Leipzig: Tag der Entscheidung

Die schrittweise Liberalisierung zwecks Machtsicherung durch Egon Krenz ab dem 17. Oktober

Demonstrationen Ende Oktober/Anfang November

Massenflucht und Ausreise von Mitte Oktober bis zur Grenzöffnung am 10. November 1989

Die Zahl der Antragsteller und Flüchtenden bis Ende Oktober und die Folgen des Massenexodus in der DDR

Die Gewinnung von Flüchtlingen als Arbeitskräfte in Franken bis zur Grenzöffnung

Flucht und Ausreise in der zweiten Oktoberhälfte

Die Öffnung der DDR-Grenze zur ČSSR am 1. November und die erneute Flucht in die Prager Botschaft

Die direkte Ausreise nach Bayern ab dem 3. November

Die Unterstützung und Unterbringung der Flüchtlinge und Übersiedler in bayerischen Auffanglagern

Und wer zahlt die Kosten?

Die Bedeutung von Flucht, Übersiedlung und Ausreise für den revolutionären Prozess

Haltung und Entwicklung von Parteien in Ost und West bis zur Grenzöffnung

Die Gründung des „Neuen Forums“, des „Demokratischen

Aufbruchs“, von Demokratie jetzt und der „Sozialdemokratischen Partei in der DDR“ Ende September Anfang Oktober

Die Haltung der SPD zur Wiedervereinigung

Die Ost-CDU bis zum September: Reformkraft oder SED-Stütze?

Der „Brief aus Weimar“ vom 10. September und Bewegung an der Basis der Ost-CDU bis Anfang Oktober

Die Haltung der CSU zur deutschen Frage und zur Massenflucht bis zum Fall der Mauer

Die Bildung neuer Unionsparteien in der DDR bis Mitte November sowie die Einschätzung der Ost-CDU und neuen Gruppierungen durch die CSU

Die Öffnung der innerdeutschen Grenze Mitte November 1989 und die Auswirkungen auf Bayern

Die 10. Tagung des Zentralkomitees der SED am 9. November und die Öffnung der Grenzen der DDR

Die Öffnung der Grenze und der Besucheransturm im November

Die Öffnung der Grenze zwischen Bayern und Thüringen sowie Sachsen

Der Besucheransturm in Franken am 11. und 12. November

Der Beginn des Abbaus der Grenzanlagen und der Beseitigung von Minen

Grenzübergänge, Reiseverkehr und Wiedersehensfeiern im November

Die Haltung linker Vordenker zur deutschen Einheit und zur Öffnung der Grenze

Die Polarisierung innerhalb der SPD nach der Grenzöffnung 208

Die Aktivitäten der Bayerischen Staatsregierung nach der Grenzöffnung und die Einsetzung einen Staatssekretärsausschusses für DDR-Fragen am 14. November

Das Verhältnis von CDU/CSU zur Ost-CDU und zu neuen Unions-Gründungen in der DDR bis zur Volkskammerwahl am 18. März 1990

Der Zehn-Punkte-Plan von Bundeskanzler Helmut Kohl vom 28. November und die national-demokratische Wende der Revolution

Der Wechsel der CSU zur operativen Wiedervereinigung-Politik und der Beginn einer neuen Ausdehnungsdiskussion

Die Gründung christlich-konservativer Parteien in der DDR und die Suche der CSU nach geeigneten Partnern im November und Dezember

Der Sonderparteitag der Ost-CDU am 15./16. Dezember

Der Gründungsparteitag des „Demokratischen Aufbruchs“ (DA) am 16./17. Dezember

Die CSU und andere Unionsgründungen in der DDR

Unionsgründungen in der DDR im Dezember

Die Gründung von CSU-Verbänden in der DDR im Januar

Die fortgesetzte Suche der CSU nach Partnern Anfang 1990 und das Konzept einer Vernetzung und Fusionierung des zersplitterten Lagers

Das Verhältnis von West-CDU und Ost-CDU bis Mitte Januar

Die Winterklausur der CSU-Landesgruppe am 9. bis 11. Januar in Leipzig

Das Treffen der bayerischen CSU mit Unionsparteien in der DDR am 14. Januar

Die Gründung der „Deutschen Sozialen Union“ (DSU) am 20. Januar

Die Weiterarbeit von CSU-Verbänden nach Bildung der DSU

Der beginnende Wahlkampf

Der Übergang der Demonstrationen in den Wahlkampf im Januar und Februar

Kontakte zwischen Ost-CDU und bayerischer CSU auf kommunaler und regionaler Ebene

Der Streit über die Beteiligung der Ost-CDU an der Regierung Modrow ab Mitte Januar

Die Bildung einer „Allianz für Deutschland“ im Wahlkampf im Januar

Der Wahlkampf im Februar und März und die Rolle von Ost-CDU und Ost-CSU

Der Gründungsparteitag der DSU am 18. Februar in Leipzig

Die Zustimmung Helmut Kohls zur DSU-Ausdehnung auf dem Gebiet der DDR

Die Ausbreitung der DSU bis zur Märzwahl

Die Ablehnung einer Mitarbeit von Mitgliedern der Gruppe der 20 und des Neuen Forums in Dresden in der DSU und ihr Beitritt in die Ost-CDU am 21. Februar

Andere Parteien im Wahlkampf

Der SPD-Wahlkampf zur Volkskammerwahl und zu den Kommunalwahlen in Bayern am 18. März

Liberale Parteien

Neues Forum

Die Ökologisch-Demokratische Partei und die Deutsche Umweltschutzpartei

Die national-konservativen Republikaner

Rechtsextreme Parteien und Gruppierungen

Reiseverkehr, Verkehrsverbindungen, Regionalentwicklung

Reiseverkehr im Dezember 1989

Der Ausbau von Verkehrsverbindungen und die Regionalentwicklung in Franken

Auseinandersetzungen über die Abschaffung der Zonenrandförderung

Der Abbau von Einheiten des Bundesgrenzschutzes, der Bundeswehr sowie der US-Army und Förderungen vom Militärabbau betroffener Kommunen

Reiseverkehr von Januar bis März 1990

Der Ausbau regionaler und kommunaler Kontakte

Kommunale Kontakte und Regionalausschüsse zwischen Bayern und DDR-Bezirken sowie Rivalitäten zwischen Bayern und Baden-Württemberg

Kommunale und Kontakte auf Kreisebene

Kontakte auf der Ebene von Bundesländern und DDR-Bezirken

Forderungen der Bundesländer nach stärkerer Einbeziehung in den Prozess der Wiedervereinigung

Die Koordinierung der Aktivitäten zwischen Bund, Ländern, DDR-Regierung und Bezirken zwischen Januar und März 1990

Kontakte zwischen Bayern und den thüringischen Bezirken Suhl und Gera vor der Volkskammerwahl

Bayern, Böhmen und die „Samtene Revolution“ in der ČSSR

Wirtschaft und Arbeit

Wirtschaftliche Erwartungen in Bayern

Wirtschaftliche Kontakte von Dezember 1989 bis Februar 1990

Zeitungen und Rundfunk

Kontakte zwischen Gewerkschaften des DGB und dem FDGB

Die Übersiedler in Bayern und das Problem der Arbeitslosigkeit

Die Latenz wechselseitiger Vorurteile vor „Ossis“ und „Wessis“ und die Förderung persönlicher Kontakte

Gesellschaftliche Kontakte Bayerns bis zur Volkskammerwahl am 18. März 1990

Kirchliche Kontakte

Schulkontakte

Naturschutz am Grenzstreifen: Das „Grünes Band“

Der Ausbau kultureller Kontakte

Die Deutsche Demokratische DDR zwischen den ersten freien Wahlen am 18. März und dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990

Die Volkskammerwahl in der DDR und die Kommunalwahlen in

.

Bayern am 18. März 1990

Die Friedliche Revolution und die Notwendigkeit einer doppelten Demokratisierung der DDR für die Wiedervereinigung Deutschlands

Die Parteien nach der Wahl

Die Weiterarbeit der Ost-CSU nach Volkskammerwahl

Konkurrierende Arbeitsgremien Sachsen/Bayern und Sachsen/Baden-Württembergs im Vorfeld der Landesbildung von April bis Mai 1990

Die Planungen der Bayerischen Staatsregierung und die Unterstützung neuer politischer Kräfte in der DDR nach der Volkskammerwahl

Die Einrichtung von Arbeitsgruppen und eines „Kuratoriums Bayern-Sachsen“

Die Schaffung einer „Gemischten Kommission Sachsen/Baden-Württemberg“

Die Auseinandersetzungen um den Landesvorsitz der sächsischen CDU und um die Kandidatur für das Amt des sächsischen Ministerpräsidenten

Die Kommunalwahlen in der DDR im Mai 1990

Die Bemühungen der CSU in München um eine Fusion der CSU in Sachsen und Thüringen mit der DSU von Mai bis Juli 1990

Der Streit um eine Ausdehnung der CSU nach den Kommunalwahlen in der DDR

Die Vereinbarung von CSU, DSU und CDU über die Zukunft der DSU vom 1. Juni

Der Fortgang der Diskussion über die künftige Rolle von DSU, CSU und CDU in der DDR

Bemühungen im Vogtland und im fränkischen Süd-Thüringen um einen Wechsel nach Bayern

Fortgesetzte Aktivitäten der CSU von Thüringen und Sachsen

Der DSU-Parteitag in Leipzig am 2. Juli

Die Klausur der CSU-Landesgruppe im Bundestag am 2. Juli in Kloster Banz und Beratungen der CSU- und DSU-Führungen am 4. Juli in München

Die Gründung von CSU-Landesverbänden in Sachsen und Thüringen im Juli

Der CSU-Parteitag am 13./14. Juli in Nürnberg und die Rolle der Ost-CSU

Das Spitzentreffen der bayerischen CSU mit der DSU und der sächsischen CSU am 25. Juli

Bund und Länder zwischen Mai und August 1990

Der Sonderfond „Deutsche Einheit“ und der „Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion“

