Operation Werwolf - Teufelspakt - Uwe Klausner - E-Book

Operation Werwolf - Teufelspakt E-Book

Uwe Klausner

3,0

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Serientäter gefasst, Mission erfüllt? Bei weitem nicht. Denn kaum hat Tom Sydow den »Werwolf von Berlin« zur Strecke gebracht, da taucht die Frage nach dessen Rolle bei Kriegsbeginn auf. Und das umso drängender, als Sydow herausfindet, dass der S-Bahn-Mörder Verbindungen zu SS-Kommandeuren besaß. Für Heydrich, den allmächtigen Chef des Sicherheitsapparats, ein Grund mehr, den unbequemen Ermittler mundtot zu machen, indem er Sydows Geliebte Mira Schultz entführen lässt. Kollaboration oder KZ-Haft für Mira. Sydow hat die Wahl.

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Seitenzahl: 266

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Uwe Klausner

Operation Werwolf – Teufelspakt

Kriminalroman

Zum Buch

Pakt mit dem HenkerSerientäter gefasst, Mission erfüllt? Bei weitem nicht. Denn kaum hat Tom von Sydow den »Werwolf von Berlin« zur Strecke gebracht, taucht die Frage nach dessen Rolle bei Kriegsbeginn auf. Und das umso drängender, als Sydow herausfindet, dass der S-Bahn-Mörder, ehemals Mitglied einer SS-Kommandoeinheit während des Polenfeldzugs, über exzellente Verbindungen verfügte, darunter auch zur Führungsriege der SS. Einer Einheit, deren Aufgabe darin bestand, hunderte von Zivilisten, allen voran jedoch die Juden, zu beseitigen. Das Brisante daran: Im Laufe der Ermittlungen fällt Sydow das Kriegstagebuch des Kommandos „Werwolf“ in die Hände, in dem sämtliche Verbrechen aufgelistet sind. Für Reinhard Heydrich, Chef der Gestapo und Himmlers rechte Hand, ein Grund mehr, den unbequemen Ermittler mundtot zu machen, indem er die Gestapo anweist, dessen Geliebte Mira Schultz zu entführen. Nun stellt sich nur noch eine Frage: Kollaboration oder KZ-Haft für Mira? Tom Sydow hat die Wahl.

Uwe Klausner wurde in Heidelberg geboren und wuchs dort auf. Sein Studium der Geschichte und Anglistik absolvierte er in Mannheim und Heidelberg, die damit verbundenen Auslandsaufenthalte an der University of Kent in Canterbury und an der University of Minnesota in Minneapolis/USA. Heute lebt Uwe Klausner mit seiner Familie in Bad Mergentheim. Neben seiner Tätigkeit als Autor hat er bereits mehrere Theaterstücke verfasst, darunter »Figaro – oder die Revolution frisst ihre Kinder«, »Prophet der letzten Tage«, »Mensch, Martin!« und »Anonymus«, ein Zweiakter über die Autorenschaft der Shakespeare-Dramen, der 2019 am Martin-Schleyer-Gymnasium in Lauda uraufgeführt wurde.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Landesarchiv_Baden-Wuerttemberg_Staatsarchiv_Freiburg_W_134_Nr._001497_Bild_1_(5-94486-1).jpg

ISBN 978-3-8392-7152-0

DER NS-SICHERHEITSAPPARAT

 

VIERTES BUCH Teufelspakt

»Die Nazi-Partei duldete keine kriminellen Banden neben sich. Sie machte Berlin zur Kommandozentrale von Verbrechen einer ganz neuen Dimension: der staatlich gedeckten Entwürdigung, Freiheitsberaubung, Ausplünderung und Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen.«

(Michael Bienert / Elke Linda Buchholz, Die Zwanziger Jahre in Berlin. Ein Wegweiser durch die Stadt, Berlin 2018, S. 255)

FIKTIVE CHARAKTERE

(alphabetisch, Teil I–IV)

Elsa Bruckmann, Schülerin

Paul Derpa, Revierleiter

Paul Hanke, Polizeibeamter

August Henschel, Justizoberrat

Sven Hinnerksen, Internist

Erich Kalinke, Kriminalassistent und Sydows rechte Hand

Hertha Krause alias Bijou, Animierdame im Tanz-Kabarett »Kakadu«

Max Jakubeit, Unterscharführer des SD der SS

Rudolf Lehmann, Kriminalhauptsekretär der Gestapo

Karl Lennert, Leiter des Sittendezernats

Emil Leschek, genannt Hantel-Emil, Türsteher im Tanz-Kabarett »Kakadu«

Brad Macintosh alias Mark Cameron, Redaktionsleiter der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin

Jacques Mannsdörfer, Pathologe

Jens Marquardt, Internist

Wilhelm Maschke, Streifenpolizist

Erna Mentzel, Hausverwalterin der Vehrenkamps

Hagen Mertz, Kriminalobersekretär der Gestapo

Eberhard Michalski, Kriminalassistent und stellvertretender Leiter der Spurensicherung

Adele Mürwitz, Pensionärin

Rudolf Novotny, Zuhälter

Adolf Peschke, Frührentner

Erna Pommerenke alias Tante Lola, Grande Dame der Berliner Halbwelt

Karl Prittwitz, Oberbahninspektor

Luise Stendhal, Vehrenkamps Schwester

Arndt Streckenbach, Verhörspezialist der Gestapo

Mira Schultz, Personalsachbearbeiterin beim RSHA

Friedbert Schultze-Maybach, Sydows Vorgesetzter und Leiter der Kriminalgruppe M der Kripo Berlin

