Bernstein-Connection - Uwe Klausner - E-Book

Bernstein-Connection E-Book

Uwe Klausner

4,2

Beschreibung

Berlin, im Juni 1953. In unmittelbarer Nähe von Schloss Bellevue wird eine männliche Wasserleiche entdeckt. Kurz darauf wird das Grab des unlängst bestatteten Geschäftsmannes Hans-Hinrich von Oertzen auf makabere Weise geschändet. Alles nur Zufall? Keineswegs. Hauptkommissar Tom Sydow findet heraus, dass die beiden Männer Mitglieder einer streng geheimen Sondereinheit der SS waren, deren Aufgabe kurz vor Kriegsende darin bestand, das legendäre Bernsteinzimmer vor der heranrückenden Roten Armee in Sicherheit zu bringen …

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Seitenzahl: 340

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Uwe Klausner

Bernstein-Connection

Tom Sydows dritter Fall

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2011 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

3. Auflage 2011

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/Korrekturen: Julia Franze / Sven Lang

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Bildes von: @ Ralph Crane / Getty Images

Figuren

REALE HAUPTFIGUREN

Katharina II. (1729-1796), genannt die Große, Zarin von Russland

Grigori Grigorjewitsch Orlow (1734-1783), Offizier und ihr Liebhaber

Erich Koch (1896-1986), Gauleiter von Ostpreußen, Reichsverteidigungskommissar und Reichskommissar in der besetzten Ukraine, am 12.11.1986 in polnischer Haft verstorben

Wilhelm Zaisser(1893-1958), Mitglied des Politbüros und des ZK der SED und Minister für Staatssicherheit, im Juli 1953 entlassen und aus der Partei ausgestoßen

Erich Mielke (1907-2000), von 1957 bis 1989 Minister für Staatssicherheit der DDR

Heinrich Himmler (1900-1945), Reichsführer-SS, Reichsinnenminister und Chef der deutschen Polizei, Selbstmord in britischem Gewahrsam

Lawrenti Pawlowitsch Berija (1899-1953), Geheimdienstchef der UdSSR, vermutlich am 26.6.1953 exekutiert

Georgi Maximilianowitsch Malenkow (1902-1988), von 1953 bis 1955 Regierungschef der UdSSR, 1957 endgültig entmachtet und aus dem Politbüro ausgeschlossen

FIKTIVE HAUPTFIGUREN

Tom von Sydow, 40 Jahre, Hauptkommissar der Berliner Kripo

Benjamin Kempa, SS-Sturmbannführer und Bergwerksingenieur

Curt Holländer, Offizier im besonderen Einsatz des Ministeriums für Staatssicherheit

Erna Pommerenke alias ›die Rote Lola‹, Kreuzberger Bordellkönigin

Gregory Boynton Grant, stellvertretender Leiter der CIA

Heribert Peters, Gerichtsmediziner

Waldemar Naujocks, Leiter der Spurensicherung

Luise von Zitzewitz, Toms Tante

Hans-Hinrich von Oertzen, SS-Standartenführer

Eduard Krokowski, Kriminalassistent

Wassili Danilowitsch Slavín, ehemaliger Major des NKWD

Juri Andrejewitsch Kuragin, Oberstleutnant des MGB (Ministerium für Innere Angelegenheiten der UdSSR)

Ole Jensen,

Prolog

Sankt Petersburg / Russland

2

Zarskoje Selo[1], am Morgen des 22. Tages im Monat April

Mein teurer Gemahl!

Um Euch, der Ihr fernab von hier auf unserem Gut bei Rostow weilt, über die Geschehnisse an Ihrer Majestät Hof auf dem Laufenden zu halten, im Folgenden einige Zeilen von mir.

Ich hoffe, Ihr befindet Euch wohl und bei guter Gesundheit, was ich von mir, die ich aufgrund des jüngsten Skandals immer noch zutiefst erschüttert bin, bedauerlicherweise nicht behaupten kann. Kommt mir doch das, was sich am gestrigen Abend in Ihrer Majestät Gegenwart zugetragen hat, so ungeheuerlich vor, dass selbst jetzt, etliche Stunden später, die Feder in meiner Hand ihren Dienst zu versagen droht. Seit ich in Ihrer Majestät Dienste getreten bin, habe ich etwas Derartiges noch nicht erlebt, und ich bin mir sicher, dass mir die hochwohlgeborenen Damen und Herren, die Zeuge jener höchst unglückseligen Vorkommnisse gewesen sind, darin beipflichten werden.

