Neue Heimat Deutschland - Michael Richter - E-Book

Neue Heimat Deutschland E-Book

Michael Richter

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Beschreibung

Voller Hilfsbereitschaft und Engagement wurden 2015 die rund eine Million Menschen empfangen, die nach Deutschland geflüchtet waren. Doch Spenden und Willkommensworte sind das eine - dauerhafte Integration ist das andere. Ist die deutsche Gesellschaft überhaupt bereit, den Geflüchteten gerechte Chancen zu eröffnen? Ob Integration gelingt, ob Zuwanderung als Erfolgsgeschichte gelesen werden kann, leitet der Autor und Regisseur Michael Richter an drei wesentlichen Kriterien ab: Wie ist die Wohnsituation der Geflüchteten und Zuwanderer? Wie nehmen sie am Bildungssystem teil? Und wie ist ihr Zugang zum Arbeitsmarkt? Diesen Fragen geht Richter anhand von konkreten Beispielen, von Geschichten und Begegnungen, aber auch von wissenschaftlichen Analysen nach. Denn auch wenn sich Teile von Politik und Öffentlichkeit lange gegen diese Erkenntnis gesperrt haben: Deutschland hat jahrzehntelange Erfahrung als Einwanderungsland - gute und weniger gute, aber immer lehrreiche. Michael Richters Beitrag zur Debatte um das magische »Wir schaffen das!« übersieht nicht die Schwierigkeiten, macht aber Hoffnung: Mit cleveren Konzepten und viel persönlichem Engagement kann Deutschland Heimatsein - für alle, die hier leben!

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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Kapitel I: Spontane Hilfe: Herbst 2015
Wasser und Sandwiches
Neustart in der Heide
An die Arbeit
Zugang zum Arbeitsmarkt: Gesetzliche Grundlagen
Voreilige Euphorie?
In der Notunterkunft: Zu Gast bei Mohamad
Hürdenlauf zum Wohnungsbau
Zugang zum Wohnungsmarkt: Gesetzliche Grundlagen
Wohnraum für alle
Integriert wohnen
Kapitel II: NADELÖHR ASYLVERFAHREN
In den Mühlen der Institution
Asyl – das Ticket zum sicheren Aufenthalt?
Auftrag: Asylanträge abarbeiten
Das lange Warten
Eine Behörde voller Rätsel
Kapitel III: Deutschland, ein Einwanderungsland!
Rayana auf Erfolgskurs
Abwehr und Unverständnis: Ausländerpolitik auf beiden Seiten der Mauer
Kapitel IV: Voller Energie: Frühjahr 2016
Golzow kann Schule machen
Bad Fallingbostel oder der Triumph der Unbürokratie
Willkommen bei Familie Metz
Mehdi Ghorbani: Unbegleitet, aber nicht mehr allein
Deutschstunde
Kapitel V: Die neuen Kollegen
Perspektive Putzkraft?
Was wissen sie schon? – Der Ausbildungsstand der Flüchtlinge
Wunschziel Arbeit
Das staatliche Netz der Vermittlungsangebote
Betriebsluft schnuppern
Potsdam: Lotsen zum Arbeitsplatz
Kapitel VI: Chance Vielfalt
Deutschlands neues Gesicht
»Warum immer diese Schubladen?«: Die Staatsministerin Aydan Özoguz
Quinoa
Hoch hinaus: Zusammenleben in Kirchdorf-Süd
Kapitel VII: Sommer 2016: Eine erste Bilanz
Hakim, der Vermittler
Jobwunder sehen anders aus
Nicht zu Ende gedacht: Das neue Integrationsgesetz
Praktisch vermittelbar
Schwierige Suche
Schwere Zeiten: Familie Houran
Mohamad und seine Geschwister
Hiphop im Hochbunker
Anhang
Anmerkungen
Über den Autor
Impressum

Einleitung

Ein Fußballplatz mitten in Hamburg. Eine Gruppe von Jugendlichen jongliert mit dem Ball, einige machen Dehnübungen, andere stehen herum und plaudern miteinander. Der Trainer kommt mit den Trikots aus der Kabine, er wird respektvoll mit Handschlag begrüßt. Eine kurze Ansprache, dann drehen die Jungen ein paar Runden zum Warmmachen. Einer sticht aus der Mannschaft heraus, er scheint etwas älter zu sein.

»Das ist Mehdi«, erklärt der Trainer Diarra, »ein feiner Junge, ist ein guter Fußballer. Die anderen mögen ihn auch.« Diarra, Mitte 30 und schon seit einigen Jahren als Übungsleiter aktiv, hat den Jungen seit Kurzem in seine Mannschaft aufgenommen. Mindestens die Hälfte der 16-Jährigen hat ausländische Wurzeln, ist aber in Hamburg aufgewachsen. Auch Diarra stammt von der Elfenbeinküste. Eine bunte Mischung, wie so oft im Fußball.

