Leben in der Wiener Unterwelt - Alexander Glück - E-Book

Leben in der Wiener Unterwelt E-Book

Alexander Glück

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Beschreibung

Dieses Buch handelt nicht nur von feuchten Ziegeln, zerfallenden Särgen und hochfliegenden Tiefbau-Plänen, sondern oft auch von den Menschen, die damit den Kopf voll haben. Irgendetwas sucht jeder von ihnen - hier, im unterirdischen Wien, findet man sie wieder und kann ihnen zusehen, wie sie Leichen malen, Fackeln durch die ewige Nacht schleudern oder Rüsselkäfer in den Winterschlaf eisen, um für einen Wimpernschlag dem Kreislauf der Natur Einhalt zu gebieten.

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Ähnliche


„Unsere moralische

und politische Welt ist mit

unterirdischen Gängen, Kellern und Kloaken

miniert, wie eine große Stadt zu sein pflegt."

(Johann Wolfgang von Goethe)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort: Begegnungen

Von Kunst und Ästhetik

Die Welt ist eine Scheibe

Pilgerreisen im Bauch der Stadt

Der Untergrund als Projektionsfläche

Unterirdische Kellerlokale und Bars

Soziales Leben in der „Gruft"

Die Unterstadt photographieren

Wo die Kunst unter der Straße liegt

Von Schnüfflern in einem geheimen Wegenetz

Der Gigant unter den Kanälen

Garantiert ansteckend

Im Raumlabyrinth unter der Stadt

Wirtschaftsräume unter Krankenhäusern

Das Rauschen unter den Sophiensälen

Totenkammern, Urnensäle und Gruftforscher

Im Foltermuseum

Kriminalität von unten

Das Kriminalmuseum

Was vom Philipphof blieb

Die Katakomben

Kaiserliche Leichenpracht

Die Mumie kehrt zurück

Literaturverzeichnis

Vorwort: Begegnungen

Geschichte ist naturgemäß eine Sache, die recht lange dauert. Vor etwas mehr als zehn Jahren entstand „Unter Wien", ein Band mit Bildern und Texten über die unterirdischen Bereiche Wiens1. Das Buch wurde gerne gekauft, war jedoch überwiegend einem retrospektiven, geschichtlich interessierten Blick verpflichtet. Auch wenn es über manches Gegenwärtige berichtete, war es doch ein historisch angelegtes Buch. Einige Zeit später plante der Wiener Unterweltenverein um Peter Ryborz regelmäßige Symposien zu aktuellen Unterweltsfragen. Der Begleitband zum ersten Kongreß dieser Art erschien als Aufsatzsammlung unter dem Titel „Unterirdische Perspektiven" und verband auf sehr interdisziplinäre Weise geschichtliche, gegenwärtige und zukunftsorientierte Konzepte rund um die Nutzung unterirdischer Hohlräume — von Transportlösungen über Multimediaspiele bis hin zur Gruftpflege war das Menü derart reichhaltig, daß diesem inzwischen zu einer Rarität gewordenen Band ein kommerzieller Erfolg versagt bleiben mußte.2

Nach wie vor fehlt aber ein Buch, das den heutigen unterirdischen Geist Wiens so zu beschreiben versucht, wie er dem Besucher heute in mannigfacher Gestalt entgegentritt. Dazu gehören einerseits die wichtigen geschichtlichen Kraftpunkte und andererseits Menschen, die sich aktiv und schöpferisch mit Unterweltsbereichen auseinandersetzen3. Schon in den dreißiger Jahren stieg ein junger Franziskanermönch in jeder freien Minute in die Gruft seines Klosters hinab, um dort die zerfallenden Reste seiner verblichenen Ordensbrüder zu ordnen. Die undankbaren Gebeine infizierten ihn mit einer rätselhaften Krankheit, er verstarb mit nur 22 Jahren. Bis heute bilden sich immer wieder kleine Szenen heraus, die sich mit dem Untergrund der Stadt auf künstlerische oder erlebnisästhetische Weise auseinandersetzen, ab und zu werden Kellergewölbe für Lokale, Ausstellungsräume oder Präsentationen genutzt, gelegentlich fördern professionelle Archäologen oder auch unterirdische Hobbyforscher, einen gepölzten, aber vergessenen Kellergang ans Licht des Bewußtseins. Viele Neuigkeiten sind spekulativer Natur. Es kommt zu Umwidmungen von Gebäudeteilen, zu Neuentdeckungen, aber auch zu Zuschüttungen. Manches wird wiedergefunden, vieles wird vergessen.