Ava Schumann, Revue-Tänzerin

Tom von Sydow, Kommissar der Mordinspektion Berlin

Ida Varese, Ehefrau des italienischen Botschafters

Fritz-Dietlof Vehrenkamp, Korvettenkapitän

Vera Marie Vehrenkamp, seine zweite Frau

Immanuel von der Tann, Rechtsanwalt

Theodor Wattke, Leiter der Spurensicherung

Lutz Weigand, Revierleiter in Berlin-Steglitz

Bodo Wilmers, Chefarzt

Heinz Wischulke, Sanitätsgefreiter

REALE CHARAKTERE

(alphabetisch)

Reinhard Heydrich (1905-1942), Chef des RSHA

Heinrich Himmler (1900-1945), Reichsführer-SS, Reichsinnenminister und Chef der Deutschen Polizei

PROLOG SAMSTAG, 5.7.1941

1

Berlin-Mitte, Dircksenstraße

08:16 Uhr

»Geben Sie es doch zu, Sydow. Sie stecken ziemlich in der Klemme. Also ganz ehrlich, ich wollte nicht in Ihrer Haut stecken.«

Nichts ging mehr.

Wie wahr.

So sehr er sich dagegen sträubte, die Tatsachen sprachen für sich.

Der Finsterling hinter dem Steuer, den Rangabzeichen zufolge Untersturmführer der SS, dazu die motorisierten Leibwächter, die ihn mit Argusaugen musterten, und dann auch noch der Zeremonienmeister des Schreckens, dessen Stimme vor Hohn aus den Fugen geriet. Eine Stimme, die er aus Tausenden heraushören konnte – im Extremfall schrill, zumeist jedoch hart wie Stahl.

Die Stimme eines Mannes, der kein Erbarmen kannte.

Erbarmen, Gnade, Mitgefühl. Im Vokabular des SS-Gruppenführers kamen die Begriffe nicht vor. Wie auch. Besaß er doch keine Skrupel, auch nicht einen Hauch davon. Wehe denjenigen, die ihm in die Quere kamen, ihr Leben hing am seidenen Faden. So ihnen denn Zeit blieb, sich daran zu klammern.

Allein, den Mut hatten nur die wenigsten. Und wenn doch, fand er Mittel und Wege, seine Widersacher geräuschlos aus dem Weg zu räumen.

Egal, wie man es drehte oder wendete, Tom Sydow hatte denkbar schlechte Karten. Unnütz, sich überflüssigen Illusionen hinzugeben.

Vier gegen einen.

Schöne Aussichten, Herr Kommissar.

Da blieb nur eins, die Flucht nach vorn. Und das hieß, er musste aufs Ganze gehen. Jetzt oder nie, ohne Rücksicht auf Verluste. Auch wenn er dabei auf der Strecke blieb.

Anders wusste er sich nicht zu helfen.

»Lassen Sie die Waffe stecken, das bringt doch nichts.«

Auch wieder wahr.

Er musste sich etwas einfallen lassen. Dringend. Miras Leben stand auf dem Spiel. Das bedeutete, reden führte zu nichts.

Er musste handeln.

Jetzt gleich.

»Die geringste Bewegung, und Sie sind ein toter Mann. Ein Prachtkerl von Polizist unter der Erde, man stelle sich das mal vor. Ihr Betthäschen wäre untröstlich – woher so schnell Ersatz nehmen – und nicht stehlen!«

»Wie mitfühlend von Ihnen, mir kommen die Tränen.«

Kein Zweifel, die Operation Werwolf stand auf der Kippe. Und er, Tom Sydow, stand mit einem Bein im Grab. So weit der momentane Stand der Dinge. All die Anstrengungen der vergangenen drei Tage, sie hatten ihn seinem Ziel nicht nähergebracht. War doch der Preis, den er für die Enttarnung des S-Bahn-Mörders zahlen musste, sehr hoch gewesen.

Zu hoch, um ganz ehrlich zu sein.

Der Serienmörder gefasst, die Jagd nach dem Phantom beendet, der Mitwisser im Hintergrund enttarnt. Na, wer sagte es denn. Wenigstens das hatten der Dicke und er erreicht.

Fünf Opfer in nur wenigen Monaten, und das sechste, eine 17-Jährige aus Karlshorst, dem Tod nur um Haaresbreite entronnen. Der spektakulärste Fall seit Langem, in der Kriminalhistorie ohne Beispiel. Und was noch schlimmer war, die Kripo hatte eine denkbar schlechte Figur abgegeben, hatte sich bis auf die Knochen blamiert. Hätte es da nicht Kalinke, seines Zeichens Kriminalassistent bei der Mordinspektion Berlin, und seinen blaublütigen Freund und Kollegen nicht gegeben. Ein, wenngleich spärlicher, Trost für ihn. Denn damit, das kristallisierte sich immer mehr heraus, war das Duell mit der Gestapo noch nicht ausgestanden.

Im Gegenteil.

Er hatte sich zu früh gefreut.

Der Schlamassel, er hatte gerade erst begonnen. Und ein Ende war längst noch nicht in Sicht.

Hopp oder Top.

Darauf lief es hinaus.