Mehdi ist ein sogenannter unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, der unter der Obhut des Jugendamtes in einer Jugendwohnung lebt. Er ist im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen – und seit vier Wochen kann er in der Mannschaft mitspielen. Eine Betreuerin aus seiner Jugendwohnung stellte den Kontakt zum Fußballklub Eimsbütteler TV her. Nach den ersten Trainingseinheiten schreibt sie in einer Mail, Mehdi sei ganz glücklich, fühle sich sehr wohl und frage, ob er bleiben könne. Kein Problem für ETV-Trainer Diarra.

Mehdi kann sich schon ganz gut mit den anderen Jugendlichen verständigen. Beim Sport oder in der Musik funktioniert Kommunikation glücklicherweise nicht so sehr über Sprache.

Solche Begegnungen ereignen sich täglich hundertfach in Deutschland – und es werden immer mehr. Hiesige und Geflüchtete treiben miteinander Sport, sie verhandeln, sie lernen, sie arbeiten und spielen zusammen. Eine Art Alltag kehrt ein. Aber vieles funktioniert auch (noch) nicht: Asylanträge stocken, der Wohnungsbau geht nicht voran, Arbeitsplätze sind für Flüchtlinge schwer zugänglich.

Im vergangenen Jahr kamen über eine Million Menschen zu uns. In aller Eile wurden Container angemietet, Zeltstädte errichtet, Turnhallen für den Schulsport gesperrt und zu riesigen Bettenlagern umfunktioniert. Alle mussten untergebracht sein, bevor der Winter einbrach. Unzählige professionelle und ehrenamtliche Helfer kümmerten sich darum, sie improvisierten und sorgten für die Neuankömmlinge.

Ein Jahr später sieht alles schon wieder anders aus. Gerade gebaute Unterbringungen sind geschlossen, Überkapazitäten werden heruntergefahren. In diesem Jahr kommen wohl »nur« 300.000 Flüchtlinge und damit weit weniger Menschen als ursprünglich prognostiziert – nicht zuletzt weil es durch das EU-Türkei-Abkommen und die Schließung der Balkan-Route für die Fliehenden sehr viel schwerer geworden ist, nach Deutschland zu gelangen.

Auch deshalb können wir uns jetzt dem Aufbau nachhaltiger Strukturen zuwenden. Viele, die letztes Jahr gekommen sind, müssen wieder gehen. Aber ca. 600.000 Menschen werden auf absehbare Zeit bei uns bleiben, bleiben müssen, etwa weil in ihrer Heimat Krieg herrscht. Für sie müssen sich Perspektiven eröffnen. Daher geht es jetzt darum, die Flüchtlinge mit dem Leben in Deutschland vertraut zu machen. Mehr qualifizierten Deutschunterricht anzubieten, Plätze in Kindergärten und Schulen für die Kinder und Praktikumsplätze für die (jungen) Erwachsenen bereitzustellen, Wohnmöglichkeiten für alle zu schaffen. Eine Herkulesaufgabe. – Von ihr handelt dieses Buch.

Das Deutschland, in das sie kommen, hat eine lange Erfahrung mit Einwanderung. Nicht erst seit die »Gastarbeiter« in die Industriestandorte gezogen sind. – Aber diese Einwanderungsgeschichte wird gern verdrängt. Sie ist nie Teil der kollektiven Identität geworden. Migranten müssen sich ihren Platz in unserer Gesellschaft – wie in anderen Ländern auch – immer noch hart erkämpfen. Damit werden sich auch die Geflüchteten auseinandersetzen müssen.

Ob Integration gelingt, ob Zuwanderung als Erfolgsgeschichte gelesen werden kann, lässt sich an drei wesentlichen Kriterien bestimmen: Wie ist die Wohnsituation der Geflüchteten und Zuwanderer? Wie nehmen sie am Bildungssystem teil? Und wie ist ihr Zugang zum Arbeitsmarkt?

Diese drei Indikatoren zeigen, ob zwischen Zuwanderern und Aufnahmegesellschaft Chancengerechtigkeit besteht – was wiederum die Voraussetzung gelingender Integration ist. Natürlich muss man zugestehen, dass die Geflüchteten in so großer Zahl erst seit kurzer Zeit in Deutschland sind. Viele befinden sich überhaupt noch in der behördlichen Warteschleife zur Klärung ihres Aufenthaltsstatus – fern von allen Integrationsangeboten. Viele beginnen aber auch, in der deutschen Gesellschaft heimisch zu werden.

