Berlin – ein Stadtschicksal - Karl Scheffler - E-Book

Berlin – ein Stadtschicksal E-Book

Karl Scheffler

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Beschreibung

+++ Herausgegeben und mit einem Vorwort von Florian Illies +++ Es ist der wohl berühmteste Satz, der je über die deutsche Hauptstadt geschrieben wurde. Berlin, so heißt es in den letzten Zeilen von Karl Schefflers 1910 erschienenem Klassiker, sei dazu verdammt, »immerfort zu werden und niemals zu sein«. Anders als London oder Paris fehle der Metropole an der Spree ein organisches Entwicklungsprinzip. Sie sei nicht mehr als eine Kolonialstadt, ihr einziger Zweck die Eroberung des Ostens, ihre Bevölkerung ein zusammengewürfelter Haufen materialistisch orientierter Eigenbrötler. Keine Kunst oder Kultur, die es mit der aus den Weltstädten hätte aufnehmen können. Weit und breit nichts als Provinzialität und kulinarische Verfehlungen. Berlin: »Stadt der Konserven, des Büchsengemüses und der Universaltunke«. Was Scheffler nicht ahnen konnte: Sein Diktum sollte sich als Prophezeiung erweisen. Von den Goldenen Zwanzigern über die anarchischen neunziger Jahre bis zur Blütezeit als Welthauptstadt des Hipstertums zu Beginn des neuen Jahrtausends – kaum ein anderer Autor hat den faszinierenden und einzigartigen Charakter Berlins so treffend beschrieben. Die ehemalige Mauerstadt ist zum Symbol für eine neue Urbanität geworden, gesegnet mit dem Privileg, niemals sein zu müssen, sondern immerfort werden zu dürfen.

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Es ist der wohl berühmteste Satz, der je über die deutsche Hauptstadt geschrieben wurde. Berlin, so heißt es in den letzten Zeilen von Karl Schefflers 1910 erschienenem Klassiker, sei dazu verdammt, »immerfort zu werden und niemals zu sein«. Was Scheffler nicht ahnen konnte: Sein Diktum sollte sich als Prophezeiung erweisen. Von den Goldenen Zwanzigern über die anarchischen neunziger Jahre bis zur Blütezeit als Welthauptstadt des Hipstertums zu Beginn des neuen Jahrtausends – kaum ein anderer Autor hat Berlin so treffend und mit so herrlichem Spott charakterisiert wie jener Hamburger Selfmademan, der es vom Dekorationsmaler zum angesehenen Kunstkritiker brachte. Die ehemalige Mauerstadt ist zum Symbol für eine neue Urbanität geworden, gesegnet mit dem Privileg, niemals sein zu müssen, sondern immerfort werden zu dürfen.

Mit messerscharfer Auffassungsgabe und stets beißend polemisch analysiert Scheffler all die historischen Brüche – und all die Fehlplanungen –, denen die Hauptstadt heute ihre Einzigartigkeit verdankt. Oder wie Florian Illies es in seinem Vorwort formuliert: »Wer Schefflers Buch gelesen hat, versteht, warum Berlin die Stadt der ›Projekte‹ ist, der ›Projekträume‹, warum diese Stadt, stolz darauf ist, ein ›Laboratorium‹ zu sein, warum hier die Visionen blühen wie anderorts die Wirtschaft.«

KARL SCHEFFLER (1869-1951) war Kunstkritiker und Publizist. 1906 legte er mit Der Deutsche und seine Kunst. Eine notgedrungene Streitschrift ein polemisches Plädoyer für den Impressionismus als Kunstform der Moderne vor. Ab 1907 war er Herausgeber der einflußreichen Zeitschrift Kunst und Künstler, bis diese 1933 von den Nationalsozialisten verboten wurde.

FLORIAN ILLIES, geboren 1971, ist Kunsthistoriker, Journalist und Buchautor. Sein letztes Werk, 1913 : Der Sommer des Jahrhunderts, wurde ein internationaler Bestseller. 2014 erhielt Florian Illies als bisher jüngster Preisträger den Ludwig-Börne-Preis.