Die Debatten zwischen Bund und Ländern über eine Länderneugliederung

Neuverteilung der Länderstimmen im Bundesrat auf Initiative Bayerns

Der Einigungsvertrag vom 30. August und die Charakterisierung der Friedlichen Revolution als Prozess zur Wiedervereinigung Deutschlands

Bayerns Rolle bei der Landesbildung in Sachsen und die wachsende Bedeutung des Koordinierungsausschusses ab Juni 1990

Die Berufung von Regierungsbevollmächtigten durch die DDR-Regierung am 6. Juni und die andauernde Konkurrenz zwischen Bayern und Baden-Württemberg

Die Einsetzung von Landesstrukturbeauftragten in Sachsen von Juni bis August

Bayerische Informationsbüros in Thüringen und Sachsen zwischen Mai und Juli

Die bayerische Unterstützung neuer politischer Kräfte in Sachsen

Die Ausarbeitung von Konzepten für die Ministerien und Landesverwaltungen durch einen Koordinierungsausschuss unter Leitung von Arnold Vaatz im Juli

Die Konkurrenz zwischen Bayern und Baden-Württemberg beim Personaleinsatz

Die finanziellen Lasten Bayerns durch die Wiedervereinigung im September

Die Beeinträchtigung des bayerischen Engagements durch die Favorisierung der DSU im Juli und August

Die Koordinierung des Personaleinsatzes von Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz

Die Bildung zentraler Arbeitsstäbe ab dem 11. September und Konflikte bei der Besetzung von Funktionen

Einsetzung von Landessprechern durch Bayern und Baden-Württemberg sowie Auseinandersetzungen bei der Ressortverteilung im September

Der Einsatz von Beratern aus Bayern im September

Das Ende der „Gemischten Kommission Sachsen/Baden-Württemberg“ und die zunehmende Bedeutung des Koordinierungsausschusses im September 1990

Die Bund-Länder-Clearing-Stelle von August bis zur Wiedervereinigung am 3. Oktober

Bayern im wiedervereinten Deutschland 1990/91

Die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990

Die Wiedervereinigung als Teil der Friedlichen Revolution

Verwaltungstransformation und Institutionenbildung

Die Übernahme von DDR-Einrichtungen in Landeshoheit

Die Wiedervereinigung und die Bildung der Länder Thüringen und Sachsen

Die Arbeit des Bayerischen Informationsbüro Dresden ab Oktober

Der Koordinierungsausschuss als Exekutivorgan des Landessprechers

Ost-Kader und West-Beamte

Die Koordinierung des Einsatzes von Beamten in der DDR und die Personalauswahl zwischen September und November 1990

Bayerische und baden-württembergische Beamte im Osteinsatz

Alte Kader zwischen politisierter Inkompetenz, Chaosqualifikation und Desinteresse

Die Bedeutung des Eliteimports bei der Schaffung von Verwaltungen nach bundesdeutschen Vorgaben

Kritik an der Dominanz von Beamten aus Bayern und Baden-Württemberg

Bayerns Beitrag zur Bildung von Exekutive, Judikative und Legislative in Sachsen und Thüringen

Sächsische Staatskanzlei

Sächsisches Staatsministerium des Innern

Thüringisches Ministerium des Innern

Landespolizei in Sachsen und Thüringen

Regierungspräsidien und Regierungsbezirke in Sachsen sowie das Landesverwaltungsamt in Thüringen

Verwaltung in Sachsen

Verwaltung in Thüringen

Sächsisches Staatsministerium der Finanzen

Finanzverwaltung in Sachsen und Thüringen

Sächsischer Landesrechnungshof

Sächsische Oberfinanzdirektion, Staatshochbauverwaltung und Finanzbauverwaltung

Sächsisches Staatsministerium für Wirtschaft und Arbeit Sachsen

Sächsisches Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten

Sächsisches Staatsministerium für Umwelt und Landesentwicklung

Sächsisches Staatsministerium und Landesverwaltung für Soziales, Gesundheit und Familie

Sächsisches Staatsministerium für Kultus

Sächsisches Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst

Der Neuaufbau der Justiz in Sachsen sowie Thüringen und die Bildung eines Justizministeriums in Sachsen

Sächsische Landtagsverwaltung

CSU und DSU bei den Landtagswahlen am 14. Oktober und der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990

Das Verhältnis der CSU zur DSU im Wahlkampf zu den Landtagen

Die Landtagswahl in Bayern

Die Landtagswahl in Thüringen und Sachsen

Der Richtungsstreit in der CSU/DSU nach den Landtagswahlen

Die Bundestagswahl am 2. Dezember 1990

Positionsbestimmungen der DSU ab Dezember 1990: Vereinigung mit der CSU und bundesweite Ausdehnung

Der DSU-Parteitag im Frühjahr 1991 in Leipzig sowie die Entwicklung der DSU und der CSU in Sachsen

Die Fortsetzung des Transformationsprozesses im Jahr 1991

Die wirtschaftliche und finanzielle Situation der neuen Bundesländer und das „Gemeinschaftswerk Aufschwung-Ost“ vom 6. März 1991

Das bayerisches Sonderprogramm für die neuen Länder und der Einsatz bayerischer Beamter von 1990 bis 1992

Die Reduzierung der Personalausgaben in Bayern 1991

Die Debatten über Länderneubildungen und Veränderungen der föderalen Struktur vor dem Hintergrund fehlender Wirtschafts- und Finanzkraft der neuen Länder von 1991

Anhang

Quellen

Literatur

Abkürzungen

Das ist unsere Revolution.

Bundesminister Hans Klein (CSU) im Hofer Anzeiger/Frankenpost vom 18./19.11.1989.

1. Einleitung

Historische Hintergründe und die Bedeutung der deutschen Staatsbürgerschaft

Bayern München und der Beginn der Friedlichen Revolution

Im Frühsommer 1989 bewegte ein Ereignis den Freistaat Bayern. Am 25. Mai spielte der FC Bayern München gegen den 1. FC Köln. Das Bundesliga-Finalspiel blieb spannend bis zum Abpfiff. Zunächst brachte Torschützenkönig Roland Wohlfahrt die Bayern in Führung; nach einem Ausgleichstor des Kölners Thomas Allofs schoss Wohlfarth kurz vor Spielende zwei weitere Tore und sicherte den Bayern den Titel „Deutscher Meister“. Aber auch jenseits des „Weißwurstäquators“ verfolgten Franken, Thüringer, Sachsen und andere Bayern-Fans das Spiel im Fernsehen. Noch ahnte niemand, dass binnen weniger Monate eine Revolution den Fall der innerdeutschen Grenze und die Wiedervereinigung Deutschlands zur Folge haben würde. Ebenso wenig war vorstellbar, dass am 8. Juli 1990, eine Woche nach der Währungsunion, Deutschland im Endspiel gegen Argentinien Fußballweltmeister werden würde. Noch trat die deutsche Nationalmannschaft ohne Spieler aus der DDR an, aber sie spielte bereits für alle Deutschen. Eine eigene DDR-Mannschaft gab es drei Monate vor der Widervereinigung nicht mehr. Aber die Fans in der DDR jubelten über den Triumpf der deutschen Mannschaft ebenso, wie sie sich über den Sieg von Bayern München im Mai 1989 gefreut hatten.

Heute denken die meisten bei „friedlicher Revolution“ an die Demonstrationen in Leipzig, Dresden und Ost-Berlin, an die Runden Tische, die Politik von Bundeskanzler Helmut Kohl oder an die Perestroika- und Glasnost-Politik des sowjetischen Staatspräsidenten Michail S. Gorbatschow. Schon die Massenflucht aus der DDR infolge des morbiden SED-Regimes wird in ihre Auswirkungen auf das Geschehen weinig hinterfragt. Noch kaum thematisiert wurde bislang die Rolle der Bundesländer im Prozess der deutschen Einheit auf der Grundlage des Föderalismus.1 Dabei bietet die Perspektive eines Bundeslandes wie Bayern viele neue Einsichten. Sie zeigt, welchen unterschiedlichen Einfluss die Bundesländer auf die Entwicklung hatten und welchen Auswirkungen sie selbst ausgesetzt waren. Tatsächlich gab es zwischen den Bundesländern samt West-Berlin teils gravierende Unterschiede, wie das Bespiel Bayerns zeigt. Die Untersuchung eines Bundeslandes eröffnet zugleich die Möglichkeit, die Länder analog zu betrachten und dem Wirken des Föderalismus auf die Spur zu kommen. Schon das Wirken Bayerns und Baden-Württembergs, aber auch die Auswirkungen der Entwicklung in der DDR auf diese süddeutschen Nachbarländer, zeigt gravierende Unterschiede. Bisher zeigte vor allem der Dualismus von Bund und Ländern, wie unterschiedlich der Politiken waren. Überlagert wurden dies auch noch durch jeweils unterschiedliche Parteien, was sich am Beispiel Bayerns mit seiner Regionalpartei CSU besonders deutlich erkennen lässt. Anders als bei den SPD- und CDU-geführten Ländern samt ihren wechselnden Mehrheiten, gab es in Bayern dank der CSU eine über Jahrzehnte andauernde Führung nur einer Partei, die das Profil des süddeutschen Flächenlandes prägte und durch es geprägt wurde. Auch deswegen waren die Auswirkungen der Revolution in der DDR hier besonders gravierend, wie ein Blick auf die Expansionsüberlegungen in der CSU-Führung verdeutlichen. Nach der „Wende“ war Bayern nicht mehr das gleiche Land wie noch beim Bundesliga-Spiel im Mai 1989. Es blieb nicht die einzige Auswirkung, dass sich bald auch Mannschaften aus den neuen Bundesländern am Kampf um den Titel in der Bundesliga beteiligen und den Fußballmillionären von Bayern München gefährlich werden konnten.