Doch der Reihe nach. Zunächst hatte es den Anschein, dass der Abend, über den ich Euch berichten möchte, den gewohnten Verlauf nehmen würde. Nach dem Gottesdienst und dem anschließenden Souper, bei dem sich Ihre Majestät mir gegenüber höchst gnädig zeigte, bat uns die Zarin ins Bernsteinkabinett, um den Abend bei Zigeunermusik, Tokaier und einer Partie Whist[2], ihrem erklärten Lieblingsspiel, ausklingen zu lassen. Mit von der Partie waren unter anderem Grigori Grigorjewitsch Orlow, von dessen Liaison mit unserer gnädigen Herrin allerlei gemunkelt wird, und – Gott sei’s geklagt! – Vater Dmitri, ein hergelaufener sibirischer Starez[3], über den in Sankt Petersburg die wildesten Gerüchte kursieren und der bereits mehrere handfeste Skandale verursacht hat. Zu meinem und dem Leidwesen des erlauchten Kreises, welcher sich im Bernsteinzimmer zusammenfand, war dies auch am gestrigen Abend der Fall. Allein der Geruch, den jener Wandermönch aus den Gefilden jenseits des Uralgebirges verströmte, hätte ausgereicht, uns alle in die Flucht zu schlagen, und als sei dies immer noch nicht genug, überhäufte er Jekaterina Alexejewna[4] mit Flüchen und benahm sich derart ungebührlich, dass die anwesenden Kavaliere ihre ganze Selbstbeherrschung aufbieten mussten, damit es nicht zu einem neuerlichen Eklat kam. Allein Ihrer Majestät Selbstbeherrschung war es zu verdanken, dass jener der Gosse entstiegene Schweinehirt ungeschoren davonkam, wenngleich sie sich, wie deutlich zu erkennen war, in nicht geringem Maße echauffierte.

Man stelle sich vor, was jener Scharlatan, der sich Priester nennt, unserer über alles geliebten Herrscherin zu weissagen erdreistete! Die Herrschaft der Zaren, so die Worte jenes impertinentesten unter den Kretins, werde in nicht allzu ferner Zukunft zu Ende gehen und der Letzte vom Stamme der Romanows ein Schicksal erleiden, welches an Grausamkeit nicht zu überbieten sei. Genau das waren seine Worte – Ihr habt Euch nicht verlesen, mein teurer Gemahl. Doch damit nicht genug. Aus dem Aschehaufen, den die Romanows hinterlassen würden – Aschehaufen, welch ungeheurer Frevel! –, werde ein Tyrann emporsteigen, wie ihn sich Ihre Majestät, die Anwesenden und das gesamte russische Volk nicht vorzustellen imstande wären. Dieser Tyrann, so Dmitri, werde Russland unter seine Knute zwingen, ohne Rücksicht auf Millionen von Menschen, die seiner Herrschaft zum Opfer fallen würden. Doch damit immer noch nicht genug. Nur wenige Jahre später werde neues Unheil über Mütterchen Russland kommen, aus dem Westen, von wo aus es sich wie eine Flut über unser Land ergießen würde. Schlimmer als die Tataren würden wilde Heerscharen über unsere Heimaterde hinwegfegen, sengend, mordend, plündernd und raubend. Nicht einmal das Bernsteinkabinett Ihrer Majestät, dies unvergleichliche, an Schönheit nicht zu überbietende Juwel, werde der Raffgier dieser Berserker entgehen und als Kriegsbeute außer Landes transportiert werden, um für immer vom Angesicht der Erde zu verschwinden. Und so frage ich Euch, mein über alles geliebter Gemahl: Hat man je etwas Absurderes, Frevelhafteres und Lästerlicheres gehört als das wirre Geschwätz dieses hergelaufenen Wanderpredigers, der sich Dmitri Michailowitsch Kapotkin nennt? Hat man je etwas Irrwitzigeres, Abwegigeres und Törichteres gehört als die Behauptung, das Bernsteinkabinett werde in die Hände ausländischer, mit den Mächten des Bösen in Verbindung stehender Invasoren fallen? Verzeiht mir, lieber Gemahl, wenn ich mich derart echauffiere, geht doch das, was mir gestern Abend zu Ohren kam, völlig über meinen und – wie ich annehme – auch über Euren Horizont. Was meine Herrin betraf, nahm sie es mit der ihr eigenen Gelassenheit, ließ diesen Schmutzfink gewähren und zog sich in Begleitung von Orlow alsbald in ihre Gemächer zurück. Als ihre Hofdame tat ich es der Zarin gleich, wenngleich ich gestehen muss, dass ich nach dem Zubettgehen kein Auge zugetan habe.