Karl Scheffler

BERLIN –

ein Stadtschicksal

Herausgegeben und mit einem Vorwort von Florian Illies

Suhrkamp

Der vorliegende Text folgt der Ausgabe im Suhrkamp Verlag 2015.

Die Erstausgabe erschien 1910 im Erich Reiss Verlag in Berlin.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

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Zur Gewährleistung der Zitierbarkeit zeigen die grau hinterlegten Ziffern die jeweiligen Seitenanfänge der Printausgabe an.

Umschlaggestaltung: ErlerSkibbeTönsmann/Johannes Erler

eISBN 978-3-518-74289-1

www.suhrkamp.de

Inhalt

Vorwort

BERLIN – ein Stadtschicksal

Die Betrachtungsweise

ENTWICKLUNGSSCHICKSALE

Die Kolonialstadt

Die Bevölkerung

Die Fürsten

Der Stadtgeist

Bürgerstadt und Fürstenstadt

Die Stadtanlage

Die Bautätigkeit

Die Künste

Die Gesellschaft

Lebensformen

Stadtkultur

GROSSSTADTSCHICKSALE I

Die Großstadt

Die Bevölkerung

Wilhelm II.

Der Handelsplatz

Die neuen Stadtteile

Gründerarchitektur

Die Künste

Natur und Umgebung

Die Großstadtgesellschaft

Einfluß auf das Reich

GROSSSTADTSCHICKSALE II

Der Pionierwille

Utopie

Die Bestimmung Berlins

Vorwort

Schicksal als Chance

Zur Bedeutung von Karl SchefflersDNA-Analyse von Berlin

Die letzte Chance, auf Berlin ganz zu verzichten, wurde 1648 vertan. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges waren in den beiden Stadtteilen Berlin und Kölln noch genau 556 beziehungsweise 379 Haushalte übrig, ernsthaft wurde in der dahinvegetierenden Stadt der Plan einer kollektiven Auswanderung diskutiert, aber dann kam offenbar leider irgendetwas dazwischen.

Leider? Ja, leider. Liest man Karl Schefflers haßerfüllte Liebeserklärung an Berlin aus dem Jahr1910, dann versteht man, daß Berlin nie zu sich selbst finden kann, weil – wie in einer griechischen Tragödie – das Leiden dieser Stadt die Bedingung ihrer Existenz ist. Wenn also Berlin, um in der Mythologie zu bleiben, das uneheliche Kind eines griechischen Gottes mit einem Menschen ist, dann ist der Vater wahrscheinlich Dionysos und die Mutter Personalratsvorsitzende in einem Westberliner Einwohnermeldeamt. Wenn Sie diese Assoziation jetzt etwas abwegig finden, dann sollten Sie dieses Vorwort nach der Lektüre des Buches noch einmal lesen. Denn wer nur zwei, drei Seiten von Karl Schefflers Analyse überflogen hat, der merkt, daß der Titelzusatz ein Stadtschicksal in diesem Fall weit mehr ist als feuilletonistische Bombastik oder Bedeutungshuberei. Scheffler hat vielmehr als erster filigran herausgearbeitet, warum es für Berlin kein Entkommen aus seinem Fatum geben kann. Deshalb lautet der letzte Satz dieses Buches eben auch, daß Berlin »dazu verdammt« ist, »immerfort zu werden und niemals zu sein«. Nach der Lektüre der zweihundert Seiten fährt einem dieses »dazu verdammt« wie ein Messerstich in die Glieder, ein jäher Stoß, der in Sekundenbruchteilen den ganz großen Bogen spannt vom Bahnhof Zoo in die griechische Mythologie.

