Beiträge zur Jugendbewegung - Alexander Glück - E-Book

Beiträge zur Jugendbewegung E-Book

Alexander Glück

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Beschreibung

Das Buch enthält Aufsätze zum Themenfeld der deutschen Jugendbewegung, insbesondere zur Geschichte der Wanderliederbücher mit besonderer Berücksichtigung des Zupfgeigenhansl sowie zur Biographie von Walther Jantzen, zur Entstehungsgeschichte der Buchreihe "Namen und Werke" sowie zur Provenienz des Gemäldes "Lichtgebet" von Fidus, das sich auf der Jugendburg Ludwigstein befindet (mit Briefwechsel in Faksimiles).

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Jugendbewegung und Liederbücher

Zur Geschichte des „Zupfgeigenhansl“

Zur politischen Biographie Walther Jantzens

Weltanschauung in der Schule

Geopolitik als Kriegspropaganda

Walther Jantzen und der Nationalsozialismus

Zur Gesamtausgabe von „Namen und Werke“

Das Ludwigsteiner „Lichtgebet“: Raubkunst?

Dokumente

Weiterführende Bücher

Vorwort

Das Thema Jugendbewegung hatte ich als Student der Fächer Buchwesen, Deutsche Volkskunde und Politikwissenschaft zunächst nur deshalb für mich entdeckt, weil es ein reizvoller Gedanke war, darin meinem Vater und meinem Großvater nachzugehen und dadurch eine kleine Tradition fortzuführen. Als ich als Thema für meine Magisterarbeit meinem damaligen Professor Koppitz „Das Wanderliederbuch in der deutschen Jugendbewegung 1897–1933“ vorstellte, schaute er überrascht. Es war Mitte der neunziger Jahre an unserem Institut in Mainz kein besonders populäres Themenfeld. Während der Arbeit an diesem Thema bekam ich eine lebendige Vorstellung davon, mit welchem Elan und welcher Unverdorbenheit junge Menschen Ende des 19. Jahrhunderts aufbrachen, um sich eine eigene Lebenswelt zu schaffen. Sie erarbeiteten sich Literatur und Musik, erwanderten ihr Land, bildeten sich als Menschen.

In meiner Kindheit und Jugend war mir der Begriff Jugendbewegung allerdings schon geläufig, da sowohl mein Vater als auch meine Großmutter immer wieder damit zu tun hatten. Ich hatte jedoch lange keine inhaltliche Beziehung dazu und „die Jugendbewegten“ im Grunde ausschließlich als alte Menschen erlebt. Die Arbeit über die Liederbücher war rein historisch ausgerichtet und eröffnete keine Gegenwartsbezüge.

Etliche Jahre später stieß ich eher zufällig in einer Gedenkgabe über meinen Großvater Walther Jantzen auf dessen autobiographischen Hinweis auf seine Mitgliedschaft bei der Waffen-SS. Mein Großvater, sieben Jahre vor meiner Geburt verstorben, war mir immer weitgehend unbekannt geblieben, in der Familie wurde er entweder beschwiegen oder ausschließlich im höchsten Maße gelobt. Da ich als Kind keinen Zugang zu diesem Mann hatte, den ich ausschließlich als gerahmtes Photo im Haus meiner Großmutter kannte und über den ich nur wenig wußte, hatte ich lange auch kein Interesse an seiner Biographie. Allerdings begeisterte ich mich schon sehr früh für die Ahnenforschung, deshalb bewahrte ich seine Bücher auf und begann, darin zu lesen.