Anhand von konkreten Beispielen, von Geschichten und Begegnungen, aber auch von wissenschaftlichen Analysen will dieses Buch der Frage nachgehen, ob die deutsche Gesellschaft überhaupt bereit ist, den Geflüchteten diese Chancen zu eröffnen. Die kurzen Chroniken am Beginn jedes Kapitels bilden in thematisch-chronologischer Betrachtungsweise die Folie dieser Frage. – Um ein Fazit vorwegzunehmen: Die Bereitschaft ist an vielen Stellen – seien es Einzelpersonen, Initiativen oder Institutionen – sehr groß! Aber nicht immer gelingt die Umsetzung schon. Und jeder weiß: Es gibt auch die negativen Beispiele von Ablehnung und Hass. Dennoch: Ein Jahr nachdem Deutschland sich dem Zuzug Hunderttausender Geflüchteter gegenübersah, haben Mut, Tatkraft und Engagement nicht nachgelassen!

Kapitel 1 lässt die intensive, turbulente Atmosphäre des vergangenen Herbstes noch einmal aufleben, als gerade ehrenamtliche Helfer mit Begeisterung und Improvisationstalent den Geflüchteten die Ankunft in Deutschland erleichterten. Eine große Mehrheit der Deutschen glaubte, dass »es« zu schaffen sei – eine große (und lang anhaltende) Welle von Zuversicht und Hilfsbereitschaft folgte. Aber in die Begeisterung mischten sich auch bittere Töne. Bürgermeister und Verwaltungen suchten in den großen Städten dringend nach Wohnraum – aber wenn es um Flüchtlinge direkt vor ihrer Haustür ging, verließ viele die Willkommenskultur.

Schnell zeigte sich auch: Es ging nicht nur darum, die Flüchtlinge mit Suppe und Sandwiches zu empfangen. Vielmehr mussten die Menschen aus Syrien, Afghanistan, Somalia oder Nigeria registriert werden und einen Asylantrag stellen. Was aussieht wie deutscher Bürokratismus, ist auch Voraussetzung für längerfristige Integrationsangebote. Das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge drohte zu kollabieren. Die Gründe für diesen Beinahezusammenbruch analysiert das Kapitel 2 und liefert einen Einblick in die Funktionsweise einer riesigen Behörde.

Man wird heute nicht mehr bestreiten können, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Aber viele Menschen tun sich immer noch schwer mit dieser Erkenntnis. Wohl auch weil beide deutschen Staaten sich in ihrer politischen Mehrheit nie als Einwandererstaaten verstanden haben. Völkerfreundschaft wurde in der DDR immer nur proklamiert – konkrete Begegnungen zwischen Deutschen und Vietnamesen oder Mosambikanern aber unterbunden. In der alten Bundesrepublik beäugte man lange Jahre argwöhnisch die Gastarbeiter und ihre Familien und wollte einfach nicht verstehen, dass da Millionen Menschen gekommen waren, um zu bleiben. Kapitel 3 zeigt, dass diese Denkweise schon in den 1970er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kontraproduktiv war.

Was hat ein Schrebergarten mit dem Krieg in Syrien zu tun? Wie bringt man Menschen Deutsch bei, die in ihrem Leben gerade mal drei Jahre eine Schule von innen gesehen haben? Wie hilft man einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling, eine Wohnung zu finden? Und wie hat man bei alldem sogar Spaß? – Kapitel 4 beschreibt die vielen kleinen, konkreten Schritte, die »Integration« ausmachen.

Mancher Manager schwärmte im vergangenen Herbst von einem neuen deutschen Wirtschaftswunder, wähnte die demografischen Probleme unserer alternden Gesellschaft gelöst. Vielleicht nicht ganz falsch, aber vorschnell. Nüchtern betrachtet zeigt sich, dass nicht viele Flüchtlinge auf Anhieb eine feste Stelle gefunden haben und die meisten froh sind, einen Praktikumsplatz zu ergattern. Von verwaltungstechnischen Hürden und intelligenten Arbeitsmarktinitiativen berichtet Kapitel 5.

Kapitel 6 riskiert einen Blick in die Zukunft, die schon begonnen hat. Metropolen in den USA und Europa verändern ihre Strukturen. Der anhaltende Zuzug von Migranten führt dazu, dass sich eindeutige Mehrheitsgesellschaften auflösen. Unter dem Stichwort »Superdiversität« wird gefragt, wie sich die Strukturen von Städten und Stadtteilen verändern und welche Auswirkungen diese Entwicklung auf gesellschaftliche Leitbilder und die Definition von Integration hat.

Schließlich der Versuch einer Bilanz in Kapitel 7: Wo stehen wir nach einem Jahr der vehementen gesellschaftlichen Diskussionen? Wie weit sind wir mit der Trias aus Wohnen, Bildung und Arbeit? – Die Antwort auf diese Fragen ist auch ein Indikator dafür, ob die neue Zuwanderung eine Erfolgsgeschichte werden kann – oder sogar schon geworden ist.