Ohne diese »Verdammnis« hat es Schefflers Satz zum Small-talk-Gassenhauer der literarischen Salons in Charlottenburg, Dahlem und Pankow geschafft – abrufbar bei jedem Stöhnen über die Eröffnung einer neuen Dauerbaustelle in Berlin-Mitte. Aber erst mit der Dimension der Verdammnis, also der unauflöslichen Verkettung an das Schicksal, bekommt der Satz jene Tiefe und Untiefe, die Scheffler dazu bewogen hat, ihn zum Schlußsatz seines Buches zu machen, zum Fazit seines quälenden Nachdenkens. Er ist ein herrlicher Aphorismus, neun Worte nur lang – und doch versteht man ihn erst ganz, wenn man den Text davor gelesen hat, er ist die Essenz aus zweihundert Seiten, aus zweitausend Jahren. Selten kann man einer derart scharfen Beobachtungsgabe wie der von Scheffler so genau bei der Arbeit zusehen wie in diesem Buch, selten so klar die Methode der Analyse verstehen, wenn er seine Anschauungen aus der verknüllten Geschichte der Stadt heraus entfaltet, dieser »zur Millionenstadt […] gewordene[n] Siedelung germanischer Ackerbauern und wendischer Fischer«.

Die umstürzende Erkenntnis, die Scheffler aus seiner intensiven Beschäftigung mit Berlin und seiner Geschichte gewonnen hat, ist: Berlin ist immer eine Kolonialstadt geblieben. Die Stadt der Zugezogenen, die immer wieder neu zum Objekt der Begierde wird, für Hugenotten und für Wehrdienstverweigerer, für schlesische Arbeiter wie für schwäbische Start-up-Unternehmer. Und wenn Mark Twain 1891 bei seinem ersten Besuch im damals etwa 650 Jahre alten Berlin begeistert notiert, wie »neu« diese Stadt sei, »die neueste Stadt, die ich je gesehen habe«, obwohl er aus dem frischgebackenen Amerika kam, wo gerade Stadt um Stadt aus dem Boden gestampft wurde – dann zeigt das, wie prägend diese Ausstrahlung ist. Der »Live-Ticker« ist natürlich eine Berliner Erfindung, nirgendwo gibt es eine größere Besessenheit für das Jetzt; das »Regime der Realtime« (David Gugerli), das die Zeit seit dem Jahr 2000 bestimmt, hat in Berlin seinen Kristallisationspunkt gefunden. Bei Scheffler kann man genau nachlesen, woher die Verherrlichung des Neuen kommt. Was er 1910 analysiert hat, gilt hundert Jahre, zwei Weltkriege, vier deutsche Staatsgebilde später unverändert. Früher kamen sie mit Kutschen, dann mit dem Interzonenzug, heute mit easyJet – die Verheißung bleibt dieselbe. Und sie ist der geheime Motor dieser besinnungslos voranhastenden Stadt. Nur in Berlin werden die Fragen »Wohnst Du noch dort?« oder »Arbeitest Du noch dort?« mit dieser Verwunderung und Geringschätzung gestellt. Der Status quo ist hier immer fragwürdig und nur dazu da, überwunden zu werden. Wenn den Galerien für zeitgenössische Kunst die Ideen auszugehen drohen, dann eröffnen sie in Berlin regelmäßig »Neue Räume«, als sei dies bereits eine substantielle inhaltliche Aussage. Wer Schefflers Buch gelesen hat, versteht, warum Berlin die Stadt der »Projekte« ist, der »Projekträume« (Ostberliner Variante: »Fünfjahresplan«), warum diese Stadt stolz darauf ist, ein »Laboratorium« zu sein, warum hier die Visionen blühen wie anderorts die Wirtschaft. In der Hauptstadt gibt es kaum Erwerbsarbeit, dafür umso mehr Körperarbeit, Beziehungsarbeit und Arbeit an der Vergangenheit. Das einzige, was in Berlin boomt, ist konsequenterweise die Internetbranche, weil hier allein die Phantasie zum Bewertungsmaßstab herangezogen werden kann und nicht spießig der durchschnittliche Jahresumsatz. Und natürlich lassen sich nirgendwo besser Filme drehen als hier, wo es zwar keine Gewerbe-, aber dafür immer genügend Projektionsflächen gibt. So sehr ist diese Stadt in die Möglichkeiten verliebt, so wenig in die Wirklichkeiten, daß selbst die Bäcker »Brot & Mehr« heißen und die Spätkioske »Internet & Mehr«. Es ist einfach nie genug. Beziehungsweise: »Hinterm Horizont geht’s weiter« (Udo Lindenberg).