Die Sichtweise auf die Geschehnisse aus der Perspektive eines süddeutschen Bundeslandes bietet aber auch in anderer Hinsicht viele neue Einsichten. Die „Friedliche Revolution“ erweist sich nicht nur als ein Prozess innerhalb der DDR, auch nicht nur als eine „Revolution in Deutschland“,2 sondern auch als Re-Föderalisierung auf dem Gebiet der DDR, die ohne die das Mittun bundesdeutschen Länder so nicht möglich gewesen wäre. In unterschiedlicher Weise und Intensität waren alle Länder samt West-Berlin in die Landesbildungsprozesse eingebunden, gestalteten die wieder entstehenden Länder mehr oder weniger tatkräftig mit und veränderten sich dabei selbst. Man denke nur an West-Berlin, das dank des Mauerfalls wieder mit seinem natürlichen Umfeld verschmolz.

Bayern hatte maßgeblichen Einfluss auf die nördlich seiner Grenze liegenden Bezirke und neu entstehenden Länder Thüringen und Sachsen und war Auswirkungen dortiger Entwicklungen unmittelbar ausgesetzt. Dabei stand der Freistaat in ständiger Konkurrenz mit seinem süddeutschen Nachbarn Baden-Württemberg. Das Wirken Bayerns und dessen innere Entwicklung in den 1989 folgenden Jahren lassen sich deswegen ohne einen ständigen Vergleich mit Baden-Württemberg nicht beschreiben. Das Verhältnis beider Länder oszillierte zwischen Konkurrenz und Kooperation. Dabei ging es in erster Linie um Macht, Einfluss, Vorteile und Hilfen im wiedervereinten Deutschland. Im ständigen Wettbewerb erwies es sich z. B. als bedeutsam, dass in Baden-Württemberg ein Landesverband der CDU regierte, in Bayern jedoch die Regionalpartei CSU. Die daraus resultierenden Entwicklungen sind ein wichtiger Bestandteil der Untersuchung.

Schaut man auf München, Nürnberg, Bayreuth, Coburg oder Hof, zeigen sich Prozesse und Impulse, ohne welche die Transformation anders verlaufen wäre. Was heute als normaler Weg zur deutschen Einheit angesehen wird, war tatsächlich ein kontingenter Prozess ohne absehbare Ergebnisse. Es gab Schlüsselereignisse, Zufälle und sicher auch viele vertrauliche Telefonate und Kontakte mit erheblichen Auswirkungen auf das Geschehen, die sich leider in den auswertbaren Dokumenten der damaligen Zeit nicht niedergeschlagen haben. Die Lücke wird durch die Auswertung von etwa 60 Archivbeständen, darunter Registratur-Akten der Bayerischen Staatsregierung, des Baden-Württembergischen Staatsministeriums, des Deutschen Roten Kreuzes, des Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin, des Bundesarchivs, der Staatsarchive von Thüringen und Sachsen, des Stasi-Unterlagenarchivs sowie zahlreiche Kreis- und Privatarchive benannt. Hinzu kommen rund 60 Interviews und die Ergebnisse eines Workshops mit Akteuren der damaligen Zeit, bei denen einige der Zeitzeugen immer wieder einmal aus dem Nähkästchen plauderten. Gerade die Interviews machen Sinnzusammenhänge erkennbar, die den Akten so nicht zu entnehmen sind. Von den Interviewpartnern seien hier Helmut Kohl, Kurt Biedenkopf, Lothar de Maizière, Georg Milbradt, Hans Modrow, Erwin Teufel, Rudolf Baer, Manfred Kolbe, Erich Iltgen, Arnold Vaatz und Albert Prinz von Sachsen Herzog zu Sachsen genannt, denen ebenso zu danken ist wie all den anderen, die bereit waren, Auskunft zu geben.

Vogtland, Coburg, Henneberger Land - Historische Verbindungen zwischen Franken, Thüringen und Sachsen

Um die Rolle Bayerns in die Friedlichen Revolution zu verstehen, reicht eine Analyse der politischen Verhältnisse im Prozess der Wiedervereinigung nicht aus. Auch historische Zusammen-hänge sind wichtig, um manche Prozesse besser zu verstehen. Ereignisse wie die allerorts gefeierten Grenzöffnungen, der Besucheransturm in Franken sowie die Hilfe für DDR-Flüchtlinge und Übersieder lassen sich ohne diesen Hintergrund kaum erklären. Deswegen sei hier kursorisch auf die in Jahrhunderten gewachsenen historischen Verflechtungen Bayerns bzw. Frankens mit Thüringen, Sachsen und Böhmen hingewiesen. Der Bayerische Staatsminister für Arbeit und Sozialordnung, Gebhard Glück, betonte im September 1990, dass diese Beziehungen „eine jahrhundertelange und gute Tradition“ besäßen. Für die Staatsregierung sei es daher vordringlich, an die über Jahrhunderte gewachsenen Strukturen anzuknüpfen.3 Will man die Rolle Bayern auf dem Weg zur staatlichen Einheit Deutschlands erklären, so ist zu beachten, dass die Region Franken nicht an der bayerisch-thüringischen bzw. -sächsischen Grenze endet. Zu Franken gehören im Wesentlichen die Bezirke Oberfranken, Unterfranken und Mittelfranken in Bayern, der nordöstliche Bereich der Region Heilbronn-Franken, Tauberfranken und Hohenlohe-Franken in Baden-Württemberg sowie kleinere Teile Hessens.

Aber auch Südthüringen gehört historisch, kulturell und sprachlich zu Franken. Der fränkisch geprägte Teil Thüringens erstreckt sich vom Landkreis Sonneberg bis zum Bad Salzunger Raum. Er umfasst etwa ein Fünftel der Fläche und ein Sechstel der Bevölkerung des Freistaates Thüringen. Eine offiziell festgelegte räumliche Eingrenzung gibt es nicht. Die Region zeichnet sich aber durch kulturelle und sprachliche Eigenheiten aus und kann in etwa mit dem Gebiet gleichgesetzt werden, in dem ostfränkische Dialekte vorherrschen.4 Die Geschichte Thüringens setzte 1583 ein, als die fränkischen Grafen von Henneberg ausstarben und sächsische Wettiner sowie die Landgrafen von Hessen deren Positionen im Nordwesten Frankens einnahmen.5 Etwa zwei Drittel der Region gehörten vom 16. bis Anfang des 19. Jahrhunderts zum Fränkischen Reichskreis. Ebenso war die Fränkische Reichsritterschaft an Werra und Itz in mehreren Gauen vertreten.6 Ausschlaggebend für die fränkische Prägung, die sich nur unwesentlich von der des heutigen Nordbayern unterscheidet, sind die fränkische Besiedelung im Früh- und Hochmittelalter und die Zugehörigkeit der Region zum Herzogtum Franken. Vom achten Jahrhundert bis zur Gründung des Bistums Erfurt im Jahr 1994 gehörte die Region zum Bistum Würzburg und zuletzt, vom Hochmittelalter bis in die Neuzeit, zur fränkischen Grafschaft Henneberg, die sich in ihrer Blütezeit vom Rennsteig bis nach Schweinfurt erstreckte.

1920 entstand nach langer Nichtstaatlichkeit das Land Thüringen erneut, jedoch zunächst ohne Schmalkalden, Suhl und Schleusingen. Es war seit 1440 die erste politisch-territoriale Einheit mit diesem Namen. Der Süden des neuen Thüringens aber lag und liegt zwar geografisch im alten Osten, „mit dem Herzen aber in Franken“.7 Als Südthüringen werden üblicherweise alle Gebiete südlich des Rennsteiges, einschließlich des ehemaligen Kreises Bad Salzungen bezeichnet. Der Rennsteig verläuft auf dem Kamm des Thüringisch-Fränkischen Mittelgebirges, der historischen und ethnisch-kulturellen Grenze zwischen Franken und Thüringen-Obersachsen.8 Er markierte im Mittelalter die Grenze des Herzogtums Franken zum thüringisch-sächsischen Herrschaftsgebiet und stellt bis heute die Sprachgrenze zwischen den mainfränkischen Dialekten und dem thüringisch-obersächsischen Sprachgebiet Thüringens dar. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde der Region „künstlich ein thüringischer Anstrich“ gegeben. Viele Thüringer wissen daher heute gar nicht mehr, dass sie Franken sind. Fränkische Kultur und Geschichte wurden auch in der DDR meist tabuisiert oder einfach als Teil der Geschichte Thüringens abgehandelt. Fränkische Dialekte wurden aus ideologischen Gründen meist ausgeblendet, passte es doch nicht, wenn die Rede eines SED-Funktionärs sprachlich ähnlich klang wie die des bayerischen Klassenfeindes. Eine Ausnahme stellte der Saarländer Erich Honecker dar, dessen Singsang spätestens dann als saarländischer Dialekt erkannt wurde, als Honecker seiner Heimat zwei Jahre vor der Friedlichen Revolution einen Besuch abstattete.

Kirchlich gehörte das heutige Südthüringen bis 1973 zum Bistum Würzburg. Die fuldaischen Gemeinden im Westen des Wartburgkreises gehören heute noch zum Bistum Fulda.9 Auch architektonisch ähneln die Kommunen im Süden Thüringens mit ihren Fachwerkhäusern und der Blockbauweise im Frankenwald denen der bayerischen Nachbarn. Alles richtet sich hier ins oberfränkische Coburg aus - und umgekehrt. Kulturräumlich kann auch das Thüringer Vogtland Franken zugeordnet werden. In Südostthüringen finden sich leichte fränkische Einflüsse. Heute setzt sich der Verein „Henneberg-Itzgrund-Franken“ in enger Kooperation mit dem „Fränkischen Bund“ für eine Umkehr der „Thüringisierung“ Frankens südlich des Rennsteigs ein. Erstmals erklärte ein Ministerpräsident in Thüringen, Bodo Ramelow, 2019 beim länderübergreifenden Tag der Franken in Sonneberg und Neustadt bei Coburg, dass Franken aus kultureller und historischer Sicht von Süden her bis zum Rennsteig reiche.