»Warum so wortkarg, Herr Kollege? Ihnen hat es doch nicht etwa die Sprache verschlagen?«

Aber so war das nun mal. Wer seine Gegner unterschätzte, durfte sich nicht wundern, wenn er den Kürzeren zog. Speziell, wenn es sich um die Bluthunde von der Gestapo handelte. Ein falsches Wort, und die Schlinge, die man um den Hals trug, zog sich zu.

Immer fester, bis einem am Ende die Luft ausging.

Bis sie einen dort hatten, wo sie wollten. Entweder am Galgen oder in einem Kellerverlies in der Prinz-Albrecht-Straße 8, je nachdem.

Folterkeller oder Plötze, er hatte die Wahl.

»Keineswegs, Gruppenführer. Man macht sich eben so seine Gedanken, das ist alles.«

»Freut mich zu hören. Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen, wenn man fragen darf?«

Sydow blieb die Antwort schuldig. Die Luft im Innern des Mercedes-Benz W 142 mit dem Kennzeichen SS-3 war zum Schneiden dick, und wie um seine Gemütslage zu illustrieren, fegte ein Unwetter über den menschenleeren Alexanderplatz hinweg. Hagelkörner so groß wie Projektile prasselten vom teerfarbenen Himmel, im Duett mit wild zuckenden Blitzbündeln, die sich wie Phosphorgeschosse über dem Dächermeer entluden. Fast schien es, als nehme das Inferno kein Ende, wohin man auch blickte, das Gewitter schien überall gleichzeitig zu sein. Je länger es anhielt, desto zahlreicher die explosionsartigen Einschläge, desto lauter das ohrenbetäubende Grollen, vergleichbar mit dem Motorengeräusch von Bombern, die ihre todbringende Fracht über der Stadt entluden. Schier endlos auch die Regenschleier, die wie eine Sturzwoge aus dem Nichts heranbrandeten, schier übermächtig der orkanartige Wind, der alles, was sich ihm in den Weg stellte, beiseite zu fegen schien. »Zur Sache, Gruppenführer. Worauf wollen Sie hinaus?«

Der Mann, der wie kaum ein anderer Angst und Schrecken verbreitete, griente amüsiert, beugte sich nach vorn zum Beifahrersitz und flüsterte in mephistophelischer Manier: »Auf die Gefahr, mich zu wiederholen, Herr Kommissar: Ich fürchte, Ihnen wird nichts anderes übrigbleiben, als die in Ihrem Besitz befindlichen Dokumente rauszurücken. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, machen wir uns nichts vor. Andernfalls, das sei in aller Deutlichkeit gesagt, sehe ich mich gezwungen, Ihrem Lebensglück ein jähes Ende zu bereiten.«

Pause.

Ein kurzes Innehalten, um zu zeigen, wie ernst es Heydrich mit seiner Drohung war. Danach die Pointe, nahezu im Flüsterton: »Mit anderen Worten, sollten Sie sich weigern, mit mir zu kooperieren, werde ich dafür sorgen, dass Ihre Gespielin für immer aus dem Verkehr gezogen wird. KZ Sachsenhausen oder eine Verurteilung auf Bewährung, Sie haben es in der Hand.« Der Uniformierte im Fond kehrte zu seinem normalen Tonfall zurück, die Gesichtszüge, in denen die nach unten abknickende Nase dominierte, wie in geschliffenen Granit gehauen. »Reicht das, Herr Kommissar, oder muss ich etwa noch deutlicher werden?«

»Mira trifft keine Schuld, das wissen Sie so gut wie ich.«

Reinhard Heydrich, Chef des RSHA und Himmlers rechte Hand, lachte gehässig auf. »Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, was Sie unter dem Verrat von Staatsgeheimnissen verstehen, von Sydow, aber was mich betrifft, reichen die mir vorliegenden Informationen aus, um Fräulein … Wie lautete doch gleich der werte Name?«

»Mira Schultz.«

»Genau.« Sichtlich entspannt ließ sich Heydrich in den mit Rosshaar gepolsterten Rücksitz sinken, griff nach seinem silbernen Zigarettenetui und zündete sich eine weitere Juno ohne Filter an, der Tonfall so gleichmütig, als handele es sich um einen Plausch unter Freunden. »Sie haben Geschmack, Herr Kommissar – mein Kompliment!«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Nun ja, nach allem, was man so hört, hat die Dame einiges zu bieten. Zumindest optisch, wenn ich das mal so sagen darf. Dumm nur, dass Sie nichts mehr davon haben werden. Denn wie es aussieht, sind die Tage der Verräterin gezählt. Es sei denn, Sie nehmen Vernunft an. Sollte dies der Fall sein, wäre ich bereit, ein gutes Wort für sie einzulegen. Man ist ja schließlich kein Unmensch, eine Hand wäscht bekanntlich die andere. Und Ihrem Glück im Wege stehen möchte ich auch nicht, wo kämen wir da hin.«

»Die Schuld liegt bei mir, wenn ich es Ihnen doch sage!«

»Schuld oder nicht, Ihr Betthäschen befindet sich in Haft. Für wie lange, hängt von Ihrer Kooperationsbereitschaft ab. Und darum nochmals, zum Mitschreiben: Entweder Sie springen über Ihren Schatten und ringen sich dazu durch, mir das in Ihrem Besitz befindliche Kriegstagebuch der Einsatzgruppe Werwolf vom September ’39 zu übergeben, oder es bleibt Ihnen nichts weiter übrig, als sich eine andere Gespielin zu suchen. Ein wenig Abwechslung kann bekanntlich nicht schaden, oder was meinen Sie dazu?«

»Mira hat nichts mit der Sache zu tun, mehr kann ich dazu nicht sagen.«

»Um es drastisch zu formulieren, Herr Kommissar: Wer hier wen vor wessen Karren gespannt hat, interessiert mich nicht im Geringsten. Fakt ist, Fräulein Schultz wurde dabei beobachtet, als sie im Archivraum zugange war, um die Personalakte Ihres Vorgesetzten abzulichten. Mit dem Sie, wie jedermann im Präsidium weiß, eine innige Abneigung verbindet. Beziehungsweise verband. Falls Sie verstehen, was ich damit andeuten möchte.«

Und ob Sydow verstand.