Karl Scheffler nennt die Menschen, die nach Berlin kommen, »Pioniere«, und es ist bis heute dasselbe Versprechen geblieben, wenn das Stadtmarketing die Ankommenden an den Stadtgrenzen mit einem »be Berlin« willkommen heißt. Auf deutsch heißt das: Träum weiter. Wenn New York die Stadt ist, die niemals schläft, dann ist Berlin die Stadt, die niemals aufwacht.

Hipness ist das Manna, das diese Stadt wie ein Begrüßungsgeld an alle ausschüttet, die die Tore zu dieser Stadt & Mehr durchschreiten. Nach Berlin kamen über die Jahrhunderte die Hugenotten und die Freigeistigen, die religiös Liberalen und die Juden, weil ihnen hier die »Freiheit des Bekenntnisses« zugesichert wurde. Dies ist der geheime Kern, bis heute, auch wenn es bei diesem Bekenntnis inzwischen längst nicht mehr um religiöse Fragen geht. Aber auch das hat Karl Scheffler in seinem Buch über das Schicksal dieser Stadt bereits geahnt: »Der religiöse Rationalismus hat in dem kühl protestantischen Berlin so lange immer nach dem Warum gefragt, bis sich der Priester gezwungen sah, halb als Philosoph zu antworten.« Mittlerweile ist auch die andere Hälfte säkularisiert, deshalb kommen die Antworten in Berlin auf die Frage nach dem »Warum« halb vom Philosophen, halb vom Barkeeper. Die Antwort ist: »Darum«. Oder, wie Scheffler schreibt: »Hegels Lehrsatz, daß alles Seiende vernünftig ist, kann als eine Art von preußischer […] Selbstrechtfertigung gelten.« Das Seiende ist aber nie ein bevorzugter Aufenthaltsort in dieser Stadt. Man sucht die Naherholung zuverlässig in der nahen Zukunft. »Spree-Athen« ist kein Spitzname, sondern eine bewußte Falschaussage.

Berlin ist der Sehnsuchtsort der Pioniere und dann ganz bei sich, ganz Kolonialstadt, wenn es Verheißung sein darf. Berlin scheitert immer, wenn es liefern muß. Hätten wir alle Karl Scheffler früher gelesen, dann hätten wir uns, beispielsweise, das ganze sehnsüchtige Warten auf den »Hauptstadtroman«, der nach 1989 bundesweit aus Berlin erwartet wurde, sparen können oder hätten frühzeitig eingesehen, daß natürlich nie jemand die Absicht hatte, den »Hauptstadtflughafen« wirklich zu eröffnen.

Man lernt bei Scheffler ebenfalls, daß man in Berlin nicht darauf hoffen darf, daß Traditionen gewahrt werden. Die einzige Tradition, die hochgehalten wird, ist die der Traditionslosigkeit. Daß dieses Buch so lange vergessen wurde, ist der beste Beleg für diese These. Berlin – ein Stadtschicksal ist auch deshalb ein so kluges Buch, weil der Autor es von vorne bis hinten selbstgedacht hat – wohl niemand hat sich Berlin so hingegeben wie dieser Mann, er hat diese Stadt durchwandert, er ist ihre Magistralen entlanggegangen und verzweifelte, weil sie im Nichts verlaufen, er ist ihre Flüsse abgefahren, und er verzweifelte erneut, weil die Stadt einfach ignoriert, daß sie am Wasser liegt und »Zärtlichkeit [ihm] nicht [entgegenbringt], wie es doch in Paris und Wien, in Hamburg und Frankfurt am Main der Fall ist« (geniale Beobachtung). Zärtlichkeit hingegen bringt diese Stadt, die besessen ist von ihrem Tempo, konsequenterweise nur den Verkehrsströmen entgegen, den S-Bahn-Trassen, den Trambahnen, denen man sich eher zu- als von ihnen abwendet – und den lauten sechsspurigen Straßen, an deren Trottoirs man nach dem Yoga gerne auf herausgestellten Holztischen die Bio-Weiderinder aus der Uckermark verspeist. Das ist Entrecote à la Scheffler.