Fränkische Kreise in Thüringen

Außerhalb Bayerns zählen die Landkreise Schmalkalden-Meiningen, Hildburghausen und Sonneberg, die kreisfreie Stadt Suhl, der Altkreis Bad Salzungen bzw. die Südhälfte des Wartburgkreises und einzelne Orte im Südwesten des heutigen Ilm-Kreises zu Franken, Sie besitzen eine fränkische Vergangenheit, zuletzt als Teil der Grafschaft Henneberg.10 Nach der Auflösung Preußens durch die Alliierten 1947 kamen auch Schmalkalden, Suhl und Schleusingen zu Thüringen. 1952 wurden die Länder durch Bezirke ersetzt, was 1990 mit kleineren Veränderungen wieder rückgängig gemacht wurde.11

Historisch deckt sich Südthüringen überwiegend mit dem Henneberger Land und der nördlichen Hälfte der Pflege Coburg. Henneberg war eine fränkische Grafschaft zwischen Thüringer Wald und Main und umfasste Gebiete der Rhön, des Rhön-Grabfeldes und der Haßberge. Sie existierte ab dem Ende des 11. Jahrhunderts und war eine Gründung der Grafen von Henneberg. 1660 teilten verschiedene Linien der Wettiner die Grafschaft unter sich auf. Ihre größte Ausdehnung erstreckte sich in Ost-West-Richtung von den heutigen Landkreisen Coburg und Sonneberg bis nach Bad Salzungen. In Nord-Süd-Richtung reichte sie von Ilmenau bis Mainberg vor den Toren Schweinfurts. Das Henneberger Land gehört wie ganz Südthüringen zur Länder übegreifenden Region Franken, die Bayern, Thüringen, Baden-Württemberg und Hessen kultur-historisch verbindet. Vor den Grafen von Henneberg gehörten das heutige Südthüringen und Coburg zunächst zur Abtei Fulda und später zum Bistum Würzburg im heutigen Unterfranken. Es handelte sich um einen weltlichen Herrschaftsbereich mit kirchlicher Führung. Die Henne-berger hatten lange auch die Burggrafenwürde von Würzburg und später von Schweinfurt inne.

Ostheim: Das Amt Ostheim war eine territoriale Verwaltungseinheit der Grafschaft Henneberg. Das Vordergericht, die spätere Exklave Ostheim, lag im Vorland der Rhön. Bei einer Gebietsreform 1922 wurde die Exklave Ostheim dem Landkreis Meiningen zugeschlagen. Sie gehörte aber in Bezug auf Fachverwaltungen zum unterfränkischen Landkreis Mellrichstadt. Im Dritten Reich gab es Auseinandersetzungen um die Zuordnung. 1942 wurden Exklaven dem Bezirk zugeteilt, der sie zum größten Teil umschloss. Im Falle Ostheims war dies der Landkreis Mellrichstadt. Wenig später wurde Ostheim auch wirtschaftlich Bayern unterstellt. Zum 1. Januar 1944 übernahm der Mellrichstädter Landrat die Betreuung. Ostheim blieb bei Bayern. 1945 vereinbarten auch die Alliierten Kommandanten von Meiningen und Neustadt/Saale, dass Ostheim bei Neustadt bleiben solle. 1947 nahm das Land Thüringen die „friedliche Annexion“ Ostheims hin, ohne allerdings offiziell darauf zu verzichten. Die Geschichte der Exklave war beendet. Melpers hingegen blieb bei Thüringen und lag nun an der innerdeutschen Grenze.

Coburg: Der Coburger Dialekt gehört zum Itzgründischen und klingt anders als das Thüringisch nördlich des Rennsteigs. Itzgründisch ist ein unterostfränkischer Dialekt, der sich vom Itzgrund in Oberfranken bis in den Südhang des Thüringer Schiefergebirge erstreckt. Das Dialektgebiet umfasst südlich des Rennsteigs den Landkreis Sonneberg, den südlichen und östlichen Teil des Landkreises Hildburghausen, die Stadt- und Landkreise Coburg und den Nordwesten des Landkreises Lichtenfels. Die Ernestinisch-Sächsischen Herzogtümer im Norden Frankens blieben zunächst unabhängig vom neu entstehenden Land Thüringen. Bei einer Volksbefragung am 30. November 1919 stimmten 88,11 Prozent der Wähler gegen Thüringen und damit für Bayern. Mit dieser Wahl hatte sich erstmals in der deutschen Geschichte ein Land auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes freiwillig für die Vereinigung mit einem anderen Staatswesen entschieden. In Richtung Thüringen brach der Freistaat Coburg die offiziellen Kontakte ab, während er sich mit Bayern über den raschen Abschluss eines Staatsvertrags verständigte.12 Zu Bayern kamen mit Coburg auch die Orte des Landkreises. Auf ihrer Website erklärt die Stadt Coburg, ihre Bewohner könnten sich glücklich schätzen, dass ihre Vorfahren 1919/1920 in einem Volksentscheid für den Freistaat Bayern und nicht für Thüringen entschieden hätten. Dadurch wurde der Landkreis Coburg, wie auch die Gemeinde Lautertal, nach dem Zweiten Weltkrieg Teil der US-Amerikanischen Besatzungszone. Die Grenze verlief durch das Rottenbacher Moor. Görsdorf lag bereits auf DDR-Gebiet.13 Mehrere Orte gelangten durch die Volksabstimmung zum fränkischen Bayern.

Nassach ging 1788 bis 1826 auf Sachsen-Hildburghausen, und von 1826 bis 1918, auf das Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha über. Mit dem Freistaat Coburg kam es schließlich zu Bayern.14 Der große Besitz der Henneberger zersplitterte durch Erbteilung. Die Landgrafen von Thüringen und Markgrafen von Meißen erwarben im Jahr 1400 die Stadt. Seitdem blieb Königsberg beim Hause der Wettiner. Die Stadt gehörte ab 1447 zu Sachsen, ab 1683 zu Sachsen-Hildburghausen und zuletzt, von 1826-1919, zu Sachsen-Coburg und Gotha. Die zunächst hennebergische, dann sächsische Amtsstadt, behielt ihre staatsrechtliche Sonderstellung als Enklave im Gebiet zwischen Bamberg und Würzburg. Das deutsche Kaiserreich zerbrach am Ende des Ersten Weltkrieges. Das Herzogtums Sachsen-Coburg und Gotha, zu dem das Amt Königsberg gehörte, zerfiel. Nachdem zwischen dem ehemaligen Herzogtum Coburg und dem Freistaat Bayern ein Staatsvertrag geschlossen worden war, trat der Anschluss an Bayern am 1 Juli 1920 in Kraft. Königsberg wurde dem bayerischen Regierungsbezirk Unterfranken zugeordnet.15

Neustadt: Neustadt bei Coburg, früher „Neustadt an der Heyde“, ist eine Große Kreisstadt im oberfränkischen Landkreis Coburg und bildet mit der unmittelbar angrenzenden thüringischen Partnerstadt Sonneberg eine geografisch und ökonomisch zusammenhängende urbane Einheit. Als 1918 die Monarchie auch hier endete, galt das dies ebenso für das Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha, dem Neustadt zuletzt angehörte. Zunächst war die Stadt Teil des Freistaates Coburg. Da dieser aber für sich zu klein war, stand eine Entscheidung bezüglich des Anschlusses an Bayern oder Thüringen an. In einer Volksbefragung am 30. November 1919 stimmten 276 Neustädter Bürgerinnen und Bürger für den Beitritt des Freistaates Coburg zum thüringischen Staat, 2 794 dagegen. Somit gehörte ab dem 1. Juli 1920 auch Neustadt zum Freistaat Bayern.16 Der Ort Erlsdorf wurde 1231 erstmals erwähnt. Bis 1920 war er eine sächsische Enklave mit Zollschranken zum bayerischen Umland.17 Heute ist Erlsdorf ein Ortsteil der Stadt Hofheim im unterfränkischen Landkreis Haßberge. Das gemeindefreie Gebiet Gellnhausen liegt im oberfränkischen Landkreis Coburg.

Sachsen-Meiningen: Einen anderen Weg als den von Sachsen-Coburg wählte der Freistaat Sachsen-Meiningen und verzichte nach dem Ende der Monarchie bewusst auf eine Volksabstimmung. Dadurch kamen die Städte Bad Salzungen, Meiningen, Hildburghausen, Sonneberg und Saalfeld zum wiederentstandenen Thüringen.18 Meiningen gehört dennoch zur länderübergreifenden Region Franken im fränkisch geprägten Süden Thüringens. Die Stadt wurde als fränkisches Königsgut gegründet und 982 erstmals urkundlich erwähnt. Ab 1008 gehörte es über ein halbes Jahrtausend zum Hochstift Würzburg und entwickelte sich zur bedeutendsten Stadt im Südthüringer Raum. Diese Position konnte sie ab 1583 als Verwaltungssitz des Henneberger Landes und ab 1680 als Haupt- und Residenzstadt des Herzogtums Sachsen-Meiningen bis in das 20. Jahrhundert behaupten. Die Stadt liegt im Werratal am Ostrand der Rhön und ist fränkisch geprägt.19 Der hier gesprochene hennebergische Dialekt unterscheidet sich von dem in Sonneberg.20

Hildburghausen: Der Landkreis Hildburghausen ist ein Landkreis im fränkisch geprägten Süden Thüringens. Er ist Teil des historischen Henneberger Landes. Im Landkreis werden mainfränkische Dialekte gesprochen, vor allem Itzgründisch und Hennebergisch. Als im Vorfeld einer Kreisgebietsreform in Thüringen eine Expertenkommission 2013 vorschlug, den Landkreis mit dem Nachbarkreis Sonneberg, der Stadt Suhl und Teilen des Landkreises Schmalkalden-Meiningen zu einem Großkreis zu verschmelzen, brachte Landrat Thomas Müller aus Protest gegen diese Pläne einen Wechsel des Landkreises nach Bayern ins Gespräch.21