War schon mit meiner Großmutter die Erörterung der NS-Zeit nicht möglich gewesen, so setzte sich das, leicht modifiziert, in der Kindergeneration fort: Mein Vater äußerte sich nur sehr schönfärberisch über den seinen, und wenn man etwas tiefer schürfte, dann relativierend. Teilweise stellte er Dinge ganz anders dar, als sie belegt waren. Ich vermute, daß er schon von seinen Eltern nicht richtig informiert worden war und manches auch nicht genauer wissen wollte. Mir jedenfalls brachte der Vergleich meiner Rechercheergebnisse mit den Aussagen meines Vaters die Gewißheit, daß etwas mit dem tradierten Bild des Großvaters nicht stimmte. Dadurch wurden meine weiteren Forschungen ganz erheblich inspiriert und befeuert.

Dabei kam ich unter anderem mit dem inzwischen emeritierten Prof. Christian Niemeyer in Kontakt, an dem mir bald die solide Kenntnis einer sehr großen Menge an Schrifttum auffiel. Die Verbissenheit, mit der er historische Personen anklagte, und sein bilderstürmerischer Eifer bei der Destruktion der von ihm als falsch empfundenen Historiographie, seine Fokussierung auf den für die Ideengeschichte der Jugendbewegung von ihm vielleicht etwas überschätzten Friedrich Nietzsche und der von ihm gepflegte tendenziell unsportliche und hastige, dissonante Schreibstil mit zahllosen Einschüben und Rückbezügen auf sich selbst haben mich zweifeln lassen, ob sich dieser laute Publizist so ganz der lauteren Wissenschaftlichkeit verpflichtet fühlt oder mit seinen Veröffentlichungen nicht eher einem schwer stillbaren Mitteilungsdrang nachgab. Seine Einschätzung Walther Jantzens ließ schnell erkennen, daß er ihn für unwichtig hielt: Offensichtlich war er ihm nicht belastet genug beziehungsweise ein zu kleines Licht und deshalb für ihn kein Objekt für differenziertere Betrachtung.

Dabei wurde für mich auch deutlich erkennbar, was meine Arbeitsweise von seiner unterscheidet: Bei der Erforschung der Biographie Walther Jantzens bin ich weder von Zorn geleitet noch von dem Wunsch, die Dinge zu relativieren. Ich bin mir bewußt, daß mein Zugang zu diesem Thema sehr persönlich ist. Gerade deshalb kann ich das prinzipielle Problem familiärer Befangenheit klar erkennen, bin dabei aber auch niemandem verpflichtet, schon gar nicht innerhalb der Verwandtschaft. Mir ging uns geht es um ein genaues, wirklichkeitsgerechtes Erkennen des Lebensweges eines Menschen, der von seinem biographischen und soziologischen Hintergrund aus den Anschluß an den Nationalsozialismus gesucht, gefunden und hinterher geleugnet hat. Dieser Lebensweg ist typisch für viele andere in dieser Zeit. Er hilft zu verstehen, warum und auf welcher Grundlage der Nationalsozialismus so immensen Erfolg haben konnte und warum eine ganze Generation von Tätern und Mitläufern nach dem Krieg nicht einmal ihren eigenen Familienangehörigen reinen Wein einschenken wollte. Diese Erforschung ausgerechnet der eigenen Großeltern ist für mich zwingend, insbesondere aufgrund der Behauptung meines Großvaters, er wäre beinahe ins KZ gekommen. Für mich ist eine dermaßen unverfrorene Verhöhnung all derer, die dort wirklich hingekommen sind, ohne ausführliche Richtigstellung unerträglich.