Der Wink mit dem Zaunpfahl war deutlich genug.

Heydrichs Schnüffler waren bekanntlich überall. Vor allem dort, wo man sie nicht vermutete.

»Damit wir uns nicht falsch verstehen, Sydow: Ich persönlich weine Schultze-Maybach keine Träne nach. Was diesen Speichellecker betrifft, halten sich meine Emotionen in Grenzen. Sie wissen ja, man liebt den Verrat, aber nicht den Verräter.«

»Julius Cäsar.«

»Eine weitere Gemeinsamkeit, wie mich das freut!«

»Die worin bestünde?«

»Ich will es mal so sagen: Neun Jahre auf einem humanistischen Gymnasium hinterlassen ihre Spuren.«

»Aber nicht bei jedem, wie wir beide wissen.«

»Chapeau, Herr Kommissar. So sehr Sie darauf bedacht waren, mir ins Handwerk zu pfuschen – auf den Mund gefallen sind Sie nicht. Ich weiß, Sie werden mir nicht glauben, aber was den Umgang mit Subalternen betrifft, lege ich auf Direktheit großen Wert.«

»Wenn Sie es sagen, wird es ja wohl stimmen, Gruppenführer«, gab Sydow mit unbewegter Miene zurück und ließ seinen Kontrahenten, dessen Gesichtspartie im Rückspiegel wie eine Totenmaske anmutete, auch nicht eine Sekunde aus den Augen. Insgeheim wurde Heydrich »Die blonde Bestie« genannt, nur einer von mehreren Spitznamen, die man dem Henker von Himmlers Gnaden verpasst hatte. Ob zutreffend oder nicht, allein schon der Name verbreitete Furcht und Schrecken. Reinhard Tristan Eugen Heydrich, SS-Gruppenführer, General der Polizei und Leiter des Reichssicherheitshauptamts, ein Vollstrecker so recht nach dem Geschmack des Reichsführers-SS, als dessen Nachfolger er bereits jetzt, da Himmler gerade einmal 40 war, hinter vorgehaltener Hand gehandelt wurde. Entsprach der 37-Jährige doch genau dem Bild, das man sich von einem Nazi-Schergen machte. Blonder Kurzhaarschnitt, überdurchschnittlich groß, athletischer Körperbau, sportversessen bis ins Extrem und ohne jegliche Skrupel. Auch und gerade, wenn es um die Ausschaltung von missliebigen Personen ging. Der wölfische Blick, mit dem er so wie jetzt auf Beute lauerte, nicht zu vergessen. »Wer bin ich, der ich Ihrem Wort misstrauen würde!«

Die Antwort bestand aus einem Lächeln, das in amüsiertes Schnauben mündete: »Wenn wir gerade von Subalternen reden, Herr Kommissar: Wussten Sie schon, dass Kriminalobersekretär Mertz gekidnappt wurde? Auf offener Straße, ohne Spuren zu hinterlassen?«

»Und wieso fragen Sie das ausgerechnet mich?«

Reinhard Heydrich lachte schrill. »Jetzt kommen Sie, junger Mann: Mir können Sie doch nichts vormachen. Dass Mertz in der Galerie Ihrer Widersacher einen Ehrenplatz einnimmt – oder einnahm, je nachdem, auf wessen Konto die Entführung geht –, hat sich im Präsidium herumgesprochen. Und nicht nur dort, sondern bis zu mir.«

»Ja, wenn das so ist, wissen Sie ja Bescheid.«

»Gar nichts weiß ich, das ist ja gerade das Problem!«, zischte Heydrich, die Falsettstimme kurz vor dem Überschlagen, wie die stoßweise hervorgepresste Atemluft bewies. »Was mich zu der Frage bringt, wer ein Interesse daran haben könnte, einen Agenten der Gestapo zu liquidieren.«

»Ihn zu liquidieren? Meinen Sie das im Ernst?«

»Ausnahmsweise schon, Herr Kollege.«

Sydow reagierte mit einem Schulterzucken. »So leid es mir tut, in dem Punkt bin ich überfragt.«

»Alles, was Recht ist, aber das kaufe ich Ihnen nicht ab.«

»So gern ich darüber Bescheid wüsste, was die Causa Mertz betrifft, muss ich leider passen.«

»Wirklich?«

Sydow deutete ein Nicken an. Wie Tante Lola, ihres Zeichens ungekrönte Königin des Milieus, mit dem verhassten Exekutor umgehen würde, darüber gab er sich keinen Illusionen hin. Mertz hatte drei ihrer engsten Weggefährten auf dem Gewissen, allemal ein Grund, es ihm auf Heller und Pfennig heimzuzahlen. »Wirklich.«

»Und da wäre noch etwas.«

»Ich höre.«

»Es heißt, der Werwolf habe einen Komplizen gehabt.«

»So, hat er das.«

Olbricht.