Im vergangenen Herbst habe ich begonnen, mich mit der Situation der Geflüchteten in Deutschland zu beschäftigen. Zunächst im Rahmen des Films »Die Herausforderung« für den NDR, den ich zusammen mit meiner Kollegin und Freundin Nadja Frenz realisiert habe. Nadja hat mir freundlicherweise auch erlaubt, einige ihrer Interviews für dieses Buch zu verwenden. Und sie hat mich in der Folge für die Recherchen zu diesem Buch auch mit Kontakten zu ehrenamtlichen Helfern und Flüchtlingen versorgt – eine große Hilfe! Dafür bedanke ich mich herzlich. Im Übrigen stammen alle Interviews, soweit nicht anders gekennzeichnet, von mir und sind zwischen Oktober 2015 und Juli 2016 entstanden.

Mein Dank gilt auch NDR-Redakteur Christoph Mestmacher für die Erlaubnis, einige Recherchen sowohl für »Die Herausforderung« wie auch den Film »Entscheider unter Druck« über das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Rahmen dieses Buches zu verwenden. Im Frühjahr und Sommer realisierte ich parallel zur Entstehung dieses Buches eine Dokumentation über die Mammutbehörde, die wohl wie keine andere für die administrativen Herausforderungen dieser Situation steht. Meine Produzenten Carsten Rau und Hauke Wendler haben mir bei dieser doppelgleisigen Arbeit mit viel Verständnis den Rücken freigehalten.

Die gesetzlichen Grundlagen für Flüchtlinge in Bezug auf Wohnen, Arbeiten und Asyl hat mein Kollege und Freund Gerke Dunkhase recherchiert und geprüft. Auch die Chroniken zu Beginn der Kapitel stammen von ihm – für beides herzlichen Dank.

Schließlich gebührt ein großer Dank meiner Lektorin Dr. Kerstin Schulz, die bis auf die letzte Minute einer wirklich engen Produktion geduldig blieb und mich immer wieder mit konstruktiver Kritik und nützlichen Hinweisen versorgte. Meiner Frau Gabi danke ich für die rückhaltlose Unterstützung in der Zeit des Schreibens und die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts.

Botschaften sind eigentlich nicht meine Sache. Aber in diesem Jahr 1 nach der Ankunft ist ganz deutlich: Ohne Helfer wie Berenike, die eine ganze Gruppe von Afghanen unterstützt, wie Sabine, die die Vormundschaft für unbegleitete Flüchtlinge übernimmt, oder wie Mark, der in seiner Freizeit Sport mit Geflüchteten macht, fänden die Flüchtlinge nur sehr schwer Zugang in unser Leben. Ich denke, wir schulden ihnen nicht nur Dank, sondern sollten sie auch ganz konkret materiell für ihr wertvolles gesellschaftliches Engagement unterstützen.

Und last, but not least – was wüssten wir, wenn die Neuankömmlinge uns nicht in ihr Leben schauen ließen? Manche von ihnen sind schon einige Jahre da und haben inzwischen die deutsche Staatsangehörigkeit wie die Afghanin Rayana Fakhri. Ihre Solidarität und ihr Engagement für die neu Hinzukommenden sind groß, wie bei Hakim Chohbishat, dem unermüdlichen Helfer und Brückenbauer, der immer ein offenes Ohr für alle Fragen hat – von beiden Seiten. Andere – wie der Syrer Ghassan Aloda oder Abdulahi Mohamed aus Somalia – versuchen gerade Fuß zu fassen. Mohamad, Zahra und Ehsan, die drei Geschwister aus Iran, habe ich immer wieder befragt und konnte so ihre Zeit in Deutschland genauer nachzeichnen.

Für mich sind diese Begegnungen eine Bereicherung. Und ich hoffe darauf, dass Deutschland für sie zur neuen Heimat wird.

Hamburg, im September 2016

Kapitel I: Spontane Hilfe: Herbst 2015

August/September 2015: Innenminister Thomas de Maizière erklärt, dass die Bundesregierung für das laufende Jahr mit bis zu 800.000 Flüchtlingen rechnet +++ In Heidenau in Sachsen kommt es zu mehrtägigen ausländerfeindlichen Ausschreitungen +++ Angela Merkel besucht Asylsuchende in Heidenau. Sie wird von Demonstranten ausgebuht. Es ist ihr erster Besuch in einer Flüchtlingsunterkunft +++ Das BAMF setzt das Dublin-Verfahren, nach dem Flüchtlinge in dem EU-Staat Asyl beantragen müssen, den sie als ersten betreten haben, für Syrer außer Kraft +++ In einem an der A4 bei Parndorf abgestellten Lastwagen entdecken österreichische Polizisten 71 tote Flüchtlinge. Sie sind erstickt +++ Angela Merkel erklärt auf ihrer Sommerpressekonferenz: »Wir schaffen das« +++ Auf einem EU-Sondergipfel beschließen die Staats- und Regierungschefs, eine Milliarde Euro für die Versorgung syrischer Flüchtlinge in den Nachbarstaaten des Bürgerkriegslandes zur Verfügung zu stellen +++ Deutschland und Österreich öffnen die Grenzen für in Ungarn festgehaltene Flüchtlinge +++ Der Münchener Hauptbahnhof wird zur Drehscheibe für die Verteilung von Flüchtlingen in Deutschland

Wasser und Sandwiches

Die Bilder haben sich ins Gedächtnis eingebrannt: Flüchtlinge campieren vor überfüllten Erstaufnahmen. Sporthallen und ehemalige Baumärkte werden zu Unterkünften umfunktioniert, in denen Menschen auf eilig herbeigeschafften Feldbetten schlafen. Das Foto eines Jungen, der inmitten einer Menge ein Pappschild mit der Aufschrift »SOS please help me« hochhält.