Sonneberg Sonneberg gehörte bis 1735 zum Fürstentum Sachsen-Coburg und Gotha. In Sonneberg wurde derselbe fränkische Dialekt wie in Coburg gesprochen. Sonneberg lag im Sperrbezirk der Zonengrenze und konnte mit dem Hinterland wenig kommunizieren. Die Sonneberger blieben, samt ihres Dialekts, unter sich. Durch die Lage im Sperrbezirk verkümmerte die einst blühende „Spielzeugstadt“ zur „grauen Stadt“.22 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden das Sonneberger Land und die Stadt vom übrigen Franken abgeschnitten. 1951 wurde der Grenzübergang ins oberfränkische Neustadt bei Coburg gesperrt. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit kam zum Erliegen, Stacheldraht trennte Familien.23 Das SED-Regime unterdrückte die fränkischen Einflüsse und Traditionen. „Man gab eher verschämt zu, dass die Mundart hier fränkisch ist“, so Thomas Schwämmlein, Kreisheimatpfleger des Landkreises Sonneberg.24 Die Menschen sprechen fränkische Dialekte, „lieben ihre Bratwürste und Klöße und begehen ähnliche Bräuche wie die Kirchweihfeste“. „Die Gegend südlich des Rennsteigs ist schon lange fränkisch geprägt“, so Schwämmlein. Bürgermeister Heiko Voigt meint, „wir sprechen den fränkischen Dialekt und fühlen uns den Franken viel näher als dem Rest von Thüringen“. Landrätin Christine Zitzmann erklärt: „Wir sind Thüringer, aber wir sind fränkische Thüringer oder Thüringer Franken.“ Seit Oktober 2013 hat die Spielzeugstadt Sonneberg einen assoziierten Status in der Metropolregion Nürnberg, seit April 2014 auch der Landkreis. Dank dieser Zugehörigkeit warb Sonneberg erstmals beim Nürnberger Christkindlesmarkt und auch bei der Expo und profitierte zudem von diversen Fördermitteln. „Sonneberg ist die wirtschaftsstärkste Stadt in Thüringen. Das liegt vor allem an der guten Zusammenarbeit mit der bayerischen Nachbarstadt Neustadt“, so Voigt.25

Bad Salzungen: Der Altkreis Bad Salzungen teilt sich historisch als auch sprachlich-kulturell in drei Bereiche auf. Der Bereich nördlich des Salzbogens weist auf Thüringen hin. Im Südwesten weist das ehemalige Amt Geisa auch sprachlich einen eindeutigen Bezug zum stark fränkisch geprägten Osthessen auf. Für den restlichen Altkreis im Bereich des Altkreises nördlich des Salzbogens gilt dies nicht. Hier ist der Dialekt eher thüringisch. Die historische Prägung dieses Bereichs um die Städte Bad Salzungen und Bad Liebenstein ist sowohl thüringisch als auch fränkisch Hinzu kommt im Südwesten des Altkreises, sowohl sprachlich als auch historisch, ergänzend zur fränkischen auch eine hessische Prägung.

Suhl: Auch Suhl gehört geschichtlich gesehen zu Franken.26 Hier finden sich Spuren, die auf die fränkische Zuordnung der Region hinweisen, so ein Fachwerkensemble im Ortsteil Heinrichs, das im 17. Jahrhundert im hennebergisch-fränkischen Stil errichtet wurde.27 Suhl nimmt seit 2017 als ständiger Gast an der Arbeitsgemeinschaft fränkischer Oberbürgermeister teil. Zweck der Treffen ist es, fränkische Interessen zu vertreten. Hofs Oberbürgermeister und sein Suhler Kollege, Jens Triebel, betonen, ausschlaggebend für die Entscheidung zur Mitgliedschaft seien die gemeinsame fränkische Kultur, Tradition und Sprache.28

Vogtland: Der Name Vogtland geht zurück auf die Territorialverwaltung des späten Mittelalters und bezeichnete ein reichsunmittelbares Gebiet, das bis ins 14. Jahrhundert von staufischen Reichsministerialen, den Vögten, verwaltet wurde. Das heutige sächsische Vogtland ist das Kernland der ursprünglich zusammenhängenden „Terra advocatorum“, das Gera, Hof und Asch (Aš) einschloss. Die bis heute bestehende Abgrenzung des Vogtlandes war die Folge der Entstehung von Territorialfürstentümern. 1459 wurde die Grenze zu Böhmen festgelegt, 1524 die zu Bayern. 1569 folgte die Grenze zum Fürstentum Reuß, das 1920 in Thüringen aufging. Die innersächsische Abgrenzung erfolgte 1577, als Kursachsen sein Gebiet in sieben Kreise unterteilte, darunter einen „Voigtländischen Creis“. Dieser bestand bis 1874 und trug seit 1835 den Namen „Amtshauptmannschaft Plauen“. In einer Verwaltungsreform wurde er in die Amtshauptmannschaften Plauen, Oelsnitz und Auerbach aufgegliedert. Plauen und Reichenbach wurden in den 1920er Jahren kreisfreie Städte, die Amtshauptmannschaften hießen ab 1939 „Landkreise“.29

Das vogtländische Plauen pflegte über Jahrhunderte enge Beziehungen mit Hof. Durch das SED-Grenzregime brachen die Kontakte fast völlig ab. Erst nachdem Franz Josef Strauß 1984 einen Milliardenkredit für die DDR organisiert hatte, wurde im Herbst 1987 eine Städtepartnerschaft zwischen Hof und Plauen geschlossen.

Im Vogtland werden verschiedene Mundarten gesprochen. Kernvogtländisch ist ein ostfränkischer Dialekt, der im größten Teil des sächsischen Vogtlandes, insbesondere in der Gegend um Plauen, Oelsnitz und Auerbach zu hören ist. Das Kernvogtländische gehört sprachgeschichtlich zum Oberostfränkischen. Kulturräumlich kann auch das Thüringer Vogtland Franken zugeordnet werden.30 Das Nordvogtländische wird im Gebiet um Reichenbach gesprochen. Es ist ebenfalls eine Übergangsmundart. In ihr finden sich Merkmale des Mitteldeutschen. Die vogtländische Mundart unterscheidet sich von Ort zu Ort. Das bayerische Vogtland befindet sich 45 Kilometer nördlich von Bayreuth, etwa zehn Kilometer westlich von Hof und etwa einhundert Kilometer südwestlich von Chemnitz. Die nächstgelegenen Naturparks sind der Frankenwald in Bayern und das Thüringer Schierfergebirge/Obere Saale. Das Dreieck hat seinen Namen von der Region Bayerisches Vogtland erhalten. Südvogtländisch wird südlich der Linie Freiberg-Wohlbach-Gunzen-Hoher Brand gesprochen. Im südlichsten Zipfel des Vogtlandes dominiert eine nordbayerischsüdvogtländische und im Waldgebiet um Morgenröthe-Rautenkranz eine dem Westerzgebirgischen zuzuordnende Mundart. Das Südostvogtländische in der Region um Klingenthal und Zwota bildet eine Übergangsmundart mit vogtländischen, westerzgebirgischen und bayerischen Merkmalen.31

Historische Beziehungen zwischen Bayern und Sachsen

Es gab aber nicht nur Verflechtungen des fränkischen Teils von Thüringen mit dem Bayerns, sondern auch eine gemeinsame Geschichte der Staaten Bayern und Sachsen. Ab dem Jahr 1580 wurde der Heilige Benno als Bischof von Meißen Schutzpatron Bayerns und Münchens. Heinrich der Löwe aus dem sächsischen Geschlecht der Welfen war von 1142 bis 1180 zugleich Herzog von Sachsen und von 1156 bis 1180 Herzog von Bayern.

Seit dem Spätmittelalter gab es mehrere eheliche Verbindungen der Wettiner mit den fränkischen und bayerischen Fürstenhäusern der Hohenzollern und Wittelsbacher. Die hohe Zahl ehelicher Bindungen manifestiert das damals enge Verhältnis beider Fürstenhäuser. So lag es wohl nahe, dass sich die Nachfahren des sächsischen Königshauses der Wettiner während der Zeit der deutschen Teilung von Bayern aus für den Erhalt der sächsischen Identität einsetzten. Im Januar 1961 gründeten Prinz Friedrich Christian von Sachsen Herzog zu Sachsen und seine Söhne, die Prinzen Maria Emanuel und Albert von Sachsen Herzöge zu Sachsen gemeinsam mit Vertretern verschiedener sächsischer Organisationen in München die „Studiengruppe für Sächsische Geschichte und Kultur e. V. München“. Diese gab seit 1961 in loser Folge die „Blätter für Sächsische Heimatkunde“ heraus. Verantwortlich dafür war der Münchner Historiker Albert Prinz von Sachsen Herzog zu Sachsen, der lange Zeit auch als Landesvorsitzender der Sächsischen Landsmannschaft in Bayern fungierte. Im September 1965 wurde durch die Studiengruppe eine Sachsenbibliothek und ein Sachsenmuseum im Nymphenburger Schloss in München eingeweiht, das über Jahrzehnte von der Studiengruppe betreut wurde.32 1988 war Albert Prinz von Sachsen Mitbegründer des „König-Friedrich-August-Instituts für Sächsische Geschichts- und Kulturforschung e. V. Würzburg“. Nach eigenem Bekunden war es immer das Anliegen von Prinz Albert, der bei den sächsischen Landtagswahlen 1990 für die DSU kandidierte, die Geschichte und kulturellen Traditionen Sachsens zu pflegen und wissenschaftliche Ergebnisse durch Vorträge und Publikationen der Öffentlichkeit näher zu bringen.33

Die Bedeutung des Grundgesetzes und der einheitlichen deutschen Staatsbürgerschaft für die Friedliche Revolution