Daß Christian Niemeyer jedoch von mir erwartete, in meinem eigenen Text zu einer Darstellung, die ich selbst ihm zuvor einmal mitgeteilt und die er veröffentlicht hatte, diesen seinen Text als Quelle anzugeben, erschien mir lächerlich. Diese Art der Wissenschaftspublizistik, mit der sich Prof. Niemeyer in der Fachwelt sehr viele Freunde gemacht hat, steht im Kontrast zu der eher ruhigen Vorgehensweise auf der Burg Ludwigstein. Von dort hört man generell eher wenig und ich bekam den Eindruck, daß man Themen dort nach von außen kaum erkennbaren Maßgaben spielt oder im Sande verlaufen läßt. Ein Beispiel ist die lückenhafte und stellenweise unsauber gearbeitete Untersuchung Malte Lorenzens über Walther Jantzen, die im Archivjahrbuch abgedruckt wurde und nach Richtigstellung geradezu ruft. Die genaue Berichtigung der in dieser Arbeit versammelten Läßlichkeiten hingegen wurde mit Hinweis auf die persönlichen Schilderungen in meinem Text zurückgewiesen. Mir leuchtet die Forderung nach wissenschaftlicher Distanz zum Stoff ein, allerdings erschließt sich mir nicht, wie man sich auf diesem nordhessischen Berg das quellengestützte Belegen eigener Beobachtungen vorstellt. Ob Fußnoten und Querbezüge zum aktuellen Forschungsverlauf wirklich das entscheidende Kriterium waren oder ob man nicht vielleicht auch vermeiden wollte, des Abdrucks einer inhaltlich mangelhaften Arbeit überführt zu werden, wird sich nicht klären lassen, ebensowenig wie die Gründe für die deutlich erkennbare Zurückhaltung beim Thema „Lichtgebet“.

In die Provenienzgeschichte dieses Bildes konnte erst durch Auswertung des Nachlasses meines Vaters Hinrich Jantzen hineingeleuchtet werden. Der komplett durch Originalquellen gestützte Bericht über die Übergabe dieses Bildes wäre für den Ludwigstein eigentlich von besonderem Interesse (auf mein Angebot der originalen Schriftstücke wurde nicht einmal nach Beilage eines frankierten Rückumschlags geantwortet, obwohl das Archiv sowohl den Nachlaß von Fidus als auch den von Walther, Marga und Hinrich Jantzen verwahrt), wenn er nicht zugleich deutlich erkennen ließe, daß dieses Bild, als Hauptikone der Jugendbewegung die größte Attraktion in den Archivräumlichkeiten, einst irgendwo entwendet worden sein muß. Von der Stiftung Jugendburg Ludwigstein hieß es lapidar, man habe das Bild über die Jahre „ersessen“, demgegenüber gehen viele Restitutionsverfahren in eine andere Richtung. Da von Stiftung und Archiv nicht einmal die Verfügung der damaligen Überbringerin des Bildes, das „Lichtgebet“ solle auf der Burg Ludwigstein verwahrt werden, eingehalten wird, indem man das Bild immer wieder als Leihgabe herumschickt, wäre sogar eine Rückforderung durch deren Erben denkbar.

Die hier zusammengestellten Beiträge verstehen sich nicht als Musterbeispiele wissenschaftlicher Literaturauswertung, sondern führen überwiegend Primärquellen und eigene Beobachtungen zusammen. Mir ist bewußt, daß sie deshalb für die Verwendung in den genannten, renommierten Organen in dieser Form nicht geeignet sind. Trotzdem enthalten sie Informationen, Berichtigungen und Zusammenhänge, die für die Untersuchung der von ihnen berührten Themenfelder wichtig sein können.

Jugendbewegung und Liederbücher

Die deutsche Jugendbewegung ist als eine Folge der tiefgreifenden und alle Lebensbereiche umfassenden Umwälzungen des 19. Jahrhunderts zu verstehen, von denen an erster Stelle die Industrialisierung zu nennen ist. Mit ihr einher gingen Strukturveränderungen aller Art, etwa die soziale Deklassierung der Handwerker, enormes Bevölkerungswachstum, Wellen der Migration, Verschiebungen im wirtschaftlichen und sozialen Gefüge sowie eine weitgehende Verstädterung der Bevölkerung. Hinzu kam ein gesteigertes bürgerlich-autoritäres Wertesystem der Gesellschaft, und es ist nicht als durchdachter Protest zu verstehen, was sich in dieser Zeit zur Jugendbewegung entwickelt, sondern als günstiges Zusammenwirken von Zufall und historischer Konsequenz.