Am größten wird Schefflers Wut übrigens, wenn er auf die Stadtplanung und die Architektur zu sprechen kommt, da ist er ganz bei sich, dieser große Kulturkritiker, da erstirbt ihm vor lauter »Häßlichkeit« fast der Atem, und doch steigert er sich dann immer wieder hinein in wunderbare Wutausbrüche gegen das Chaos der Stadtplanung, die Sinnlosigkeit der Straßenverläufe, die Eintönigkeit der neuen Ostgebiete (Prenzlauer Berg, Mitte). Scheffler legt immer wieder den Finger in die Wunde – daß diese Stadt eben nichts organisch Gewachsenes hat, keine Jahresringe wie ein Baum, sondern nur aus sinnlosen, unzusammenhängenden Wucherungen besteht (weshalb dies auch kein Ort für wahrhaft große Kultur sein kann). Scheffler zeigt, warum die großen Helden der deutschen Kultur, Goethe und Schiller, Beethoven und Bach, einen weiten Bogen um Berlin machten und warum sich die Tragödie um Heinrich von Kleist nicht zufällig in Berlin abspielte: »Gewiß wäre Kleist überall in Deutschland unverstanden geblieben; nirgend aber wäre ihm die Hoffnungslosigkeit seiner Lage so roh und hart zu Bewußtsein gebracht worden wie in der Stadt abgestempelter Phantasielosigkeit.« Selbst Schinkel kann ihn nicht wirklich versöhnen, denn auch dieser große Geist wurde letztlich Opfer der Berliner DNA: »Er ist in seiner Art genial; aber er ist es innerhalb der Determination eines Kolonialstadtbewohners.«

So wie Scheffler als Flaneur durch Berlin lief, immer und immer wieder, so hat er auch die Geschichte dieser seltsamen Stadt durchforstet, durchsiebt, bis er jedes Sandkorn persönlich kannte. Daraus ist dieses Buch entstanden – daß es nicht nur ein präziser Führer durch die mentale Stadtlandschaft Berlins um 1910 ist, sondern auch genauso präzise die Rätsel dieser Stadt um 2015 verständlich machen kann, ist nur auf den ersten Blick erstaunlich. Denn Scheffler erklärt in seinem Buch selbst, daß die DNA Berlins, die er als erster Genomforscher freigelegt hat, auch weiterhin prägend für ihr Verhalten sein wird. Indem er also so minutiös die Besonderheiten dieser Stadt anhand ihrer determinierenden Chromosophen beschreibt, beschreibt er zugleich, mit Halbsätzen nur, aber genauso konzise, die geheimen Codes von Dresden, von Hamburg, von München, von Danzig und von London. Dank Scheffler lernt man jede Stadt als Individuum zu begreifen, von der eine bestimmte Stimmung ausgeht, eine bestimmte Temperatur, ein Duft, zusammengebraut aus einem jahrhundertelangen und jeweils einzigartigen Zusammenspiel von Lage, Herrschern, Kultur, Bürgergesellschaft und Traditionen.

Es gibt in Schefflers großer DNA-Analyse unglaublich viele kleine Felder, in denen er aus seiner Sichtung der Chromosophen-Beschaffenheit Deutungen von verstörender und bestechender Klarheit gewinnt. Warum die Berliner etwa unfähig dazu sind, schöne Plätze zu bauen (heute wissen wir, daß der Potsdamer Platz und die Wucherungen rund um den neuen Hauptbahnhof leider keine Gegenthesen dazu sind). Warum Adolph Menzel ein Maler von Weltformat geworden wäre, wenn er nicht das Pech gehabt hätte, in Berlin zu wirken. Wieso die Uckermark nur für einen Eremiten wie Botho Strauß aushaltbar ist, jenes »endlose Ostland, das direkt in die russischen Ebenen hineinzuführen scheint […]. In schwermütiger Einsamkeit dehnt sich das Acker- und Haideland dahin.« Man kann dieses ganze alte Buch lesen wie einen Führer durch das neue Berlin. Sogar an den Stellen, wo man vermeintlich in der Historie zu versinken droht, blinkt einem die Gegenwart während der Lektüre aufgeregte Assoziationen zu. Wenn Scheffler etwa ausführt, daß die Berliner alles (Häuser, Helden, Reiche) außer dem Soldatischen irgendwann niederstürzen, dann will man das gerade als gestrig abtun – bis einem wieder jenes merkwürdige Bild vor Augen kommt, wie bei den Love-Parade-Umzügen auf dem Großen Stern die Kolonialstadt in ihrer nackten Hipness ganz bei sich war und dabei ungerührt wummernd an den Standbildern der großen preußischen Generäle vorbeizog. Selbst bei der »Siegessäule« denkt niemand mehr an den Deutsch-Französischen Krieg, sondern – sofern gedacht wird – nur an den Jubel nach gewonnenen Spielen der Fußballnationalmannschaft auf der sogenannten »Fanmeile«.