Bau der Hochquellwasserleitung

Allzuoft aber kann man erkennen, wie sehr die Reise in die Unterwelt zur persönlichen Reise des jeweiligen Forschers in die inneren Abgründe gerät. Das kann mit der Bewältigung frühkindlicher Traumata oder Eifersucht zusammenhängen, mit schierer Abenteuerlust oder dem Wunsch, etwas ganz besonderes zu tun und zu wissen, das anderen normalerweise verborgen bleibt und nur durch sie selbst eröffnet werden kann — die Ränke- und Intrigenspiele diverser Wiener Unterweltenfremdenführer böten Stoff genug für ein eigenes Buch. Ähnlich verhält es sich mit der Riege phantasievoller Experten für unterirdische und geheimnisvolle Aspekte der Wiener Stadtgeschichte, genauso mit unterirdischen bildenden und darstellenden Künstlern, mit Wissenschaftlern und Veranstaltern. Bei der Arbeit zu diesem Buch zeigte sich immer wieder, daß die meisten unterirdischen Explorationen vom drängenden Esprit des jeweils dahinterstehenden Kataphilen4 leben. Daher handeln die verschiedenen Kapitel nicht nur von feuchten Ziegeln, zerfallenden Särgen und hochfliegenden Tiefbau-Plänen, sondern oft auch von den Menschen, die damit den Kopf voll haben. Irgendetwas sucht jeder von ihnen; die Ursachen dieser Suche stecken meistens im Suchenden selbst.

Burgring, 1872 (Wikimedia)

Oft sind kataphile Beschäftigungen von Weltflucht und Verinnerlichung motiviert — eine erzromantische Orientierung für sensible Naturen, die vom Großstadtlärm und den härter werdenden Bedingungen des sozialen Daseinskampfes angekränkelt wurden: Hier unten findet man sie wieder und kann ihnen zusehen, wie sie Leichen malen, Fackeln durch die ewige Nacht schleudern oder Rüsselkäfer in den Winterschlaf eisen, um für einen Wimpernschlag dem Kreislauf der Natur Einhalt zu gebieten. Dabei wird deutlich, daß die unterirdischen Welten gerne als Gestaltungsraum benutzt werden, an dem man seine materiellen und geistigen Ressourcen abarbeitet. Keine Frage, die Unterstadt ist faszinierend, geschichtsreich und von überwältigend inspirierender Kraft. Wer sie aber mit dem Acherusischen See verwechselt, erliegt seinem Kopfkino und entschwindet den meisten seiner Mitmenschen aus dem Blickfeld. Um einen entspannten Blick auf das werfen zu können, was da so gruselt und wuselt, muß man sich dem Thema also mit innerem Abstand nähern, und dabei ist es schon hilfreich, wenn man an unterirdischen Dingen zwar interessiert, jedoch nicht auf sie fixiert ist. Hinterher steigt man wieder nach oben und freut sich an der Sonne, am raschelnden Laub des Herbstes und am eigenen oberirdischen Standpunkt.

Dieses Buch richtet sich einerseits an Leser, die Anregungen dafür bekommen möchten, bisher unentdeckte Facetten der Stadt Wien und mancher ihrer verhaltenskreativen Einwohner kennenzulernen. Andererseits versucht es, demjenigen Ersatz zu bieten, der sich nicht selbst auf den Weg machen kann oder will. Es soll daher möglichst lebensnah die unterirdischen Seiten dieser Stadt zeigen und dabei das Gefühl vermitteln, man habe schon beim Lesen den Genius loci recht gut kennengelernt. Deshalb schlägt das Buch auch sprachlich eine Brücke zwischen nüchtern-sachlicher Dokumentation und einem eher literarisch-feuilletonistischen Stil. Damit geht einher, daß eine rein wissenschaftliche Herangehensweise dem vielschichtigen Thema und den Ansprüchen der Leserschaft nicht gerecht werden könnte, denn vieles von dem, was es dort zu sehen und zu hören gibt, würde einiges von seinem Reiz verlieren, wollte man es in allzu steriler Weise auf sauberen Tischen ausbreiten. Dieses Buch durchzulesen, soll einer Wanderung durch die Weiten unter der städtischen Oberfläche ähneln: Treten Sie ein in das schräg-schauerliche Panoptikum einer wahrhaften Subkultur, die das Licht scheut und lieber zwischen Spinnweben im Fackelschein den Rattenschnaps serviert.