Vor dem Hintergrund kulturkritischer Ideen von Nietzsche, Hesse, Lagarde, Langbehn u. a. bildete sich – zunächst weitgehend unreflektiert – bei Jugendlichen das Bedürfnis heraus, die überkommenen Normen abzustreifen und in freier Natur ein Zusammenleben eigener Art zu pflegen; daß als regelrechter „Zündfunke“ der junge Idealist Hermann Hoffmann, der in seiner Magdeburger Schulzeit durch einen Lehrer zum Wandern angeregt worden war, als Student die Schrey’sche Kurzschrift am Steglitzer Gymnasium kostenlos unterrichtete und seine Schüler zu gelegentlichen Wanderausflügen um sich sammelte, ist als Kristallisationspunkt einer Bewegung aufzufassen, die alsbald große Teile der Jugend Deutschlands und des deutschsprachigen Auslands ergriff.

Einer von Hoffmanns Kurzschriftschülern war Karl Fischer, der als Begründer der vereinsmäßigen Jugendbewegung gilt und durch taktisches Geschick und eine zielstrebige Führung einen Zusammenschluß wanderbegeisterter Jugendlicher unter dem Schutz eines „Eltern- und Freundesrates“ formierte und ausbaute. Dies geschah zwischen 1896 und 1901 und ist in der Literatur übereinstimmend dokumentiert; an der Person Fischers jedoch schieden sich lange die Geister, und nicht allein aufgrund der Kritik an ihm, sondern auch wegen unterschiedlieber Auffassungen über Stilfragen zerbrach der 1901 gegründete „Wandervogel A. f. S.“ bereits 1904. Diese erste Spaltung zeigt schon in der Frühzeit einen Wesenszug der Bewegung, der sich durch ihre gesamte Entwicklung bis 1933 immer wieder offenbart; den Separatismus in der deutschen Jugendbewegung als gelegentliche Unfälle abzutun, hieße eines ihrer immanenten Charakteristika zu übersehen. Letztlich ist der große Durchbruch der Jugendbewegung auch eine Folge ständiger Teilungen und Umbildungen, da in ihnen die Schaffung zahlreicher Gruppen, die den individuellen Ansprüchen und Interessen ihrer Mitglieder Rechnung trugen, ohne sie zu Kompromissen zu zwingen, begründet liegt.

Entscheidend ist hierbei, daß aus der Trennung zwei recht unterschiedliche Bünde hervorgingen: der „Wandervogel, Eingetragener Verein zu Steglitz bei Berlin“ – gekürzt in der gesamten Literatur: „Steglitzer E. V.“ – und der „Alt-Wandervogel“ – kurz: „A.-W.-V.“. Die Gründung des Steglitzer E. V. wirkte sich in Hinblick auf Ästhetik und Kultur durchweg positiv aus. Das Ideal des „Sinnvollen Wanderns“ wurde gepflegt, die erste Anweisung zur Fahrtenausrüstung erschien noch 1904, ein Orchester wurde gegründet, eine eigene Zeitschrift herausgegeben und 1905 das erste aus der Jugendbewegung hervorgegangene Liederbuch veröffentlicht. Wichtige Meilensteine der Veränderung in der frühen Jugendbewegung waren die zweite Spaltung, in der sich 1907 die Ortsgruppe Jena des Alt-Wandervogels von der Bundesleitung lossagte und aufgrund einer anderen Einstellung zu Fragen des Alkoholkonsums und des Mädchenwanderns den „Wandervogel, Deutscher Bund für Jugendwanderungen“ – kurz „D. B.“ – gründete, die Abspaltung und Gründung des „Jungwandervogel“ 1910 sowie die Einigungsbestrebungen zwischen 1910 und 1913.