Überall in Deutschland sehen sich Städte und Gemeinden im Herbst 2015 einem Ansturm von Menschen gegenüber, die Hilfe und Schutz benötigen. Und unzählige Freiwillige tun etwas. Sie helfen in den Unterkünften, heißen die Flüchtlinge willkommen, geben erste Informationen.

Einer von ihnen ist Hakim Chohbishat, Araber aus Iran, seit drei Jahren in Deutschland. Im August ist er schon auf eigene Faust nach Ungarn gefahren und hat Flüchtlingen geholfen, die auf der Balkanroute unterwegs waren. Zurück in Hamburg, sieht er, wie Hunderte Flüchtlinge jeden Tag in der Hansestadt ankommen und ebenso wie anderswo Hilfe benötigen: »Da kommen 200, manchmal auch 250 Leute in einem Zug an, und die sprechen alle Arabisch, Persisch oder Kurdisch. Und wir haben gesagt, wir können diese Sprachen, also helfen wir«, erinnert sich Hakim.

Hakim organisiert, er ruft Bekannte und Freunde an, sammelt Geld für Hilfsgüter und Essen. Wochenlang stehen die Freiwilligen mit Warnwesten, auf denen in Englisch und Arabisch Refugee Helpers steht, auf den Bahnsteigen und warten auf Neuankömmlinge. Die Flüchtlingsfamilien sind erleichtert, mit den Helfern in ihrer Muttersprache reden zu können. Häufig waren sie auf der Balkanroute unterwegs, über die Türkei, Griechenland, Serbien, Kroatien, Ungarn und Österreich erreichen sie Deutschland.

Die meisten, die in diesem Herbst auf dem Hauptbahnhof in Hamburg ankommen, wollen weiter nach Norden zu Verwandten oder Freunden. Unter den Flüchtlingen hat sich offensichtlich herumgesprochen, dass die Erstaufnahmelager der Hansestadt völlig überfüllt sind.

Viele von Hakims Helfern sind selbst erst vor ein paar Monaten in Deutschland angekommen. Sie leben noch in Erstunterbringungen, manche von ihnen schlafen noch in Zelten und sind froh, etwas tun zu können. Sie wollen Deutschland, das sie so gastfreundlich aufgenommen hat, etwas zurückgeben. Andere sind Studierende, die sehen, dass sie gebraucht werden und die Uni eine Zeit lang Uni sein lassen.

Die »Einsatzzentrale« der Ehrenamtlichen besteht aus zwei Tischen, die in der Wandelhalle, der Einkaufsstraße im Hamburger Hauptbahnhof, unter einer Treppe zusammengeschoben wurden. Dort sitzen ständig zwei bis drei Helfer und stehen für Fragen zur Verfügung: Wann fährt der nächste Zug Richtung Norden, wie kommt man am besten zur Fähre nach Schweden? Der Strom der Fragenden reißt nicht ab.

Viele brauchen einfach eine Pause, müssen sich einmal ausruhen. Sie sind seit Monaten unterwegs und haben unglaubliche Strecken zu Fuß zurückgelegt. Hakim und seine Helfer führen die Neuankömmlinge zu den Zelten auf dem Bahnhofsvorplatz. Dort können sie sich auf Bänken ausruhen, sie bekommen ein Sandwich und etwas zu trinken.

Essen, Schlafplätze, Ordnung – für all das sorgen die ehrenamtlichen Helfer selbst. Die Behörden der Stadt haben alle Hände voll damit zu tun, die Flüchtlinge zu versorgen, die sich in den Erstaufnahmen melden. Die Durchreisenden überlassen sie stillschweigend Hilfsorganisationen wie dem Paritätischen Wohlfahrtsverband oder spontan gebildeten Helfer-Netzwerken.

Eine riesige Aufgabe, die die Ehrenamtlichen da neben ihrem normalen Alltag bewältigen. Zum Beispiel Simone W., berufstätig und zweifache Mutter, seit August bei Refugees Welcome dabei. Refugees Welcome entstand im Sommer 2015 ursprünglich als Nachbarschaftsinitiative, um den Geflüchteten zu helfen, die provisorisch in den Hamburger Messehallen untergebracht waren. Simone war von Anfang an dabei. Jetzt ist sie überall dort, wo Hilfe gebraucht wird – und das ist zurzeit am Hauptbahnhof. Die Initiative hatte ursprünglich eine Menge Geld gesammelt, um Deutsch- oder Sportkurse für Flüchtlinge zu finanzieren. Jetzt fließt das Geld in die Versorgung am Hauptbahnhof – mindestens 2000 Euro pro Woche. Davon kauft Simone jetzt Essen und Wasser, Mülltüten und Babynahrung.