Er hätte es sich denken können.

An Maulwürfen hatte es noch nie gemangelt, am seltensten unter den Kollegen.

»Haben Sie eine Ahnung, wer alles in meinem Sold steht, Herr Kommissar – Sie würden Bauklötze staunen, glauben Sie mir!«

»Das wohl weniger, Gruppenführer. Ich bin Realist.« Im Bestreben, seine Gedanken zu ordnen, warf Sydow einen Blick nach draußen. Das Unwetter hatte an Heftigkeit noch zugenommen, und so weit das Auge reichte, waren die Straßen mit einer dicken Schicht aus Hagelkörnern übersät. Selbst die S-Bahn nach Erkner, die mit quietschenden Rädern über das Viadukt ratterte, war nur in Umrissen zu erkennen, von den Passanten, die sich im Laufschritt in den Eingang des U-Bahnhofs flüchteten, nicht zu reden. Wohin man blickte, war der Platz mit knöcheltiefen Pfützen übersät, ein Ende der Sintflut, welche die Gullys ringsum zum Überlaufen brachte, nicht in Sicht.

Land unter.

Das passte wie die Faust aus Auge.

»Beruhigend zu wissen, Herr Kommissar. Um ganz ehrlich zu sein, so hatte ich Sie auch eingeschätzt.«

Eins stand fest, auch wenn sich Sydow mit Macht dagegen sträubte. Er stand mit dem Rücken zur Wand. Wieder mal. Die Schlussfolgerung, die sich daraus ergab, lag auf der Hand. Entweder Sydow ging auf das Angebot ein, oder das Leben von Mira war verwirkt. Ein Dilemma, in das er durch eigenes Zutun hineingeraten war. War er es doch gewesen, dem die Sachbearbeiterin in der Personalabteilung der SS ihre Festnahme durch die Gestapo zu verdanken hatte. Gerade Letztere war bekannt dafür, mit Abtrünnigen nicht viel Federlesens zu machen. Und das mithilfe von Methoden, über die Sydow jetzt, wo ihn Schuldgefühle peinigten, lieber nicht weiter nachdenken wollte. Würde Mira etwas zustoßen, er könnte sich das nicht verzeihen.

Allein das zählte momentan für ihn.

Und sonst gar nichts.

»Wie sieht es aus, Herr Kommissar – haben Sie sich entschieden?«

Als ob es da noch etwas zu überlegen gäbe.

Miras Leben hing am seidenen Faden, und er, Tom Sydow, trug die Verantwortung dafür. So sehr ihm dies auch zusetzte, an der Erkenntnis führte kein Weg vorbei.

Von dem, was er für sie empfand, ganz abgesehen.

»Ich weiß zwar nicht, was es da noch nachzudenken gibt«, hakte Heydrich mit dem Duktus eines wohlwollenden Patriarchen nach, eine Rolle, die ihm auf den Leib geschneidert war. Hätte Sydow nicht gewusst, mit wem er es zu tun hatte, er wäre auf die Schmierenkomödie hereingefallen. »Aber weil Sie es sind, will ich mal nicht so sein. Was tut man nicht alles, um hilfsbedürftigen Kollegen unter die Arme zu greifen. Also: Ich gebe Ihnen Bedenkzeit bis Mitternacht, mehr aber nicht. Spätestens dann möchte ich wissen, woran ich mit Ihnen bin.«

»Als ob Sie das nicht längst schon wüssten.«

»Wer nicht für mich ist, ist gegen mich, Sydow – der Worte sind genug gewechselt!«

»Ganz wie Sie meinen, Gruppenführer.«

»Und noch etwas, Herr Kommissar: Zu niemandem ein Wort, weder gegenüber den Kollegen noch gegenüber Dritten. Die Sache bleibt unter uns, ich verlasse mich auf Sie. Und was die Details der Operation Werwolf betrifft, weise ich Sie darauf hin, dass die Erkenntnisse als geheime Reichssache zu betrachten sind. Und zwar samt und sonders, damit wir nicht aneinander vorbeireden. Kein Wort von dem, worüber im Zuge der Ermittlungen gesprochen wurde, darf nach außen dringen, unter gar keinen Umständen. Das ist ein Befehl, Sydow, haben wir uns verstanden? Gesetzt den Fall, Sie setzen sich über meine Direktiven hinweg, sehe ich mich gezwungen, Sie und Ihren Kollegen zur Verantwortung zu ziehen. Was das zu bedeuten hat, können Sie sich ausmalen, Sie sind ja schließlich kein Anfänger mehr. Noch Fragen, Herr Kommissar?«

Sydow verneinte.

»Da fällt mir gerade ein, um unnötiges Aufsehen zu vermeiden, halte ich es für das Beste, dass Sie so tun, als sei nichts geschehen. Mit anderen Worten, von meiner Seite aus spricht nichts dagegen, wenn Sie Ihren Dienst bei der Kripo wieder aufnehmen. Business as usual, wie der Engländer sagt. Alles andere würde für unnötiges Aufsehen sorgen. Und zu niemandem ein Wort, ich kann es nur immer wieder betonen. Ich wiederhole: Entweder Sie halten sich an unsere Vereinbarung oder Sie laufen Gefahr, dass Fräulein Schultz von der Bildfläche verschwindet. Für immer. Und dass Sie und Ihr Kollege Ihres Lebens nicht mehr froh werden, um es moderat auszudrücken.« Die Juno zwischen Mittel- und Zeigefinger geklemmt, blies Heydrich den Zigarettenrauch an die Decke, breitete die Arme aus und sagte: »Ein fairer Deal, oder was meint der Herr Kriminalkommissar dazu?«