Nach 1907 ging die geistige Führung der Gesamtbewegung auf den D. B. über, nachdem sie zuvor beim Steglitzer E. V. gelegen hatte. Der Deutsche Bund entwickelte sich zur zahlenmäßig stärksten sowie innovativsten und kulturträchtigsten Vereinigung innerhalb der Jugendbewegung; in der Bewegung, in der sich letztlich alle Bünde aufgrund der „Genealogie“ auf den Wandervogel und sein überbündisches Prinzip zurückführen konnten, ließ der Deutsche Bund seinen Ortsgruppen und Gauen individuelle Freiheit und war ein föderativer Zusammenschluß regional sehr unterschiedlicher Gruppen. Durch diese Bundesstruktur und die Tatsache, daß der Deutsche Bund inhaltlich auf die Gesamtbewegung wirkte, übernahm die „Heidelberger Pachantey“ um das Freundespaar Hans Breuer und Hans Lißner bald nicht nur die geistige Führung des Deutschen Bundes, sondern mithin die der gesamten bürgerlichen Jugendbewegung; häufige Beiträge Breuers in Zeitschriften der Bewegung und die Vorworte zum „Zupfgeigenhansl“ sind programmatische Schriften der Bewegung von erstem Rang.

Ea ist nicht mehr zu entscheiden, wie „echt“ die neue Lebensform der Jugendbewegung als Alternative zur „Plüschkultur“ der bürgerlichen Großstadtgesellschaft wirklich gewesen ist. Man darf nicht übersehen, daß Schwärmerei zu den Wesensmerkmalen jeder romantischen Strömung gehört; daß die Jugendbewegung als romantisches Lebensgefühl auch späte Chronisten zu recht eigenen Schwärmereien bewog, kann nicht verwundern, wenn man bedenkt, daß die Angehörigen dieser Bewegung durch und durch von ihr ergriffen und für ihr ganzes Leben geprägt wurden. Es ist fragwürdig, als Außenstehender die Richtschnur anzulegen und eine Bewegung zu beurteilen, der man gesellschaftlich, kulturell, sozial und zeitlich fernsteht; man muß hier in besonderer Weise versuchen, sich in die Zeit hineinzuversetzen und Inhalt und Ergebnis der Jugendbewegung aus dieser Zeit heraus zu werten: Vielleicht wird man zu einem ausgewogeneren Bild kommen. Gewiß hat die Jugendbewegung entscheidende Entwicklungen erbracht und ihre Träger zu Selbsterziehung und Selbstverantwortung geführt; freilich wurden die Ideale nicht erreicht – und wenn, dann nur für begrenzte Zeit.

Die deutsche Jugendbewegung war ein einmaliges und durch die Gegebenheiten der damaligen Zeit begründetes Phänomen. Darin liegt ihre Unwiederholbarkeit und dort ist auch der Grund dafür zu suchen, daß ihre Fortführung später nur unter veränderten Vorzeichen gelang.

Von Anfang an war es ein Wesenszug der Wandervogel, sich durch Äußerlichkeiten von der Gesellschaft abzuheben und dadurch auf innere Andersartigkeit hinzuweisen; schon früh wurden auf Wanderungen die Schulanzüge durch derbe Kundenkluft ersetzt, die phantasiereich nach dem Vorbild der wandernden Scholaren des Mittelalters und zeitgenössischer Wanderarbeiter und Landstreicher gestaltet wurde. Das Wandern selbst war Ausgangspunkt und Zentrum der Stilentwicklung. Daß die Kleidung nach und nach vereinheitlicht wurde und die individuelle Kluft der Uniform wich, kann zwar dahingehend aufgefaßt werden, daß die Bewegung ihre ursprünglichen Ideale aufgab, etwa den Individualismus und die herbe Burschenromantik; und es spricht auch für diese Ansicht, daß ein Wandel der Ideale in verschiedenen Bereichen der Jugendbewegung in ihrer Entwicklung immer wieder zutage tritt. Es steht dazu jedoch nicht im Widerspruch, daß gerade durch die Uniformität der bündischen Zeit dem Ideal einer eigenen Gesellschaft zugearbeitet wurde. Großen Beitrag bei der Stilentwicklung leistete im negativen Sinn die Vermassung des Wandervogeltums; der gewaltige Aufschwung, den die Jugendbewegung nahm, ließ keinen Platz mehr für den individuellen Wandervogel nach Art eines Wolf Meyen, dessen Auftreten als besonders rustikal überliefert ist; der Massenbetrieb brachte Umstände mit sich, die zu den ersten Stiläußerungen konträr sind.