Wenn keine Züge mehr fahren, können die Flüchtlinge nach der letzten Aufführung im Schauspielhaus übernachten oder in einer großen, nahegelegenen Moschee. Dem Imam sind alle willkommen. Religion kennt hier keine Grenzen. »Ich habe den verantwortlichen Imam Abu Sami gefragt, ob das für ihn ein Problem wäre. Aber er hat nur den Kopf geschüttelt. Ob Christen, Juden, Muslime oder Nichtgläubige, alle dürfen in der Moschee schlafen«1, sagt Hakim.

Jede Nacht übernachten Hunderte Flüchtlinge auf dem Boden des Gebetsraums. Wenn sie in ihren Schlafsäcken liegen und noch nicht zu müde sind, erzählen sie Hakim manchmal ihre Fluchtgeschichten. Hakim sind viele Erzählungen vertraut: »Meine Brüder und ich waren vor einigen Jahren auch auf der Flucht. Deshalb fühle ich mich verantwortlich. Ich muss hier sein. Wenn ich zu Hause bliebe, würde ich die ganze Zeit denken: Was geschieht mit diesen Leuten? Sie finden sich nicht zurecht, sie können sich nicht verständigen. Deshalb bin ich lieber hier.«

Hakim nimmt gerne die Dinge in die Hand. Das hat sich auch in Deutschland nicht geändert, wo er seit dem Sommer 2012 lebt. Er gehört zur arabischen Minderheit in Iran, die in der Region Al Ahwaz im Süden des Landes an der Grenze zum Irak lebt und dort scharfen Repressalien ausgesetzt ist. 1925 annektierte Persien, der heutige Iran, die Region, in der damals große Öl- und Erdgasvorkommen entdeckt wurden. Bis heute fördert Iran dort 80 Prozent seines Öls. Dies, verbunden mit der strategisch wichtigen Lage an der Grenze zu den Erzfeinden Irak und Saudi-Arabien, lässt das Regime in Teheran die Region mit Argusaugen überwachen. Jede oppositionelle Aktivität wird streng sanktioniert. »Sich auch nur traditionell zu kleiden, erregte schon den Argwohn der Behörden. Die arabische Kultur ist in ihren Augen minderwertig: »Wir hatten zwar Arabischunterricht in der Schule, aber der Lehrer war ein Perser, der schlechter Arabisch sprach als wir Schüler und keine Ahnung von unseren Traditionen hatte. Wir haben ihn nie akzeptiert.«

Hakim wollte das nicht hinnehmen und begann friedlich für die Rechte seines Volkes zu kämpfen. Er ging in die Dörfer, organisierte gemeinsam mit Freunden Weiterbildungskurse und sammelte Spenden für die Ärmsten. »Schon nach vier Monaten kam die Geheimpolizei und drohte mir, ich solle diese Aktivitäten einstellen. Ich machte weiter. Dann holten sie mich und machten mir den Prozess.«

Hakim war zweimal monatelang im Gefängnis. Der Vorwurf: antiislamische Propaganda und Kontakte mit den USA. Seinem Vater gelang es, die Gefängniswärter zu bestechen, sodass Hakim wenigstens ausreichend mit Essen versorgt wurde.

Als Hakim vom Schiiten zum Sunniten konvertierte, hielten seine Eltern die Situation für zu gefährlich und drängten ihn zu fliehen. Vermutlich hat das Hakims Leben gerettet. Sein Onkel wurde 2013 hingerichtet – angeblich weil er eine Bombe hergestellt hatte. Eine Lüge, ist Hakim überzeugt, er habe Gedichte geschrieben, in denen er seine Heimat besang.

Inzwischen hat der junge Araber in Deutschland politisches Asyl erhalten. An eine Rückkehr nach Iran ist nicht zu denken.

Mit dem Abstand von nur wenigen Monaten ist manche Szene schon wieder in Vergessenheit geraten. Doch im vergangenen Jahr haben sich Zehntausende Deutsche ehrenamtlich um die Neuankömmlinge gekümmert. Bei der Ankunft in Deutschland, bei der Betreuung in Flüchtlingscamps, bei den Hausaufgaben, beim Gang aufs Amt – im Alltag von vielen Flüchtlingen spielen hiesige Kontaktpersonen eine nicht zu überschätzende Rolle.