FAMILIENEHRE

KRIEGSTAGEBUCH DES OBERKOMMANDOS DER WEHRMACHT

5. Juli 1941

Heeresgruppe Süd: Nach wie vor zähe Nachhutkämpfe vor Panzergruppe 1 und 6. Armee, jedoch vermehrte Anzeichen für örtliches Nachlassen des Widerstandswillens und der feindlichen Widerstandskraft. Klarheit über Verhalten des Feindes im Großen (Rückzug hinter Dnjepr oder erneuter Versuch, sich in Stellungsfront Dnjestr-Nowgorod-Wolynski erneut zu schlagen) ist noch nicht gewonnen, wenn auch Anzeichen für letzteres Verhalten vorhanden sind.

Heeresgruppe Mitte: Bei 4. Panzerarmee harte Kämpfe um Brückenköpfe über Dnjepr und obere Düna. Bei 2. und 9. Armee vereinzelte Schießereien mit Versprengten im Hintergelände.

Heeresgruppe Nord: Trotz starker feindlicher Angriffe mit Panzerwagen, Artillerie und Kavallerie hat Panzergruppe 4 Brückenkopf Ostrow weiterhin verstärkt und alle Angriffe abgewiesen. Nach 15-stündigem Kampf wurde die Grenzstellung an Straße Dünaburg-Ostrow unter Ausschaltung von über 20 Bunkern durchbrochen.

2

Berlin-Dahlem, Hittorfstraße

08:46 Uhr

»Du hier, heute schon?«, schnurrte sie devot, behauchte die opalfarbenen Fingernägel und bot ihm huldvoll die Wange dar. Die Überraschung war perfekt, und wie um das Zucken der geschminkten Lippenpartie zu verbergen, wandte sie den Kopf nach erledigter Pflicht zur Seite.

Dieser Mund, kirschrot und verlockend, er zog ihn unweigerlich in seinen Bann.

Auch jetzt, wo ihr Tod beschlossene Sache war.

Aber wozu sich den Kopf zerbrechen, dazu bestand kein Grund. Sie hatte es darauf angelegt, und um ganz ehrlich zu sein, sie bekam, was sie verdiente. In solchen Momenten gab es für ihn nur eins, nämlich einen Schlussstrich unter die letzten zwei Jahre zu ziehen. Verglichen mit der blonden Venus, die sich auf der Chaiselongue aus weinroten Samtbezügen räkelte, hatte er noch einen Funken Anstand im Leib. Das war er der Familienehre schuldig. Sie hatte sich einen Spaß daraus gemacht, ihm Hörner aufzusetzen, hatte ihn gedemütigt, wo sie nur konnte, hatte den Namen seiner Familie in den Dreck gezogen. Doch damit würde sie nicht ungestraft davonkommen. Die tiefe Schmach musste getilgt werden, sonst hätte er nie mehr in einen Spiegel schauen können.

Er würde es der Nymphe heimzahlen.

Und darauf pfeifen, ob er im Recht war oder nicht. Es war an der Zeit, das leidige Kapitel zu beenden. Ein für alle Mal. Ihr zu verzeihen, es wäre das Falscheste, was er hätte tun können.

Jetzt oder nie, er hatte es in der Hand.

Und was die Konsequenzen betraf, die ihm drohten, da machte er sich keinen Kopf. Passieren würde so gut wie nichts, davon war er überzeugt. Alles halb so wild, an ihn würden sie sich nicht herantrauen. Ein paar Tage Arrest, die er absitzen musste, bis sich die Gemüter wieder beruhigt hatten, ein bisschen schmutzige Wäsche, die fast schon routinemäßig gewaschen werden würde, die eine oder andere Vernehmung, um den Schein zu wahren, hier ginge es mit rechten Dingen zu. Viel mehr hatte er nicht zu befürchten, von einer Haftstrafe, in seinen Augen geradezu aberwitzig, nicht zu reden. Er besaß Verbindungen, von denen andere in seiner Lage nur träumen konnten, bis hinein in die höchsten Kreise, eine Versicherung ohne Police.

Auch das ein Vorteil, vom dem das Luder, das seinen Namen trug, nicht die geringste Ahnung besaß.

Blieb also nur, das bis ins Detail ausgeklügelte Vorhaben in die Tat umzusetzen. Die Vergangenheit forderte ihren Tribut. Hier und heute, in weniger als fünf Minuten.

Die Rechnung musste beglichen werden.

Auf Heller und Pfennig.

Erst dann konnte er wieder aufatmen.

»Ich merke schon, der Herr des Hauses konnte es nicht abwarten.« Auch noch ironisch werden, das sah ihr ähnlich. An Chuzpe, die vor nichts und niemandem haltmachte, hatte es ihr noch nie gemangelt. Frei nach Schnauze, wie in Neukölln üblich. Auch wenn sie einen auf Dame von Welt machte, die Berliner Göre in ihr war nicht totzukriegen. »Ich muss schon sagen, du bist immer für eine Überraschung gut. Vor heute Abend hatte ich nicht mit dir gerechnet!«

Die Freude ist ganz auf meiner Seite.

Und wie es sich gehört, habe ich auch eine Überraschung für dich parat.

Ein Präsent, das deiner würdig ist.