So hat die Selbstverständigung der Wandervogel „im Laufe der subkulturellen Stilentwicklung immer wieder neue Varianten hervorgebracht und alte gelöscht.“ Die Träger der Bewegung standen ständig unter Druck, Neues zu entwickeln und sich zu profilieren; wie oben bereits erwähnt, wurden die Bünde immer weiter differenziert. Hauptmerkmal durch die gesamte Entwicklung hindurch war die Gruppe bzw. die Fahrtgemeinschaft als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. Hier tritt der doppelte Bewegungscharakter der Jugendbewegung zutage: Sie ist nicht allein als Bewegung an sich zu verstehen, sondern in Hinblick auf den unbedingten und niemals fallengelassenen Anspruch auf Selbsterziehung auch als In-sich-selbst-Bewegtes; die ständige – noch so subjektive – Reflexion über Ziel und Sinn der Jugendbewegung, die allenthalben spürbar war, zeigt die Aktivität, der Fahrtbetrieb die Aktion. Diese zielte

auf den eher unbewußten Protest gegen die Dinge, von denen sich die Jugend befreien wollte; die Aktivität hatte den Selbsterziehungsprozeß zum Ziel. Auch die Ausformung und Differenzierung der Bewegung ist als Teil dieses Selbsterziehungsprozesses zu verstehen. Das ganze Streben nach Kultur, Ästhetik, neuen Gemeinschaftsformen und dem Ideal des neuen Menschen; der Weg zum Volkslied und zur Musik Bachs, der für die Jugendbewegung so wegweisend war, ist ebenfalls als Teil des Selbsterziehungsprozesses zu sehen, auch wenn die Wurzeln der musikalischen Kultur zunächst in der Aktion – der Musik auf Wanderungen – liegen. Die verschiedenen Formen des Wandervogelstils stammen durchweg aus der Aktion, werden aber zu Mitteln und Formen der Aktivität: Zunächst kam die Tat, dann erst der Inhalt.

Die Frühzeit des Wandervogels – die Zeit von 1897 bis zur Spaltung von 1904 – war getragen von sehr rustikalen und rauhen Lebensformen, die bei zahlreichen Chronisten beschrieben werden und die später zwar noch vom A.-W.-V. gepflegt wurden, für die Gesamtbewegung jedoch in den Hintergrund traten. Die anschließende Zeit von 1904 bis 1907 ist geprägt durch ein Herantasten an ästhetischere und edlere Formen des Wanderns; jetzt erst bildeten sich programmatische Ziele heraus, die den Selbsterziehungszweck der Bewegung ahnen lassen. Doch obwohl in dieser Zeit wichtige Leistungen durch den Steglitzer E. V. erbracht wurden, wird der Beginn der Volksliedkultur erst zu einem Zeitpunkt angesetzt, wo längst der Deutsche Bund die maßgebliche geistige Führungsrolle innehatte. Daß auch der Steglitzer E. V. und der A.-W.-V. Anteil an dieser Kultur haben – und zwar schon lange vor dem Zupfgeigenhansl – , darf nicht zu der Vermutung verleiten, der Deutsche Bund hätte etwa lediglich Vorhandenes aufgegriffen. Erst in dieser zweiten Phase, die von den Jahren 1907 – 1913 gebildet wird, findet sich neben dem reinen Protest der Frühzeit das Element der Selbsterziehung und des doppelten Bewegungscharakters; in dieser Zeit liegt der Beginn der Jugendkultur, hier müssen wir auch nach den Wurzeln der Musikkultur und letztlich der Liederbuchkultur suchen, denn die zuvor benutzten und geschaffenen Bücher dienen lediglich der Verfügbarmachung von Gebrauchsmusik.