Es ist unmöglich, den Einsatz aller Ehrenamtlichen präzise zu beziffern. Wie groß das Engagement der Deutschen in diesem Herbst 2015 ist, davon vermitteln Zahlen immerhin einen Eindruck. 47 Prozent der Deutschen über 10 Jahre, also 31,8 Millionen, waren aktiv, indem sie entweder Sachen (44 Prozent) oder Geld (8 Prozent) spendeten. 4,1 Millionen oder 6 Prozent waren persönlich als Helfer aktiv.2 – Geschichten wie die von Hakim und Simone oder von Iman Abu Sami könnte man zu Tausenden erzählen, nicht nur aus Hamburg, aus der ganzen Republik. Ohne all diese Helfer bliebe für viele Flüchtlinge Deutschland ein unverständliches Land.

Sie verstehen nicht – und wie sollten sie auch? –, wie die deutsche Verwaltung funktioniert, wie Anträge gestellt werden müssen, welche Initiativen sie ergreifen sollten, um vielleicht eine Wohnung oder einen Platz in einem Sprachkurs zu bekommen. Die Geflüchteten haben oft ein verklärtes Bild von einem Land im Kopf, in dem alles funktioniert, sie sich mühelos verständigen können und es eine Frage von wenigen Wochen ist, Arbeit und Wohnung zu finden.

Die Beamten und Angestellten in den Ausländerbehörden, den Jobcentern, die Erzieher in den Kindergärten oder die Lehrerinnen in den Schulen haben dagegen – bei allem Engagement – oft nicht die Zeit und die Nerven, sich intensiver um die Belange der Flüchtlinge zu kümmern. Trotz dieser Belastungen war der Zuzug der Geflüchteten für manche Kommunen auch eine Chance.

Neustart in der Heide

Bad Fallingbostel in Niedersachsen hat harte Zeiten hinter sich: Jahrzehntelang lebten die rund 7000 Einwohner des Ortes gut von den britischen Truppen, die hier stationiert waren. Nach ihrem Abzug im Frühjahr 2015 brachen die Umsätze in dem Heideort ein, Geschäfte schlossen. Doch ein halbes Jahr später gibt es wieder Hoffnung: die Flüchtlinge.

»An einem Donnerstag bekam ich einen Anruf von der Kreisverwaltung, dass am Samstag 1200 Menschen mit Bussen kommen würden«, erinnert sich Kathrin Thorey, die Bürgermeisterin. »Und dann ging es los.« – Der gläserne Turm des Rathauses überragt die Häuser in der Ortsmitte. Thorey erzählt in ihrem Büro, hinter dem Schreibtisch erstrahlt ein modernes Gemälde mit üppigen Rottönen. Auf dem Tisch ein frischer Blumenstrauß.

Sofort rief Kathrin Thorey an diesem Septembertag die Mitarbeiter der Verwaltung zusammen. 48 Stunden später waren die Kasernen, die ein halbes Jahr leer gestanden hatten, zumindest so weit hergerichtet, dass die Menschen dort schlafen konnten.

Aus den angekündigten 1200 Flüchtlingen wurden zwischenzeitlich über 4000. Die Kasernen, ein paar Hundert Meter außerhalb von Fallingbostel gelegen, funktionierte man zur Zentralen Erstaufnahme von Niedersachsen um. Hier leben die Flüchtlinge einige Wochen, bevor sie in eine Folgeunterkunft irgendwo in Niedersachsen weiterziehen.

4000 Flüchtlinge – das bedeutet wieder Leben in der Stadt. Seit der Ankunft der »Neuen« blüht das eine oder andere Geschäft auf, und es gibt neue Arbeitsplätze. Ein Gemüsehändler aus dem nahen Walsrode hat die Zeichen der Zeit erkannt und im Ort eine Filiale eröffnet.

Die Kunden, das sind nicht nur Geflüchtete, sondern auch Einheimische. Sie freuen sich, dass es mal wieder ein neues Geschäft gibt. Und sie geben sich gelassen. Wichtig ist für sie, dass die Leute gut untergebracht sind.

Auch die Bürgermeisterin erlebte die Situation positiv: »Natürlich ist es eine riesengroße Herausforderung, aber wir sehen auch, dass sich der Einzelhandel langsam wieder erholt. Bei 4000 Menschen kann man sich vorstellen, dass alle möglichen Produkte gebraucht werden oder auch viele Handwerker in den Kasernen permanent zu tun haben.«

Aber die Stimmung in der Stadt lässt sich nicht nur an gestiegenen Umsätzen festmachen. Sie zeigt sich auch an den vielen Ehrenamtlichen, die sich nicht lange bitten ließen.

Mark Müller ist einer von denen, die von Anfang an dabei waren. Mit einem Kollegen organisierte er ehrenamtlich zweimal in der Woche das Fußballtraining für die Flüchtlinge in den Kasernen. Das ist so geblieben. Anstrengend findet er das schon: »Es ist eine Belastung, absolut, aber eine Belastung, die Spaß macht, muss ich sagen. Ich bin Sportler durch und durch, und dadurch, dass ich wirklich durchgehend positive Resonanz bekomme, macht’s einfach Spaß, und dadurch kann man ohne Ende weitermachen.«

Mark Müller ist für den Pflegedienst in einem Altersheim des Deutschen Roten Kreuzes verantwortlich. Anderen Menschen zu helfen, ist ihm schon immer leichtgefallen, auch deshalb ist er Altenpfleger geworden. Sein Arbeitgeber, das Deutsche Rote Kreuz, unterstützt ihn bei seinem ehrenamtlichen Engagement, sodass er etwa die Trainingsvorbereitung in seinen täglichen Arbeitsablauf integrieren kann.