»Wie heißt es doch so schön: Wo die Liebe hinfällt, bleibt sie hängen.« Er hatte sie aus der Gosse gezogen, hatte sie mit Aufmerksamkeiten und Präsenten überhäuft, ihr ein Leben ermöglicht, das Mädchen aus ihrem Kiez verwehrt bleiben würde. Hatte Einwände leichtfertig beiseite gewischt, mit seinem Vater gebrochen und in Kauf genommen, dass sich die Offizierskollegen hinter seinem Rücken die Mäuler zerrissen. Er hatte ein Landhaus in bevorzugter Lage gekauft, des Weiteren eine Jagdhütte im Oderbruch, für die romantischen Stunden zu zweit. Hatte sich ihretwegen bis über beide Ohren verschuldet, der Dirne die Wünsche von den Augen abgelesen, ihr ein Leben ermöglicht, das der Gattin eines Parteibonzen würdig gewesen wäre.

Krimsekt statt Ersatzkaffee, Kaviar statt Krautsuppe. Und das alles nur, um ein Flittchen bei Laune zu halten, für das die Strafe, die ihm zuteilwurde, noch milde erschien.

Kaum zu glauben, aber wahr. Selbst jetzt, zwei Jahre nach Beginn des Krieges, konnte das Luder kontinuierlich aus dem Vollen schöpfen.

Doch damit war es jetzt vorbei.

Und zwar endgültig.

»Ankomme am 5.7. um 19.30 Uhr abends auf Gleis C Anhalter Bahnhof.

Madame erinnern sich richtig.

Chapeau.

Der erste Urlaub seit über einem Jahr, bewilligt von Raeder höchstpersönlich, in Anerkennung seiner Verdienste im Seekrieg gegen die Briten. Als alter Hase im Nachrichtendienst der Marine, wo er für die Feindaufklärung im Atlantik zuständig war, hatte er den Abstecher in die Heimat auch verdient. Bereits mit 18 war er als Kadett zur See gefahren, vor nahezu zwei Jahrzehnten, als seine Gattin in spe gerade Laufen lernte. Wobei ihm das Wort »Gattin« wie Hohn in den Ohren klang, und das nicht erst seit heute, wie ihm auf schmerzliche Weise bewusst geworden war. »Was soll’s, Vera – Schwamm drüber! Trautes Heim, Glück allein, heißt es nicht so?«

Die Circe auf dem Kanapee, aufreizender Blick, makellos reine Haut, blond onduliert und mit einem Morgenmantel aus japanischer Seide bekleidet, der ihre Konturen in das gewünschte Licht rückte, kicherte lasziv in sich hinein. »Ich muss doch sehr bitten, Herr Korvettenkapitän«, schnurrte sie, offenbar nicht willens, ihre wie hingehaucht wirkende Position zu ändern. »Wer denkt denn an so was, um diese Zeit!«

»Du scherzt, meine Liebe«, erwiderte er galant, schenkte sich einen Bourbon mit Soda ein und trat ans Panoramafenster des Salons, um einen Blick in den weitläufigen Garten zu werfen. Ihn umzugestalten und mit einem Teepavillon samt Fischteich und Dekor im japanischen Stil zu versehen, auch das hatte ihn eine Stange Geld gekostet. Vom Porsche 64 in der Garage, ihrem neuesten Spielzeug, nicht zu reden. »So eine Bahnreise ist nicht ohne, ich könnte mir weiß Gott etwas Schöneres vorstellen!«

»Und das wäre, oh du mein wackerer Krieger?«

Allein schon die Frage, bei der ihn die kalte Wut packte, grenzte ans Absurde. Seit gestern Abend um 20.30 Uhr war er definitiv im Bilde, die Stunde der Wahrheit hatte unweigerlich geschlagen. Einen Weg zurück würde es nicht geben, weder für ihn, der er Gefahr lief, seine Karriere zu ruinieren, noch für das Miststück, das sich einbildete, es könne ihn nach Belieben hinters Licht führen. Denn wer nahm es denn schon ohne Gemütsbewegung hin, wenn er erfuhr, dass es ein hergelaufenes Flittchen geschafft hatte, ihn nach allen Regeln der Kunst an der Nase herumzuführen?

Doch wohl kein Mensch, oder?

»Du bist ja so still – irgendwas nicht in Ordnung?«, ließ sich Veras sirenenhafte Stimme vernehmen, eine Spur unsicherer als zuvor. »Lust auf ein Glas Champagner, zur Feier des Tages?«

»Hervorragende Idee«, gab er mit vorgetäuschter Heiterkeit zurück, ausgerechnet er, der nichts mehr hasste, als wenn man mit verdeckten Karten spielte. Dann trat er neben den Sektkübel, der griffbereit neben der Chaiselongue aus Mahagoni stand, hangelte eine Flasche Laurent Perrier Jahrgang 1815 daraus hervor, die er sich während des Frankreichfeldzugs unter den Nagel gerissen hatte, und entkorkte sie. Ein Schluck in Ehren konnte jetzt nicht schaden, und sei es nur, um die peinigenden Gedanken zu verscheuchen. »Santé, meine Liebe, auf unser Wiedersehen!«

Der feuchtglänzende Schmollmund, der sich ihm entgegenreckte, der Duft nach Chanel Nummer fünf – ein Mitbringsel aus Paris, wie konnte es anders sein –, die anthrazitfarbenen, fast mandelförmigen Augen, dieser spöttische, wenngleich immer noch arglose Blick, all das ließ ihn erstaunlicherweise kalt.