Soweit mein Bericht, teuerster Gemahl. Falls möglich, lasst bald von Euch hören, damit mir wenigstens ein bisschen Trost zuteilwerden möge.

Irina, Eure Euch in Liebe zugetane Gemahlin

›Am 21., das heißt am Tage des festlichen Feiertages Ihrer Majestät Geburt, geschah in Zarskoje Selo das Folgende: Aus der Kirche geruhte Ihre Majestät in das Bernsteinzimmer hinüberzugehen und erwies den oben beschriebenen Personen [Kavalieren und Hofdamen] ihre Gunst.‹

Aus dem Zeremonialjournal Katharinas II.,

1

Katharinenpalais in Zarskoje Selo nahe Sankt Petersburg | kurz vor Sonnenuntergang

»Fluch über dich, Herrscherin aller Reußen!«, schleuderte der verwahrloste Wandermönch seiner Widersacherin ins Gesicht. »Fluch über dich, Ehebrecherin, Mörderin und Hure!«

Im Saal wurde es totenstill, und die Blicke der Anwesenden, überwiegend Damen von Stand, Kavaliere und Gardeoffiziere, wandten sich dem Eingang zu. Der Hüne unter dem Türsturz, vor dem die livrierten Lakaien instinktiv zurückwichen, ließ sich jedoch nicht beirren. Er strahlte etwas aus, das den gepuderten Hofschranzen Furcht einflößte, von seinem Wuchs, durch den er sämtliche Anwesende um Haupteslänge überragte, gar nicht zu reden.

»Fluch über dich!«, wiederholte der bärtige, breitschultrige und vor Schmutz nur so starrende Mönch, bevor er zum entscheidenden Schlag ausholte. »Sei verflucht, Deutsche, der du Mütterchen Russland zugrunde richten wirst!«

Die attraktive, mit einem Dreispitz und der rot-grünen Uniform der Preobraschenskij-Garde bekleidete Herrin über nahezu ein Siebtel der Erdoberfläche verzog keine Miene, selbst dann nicht, als sich der Hüne mit dem fettglänzenden, schulterlangen Haar eine Gasse durch die Reihen der Höflinge bahnte und hocherhobenen Hauptes auf sie zusteuerte.

»Sie sind an der Reihe, Grigori Grigorjewitsch«, forderte sie stattdessen den stattlichen Offizier rechts von ihr auf, nicht der erste und auch nicht der letzte Liebhaber in ihrem Leben. Beim Whist, ihrem Lieblingsspiel, ließ sie sich nur ungern stören, und das wussten Orlow und die beiden anderen Offiziere am Spieltisch genau. »Oder ist Ihnen etwa die Lust vergangen?«

»Beileibe nicht, Majestät«, versicherte der fünf Jahre jüngere, in Diensten der Venus wie auch des Mars gleichermaßen erfahrene Adelsspross, während der Parkettboden des Bernsteinzimmers unter den Stiefeltritten des sibirischen Starez erzitterte. »Wo kämen wir hin, wenn wir uns von einem hergelaufenen Schmutzfink den Abend verderben ließen!«

Jekaterina Alexejewna, bereits zu Lebzeiten ›die Große‹ genannt, gab sich betont entspannt und setzte ein huldvolles Lächeln auf. Sie war 35 Jahre alt, hatte graublaue Augen und kastanienbraunes, mithilfe einer Schleife aus Silberbrokat zusammengehaltenes, Haar. Das eine Idee zu spitz geratene Kinn zeugte von großem Durchsetzungsvermögen, wenngleich sie sich Mühe gab, diese Fähigkeit hinter einer Fassade demonstrativer Jovialität zu verbergen. Für gewöhnlich die Ruhe selbst, gab es so gut wie nichts, was ihre Laune trüben konnte. Es sei denn, man erinnerte sie an ihre Herkunft, was der Tochter eines deutschen Duodezfürsten überhaupt nicht behagte.