Nicht nur die gemeinsame Geschichte spielt eine wichtige Rolle für das Verständnis des revolutionären Prozesses. Von grundsätzlicher Bedeutung war das auf Anweisung der Alliierten des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1949 verabschiedete Grundgesetz, in welchem die deutschen Autoren eigenwillig das Festhalten der Bundesrepublik Deutschland am Ziel der Wiedervereinigung und an einer einheitlichen deutschen Staatsbürgerschaft fest verankerten. Immer wieder scheiterten seitdem Versuche, den Passus zur einheitlichen Staatsangehörigkeit aus dem Grundgesetz zu streichen. Die gegen Widerstand beibehaltene Staatsbürgerschaft war eine wesentliche Voraussetzung für die Destabilisierung der SED-Diktatur. Ohne sie wäre die Entwicklung beider Staaten völlig anders verlaufen. Der Ruf nach deutscher Einheit, der seit November 1989 auf Demonstrationen und Kundgebungen erscholl, konfrontierte alle politischen Akteure mit dem Passus des Grundgesetzes, wonach der bundesdeutsche Staat nur eine „fragmentarische Staatsorganisation“ und ein „Provisorium“ bis zur „Wiederherstellung der staatlichen Einheit des ganzen deutschen Volkes“ war, das nur einen Teil des Volkes umfasste.34 Durch die Friedliche Revolution und die dabei vorgetragenen Forderungen nach deutscher Einheit wurde das von vielen politischen Kräften der Bundesrepublik bereits aufgegebene Staatsverständnis der Bundesrepublik als demokratischer Kernstaat eines wiedervereinigten Deutschlands revitalisiert. Diese zu neuem Leben erweckte Staatsräson war „die gewichtigste westliche Hilfe zum Gelingen der demokratischen Revolution“.35 Trotz ihrer vom Bundesverfassungsgericht rechtlich festgestellten „Subjektidentität“ mit dem Deutschen Reich war die Bundesrepublik allerdings bezüglich ihrer hoheitlichen Gestaltungskraft auf den Geltungsbereich des Grundgesetzes beschränkt.36 Das Bundesverfassungsgericht wies ausdrücklich darauf hin, dass die DDR, als Staat organisiert, ihren Willen zur Vereinigung mit der Bundesrepublik nur in der Form äußern könne, die ihre Verfassung zulässt.37 Bei aller Kontingenz des Geschehens standen die im Grundgesetz verankerten Vorgaben bundesdeutscher Politik wie Felsen in der Brandung und zeigten wie Leuchttürme die einzig mögliche Richtung an.38 Handeln mussten die Deutschen in der DDR selbst. Unabdingbare Voraussetzung für einen Beitritt waren Freiwilligkeit und demokratische Erneuerung in der DDR.39 Die ebenfalls notwendige Entscheidung der Deutschen in der Bundesrepublik für die staatliche Einheit lag bereits Jahrzehnte zurück und hatte die Bundesrepublik mit einer auf deutsche Einheit hin ausgerichtete Staats- und Rechtsform versehen, die alle Bemühungen um Verfestigung der Zweistaatlichkeit in die Schranken verwies.

1 Vgl. Schweinshaupt, Nord-Ost Bayern, Position 58.

2 Vgl. Richter: Die Revolution in Deutschland.

3 Statement des Bayerischen Arbeits- und Sozialministers Gebhard Glück bei der Pressekonferenz am 5.9.1990 in Dresden (HAIT, KA 59).

4 Vgl. Klepsch, Fränkische Dialekte.

5 Vgl. Delhaes-Guenther, Thüringer Landkreise.

6 Vgl. Truckenbrodt, Henneberg-Itzgrund-Franken geht im Fränkischen Bund auf.

7 Wilke, Felicitas, Ein Stück Franken im Osten.

8 Vgl. Truckenbrodt, „Südthüringen“ ist ein Teil Frankens?

9 Vgl. Henneberg-Itzgrund-Franken e.V.: Sind Coburg, Hildburghausen und Sonneberg ober- oder unterfränkisch? (www.henneberg-itzgrund-franken.eu/wp-content/uploads/2016/01/Unterfranken-oder-Oberfranken.pdf).

10 Vgl. Delhaes-Guenther, Thüringer Landkreise.

11 Vgl. Richter, Die Bildung des Freistaates Sachsen, S. 39-56; ders., Entscheidung für Sachsen, S. 7-11.

12www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Vereinigung_Coburgs_mit_Bayern,_1._Juli_1920.

13www.gemeindelautertal.de/historie/grenzoffnung.html 20.8.2008.

14https://de.wikipedia.org/wiki/Nassach (Aidhausen).

15https://koenigsberg.de/tourismus-und-kultur/stadtchronik.

16https://de.wikipedia.org/wiki/Neustadt_bei_Coburg.

17https://de.wikipedia.org/wiki/Erlsdorf.

18https://www.fraenkischer-bund.de/geschichte-frankens/franken-1806-1990/.

19 Vgl. Delhaes-Guenther, Thüringer Landkreise.

20 Vgl. Wilke, Ein Stück Franken im Osten.

21 Thüringen. Sonneberg und Hildburghausen drohen mit Flucht nach Franken (Südthüringen.de vom 2.2.2013).

22 Sauer, Fränkischer Dialekt in Bayern und Thüringen.

23 Vgl. Attrodt, Eine Stadt aus dem Osten will bayerisch werden.

24 Wilke, Ein Stück Franken im Osten.

25 Delhaes-Guenther, Thüringer Landkreise.

26 Neue Henneberger Zeitung online vom 2.3.2017.

27 Vgl. Wilke, Ein Stück Franken im Osten.

28 Vgl. Lai, Suhl und Franken kommen sich näher.

29 Vgl. Frenzel, Die Eigendynamik, S. 69.

30 Vgl. Delhaes-Guenther, Thüringer Landkreise.

31 Mundart Vogtland (www.vogtlandmundart.de/entstehungsgeschichte.php).

32 Blätter für Sächsische Heimatkunde, Sonderheft 1987, S. 64 und 69-71.

33 Vgl. Sachsen, Albert Prinz von, Die Albertinischen Wettiner, S. 401.

34 Isensee, Verfassungsrechtliche Wege, S. 309.

35 Wilke, Die Bewährung, S. 120-122.

36 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21.10.1987.

37 Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Grundvertragsurteil vom 31.7.1973.

38 Vgl. Pollack, Ursachen, S. 18.

39 Vgl. Isensee, Verfassungsrechtliche Wege, S. 320f.

2. Der 40. Jahrestag der DDR zwischen Agonie, Repression und Massenflucht

Parallele Welten: Bayern und die DDR bis zum Sommer 1989

Ausreisen aus der DDR in die Bundesrepublik von 1984 bis 1988

Der Blick in die bayerisch/fränkische, thüringische und sächsische Geschichte hilft, das Verhältnis der Menschen beiderseits der Landesgrenze besser einzuordnen. Rückschlüsse lassen sich aber auch durch einen Blick auf die letzten Jahre vor der Friedlichen Revolution ziehen. Längerfristige Entwicklungen als auch zufällige Ereignisse spielten dabei eine Rolle.

Proteste Ausreisewilliger sowie Ausreise- und Fluchtversuche gab es in der DDR nicht erst im Jahr 1989. Schon durch den Bau der Berliner Mauer am 13. August 1981 wurden die Deutschen in der DDR daran gehindert, dem diktatorischen System zu entkommen. Im Frühjahr 1984 versuchten noch immer viele, die DDR zu verlassen. Anfang Oktober 1984 war die bundesdeutsche Botschaft in Prag schon einmal geschlossen worden, nachdem dort etliche DDR-Bewohner Zuflucht gesucht hatten. Sie kehrten alle in die DDR zurück, nachdem ihnen eine Bearbeitung ihrer Ausreiseanträge zugesagt worden war. Die SED-Führung verhielt sich seit Mitte der 1980er Jahre Ausreisewüschen und Reisen in den Westen gegenüber kulanter als in den Jahren zuvor. 1983 konnten 64 025 Personen wegen dringender Familienangelegenheiten in die Bundesrepublik reisen, 1982 waren es 45 709 Personen gewesen. Die leichte Liberalisierung der Reisepraxis, die sich in den folgenden Jahren fortsetzte, basierte freilich auf einer Fehleinschätzung der SED-Führung bezüglich politischer Stabilität und der Loyalität der Bevölkerung. Die eigene Ansicht westlicher Lebensverhältnisse durch Tausende Besucher aus der DDR erschütterte deren Loyalität zum eigenen Staat und führte die Ergebnisse der Propaganda ad absurdum. „Der Schwarze Kanal“ des Karl Eduard von Schnitzler fand schon lange nur noch unter SED-Hardlinern Befürworter. Die Zweifel an den vermeintlichen „Errungenschaften des Sozialismus“ nahmen zu. Jeder Ausreisewelle folgten noch mehr Anträge. Die Folge war ein sich selbst verstärkender Prozess. 1987 besuchte Erich Honecker seine saarländische Heimat. Im Jahr 1988 kamen nach Angaben des Bundesinnenministeriums 29 031 Personen aus der DDR legal in die Bundesrepublik, 9 718 gelang die Flucht. Seit dem Herbst 1988 wuchs die Ausreiser-Bewegung kontinuierlich an. Aber es war nicht nur dies. Inzwischen trafen sich Antragsteller zu privaten Feiern und Zusammenkünften. Neben Menschenrechtsgruppen entstanden vor dem Hintergrund der Ausreisebewegung spontan Selbsthilfegruppen der „Ausreiser“, die immer lauter und drängender ihre Ausreise forderten. Am 8. Dezember 1988 verfügte der Ministerrat Richtlinien zur Zurückdrängung der Ausreisebewegung. Betriebe und Einrichtungen wurden angewiesen, Ausreisewillige von ihrem Vorhaben abzubringen.40