Schluss mit der Tändelei.

Der Augenblick der Wahrheit war gekommen.

»Auf Ihr Spezielles, Herr Korvettenkapitän – Santé.«

Und auf dein Ableben, das sollte man dazusagen.

Je eher ich dich los bin, desto besser.

3

Berlin-Tegel, Strafgefängnis in der Seidelstraße

09:10 Uhr

Eine Zelle mit knapp sechs Quadratmetern, die Einrichtung karg, um nicht zu sagen schäbig, bestehend aus Pritsche, Stuhl und Tisch, wurmstichig und mit den Initialen ihrer Vorgängerinnen versehen. Ein Waschbecken, das nach faulen Eiern roch und vor Rostflecken nur so strotzte. Der bloße Anblick des Abortkübels, und es drehte ihr sofort den Magen um. Und eine Glühbirne an der Decke, wo sich ein Spinnennetz ans nächste reihte, eine Szenerie wie aus einem Gruselfilm der 20er.

Endstation Berlin-Tegel.

Das war es dann wohl gewesen.

Die Arme fest um die Knie geschlungen, kauerte sie auf der stählernen Pritsche, die sich unterhalb des vergitterten Bogenfensters befand. Das Licht an der Decke war ausgeschaltet, und während sie wie betäubt nach draußen lauschte, wo sich ein Unwetter biblischen Ausmaßes entlud, wirbelten ihr die Bilder von gestern Nachmittag durch den Sinn. Merkwürdig, aber je länger sie über die Begegnung mit Tom im Café Wintergarten nachdachte, desto mehr gewann sie den Eindruck, als sei das alles mehrere Tage, wenn nicht gar Wochen oder bereits Monate her. Doch so sehr sie versuchte, das Geschehene beiseitezuschieben, die Erinnerung hatte sie fest im Griff. Die konspirative Begegnung, das Durchforsten der Aktenbestände im Archiv, die brisanten Informationen, geeignet, ihr und vor allem Tom auch noch die letzten Illusionen zu rauben, und zu guter Letzt auch noch die Tatsache, dass sie sich dazu hinreißen ließ, die Personalakte seines Vorgesetzten abzulichten. Es war ein Fehler gewesen, das zu tun, ein nicht wiedergutzumachender, geradezu anfängerhafter Fehler. Wäre er ihr nicht unterlaufen, mit ein wenig Glück wäre sie imstande gewesen, den Greifern von der Gestapo die Hucke vollzulügen. Doch geschehen war nun einmal geschehen, der Schlamassel, in dem sie steckte, perfekt.

Endstation Tegel.

Und was kam danach?

Davon abgesehen, die Lehren aus dem Desaster lagen auf der Hand. Besser, man hielt sich aus allem raus, ging auf Nummer sicher und vermied es tunlichst, in Schwierigkeiten zu geraten.

Dann war man aus dem Schneider.

So gut wie jedenfalls.

Und vermied es, ins Visier der Gestapo zu geraten.

Dumm nur, dass sie nicht der Typ war, der den Weg des geringsten Widerstandes ging. Das hatte sie mit ihrem Ex gemeinsam. Es half alles nichts, manchmal musste man einfach Farbe bekennen. Und tun, was man unter den gegebenen Umständen für richtig hielt. Hätte sie mit dem Daumen nach unten gezeigt, als es darum ging, für Tom die Kohlen aus dem Feuer zu holen, die Fahndung nach dem Werwolf wäre im Sand verlaufen.

Für Letzteren ein Signal, die Mordserie fortzusetzen, für die Kripo eine Blamage sondergleichen.

Den Blick auf die Wand aus grüner Ölfarbe geheftet, wo es kaum noch intakte Stellen gab, stieß Mira einen gedämpften Seufzer aus. Sich mit der Gestapo anzulegen, Tom hatte wirklich Nerven. Oder er wusste nicht, was er tat, was der Wahrheit vermutlich näherkam. Mit dem Kopf durch die Wand, koste es, was es wolle, ohne Rücksicht auf Verluste. Das sah diesem Sturkopf ähnlich. Jeder andere im Präsidium hätte vermutlich das Handtuch geworfen oder zuallererst an sich oder das Weiterkommen auf der Karriereleiter gedacht. Nicht so Tom Sydow, stets mit von der Partie, wenn es darum ging, gegen den Strom zu schwimmen oder sich mit Verve um Kopf und Kragen zu reden. Der förmlich danach lechzte, sich mit seinem Vorgesetzten oder der Gestapo oder wem auch immer zu überwerfen. Der sich einen Teufel darum scherte, wen er sich dabei zum Todfeind machte.

Selbst dann nicht, wenn er Reinhard Heydrich hieß.

Und die Mittel besaß, sie und ihn auf Nimmerwiedersehen verschwinden zu lassen.

Dabei wusste sie nicht einmal, worum es ging. Und genau darin bestand das Problem. Sie hatte keinen Schimmer, was Tom vorhatte, sie wusste nicht, was er sich von seinem Vorhaben versprach, welche Erfolgschancen er sich ausrechnete oder ob er sich dessen bewusst war, in welche Bredouille er sich begab.

So er denn überhaupt noch am Leben war.

Aber daran wollte sie jetzt, wo ihr das Wasser bis zum Hals reichte, lieber nicht denken.

Sie wusste nur eins, am heutigen Samstag würde es aufs Ganze gehen. Um das zu kapieren, musste man kein Hellseher sein.