»Recht so, mein lieber Orlow«, pflichtete die Zarin ihrem Favoriten bei, prostete ihren Tischnachbarn zu und nippte an ihrem rubinrot schimmernden Tokaier. »An einem Tag wie diesem sollten wir uns die Laune auf keinen Fall …«

»Fluch über dich, Deutsche!« Die Stimme des ungebetenen Gastes war jetzt ganz nahe, und während sich die Zarin wieder ihrer Whistpartie zuwandte, stieg ihr der Geruch von Schweiß, Kautabak und Schweinestall in die Nase. Die Verlockung, den Wandermönch auf der Stelle arretieren zu lassen, drohte übermächtig zu werden, doch wieder einmal setzte sich ihre Selbstbeherrschung durch.

»Ihr Anliegen, Monsieur?«, richtete sie das Wort an den Starez, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. »Dépêchez-vous![5]«

Der Mönch ließ sich nicht lange bitten, entledigte sich des Kreuzes, das er über dem zerschlissenen Habit trug, und reckte es der Zarin aller Reußen entgegen. »Kehre um!«, herrschte er sie an, in einem Ton, der bei den konsternierten Höflingen für helle Aufregung sorgte. »Kehre um, deutsche Hure, auf dass unser geliebtes Mütterchen Russland …«

»Lebe, ich weiß«, vollendete Katharina die Große, geborene Sophie Friederike Auguste von Anhalt-Zerbst. »Wobei ich finde, dass sich unsere rüstige Babuschka durchaus sehen lassen kann. Im Vergleich zu anderen Ländern, meine ich.«

»Und ob, Majestät!«, pflichtete ihr Orlow bei und tat zunächst so, als sei der Wandermönch Luft für ihn. Schließlich rückte er mit kalkulierter Lässigkeit sein Seidenjabot zurecht, blitzte den Kraftprotz scheel an und zischte: »Und jetzt raus hier, Muschik[6], sonst wirst du dein blaues Wunder er…«

»Aber, aber, mein lieber Orlow«, fiel die Zarin dem gut gebauten Offizier, zugleich Vater ihres jüngsten Sohnes, mit unüberhörbarem Tadel ins Wort. »Mit der Kirche wollen wir es uns doch wohl nicht verderben, oder?«

»Das verhüte …«, schickte Orlow sich an, den Ball aufzunehmen, eine Schnupftabakdose in der linken Hand.

Es war der Wandermönch, der den Satz vollendete, und zwar so, dass es dem Offizier die Sprache verschlug.

»Wag es nicht, Sünder …«, presste der Starez hervor und funkelte den eingedenk seiner erotischen Kunstfertigkeit in den Grafenstand erhobenen Salonlöwen wütend an, »wag es nicht, den Namen des Herrn in den Mund zu nehmen. Sonst wird es ein böses Ende mit dir nehmen.«

»Oder mit dir!«, ergänzte die Zarin, des Schauspiels überdrüssig, während sie sowohl Orlow als auch der hereinstürmenden Palastwache mit erhobener Hand Einhalt gebot. »Und deshalb: Sage Er mir, was Er loswerden möchte, Mönch, und rede Er nicht andauernd um den heißen Brei herum!«

Unter den Offizieren, Lakaien und Hofdamen, die sich mit angehaltenem Atem Luft zufächelten, erhob sich affektiertes Gelächter. Katharina die Große schien es nicht zu bemerken. Anscheinend ganz in ihr Spiel vertieft, legte sie ein Ass auf den Tisch, ließ den Arm auf dem mit Seidendamast bespannten Stuhl ruhen und hauchte mit kaum hörbarer Stimme: »Ich höre.«

»Kehre um, Deutsche, bevor es zu spät für dich ist«, stieß der Mönch hervor, während draußen im Park allmählich die Abenddämmerung hereinbrach. Im Licht der Kerzen, welche die Wände des Bernsteinzimmers wie flüssiges Gold erstrahlen ließen, warf seine Gestalt einen unheimlichen Schatten an die gegenüberliegende Wand, was den Starez wie einen dem Erdboden entstiegenen Dämon erscheinen ließ.