Flüchtlinge und Ausreisewillige im Frühjahr 1989

Am 1. Januar 1989 trat eine neue „Verordnung über Reisen von Bürgern der DDR nach dem Ausland“ (RVO) in Kraft, die in der Bevölkerung auf breite Ablehnung stieß. An der Genehmigungspraxis, so Volkes Stimme, änderte sich dadurch nichts, man erhielt jetzt lediglich eine Begründung für die Ablehnung. Es handele sich, so hieß es, um „Gummi-Paragraphen“. „Die Versagungsgründe aus Sicherheitsgründen“, so ein Meister aus dem „VEB Döbelner Beschläge- und Metallwerk“, bewirkten, dass kaum noch jemand Funktionen übernahm, bei denen Westkontakte untersagt waren. Eine Fahrt in den Westen wurde aktiver Mitarbeit vorgezogen.41 Trotzdem gab es mit Inkrafttreten der RVO bis Mitte Februar einen sprunghaften Anstieg von Vorsprachen zwecks Erhalts der Antragsunterlagen.42

Neben den Anträgen auf eine Besuchsreise wurden vor allem die Anträge auf dauerhafte Ausreise für das SED-Regime immer mehr zum Problem. Häufiger als zuvor wurde „Familienzusammenführung“ als Grund genannt.43 Jeder im Westen angekommene Übersiedler erhöhte die Zahl derer, die eine Ausreise zwecks Familienzusammenführung stellen konnten. Im Bezirk Karl-Marx-Stadt stellte seit Jahresanfang 1989 über 1,5 Prozent der Bevölkerung einen Ausreiseantrag, in den größeren Städten waren es über zwei Prozent.44 Hatte die SED-Führung gehofft, die Zahl der Ausreisewilligen würde sich durch die neuen Bestimmungen verringern, so sah sie sich enttäuscht. Bei den Antragstellern zeigten sich immer stärker „absolut verfestigte Positionen“. Am 13. März, einem „Messe-Montag“, kam es in Leipzig zu einem Schweigemarsch von mehreren hundert Personen durch die Innenstadt, bei dem etwa die Hälfte der Demonstranten ihren Willen zur Ausreise bekundeten. Es war die erste größere Demonstration, die nicht von Menschenrechtsgruppen, sondern von Antragstellern organisiert worden war. Volkspolizei und MfS trieben die Demonstranten auseinander.

Die Fälschung der ohnehin nur simulierten Kommunalwahlen

Vor der Kommunalwahl am 7. Mai forderten Antragsteller vor einem Wahllokal in Hohenstein-Ernstthal ihre Ausreise. Durch Informierung westlicher Medien hofften sie, inhaftiert und gegen Devisen in den Westen verkauft zu werden. Die Chancen stiegen, seit die SED-Führung die Devisengewinnung durch Menschenhandel für sich entdeckte hatte. Andere Antragsteller wandten sich an Verwandte und Freunde in der Bundesrepublik und baten diese, sich an Rechtsanwälte oder Regierungsbeamte zu wenden, um so ihre Ausreise zu erreichen.45 Nach einem Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche am 25. Mai bildeten erneut 350 Ausreiseantragsteller einen Demonstrationszug. Bereits eine Stunde zuvor war die Innenstadt durch Polizeiketten abgeriegelt worden. Die Volkspolizisten gingen mit Schlagstöcken gegen die Protestierenden vor und nahmen einige Personen fest. Nach einem Umweltgottesdienst in der Leipziger Paul Gerhardt-Kirche formierten sich am 4. Juni ca. 900 Personen zum zweiten „Pleißemarsch“. Auch dieser wurde von MfS-Mitarbeitern, Bereitschaftspolizisten und Angehörigen der „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ auseinandergetrieben. Einige Demonstranten ließen sich vor dem Bezirksgebäude der SED zum Sitzstreik nieder. Wieder gab es Festnahmen.

Die Stimmung in der DDR war 1989 geprägt durch Perspektivlosigkeit, einen veralteten diktatorischen Regierungsapparat, die Bevormundung und Entmündigung der Bewohner durch den sozialistischen Staat, die Verletzung einfachster Menschenrechte, die Perspektivlosigkeit des Systems und die Verlogenheit der Massenmedien. In der SED-Führung machte sich Agonie breit. Im Mai wurde bei Sitzungen des Kollegiums des MfS die Stimmungs- und Wirtschaftslage besprochen. Der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt, Siegfried Lorenz, meinte später, die Berichte des MfS seien so offen gewesen, dass sie „den Regimesturz geradezu prophezeiten“.46 Versuche, die Analysen dem Politbüro vorzulegen, scheiterten aber schon am Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke. Auch MfS-Generaloberst Rudolf Mittig, der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung im MfS, Horst Felber, und der Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), des Auslandsgeheimdienstes der DDR, Werner Großmann, lehnten dies ab.47 Der Leiter der Bezirksverwaltung der MfS Leipzig, Generalleutnant Manfred Hummitzsch, meinte später, es habe „solche miesen Stimmungen auch innerhalb der Parteiorganisation“ gegeben.48 Generell nahm die positive Einstellung zur DDR und zum „real exerzierenden Sozialismus“, so der Volksmund, Ende der 1980er Jahre stark ab. Vor allem Jüngere sahen keine Perspektiven für ein erfülltes Leben.49 Jeder, so das MfS in Geithain, spreche offen darüber, keiner nehme mehr ein Blatt vor den Mund. Selbst die Genossen sprächen „negativ über die Zustände bei uns“.50 Die Stimmung, so ein Bericht der MfS-Kreisverwaltung Glauchau, sei von Pessimismus und Apathie geprägt.51 Die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt fasste typische Fragen, die von der Bevölkerung gestellt wurden, wie folgt zusammen: „Ist die sozialistische Gemeinschaft so stark, wie wir sie darstellen? Wann kommt bei uns die Perestroika? Warum stellen wir uns nicht den Problemen der Zeit? Warum kehrt vor allem die Jugend der DDR den Rücken? Wenn noch mehr übersiedeln, werden die Probleme bei uns noch größer (fehlende Arbeitskräfte hauptsächlich Medizin und Handel) - was soll dann werden? Warum klären wir unsere Versorgungsprobleme nicht umgehend zur Verbesserung der Stimmung der Bevölkerung?“52 Ursachen, so auch die Meinung in den Kreisen Freital und Glauchau sowie im „VEB Klingenthaler Harmonikawerke“, seien Mängel in der Versorgung, fehlende Reisemöglichkeiten und eine unglaubwürdige Medienpolitik.53 In Falkenstein im Kreis Auerbach fragten Arbeiter, warum die Grenze nicht geöffnet werde, die Versorgung so schlecht sei und man offenliegende Probleme verschweige. Wenn es nach den Zeitungen gehe, so witzelten die Menschen, müsste es in der DDR alles geben. Tatsächlich aber dürfe man seine Meinung nicht sagen und werde bevormundet. Es gab, so die MfS-Kreisdienststelle Annaberg, „kaum jemanden, der positiv über die DDR spricht“. Es kursierten Witze wie: „Lieber ein Feldbett in Gießen als eine Neubauwohnung mit Fliesen.“54 In Betrieben und Einrichtungen verhielten sich viele Beschäftigte reserviert, sagten ihre Meinung nicht mehr offen und nahmen eine abwartende Haltung ein.55 Überall wurden immer mehr „Zweifel an der Politik der SED, vorrangig der Wirtschaftspolitik“ geäußert.56

Die Unzufriedenheit wurde im Mai 1989 durch gefälschte Kommunalwahlen weiter angeheizt. Jeder wusste, dass sich die SED-Diktatur nicht auf freie Wahlen stützte. Die Höhe der Wahlbeteiligung und die abgegebenen Gegenstimmen durch Streichung des gesamten Wahlvorschlages der Nationalen Front hatten keinen Einfluss auf die Mandatsverteilung. Immerhin nutzten unzufriedene DDR-Bewohner die Wahlveranstaltungen, um auf Missstände hinzuweisen und Änderungen einzufordern. Das MfS registrierte eine „zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber gesellschaftlichen Problemen“ und prognostizierte, es werde wesentlich mehr Nichtwähler und Gegenstimmen geben als zuvor.57 Hauptkritikpunkte waren in Hohenstein-Ernstthal die fehlende Reisefreiheit, die schlechte Versorgung, unzulängliche Straßen- und Wohnraumerhaltung, Umweltbelastung und gleichgültiges, bürokratisches Verhalten staatlicher Organe.58

Das MfS registrierte im Bezirk Karl-Marx-Stadt etwa 45 Umweltgruppen.59 Am 6. Mai fand in der Karl-Marx-Städter Johanniskirche eine Veranstaltung statt, bei der kirchliche Basisgruppen u. a. eine „gesamtstaatliche Konsultativkonferenz“ aus Vertretern aller wichtigen Schichten der Bevölkerung, eine Stärkung der Parlamente, „eine klare Trennung von Staat und Partei(en)“ und die Streichung der Führungsrolle einer Partei aus der Verfassung forderten.60 Allein im Kreis Eilenburg gab es im Vorfeld der Wahlen 835 Eingaben.61 In der Gemeinde Lodenau im Kreis Niesky erklärten Bewohner sogenannter „LPG-Häuser“, sie gingen nicht zur Wahl, weil Eingaben wegen des bedrohlichen Zustandes der Schornsteinköpfe bisher nicht realisiert wurden. Bewohner der Gemeinde Klitten erklärten, sie hätten „nach Ablehnung des Eigenheimtyps“ das restliche Vertrauen zur Partei und Regierung verloren. Nur eine „vertrauenswürdige Aussage zu einem annehmbaren Eigenheimtyp“ könne sie noch umstimmen. Ein Lehrer der „Polytechnischen Oberschule“ in Niesky erklärte, wenn es Wahlen wie in der Sowjetunion gäbe, würde bei der SED „das große Grübeln“ einsetzen.62

Der Besuch Michail S. Gorbatschows in Bonn im Juni 1989 und die Bedeutung der deutsch-sowjetischen Erklärung für das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen

Von zentraler Bedeutung für die Entwicklung in der DDR und das Verhältnis beider deutschen Staaten war die Reformpolitik von Michail S. Gorbatschows, der am 11. März 1985 mit einer Stimme Mehrheit zum Generalsekretär der KPdSU gewählt wurde. Kontrafaktisch lässt sich nur mutmaßen, welche Bedeutung diese eine Stimmen für Deutschland und die ganze Welt hatte. Wahrscheinlich wäre es nicht zur Wiedervereinigung Deutschlands gekommen. 1987 verkündigte Gorbatschows ein Programm der „radikalen Umgestaltung“ von Wirtschaft und Politik.63 Später folgte eine Reform der Außenpolitik, bei der sich vor allem Außenminister Eduard Schewardnadse verdient machte. In Abkehr von der „Breschnew-Doktrin“ verkündete Gorbatschow, dass die Sowjetunion bei Veränderungen in den Ostblockstaaten nicht mehr militärisch eingreifen werde. Jedes Volk außerhalb der UdSSR habe das Recht, über seine politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Belange selbst zu entscheiden. Den Bewohnern der DDR standen damit klar die Unterschiede zwischen der reaktionären Politik der SED und der sowjetischen Reformpolitisch von Perestroika und Glasnost vor Augen. 1986 kam es deswegen zum Bruch zwischen Honecker und Gorbatschow. Paradoxerweise ermöglichte es der Kurs Gorbatschows Honecker erst, seine SED-Politik weiter fortzusetzen. Andererseits wurde es nun auch zielführend, die DDR demokratisieren zu wollen.