Schottenring, 1875 (Wikimedia)

Aber genau dieser Schmäh macht ja den Reiz aus — in einer Stadt, die jahrelang sehr unversöhnlich darüber stritt, ob man auf dem Michaelerplatz ein Stück Unterwelt dauerhaft freilegen solle oder lieber nicht. Die Wiener leben mit ihrer eigenen Unterwelt in einem spannungsreichen, ungeklärten Verhältnis, denn in Wien hat diese Frage wie in keiner anderen Stadt mit der Abgründigkeit des Seelenlebens zu tun. André Heller etwa besucht ab und zu die Michaelergruft, in der man ein Vierteljahrtausend alte Bestattete in geöffneten Sägen betrachten kann. Andere besuchen „nur" die Virgilkapelle unterhalb des Stephansplatzes, erreichbar vom durchpulsten U-Bahn-Bereich aus und ein veritabler Kraftort für Zeitreisende und Meditierer. Gegenüber der Graphischen Sammlung Albertina befindet sich ein leerer Platz mit einem Mahnmal gegen Krieg und Faschismus, und genau darunter liegen, sitzen oder lehnen zahlreiche Verschüttete, die nach dem Einsturz des einst dort befindlichen Philipphofs in einer Bombennacht des Zweiten Weltkriegs nicht mehr ans Tageslicht kamen — das vielleicht erschütterndste Beispiel dafür, wie direkt die Zusammenhänge zwischen Oben und Unten, Leben und Tod, Licht und Finsternis in dieser Stadt sind und warum Wien zwar auf einem jahrtausendelang gewachsenen Untergrund liegt, von diesem aber möglichst wenig wissen will.

Wien, 1858

Diese Spannungsverhältnisse sind es, die den Untergrund Wiens zu einer Besonderheit machen, die dem Besucher eigentlich permanent Respekt abverlangt. Am Eingang der Kapuzinergruft mahnt eine Wandinschrift zur Stille, und die sollte jeder in sich tragen, der die interirdischen Bereiche besucht, noch ohne zu wissen, ob er in einem Grab steht, am Ort eines Mordes oder auf den Knochen ungezählter Toter. Römerzeit und Mittelalter, moderner Tiefbau und die Kehrseite der Stadtgeschichte mit all dem Dreck und Elend, vergessenen Weinfässern und verlorenen Menschen liegen hier unmittelbar nebeneinander und werden von kataphilen bis katamanischen Aktionisten als Spielfläche für ihre Kreativität benutzt. Es ist eine zuweilen gedankenlose Form, sich mit einer Seite der Stadt auseinanderzusetzen, die immer alles geschluckt hat.

Ausgrabungen am Palais Coburg

Der Blick in die Grüfte, Kanäle, Keller und Kasematten ist keine Neuheit unserer Zeit, sondern weckte schon früher das Interesse von Schriftstellern und ihrem Publikum. So setzte die Sensibilisierung für das unterirdische Wien bereits um das Jahr 1870 ein und fand in dem Trivialroman „Die Katakomben von Wien" des Autors Arthur Storch ihren ersten literarischen Niederschlag. Doch nicht nur die Stadtväter, Intellektuellen, Bürgerlichen und Sozialreformer wurden nun auf das Thema aufmerksam; auch die Obdachlosen selbst bekamen mit Büchern wie diesem im Grunde gute Anregungen zur Lösung der Wohnungsnot geliefert. Man kann nicht ausschließen, daß durch die Thematisierung der Unterwelt Leute auf diese Quartiermöglichkeiten aufmerksam wurden, die sie zuvor gar nicht in Betracht gezogen hatten. Arthur Storch wähnte unter der Stadt eine weiträumige Fälscherwerkstatt für Banknoten und geheime Versammlungsorte der Freimaurer zwischen Schädeln und Gebeinen. Im Roman geht es ferner um zwei Morde, und schon bald setzte eine reale und schillernde unterirdische Kriminalgeschichte Wiens ein. Die Entzauberung der Unterwelt erfolgte durch die Reportagen von Emil Kläger und Max Winter über Menschen, die in den Kanalanlagen hasten; beide haben einen wichtigen Teil urbaner Lebenswirklichkeit vor dem Vergessenwerden bewahrt.