Noch viel weitreichender ist Schefflers Analyse, wie das Volk die Herrschenden jeweils nach seiner Façon ummodelt: »Die Bevölkerung der Stadt beeinflußt unmerklich die Psyche seines Fürstengeschlechts und erkennt sich in seinen Repräsentanten selbst dann wieder.« Scheffler meinte das 1910 als feine Spitze, weil es den Berlinern gelungen war, das preußische Herrschergeschlecht über die Jahrhunderte von Friedrich dem Großen bis auf Wilhelm II. geistig herunterzuwirtschaften. Aber wenn man liest, wie Scheffler die »Pflichterfüllung«, den »trockenen Sachsinn«, die »Selbstironie« und den »harten Realismus« als die hohenzollernschen Haupttugenden herausarbeitet, dann kann man an der Ostelbierin Angela Merkel in der Tat erkennen, wie die Berliner am Ende nicht nur sich selbst im Repräsentanten wiedererkennen möchten – sondern wie sie es schaffen, daß dies am Ende sogar die Bayern, die Rheinländer und die Hamburger tun. Auch die Architektur des einstigen Amtssitzes der Hohenzollern, das Stadtschloß, hat Scheffler feinsäuberlich auseinandergenommen. Daß nun gerade dort, am ehemaligen Herrschersitz, hinter den rekonstruierten barocken Fassaden ein »Zentrum der Weltkulturen« mit den ethnologischen Sammlungen verschiedener Museen entsteht – in dem sich, wie es ausgerechnet der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz verkündet, »die Welt selbst betrachten soll« –, das hätte Scheffler zu einem hellen, verzweifelten Auflachen getrieben. Selten ist der als Demut getarnte Berliner Größenwahn besser zu besichtigen gewesen als in dieser »Vision«, selten die prollige Berliner Großmannssucht entlarvender zum Ausdruck gekommen als in den Plänen der Stadtregierung, einige Räume dem Thema »welt.stadt.berlin« zu widmen. Pünktchen. Pünktchen. Pünktchen. Die Kolonialstadt Berlin kommt ganz zu sich in einem als gigantischen »Dritte-Welt-Café« zur Weltbeglückung getarnten neuen Kolonialismus. Die Welt betrachtet hier künftig nicht sich selbst, sondern allein das verquere Berliner Selbstverständnis. Aber bitte nicht aufregen, das sind die Gene dieser Stadt, würde Scheffler an dieser Stelle besänftigend einwenden.

Damit Sie, geneigter Leser, jetzt keine Angst bekommen vor diesem Buch: Mindestens so gut wie die Passagen über die Ewigkeit des Geistes der Kolonialstadt sind Schefflers Zornausbrüche gegen die »kolonistenmäßige Anspruchslosigkeit« der Berliner Brotsorten, »die Essen zu etwas wie einem notwendigen Übel macht«. Oder mein Lieblingssatz: Berlin ist »nicht das Resultat eines Stadtbewußtseins, sondern ein Produkt des Baumarktes«. »Mach es zu Deinem Projekt«, so dröhnt es uns – ganz gemäß Schefflers Analyse – in diesem Herbst von den Plakatwänden der Berliner Baumärkte entgegen. In diesem Sinne also: Raus aus den Projekten, raus aus den Baumärkten, rein in dieses Buch!

BERLIN –ein Stadtschicksal

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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