»Und was, wenn ich es nicht tue?«, erwiderte die Zarin scheinbar ungerührt.

»Dann, Herrscherin aller Reußen«, dröhnte der Bass des Sibiriers von den mit Bernsteinpaneelen, Spiegelpilastern und Steinmosaikbildern geschmückten Wänden wider, »wird der Zorn Gottes auf dieses Land herniederfahren, und es wird ein Blutbad geben, wie es die Welt bis dato nicht gesehen hat.« Die pechschwarzen Augen des Mönchs verengten sich, und sein Blick, durchdringender denn je, schien die 35-jährige Herrscherin förmlich zu durchbohren. »Millionen werden elendiglich zugrunde gehen, der Leib von Mütterchen Russland wird auf das Widerwärtigste geschändet werden. Kein Stein wird auf dem anderen bleiben, und ein Feuersturm wird über das Land hinwegfegen, schlimmer als alles, was sich menschliche Fantasie auszumalen vermag.«

»Und wann wird es so weit sein?«, spöttelte Orlow und sah sich Beifall heischend um. »Damit ich Reißaus nehmen kann, bevor die Welt untergeht.«

Die erhoffte Wirkung seiner Worte blieb indes aus, und es gab nicht wenige, die sich spontan bekreuzigten. Doch das war erst der Anfang. Kaum waren Orlows Worte verklungen, war in der Ferne dumpfes Donnergrollen zu hören. Wie um den Spötter Lügen zu strafen, flog plötzlich eines der Fenster auf. Ein Windstoß fegte durch den Saal, mit einer Heftigkeit, dass er Dutzende von Kerzen zum Erlöschen brachte. Ein dämonisches Lächeln im Gesicht, sah sich der Sibirier triumphierend um. Dann reckte er sein Brustkreuz in die Höhe und setzte seine Tirade fort: »Und es wird kommen der Tag«, verkündete er, den Blick auf die wie versteinert wirkende Zarin geheftet, »an dem das Geschlecht, dem du, Herrscherin aller Reußen, angehörst, vom Angesicht der Erde getilgt werden wird, und mit ihm alles, was an dich und deinesgleichen erinnert. Und siehe, der Letzte aus dem Stamm der Romanows wird ein qualvolles Ende erleiden, und mit ihm alle, die sich um seinen Thron scharen werden. Aus dem Aschehaufen, den dein verderbtes Geschlecht hinterlässt, wird sich ein Tyrann erheben, schlimmer als alle Despoten, welche die Geschichte kennt. Neues, unermessliches Leid wird kommen über unser schwer geprüftes Land, aus dem Westen, von wo aus jene Horden, schlimmer noch als die Tataren, wie Luzifers Heerscharen über unser Land herfallen werden, mordend, sengend, plündernd und alle jene zermalmend, die sich ihnen in den Weg stellen. Nichts wird mehr so bleiben, wie es war, nicht einmal dieses Zimmer, welches der Beutegier der fremden Barbaren zum Opfer fallen wird. Hast du gehört, Herrscherin der Reußen? Nicht einmal dieses Kabinett, in dem du dich niedergelassen hast, um dem Laster, dem Müßiggang und der Sünde zu frönen.«

»Damit du es weißt, Mönch –«, entrüstete sich die Zarin und sprang erregt auf, »solange ich die Geschicke dieses Landes lenke, wird das, wovon du sprichst, ein Hirngespinst bleiben. Kein Widersacher, und sei er auch noch so mächtig, wird es je wagen, Hand an Mütterchen Russland zu legen. Und selbst wenn, wird dieser Jemand der gerechten Strafe nicht entgehen. Niemand wird die Kühnheit besitzen, die geheiligten Rechte der Romanows infrage zu stellen, von nun an bis in Ewigkeit. Keine Macht der Welt wird je imstande sein, unsere geheiligte Muttererde zu entweihen oder dieses Kleinod, welches ich, Jekaterina, geschaffen habe, in ihren Besitz zu bringen. Diese Ländereien, dieses Schloss und vor allem dieses Zimmer, mein liebstes Domizil auf Erden – sie werden auf ewig russisch bleiben, compris[7]?«