Wer und was sich heute unter der Stadt betätigt, sei es als Fremdenführer, Sackpfeifer, Bunkerforscher, Spielentwickler, Schankwirt, Feuertänzer, Trommler, Gruftentfeuchter oder was immer, geht seinen jeweiligen Obliegenheiten nicht aus Gründen materieller Not oder persönlichen Elends nach. An die Stelle der „Ärmsten der Armen", die in der übelriechenden, feuchtwarmen Luft der Kanäle hausen und ihren Lebensunterhalt dadurch bestreiten mußten, daß sie Fettstückchen aus den Abwässern fischten und für wenig Geld an die Seifensieder verkauften, trat nach langer Pause, in der in den Kanälen nichts als das fahle Rauschen zu hören war, zum Teil eine bunte Szene von Menschen, die frei gestaltbare Alternativen zur oberirdischen Erlebniswelt suchen. Freilich gab es immer auch berufsmäßige unterirdische Betätigungen, die besten Beispiele dafür sind die Bereiche Kanal und U-Bahn. Inzwischen gibt es aber sehr viele Menschen, die ihre Tätigkeiten durchaus auch oberirdisch ausüben könnten, sich aber bewußt nach unten orientieren, sei es, weil sie dort besondere Arbeitsfelder entdeckt haben (Mumienretter, Gruftphotographen, Fremdenführer) oder mit dem besonderen Appeal des Unterirdischen Pluspunkte machen (z. B. Künstler). Diese Menschen wenden sich dem städtischen Untergrund meistens ohne berufliche Notwendigkeit und daher relativ freiwillig zu.

Bau der Staatsoper, 1863 (Wikimedia)

Zweifellos ist der städtische Untergrund in Bewegung; hier wird gegraben, dort zugeschüttet, da gebaut, dort abgerissen. Neue Linien der U-Bahn durchschneiden die in Jahrhunderten gewachsenen Strukturen eines Mycels, das gleichsam die eigentliche Stadt ist und wie bei einem Pilz die oberirdischen Gebilde versorgt. Oder, um beim Vergleich mit einem Pilzgeflecht zu bleiben: Was oberhalb des Bodens zu sehen ist, unterliegt kurzfristigen Veränderungen und kann schon morgen verschwunden sein, während sich der Organismus im Untergrund stetig weiterentwickelt.

In Wien ist dieser Vorgang schon seit gut und gerne zwei Jahrtausenden im Gange, und während die unterirdische Welt wie ein aufgeschlagenes Buch dem Besucher von der Geschichte erzählt, hat sich das Stadtbild, wie man es gemeinhin kennt, in immer kürzer werdenden Intervallen verändert. Oder wieviel ist vielleicht noch vom oberirdischen Wien der Römerzeit zu sehen? Vom Frühmittelalter oder der Romanik? Unterhalb ruht alles den Schlaf der Geschichte, und man muß nur hinabsteigen, um einen Eindruck davon zu bekommen.

Entwurf einer unterirdischen Bühne (Ryborz)

Die Nutzung der weitläufigen unterirdischen Areale bedarf der öffentlichen Diskussion und Klärung. Da und dort gab es bereits Ausschreibungen, mit denen man Ideen eingesammelt hat. Zu Realisierungen kommt es selten — vermutlich auch, weil der Untergrund einer Stadt nicht im Blickpunkt des öffentlichen Interesses steht. Hinzu kommt vielleicht noch, daß sich im Dunkel des Untergrunds nicht alle Vorgänge genau kontrollieren lassen. Mit Blick auf die hohen Preise für städtischen Baugrund kommt man schnell zu dem Schluß, daß es höchste Zeit ist, den Bürgern einer Stadt die weite Welt unter der Asphaltdecke zu zeigen und zu erschließen. Es regt sich schon etwas: Fackeltouren werden veranstaltet, sogar Theaterstücke und Spektakel nach Art des Dritten Mannes. Aus diesen vereinzelten Aktionen könnte abseits kataphilen Grenzgängertums eine umfassende Beschäftigung mit dem Keller der Stadt werden, an der sich jeder beteiligen und persönlichen Anteil haben kann.

1 Glück, Alexander [u. a.]: Unter Wien. Auf den Spuren des dritten Mannes durch Kanäle, Grüfte und Kasematten. Berlin: Links, 2001

2 Glück, Alexander (Hrsg.): Unterirdische Perspektiven. Die historische Nutzung verborgener Räume und ihre Möglichkeiten für die Zukunft. Innsbruck: Studienverl., 2007

3 Oder die dort einfach nur feiern wollen: http://www.party.at/Photos/Archiv.2008/Streifen.2008.04.11.001/

4 Der Begriff bezeichnet wörtlich „Freunde des Herabsteigens" und kam erstmals im Zusammenhang mit Jugendlichen auf, die im Untergrund von Paris herumlungern oder dort diversen Beschäftigungen nachgehen.