Spätestens um 1913 – eher schon früher – fingen Lebensreformer und Pädagogen verschiedenster Färbung damit an, ihre Gedankenwelt an die Jugendbewegung heranzutragen und ihr auf diese Weise Inhalte anzubieten, die weder aus der Jugendbewegung stammten noch sich im Zusammenleben der Wandervögel bewährt hatten; das Wirken eines Gustav Wyneken sei hier erwähnt, worüber reiches Schrifttum vorliegt.

Die Zeit des Ersten Weltkrieges brachte dem Wandervogel eine schlimme Dezimierung der Führungsschicht, die unter dem Begriff „Langemarck“ in der gesamten Literatur teils pathetischen, immer jedoch bedauernden Niederschlag fand, zumal es die hoffnungsvollsten und idealistischsten Angehörigen der Jugendbewegung waren, die sofort – nachdem allerdings dem Kaiser ein Bittschreiben der Jugend überreicht worden war, den Krieg nach Möglichkeit zu vermeiden – als Freiwillige zu den Fahnen eilten. Den Einsatz bezahlten siebentausend Wandervögel mit dem Leben. Dies brachte eine Zäsur in der Wandervogelgeschichte mit sich: Obwohl die Wandervögel während der Kriegszeit Kontakt untereinander und mit der Heimat hielten, war nach dem Krieg eine neue Generation nachgewachsen und auch die Gedankenwelt der Heimkehrenden verändert; die Jüngeren beanspruchten ein eigenverantwortliches Bundesleben. Es ist einleuchtend, daß in dieser Zeit unzählige verschiedene Richtungen und Konzepte konkurrierten und sich das Bild eines unsinnigen Aktivismus aufdrängt; eine regelrechte Deutung dieser Zeit fällt aufgrund der zeitlichen Distanz nicht ganz leicht, insbesondere dann, wenn man sich ausschließlich auf Schilderungen stützen muß.

Es sei dahingestellt, ob die Jugendbewegung ihre Ziele erreicht hat oder nicht; die Wirkung auf ihre Träger war zumindest überwiegend positiv und nachhaltig. Es sei jedoch auf die kulturelle Leistung der Jugendbewegung hingewiesen, die sich nicht nur in der Musikkultur, sondern in allen musischen Bereichen zeigt und neben den pädagogischen Errungenschaften zu den Dingen gehört, die aus der Jugendbewegung bis in unsere Zeit hineinwirken.

Bei Reinhard Wittmann findet sich der Hinweis, 20 bis 25 % der Bevölkerung seien wohl immer aller Lesekultur unzugänglich; auch in der frühen Jugendbewegung wird es einen Anteil dieser Art gegeben haben, dessen Höhe jedoch nicht festzustellen ist. Quantitative Ansätze wären bei einer Untersuchung der Buchkultur des Wandervogels weder brauchbar noch überhaupt möglich, denn es liegt keinerlei Material dieser Art vor und die Auflagenentwicklung des Zupfgeigenhansl, die weit über die Gesamtstärke der Bewegung hinausging, mag als Beispiel dafür dienen, daß selbst vorhandenes Zahlenmaterial keine brauchbaren Rückschlüsse zuläßt.

Allerdings kann man anhand dokumentierter Tatsachen Ansätze zu einem Bild der Buchkultur in der Jugendbewegung entwickeln. Daß die Buchkultur der Wandervögel bisher weder von der buchwissenschaftlichen Forschung noch von der Erforschung der Jugendbewegung wenigstens gestreift wurde, ist um so mehr zu bedauern, als es sich dabei um ein gleichermaßen interessantes wie nützliches Thema handelt.