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Berufung E-Book

John Grisham

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Beschreibung

Wenn Recht zu Unrecht wird

Sie verlor ihre ganze Familie. Um ihren Tod zu sühnen, zieht Jeannette Baker gegen einen der größten Chemiekonzerne der USA vor Gericht. Als ihrer Klage stattgegeben und das Unternehmen zu 41 Millionen Dollar Schadensersatz verurteilt wird, ist die Sensation perfekt. Doch dann geht Krane Chemical Inc. in Berufung, und eine Intrige unglaublichen Ausmaßes nimmt ihren Lauf.

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JOHN

GRISHAM

BERUFUNG

Roman

Aus dem Amerikanischen von Dr. Bernhard Liesen,

Bea Reiter, Kristiana Ruhl und Imke Walsh-Araya

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Appeal

bei Doubleday, New York

8. Auflage

Copyright © 2008 by Belfry Holdings, Inc.

Copyright © 2008 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Lektorat: Oliver Neumann

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur,

München–Zürich

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN 978-3-641-02548-9

www.heyne.de

Für Professor Robert C. Khayat

TEIL I

DAS URTEIL

1

Es war vollbracht.

Die Jury hatte ein Urteil gefällt. Beratungszeit zweiundvierzig Stunden, Prozessdauer einundsiebzig Tage, Einvernahme der vier Dutzend Zeugen fünfhundertdreißig Stunden. Feilschende Anwälte, ein dozierender Richter, gebannte Zuschauer, mit Argusaugen nach verräterischen Details Ausschau haltend. Nach der endlosen Klausur in einem bewachten Raum setzten zehn Geschworene stolz ihren Namenszug unter das Urteil, während die beiden Jurymitglieder, die anders abgestimmt hatten, unzufrieden in der Ecke saßen. Bei den übrigen gab es erleichterte Gesichter, Schulterklopfen und eine ordentliche Portion Selbstgefälligkeit. Sie waren siegreich aus dem Kleinkrieg hervorgegangen, konnten stolz in den Gerichtssaal einziehen und ein Urteil präsentieren, das sich ihrer Entschlossenheit und dem erbitterten Ringen um einen Kompromiss verdankte. Die schwere Prüfung war überstanden, sie hatten ihre Bürgerpflicht getan. Mehr als das. Es war vollbracht.

Der Obmann der Jury klopfte an die Tür und riss Uncle Joe aus seinem Schlummer, den betagten Gerichtsdiener, der nicht nur den Raum bewacht, sondern auch die Geschworenen mit Nahrung versorgt, sich ihre Klagen angehört und diskret ihre Botschaften an den Richter weitergeleitet hatte. Früher, als sein Gehör besser funktioniert hatte, war das Gerücht im Umlauf gewesen, Uncle Joe belausche die Jurys durch eine dünne Sperrholztür, die er persönlich gekauft und eingesetzt habe. Doch mittlerweile war er schwerhörig und hatte seiner Frau – vorerst nur ihr – anvertraut, er spiele mit dem Gedanken, den Job nach diesem aufreibenden Prozess endgültig an den Nagel zu hängen. Er sei dem Stress, den ordnungsgemäßen Ablauf eines Verfahrens zu garantieren, nicht mehr gewachsen.

»Großartig«, sagte er lächelnd. »Ich hole den Richter.« Als hätte dieser sich irgendwo tief im Inneren des Gebäudes verschanzt und wartete nur darauf, von Uncle Joe zu hören. Er entschied sich aus alter Gewohnheit, einen Laufburschen die wundervolle Neuigkeit überbringen zu lassen. Und sie war wahrhaft wundervoll. Noch nie hatte in dem alten Gerichtsgebäude ein so langer und spektakulärer Prozess stattgefunden. Es wäre eine Schande gewesen, ihn ohne Entscheidung abbrechen zu müssen.

Uncle Joes Laufbursche klopfte diskret an die Tür des Richters und trat einen Schritt in dessen Büro. »Wir haben ein Urteil«, verkündete er stolz, als hätte er persönlich an dem Beratungsmarathon teilgenommen und präsentierte dessen Resultat nun als Geschenk.

Der Richter schloss die Augen und seufzte befriedigt. Sein zugleich nervöses und glückliches Lächeln verriet neben Erleichterung fast Ungläubigkeit. »Treiben Sie die Anwälte zusammen«, sagte er schließlich.

Nach der beinahe fünftägigen Beratung der Jury hatte Richter Harrison sich schon fast mit seinem schlimmsten Albtraum abgefunden – der Möglichkeit, dass die Geschworenen zu keiner Einigung gelangen würden. Ein erbitterter vierjähriger Rechtsstreit, gekrönt von einem nicht minder erbittert geführten, vier Monate währenden Prozess – die bloße Möglichkeit eines resultatlosen Endes machte ihn krank. Er durfte nicht daran denken, dass eventuell alles von vorn begann.

Nachdem er in seine abgetragenen, billigen Slipper geschlüpft war, sprang er mit einem spitzbübischen Lächeln auf und griff nach seiner Robe. Das langwierigste Verfahren einer abwechslungsreichen Laufbahn war endlich überstanden.