I. Von Kunst und Ästhetik

Offener Stadtboden am Michaelerplatz

Die Welt ist eine Scheibe: Vindobona auf DVD

Mit erheblichem Aufwand hat die österreichische Produktionsgesellschaft 7Reasons das historische Ur-Wien in Form von 3D-Animationen erschlossen. Die Römer hatten hier in der Antike das Kastell Vindobona unterhalten, auf das die heutige Stadt mitsamt dem ersten planmäßig ausgebauten Straßennetz unmittelbar zurückgeht und das für eine Reihe heute noch vorhandener Straßen, vor allem der Hauptverkehrsachsen, die Vorlage gab. Wollzeile, Rennweg, Kohlmarkt, Am Hof, Herrengasse: alles römisch, wenn nicht noch älter. Nicht nur der Verlauf von Straßen wurde durch das Kastell vorgegeben, auch die Bezeichnungen — beispielsweise hat die Straße „Am Graben" ihren Namen daher, daß hier zur Römerzeit wirklich ein Graben war, nämlich der Wehrgraben des Kastells. Die beiden DVDs mit Animationsfilmen und populärwissenschaftlichen Erläuterungen sind eine große Bereicherung, wenn man die Geschichte dieser Stadt, die immer auch ihren Untergrund geprägt und gestaltet hat, besser verstehen will. Einziges Manko: Vindobona wird für sich dargestellt, eine Überlagerung mit aktuellen Stadtplänen bleibt aus. Gerade dies hätte aber eine genauere Orientierung über die Lage der dargestellten Straßen und Gebäude ermöglicht.

Latrine mit Kanalisation

Wien hatte für die Römer vor allem militärische Bedeutung. Von hier aus wurde die logistische und militärische Erschließung des Umlands vorangetrieben. Die Besatzer hatten sehr gute Informationen über Klima, Geologie und Gestalt des Wiener Beckens und seines Einzugsgebiets. Deshalb konnten sie sich auch relativ dicht an Donau und Wienfluß niederlassen: Ein Flußarm heißt heute Porzellangasse. Eine Austraße am Uferrand wurde zur Liechtensteinstraße. Auch der Ottakringer Bach war damals noch prominent sichtbar, er läuft nun unterirdisch als Kanal, von seinem Verlauf künden oben nur noch die Strauchgasse und der Tiefe Graben. Ein kleines Bächlein plätscherte an der Befestigung entlang, heute kann man ihm am Graben und in der Rotenturmstraße folgen.

Ein Contubernium

Außerhalb des Kastells bildeten sich Lagervorstädte mit Händlern, Handwerkern und Gastronomie, an den Hauptwegen entstanden Gräberfelder. Im heutigen dritten Bezirk gab es eine Zivilsiedlung. Dort verlief die Ausfallstraße Richtung Carnuntum und es ist kein Wunder, daß sich an dieser belebten Route, die heute noch immer eine belebte Route ist, bald die ersten Dienstleister und Zivilsten ansiedelten. Zu den logistisch notwendigen Gebäuden gehörten eine Kommandozentrale, ein Krankenhaus und ein recht aufwendig mit Hypokaustenheizung versehenes Thermalbad. Im heutigen 17. Bezirk unterhielten Die Römer sogar eine eigene Ziegelei. Dazu gab es Kasernen, Barracken und Übungsplätze. Die wärmeliebenden Römer zogen ab und zu hinaus, um warme Heilquellen zu besuchen, die sich in Baden bei Wien, in Meidling und in Heiligenstadt lokalisieren lassen. Einen genaueren Einblick vermittelt die DVD „Vindobona I", während sich der zweite Teil mit der Kanalisation, Wassertechnik und den Latrinen befaßt. Über geographische Standorterklärungen hinaus wird hier auch die Technik genau erklärt, beispielsweise die Herstellung und Verlegung von Bleirohren.