Einmal in Rage, hatte Jekaterina, Herrscherin aller Reußen, sowohl ihre guten Manieren als auch ihre sie entgeistert anstarrende Entourage vergessen. Außer sich vor Empörung, stürzte sie schließlich ihren Tokaier hinunter, doch als sie sich wieder beruhigt hatte und ihr Blick denjenigen des Mönchs suchen wollte, war ihr Kontrahent bereits verschwunden.

Barbarossa[8]

Puschkin

(15.09.1941)

›Um 4 Uhr morgens haben deutsche Truppen, ohne Kriegserklärung und ohne irgendwelche Forderungen an die Sowjetunion gestellt zu haben, unser Land angegriffen. Sie haben an vielen Stellen unsere Grenzen überschritten und unsere Städte bombardiert. Wir werden unsere Pflicht tun. Der Feind wird vernichtet werden. Der Sieg wird unser sein.‹

Radioansprache des sowjetischen Außenministers

3

Puschkin, vormals Zarskoje Selo | frühmorgens

»Die Deutschen, Genosse Direktor!«, rief ihm seine Kollegin schon von Weitem zu. »Die faschistischen Invasoren, hören Sie nicht?«

Und ob er es hörte. Der Kustos[9] des Katharinenpalastes, knapp 30, schmallippig und bebrillt, senkte den Blick und fuhr sich mit den Handkuppen über die hohe Stirn. Bei dem Lärm, den die Granaten, Haubitzen und Mörser der Heeresgruppe Nord veranstalteten, platzte einem glatt das Trommelfell. Höchste Zeit, sein Heil in der Flucht zu suchen.

»Die Deutschen, Anatoli Michailowitsch, die Deutschen!«

Der Kustos seufzte. »Ich bin weder schwerhörig noch taub noch lebensmüde, Genossin«, versicherte er seiner Assistentin, einer bildhübschen, noch dazu äußerst begabten Kunsthistorikerin. »Das können Sie mir getrost glauben.«

»Aber warum … warum bringen Sie sich nicht in Sicherheit?«

»Und wer passt dann auf das Zimmer auf?«, ereiferte sich der Kustos, dem der Hemdkragen beinahe die Luft abschnürte, strich über die Empire-Kommode zu seiner Rechten und bedeutete den verbliebenen Bediensteten, das Möbelstück hinauszutragen. »Die Deutschen vielleicht?«

Die brünette Leningraderin, aufgrund ihrer Figur für eine Karriere als Balletttänzerin geradezu prädestiniert, schüttelte ratlos den Kopf. »Weiß ich nicht, Genosse«, flüsterte sie geknickt, den Geschützlärm der Panzergruppe 4 im Ohr, der mit jeder Minute, die sie hier vertrödelten, näher zu kommen schien. »Was ich allerdings weiß, ist, dass Sie alles getan haben, um dieses Zimmer vor größerem Schaden zu …«

Ein Geschoss, das unweit des Puschkindenkmals einschlug, ließ die Kunsthistorikerin jäh verstummen. Ganz anders der Konservator, den der Gefechtslärm offensichtlich kaltließ. »Das sagt sich so leicht, Genossin«, sinnierte er, augenscheinlich ohne jeden Sinn für die Gefahr, in der sie beide schwebten. Und murmelte betrübt: »Das Bernsteinzimmer, ausgerechnet das Bernsteinzimmer. Nicht auszudenken, was passiert, wenn es den Deutschen in die Hände fällt.«