Mitten in der angespannten Situation in der DDR besuchte Gorbatschow im Juni 1989 Bonn. Die hier verabredete deutsch-sowjetische Erklärung erwies sich als Schlüsseldokument, das mit dem Weg über eine souveräne, demokratische DDR erstmals seit Jahrzehnten eine Option für die Wiedervereinigung bot. Die Demokratisierung der DDR war von nun an die unverzichtbare Voraussetzung für jeden Weg zur Überwindung der deutschen Teilung. Aus Bonner Sicht bedeutete dies, dass die künftige Entwicklung in Deutschland von zwei selbstbestimmten, demokratisch gewählten Regierungen auch in Richtung Wiedervereinigung vorangebracht werden konnte.64 Ziel der bundesdeutschen Politik unter Bundeskanzler Helmut Kohl war es nun, auf Grundlage der Anerkennung der DDR-Staatlichkeit, dortige Schritte der Demokratisierung zu unterstützen, an deren Ende eine Entscheidung der DDR-Bevölkerung für die Überwindung der Zweistaatlichkeit stehen konnte. Nicht umsonst stellte das MfS nach Verabschiedung der Erklärung fest, dass sich daraus Schlussfolgerungen ergäben, die „revanchistischen, also imperialistischen Zielrichtungen entsprechen können“.65 Die demokratische Entscheidung der Deutschen in der DDR, sich der Bundesrepublik anzuschließen, reichte allerdings allein nicht aus. Auch die Deutschen in der Bundesrepublik mussten dafür stimmen. Deren demokratische Entscheidung war freilich schon Jahrzehnte zuvor gefallen, hatte ihren Niederschlag im Grundgesetz gefunden und gehörte zur bundesdeutschen Staatsdoktrin. Aber auch bei einer aktuellen Entscheidung im Jahr 1989, so Umfragen, hätte sich eine Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung für die Wiedervereinigung ausgesprochen. Am 16. Juni, unmittelbar nach Abschluss der deutsch-sowjetischen Erklärung, interpretierte Bundeskanzler Helmut Kohl das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Staaten als einen „Markstein auf dem Wege zur freien Selbstbestimmung des ganzen deutschen Volkes“.66 Von nun an war sein politisches Handeln, teils gegen Meinungen in der CDU, auf Überwindung der Teilung ausgerichtet.67 In Moskau registrierte man, dass die Bundesregierung meine, man könne nun den Druck auf die DDR-Führung erhöhen.68 Zunächst stand Kohl mit seiner Einschätzung ziemlich allein da. US-Botschafter Vernon Walters wunderte sich darüber, dass „in Bonn außerhalb der unmittelbaren Umgebung des Kanzlers nur wenige Politiker die Einheit Deutschlands in naher Zukunft verwirklicht sehen wollten. Eher überwog die Sorge, was Deutschlands Nachbarn von einem wiedervereinigten Deutschland halten könnten.“69

Die Krise der CSU und die Europawahl im Juni 1989

Etwas anders stellte sich die politische Situation im Freistaat Bayern dar. In der CSU-Führung dauerten 1989 Diskussionen darüber an, ob die CSU in Bayern als Regionalpartei tätig sein oder sich bundesweit als konservative Kraft am rechten Flügel der CDU ausdehnen sollte. Noch ahnte kaum jemand, dass sich die Frage binnen eines Vierteljahres gänzlich anders stellen würde. Eine Ausdehnung war schon einmal bei einer Tagung der CSU-Spitze in Kreuth am Tegernsee im November 1976 thematisiert worden. Hier hatte sich die CSU-Spitze mehrheitlich dafür ausgesprochen, die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU im Bundestag aufzukündigen und sich im gesamten Bundesgebiet zu organisieren. 30 Mitglieder der Landesgruppe hatten für diesen Beschluss gestimmt, 18 dagegen, es hatte eine Enthaltung gegeben. Die Initiative für die Aktion kam vom CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß, der als Bayerischer Ministerpräsident bundespolitische Ambitionen hegte. Erst als der CDU-Bundesvorsitzende, Helmut Kohl, im Gegenzug die Gründung eines bayerischen CDU-Landesverbandes in Aussicht stellte, kehrte die CSU-Führung nach internem Streit im Dezember 1976 zur Fraktionsgemeinschaft zurück. Der Versuch einer Ausbreitung des Jahres 1976 war die Geburtsstunde des sogenannten „Geistes von Kreuth“, der verschiedene CSU-Politiker immer wieder einmal umtrieb.

Um die Rolle der CSU-Führung gegenüber der DDR besser zu verstehen, hilft ein Blick auf die „CSU-Außenpolitik“ in den 1980er Jahren. Seit 1983 gab es Versuche der Bayerischen Staatsregierung einer sachbezogenen Zusammenarbeit mit dem Nachbarn im Norden. Franz Josef Strauß vermittelte einen Milliardenkredit und führte Gespräche mit Erich Honecker. Am 11. September 1987 wurde der SED-Generalsekretär gar in München von Strauß persönlich empfangen. Der nutzte die Situation und zitierte die Präambel des Grundgesetzes, wonach das ganze deutsche Volk aufgefordert bleibe, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Nach dem Tod von Strauß am 3. Oktober 1988, exakt zwei Jahre vor der Wiedervereinigung, wurden die Ämter des Ministerpräsidenten und des Parteivorsitzenden, die Franz Josef Strauß beide innegehabt hatte, geteilt. Bayerns Finanzminister, Max Streibl, zog als Ministerpräsident in die Staatskanzlei ein, der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Theo Waigel, übernahm den Parteivorsitz. Von nun an gab es in der CSU verschiedene Machtzentren, die zwar meist an einem Strang zogen, aber oft genug auch unterschiedliche Interessen und Meinungen vertraten.

Anfang 1989 schlitterte die CSU in „eine tiefe Krise“. Das galt allerdings auch für die CDU. Die bürgerlichen Parteien wurden vor allem durch die nationalkonservative Partei „Die Republikaner“ unter Führung von Franz Schönhuber herausgefordert.70 Die CSU lehnte in dieser Situation den „linken Kurs“ von CDU-Generalssekretär Heiner Geißler ab, da befürchtet wurde, eine Hinwendung der CDU nach links mache auf dem rechten Spektrum Platz für Schönhuber.71 Die Möglichkeit einer Wiedervereinigung ermöglichte es Helmut Kohl, die CDU aus dem Stimmungstief zu führen und sich an die Spitze derer zu stellen, welche die nationale Einheit anstrebten. Vor der Europawahl am 18. Juni 1989 flammte in der CSU erneut die Debatte über eine bundesweite Ausdehnung auf. Grundlage war die Überzeugung, nur so könne ein weiteres Erstarken der Republikaner verhindert werden. Die Diskussion um Für und Wider einer bundesweiten Ausdehnung der CSU nahm im gesamten Bundesgebiet zu. Mitte März, im Vorfeld der Europawahl, lehnte der CSU-Landesgruppenvorsitzende in Bonn, Wolfgang Bötsch, eine gesamtdeutsche CSU-Ausdehnung ab.72 Auch Theo Waigel erklärte am 22. April, der Konkurrenzverlust wäre bei Abwägung aller Umstände größer als der potentielle Trennungsgewinn.73 Sein Ziel war es stattdessen, die Republikaner bei der Europawahl in Bayern unter die Fünf-Prozent-Grenze zu drücken, um so ihren Einzug in den Bayerischen Landtag zu verhindern.74 Tatsächlich aber wurde die Europawahl für die CSU zum Menetekel. Sie stürzte von 57,2 Prozent im Jahr 1984 auf 45,6 Prozent ab,75 das waren in Bayern gefühlte 20 Prozent. „Die Republikaner“ gewannen dagegen bayernweit knapp 15 Prozent der Stimmen. Vor allem Einwohner der strukturschwachen, oberfränkischen Stadt Hof, wählten die rechtspopulistische Partei.76 In Nürnberg rutschte die CSU von 43,4 Prozent im Jahr 1984 auf 32,5 Prozent ab. Das war ein Verlust von 10,5 Prozent der Stimmen. „Die Republikaner“ erreichten hier aus dem Stand 17,6 Prozent.77 Das bayerische Europawahlergebnis zeigte im Hinblick auf die regionale Verteilung des Rechtspotentials nicht mehr so deutlich die Muster der Jahre zuvor. War früher das Wählerpotential vor allem im fränkischprotestantischen Raum zu finden gewesen, so trat es nun auch in katholischen Regionen Bayerns auf.78