Das Gußverfahren

Der eigentliche Gründer von Vindobona war Kaiser Trajan, der von 98 bis 117 n. Chr. regierte. Verschiedene Truppenteile waren hier stationiert, zunächst die XIII. Legion, dann die Legio XIV. Gemina und schließlich ab 114 n. Chr. die Legio C Gemina Pia Fiedlia, die bereits Stationierungserfahrungen in Spanien, am Niederrhein und in Ungarn gesammelt hatte. Bis zum Ende der römischen Herrschaft um das Jahr 400 n. Chr. blieb sie in Vindobona. Die weitere Siedlungsgeschichte ohne römiasche Besatzer konnte auf die umliegende Bevölkerung zurückgreifen, die bis in die Lagervorstädte an das Kastell heranreichte. Man hat die verlassenen Einrichtungen zunächst weitergenutzt und dann durch neue Gebäude ersetzt. Verschiedene Kulturen wirkten hier zusammen, und es sollte nicht lange dauern, bis sich aus dem Chaos, das nach dem Ende des römischen Reiches herrschte, neben vielen anderen Ländern auch Ostarrichi (erwähnt 996) erhob.

Herstellung von Bleirohren

Es wäre natürlich besonders interessant, weitere DVDs mit dem Wien des Mittelaters, der Renaissance und der Barockzeit vergleichsweise heranziehen zu können. Erst dadurch könnte die Entwicklung der Stadt vom antiken Kastell zur heutigen Metropole in ihrer Gesamtheit verstanden werden. Dennoch ermöglichen die beiden DVDs sehr aufschlußreiche Einblicke in das Keimstadium dieser Stadt, in der sich eben auch viele Dinge im Untergrund maßgeblich entwickelt haben. Im Zusammenhang mit unserem Thema sind da vor allem die unterirdischen Infrastruktursysteme zu nennen, allen voran die Versorgung mit Wasser und die Kanalisation. Tiefbauprojekte der Römer schufen nicht nur Lagerräume, sondern auch hochentwickelte Heizungssysteme und Thermen. Die Flußarme und Bäche, damals noch in direkter Nachbarschaft zu den Häusern und Straßen, haben entscheidende Furchen in das Stadtbild geschnitten, die man noch immer erkennen kann, obwohl im Stadtbereich die alten Bäche und Flußabschnitte in den Untergrund verlegt worden sind. Verkehrsadern und Fernrouten schließlich gaben die großen Achsen vor, mit denen Wien auch heute noch an seine nähere und fernere Umgebung angebunden ist. Beispielsweise waren die Römer teilweise mit ähnlichen Problemstellungen bei der Gestaltung der Verkehrswege konfrontiert wie die Menschen heute — und wie die Archäologie feststellen konnte, fanden sie auch ganz ähnliche Lösungen.

Streifenhaus

Die Erstellung von 3D-Animationen geht Hand in Hand mit der Untersuchung von Altgrabungen. Es werden laufend römische Kulturzeugnisse ausgewertet, wobei die Arbeitsschwerpunkte auf dem Gebiet des Kastells im ersten Bezirk und der Zivilsiedlung im dritten Bezirk liegen. Auch der U-Bahn-Bau hat da einiges zutagegefördert, unter anderem konnte eine kleine Münze gefunden werden, die wohl mal jemandem auf der Straße, die heute Rennweg heißt, aus der Tasche gefallen war. Die Arbeiten, auf die man dabei zugreift, reichen teilweise weit zurück. Seit 1895 führte Josef Hilarius Nowalski de Lilia Grabungsnotizen. Bald darauf wurde er zum Inspektor der städtischen Ausgrabungen berufen. Seine Berichte waren die Grundlage zahlreicher Fundberichte, die der Direktor des k. k. Münz- und Antikenkabinetts, Friedrich von Kenner, veröffentlichte. Diese Basisbeschreibungen werden überprüft und die Skizzen der Fundsituationen digitalisiert und zusammengefügt. Auf diese Weise können archäologische Einzelfunde zu einem Gesamtbild kombiniert werden, dessen Ausgestaltung dann mit viel Sachkenntnis und Feingefühl am Computer modelliert wird. Das Ergebnis ist eine Art virtuelles Vindobona, in dem der Betrachter Straßenzüge abfahren kann und einen Eindruck von den baulichen Gegebenheiten dieses antiken Kastells bekommt. Wichtig ist dabei die möglichst originalgetreue Ausgestaltung baulicher Details. Trotzdem bilden Medien wie die beiden Vindobona-DVDs die historische Situation in weiten Teilen nur spekulativ ab. Ob dieses oder jenes Haus wirklich diese Form und Gestalt hatte, wie es in der Animation erscheint, kann nicht in jedem Fall eindeutig festgelegt werden. Es ist ein Vindobona, wie es gewesen sein könnte und wie es nach aktuellem Forschungsstand auch möglichst plausibel ist.

Streifenhaus (Details)

Therme

Lagertor