»Sieht so aus, als müssten wir uns damit abfinden«, erwiderte die Kunsthistorikerin lapidar, machte eine weit ausholende Handbewegung und folgte dem Blick des Kustos, der sich von dem leer geräumten, mit Pappe beklebten Zimmer partout nicht losreißen konnte. »Seien wir ehrlich, Genosse: Was zu tun war, haben wir getan. Wir haben die Bernsteinsammlung verpackt, die Gobelins, das Sèvresporzellan. Die Fenster mit Brettern vernagelt, das Parkett mit Teppichen und Sand geschützt, einen Wassertank samt Feuerlöscher bereitgestellt – ich weiß nicht, was wir beide uns vorzuwerfen hätten.« Die zierliche Russin, über deren Madonnengesicht unter den Museumsbediensteten allerlei frivole Witze kursierten, trippelte nervös auf der Stelle. »Kopf hoch, Anatoli Michailowitsch«, redete sie dem in sich gekehrten Bernsteinexperten gut zu. »Wenn der Krieg vorbei ist, werden wir hier wieder Ordnung schaffen.«

Die Antwort war ein desillusioniertes Schnauben, und während der Kustos ein Bernsteinfragment betrachtete, das er soeben aufgehoben hatte, bildeten sich Sorgenfalten auf seiner Stirn. »Wenn es dann noch da ist, Anna Semjonowa«, flüsterte er, nachdem in unmittelbarer Nähe eine weitere Granate detoniert war. »Wenn es dann noch da ist.«

»Sie glauben doch nicht etwa, dass die Deutschen uns das antun werden?«

Die Lippen des anerkannten Fachmannes kräuselten sich, auf seinem Mund erschien ein sibyllinisches Lächeln. »Auszuschließen ist es jedenfalls nicht«, versetzte er in nachdenklichem Ton. »Wenn man bedenkt, was sich allein dieser Göring so alles unter den Nagel gerissen hat, werden die Nazis bezüglich des Bernsteinzimmers wohl kaum irgendwelche Skrupel haben.«

»Aber es war doch ein Geschenk, vom preußischen König an Zar …«

»Peter den Großen, ich weiß«, vollendete der Kustos, runzelte die Stirn und sah seine Assistentin amüsiert an. »Wie Sie sich sicher vorstellen können, habe ich meine Hausaufgaben gemacht.«

»Verzeihung, Genosse, ich wollte Sie nicht kränken.«

»Was heißt hier ›kränken‹, Anna Semjonowa«, warf der Angesprochene mit hintergründigem Schmunzeln ein. »Dafür sind doch wohl die Deutschen zuständig. Wie gesagt: Bedenkt man, welche Schätze den faschistischen Invasoren bis jetzt in die Hände gefallen sind, besteht kein Grund zur Annahme, dass sie vor dem achten Weltwunder haltmachen werden.«

»Und was …«, flüsterte die sichtlich betroffene Kunsthistorikerin, während sie der Kustos behutsam Richtung Ausgang bugsierte, »was wird dann geschehen?«

»Zunächst einmal, Anna Semjonowa, wird unser aller Führer, der Genosse Stalin, den Krieg gewinnen müssen. Keine leichte Aufgabe, wie die vergangenen Wochen gezeigt haben.«

»Und danach?«

»Für den Fall, dass diese Utopie Wirklichkeit werden wird, Genossin, gibt es im Grunde zwei Möglichkeiten.«

»Welche denn?«

»Entweder wir bekommen das Bernsteinzimmer unversehrt zurück«, erwiderte der Kustos, drehte sich um und bedachte den Ort, der ihm mehr bedeutete als alles andere auf der Welt, mit einem wehmütigen Blick, »oder wir müssen noch mal ganz von vorn anfangen.«

Daraufhin schloss er die Tür und eskortierte seine Assistentin zum Wagen.

Eins

4

Berlin-Mitte, Psychiatrische Klinik der Charité, Charitéplatz | 04.40 h

Im schlimmsten Fall, dachte er, werden sie dich irgendwo verscharren. Oder deinen Leichnam in die Spree werfen. Oder, um ihre Spur zu verwischen, irgendwo aufknüpfen. Der Einfachheit halber am besten gleich hier, an den Gitterstäben.

Oder vielleicht im Park?

Wann, wo und wie auch immer: Er würde ihnen einen Strich durch die Rechnung machen. Er würde etwas tun, womit niemand rechnete. Etwas Unerwartetes, Überraschendes – Kompromittierendes. Er, das in die Enge getriebene Opfer, würde ihre Pläne durchkreuzen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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