Bei allem Enthusiasmus war auch der Pflegedienstleiter am Anfang unsicher: »Als ich die Nachricht bekommen habe, dass so viele Flüchtlinge zu uns kommen sollen, hatte ich schon gemischte Gefühle. Da war ich nicht der Einzige, das ging den meisten so. Aber ich habe in den letzten Wochen durchgehend positive Erfahrungen gemacht, und ich denke, dass die Gemeinschaft in Fallingbostel das mittlerweile genauso sieht.«

Ganz so unproblematisch, wie es Mark Müller schildert, war es doch nicht. Es gab Versuche von rechten Gruppierungen, Stimmung gegen die Flüchtlinge zu machen. Aber auch in dieser Situation reagierte Kathrin Thorey, die Bürgermeisterin, schnell. Sie rief die Kirchen, die Vereine, das Rote Kreuz und die Johanniter zu einem runden Tisch zusammen und demonstrierte, wie geschlossen die Zustimmung im Ort war. Seitdem sind keine weiteren Proteste laut geworden. Vielleicht hat Bad Fallingbostel durch das jahrzehntelange Zusammenleben mit den britischen Soldaten genug Erfahrung mit Fremden. Früher kamen sie aus England, jetzt sind sie eben woandersher, mögen sich die Leute denken.

In den Kasernen sorgten die Helfer nicht nur für Betten – innerhalb weniger Tage organisierten die benachbarten Schulen auch den Deutschunterricht. Drei Klassen mit jeweils zwanzig Erwachsenen werden parallel unterrichtet. Die Lehrer können sich ganz auf den Unterricht konzentrieren, weil die ganze Organisation in den Händen der Schule liegt. Der Schulleiter steht nicht nur im Kontakt mit anderen Schulen, sondern auch mit der Leitung des Camps, kümmert sich um die Belegung der Kurse und die Einteilung der Schüler, die sich täglich melden.

Die Unterstützung durch die Schulen, die Behörden und auch durch die örtliche Wirtschaft erweist sich als genauso wichtig wie das ehrenamtliche Engagement. In Bad Fallingbostel hat eine ganze Stadt die Neuankömmlinge als Chance begriffen. Im Herbst 2015 funktioniert das ganz gut – wohl auch weil die Bürger hier einen praktischen Nutzen für sich selbst erkennen. Ob der Zuzug der Gemeinde auf Dauer Aufschwung bringt – dazu später mehr.

An die Arbeit

Fest steht jedenfalls: Die Bedürfnisse von Flüchtlingen entwickeln sich in Deutschland schnell zu einem ökonomischen Faktor. Schätzungen gehen davon aus, dass 2015 etwa 50.000 neue Arbeitsplätze durch das Geschäft rund um die Flüchtlinge entstanden sind. Konkret heißt das u.a., dass die Bundespolizei 3000 zusätzliche Stellen geschaffen hat und die Wachdienste bis Dezember 15.500 neue Stellen verzeichnen konnten. 20.000 Helfer des Roten Kreuzes sind seit Sommer 2015 im Einsatz, viele ehrenamtlich, viele aber auch mit Zeitverträgen oder festen Stellen. Und auch die großen Verwaltungen haben aufgestockt: 4000 Stellen wurden beim BAMF eingerichtet und 2000 neue Vermittler hat die Bundesagentur für Arbeit eingestellt. Und nicht zuletzt: 5000 neue Lehrer für Deutsch als Fremdsprache fanden eine Stelle.3 Viele dieser Arbeitnehmer werden wohl vor allem kurzfristig, etwa in Erstaufnahmeeinrichtungen, beschäftigt. Langfristige Effekte werden sich voraussichtlich u.a. im Bildungsbereich und bei der Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt ergeben. Ein eigenes Geschäftsfeld hat sich rund um den Beratungsbedarf vieler Arbeitgeber entwickelt, die mit Menschen aus anderen Kulturkreisen arbeiten wollen. Gute Zeiten für interkulturelle Trainer wie Wolfgang Jockusch.

Hamburg. Das Chilehaus liegt massig in der Oktobersonne, ein Schiff aus Rotklinker, Ende des 19. Jahrhunderts gebaut, um die Kontore von Reedereien, Kaffeehändlern oder Versicherungsmaklern zu beherbergen. Im Schiffsbug bieten kleine Kneipen Mittagstisch für die Angestellten an, die im Herzen der Hamburger City ihre Büros haben.