Zuerst rief Uncle Joes Gehilfe in der ortsansässigen Kanzlei Payton & Payton an, die von dem gleichnamigen Ehepaar geführt wurde und mittlerweile in einem ehemaligen Ramschladen in einem heruntergekommenen Viertel der Stadt residierte. Ein Mitarbeiter nahm ab, lauschte ein paar Sekunden, legte auf und rief: »Die Jury hat ihr Urteil gefällt!« Seine Stimme hallte durch die kleinen, provisorisch eingerichteten Büros, und seine Kollegen sprangen auf.

Er verkündete die Neuigkeit ein weiteres Mal, während er zu dem Raum rannte, den alle das »Loch« nannten. Die anderen Mitarbeiter versammelten sich hektisch, Wes Payton war schon da. Als seine Frau Mary Grace herbeigeeilt kam, trafen sich ihre Blicke, in denen Angst und Verwirrung lagen, für einen Sekundenbruchteil. An dem langen, mit Unterlagen übersäten Tisch saßen zwei juristische Hilfskräfte, zwei Sekretärinnen und eine Buchhalterin, die erstarrten und sich gegenseitig anblickten. Alle warteten darauf, dass jemand etwas sagte.

Konnte es wirklich vorbei sein? So plötzlich, nachdem sie eine Ewigkeit gewartet hatten? So abrupt? Nur durch einen Anruf?

»Wie wär’s mit einem stillen Stoßgebet?«, fragte Wes, und sie fassten sich an den Händen und beteten wie nie zuvor in ihrem Leben. Alle möglichen Bitten wurden zum Himmel hinaufgeschickt, doch in erster Linie wurde der Allmächtige angefleht, ihnen den Sieg zu gewähren. Bitte, bitte, lieber Gott, gewähre uns den Sieg von deinen Gnaden nach all diesen Mühen, der Angst und den Zweifeln, den Kosten und dem Zeitaufwand. Erspare uns die Demütigung, den Untergang, die Insolvenz und all die anderen Übel, die ein ungünstiges Urteil mit sich bringen würde …

Der zweite Anruf von Uncle Joes Gehilfen ging an Jared Kurtin, seines Zeichens Architekt der Verteidigungsstrategie. Mr Kurtin hatte es sich auf einem Ledersofa bequem gemacht, in einem vorübergehend angemieteten Büro an der Front Street im Zentrum von Hattiesburg, drei Straßenecken vom Gerichtsgebäude entfernt. In eine Biografie vertieft, ließ er die Zeit verstreichen – bei einem Stundenhonorar von siebenhundertfünfzig Dollar. Er lauschte gelassen, klappte sein Mobiltelefon zu und sagte: »Auf geht’s. Die Jury ist so weit.« Seine Fußsoldaten, sämtlich in dunklen Anzügen, standen stramm und bereiteten sich darauf vor, ihrem Boss auf seinem Weg zu einem weiteren triumphalen Sieg Geleitschutz zu geben.

Niemand sprach ein Wort, sandte ein stilles Stoßgebet gen Himmel.

Anschließend wurden andere Anwälte angerufen, dann die Journalisten, und innerhalb von Minuten hatte sich die Neuigkeit wie ein Lauffeuer auf den Straßen verbreitet.

In einem der obersten Stockwerke eines Hochhauses in Lower Manhattan platzte ein von Panik gepackter junger Mann in eine wichtige Besprechung und flüsterte Mr Carl Trudeau die Neuigkeit ins Ohr. Der verlor umgehend jedes Interesse an dem gerade erörterten Thema, stand abrupt auf und sagte: »Sieht so aus, als hätte die Jury ihr Urteil gefällt.« Damit verließ er den Raum. Er marschierte durch den Flur zu einem geräumigen Eckbüro mit mehreren angrenzenden Räumen, legte sein Sakko ab, lockerte die Krawatte, trat ans Fenster und starrte in die Dämmerung, die sich in der Ferne über den Hudson senkte. Während er wartete, fragte er sich nicht zum ersten Mal, wie es sein konnte, dass das Schicksal eines Großteils seines Geschäftsimperiums vom Urteil von zwölf Durchschnittsexistenzen aus dem hintersten Winkel von Mississippi abhing.

Bei einem Mann, der so viel wusste, war es erstaunlich, dass er auf diese Frage noch keine Antwort gefunden hatte.

Als die Paytons in der Straße hinter dem Gerichtsgebäude parkten, wurde dieses bereits von allen Seiten gestürmt. Für einen Augenblick blieben sie noch im Auto sitzen, Hand in Hand. Vier Monate lang hatten sie sich bemüht, in der Nähe des Gerichts jede Berührung zu vermeiden. Irgendjemand sah einen immer. Etwa ein Richter oder Journalist. Es war wichtig, so professionell wie möglich zu agieren. Die Leute fanden es überraschend, dass ein Ehepaar gemeinsam eine Kanzlei führte, und die Paytons gaben sich alle Mühe, sich wie Anwaltskollegen und nicht wie Ehepartner zu verhalten.

Während des Prozesses hatten sich auch außerhalb des Gerichts kaum Gelegenheiten für Berührungen gefunden.

»Woran denkst du?«, fragte Wes seine Frau, ohne sie anzublicken. Sein Herzschlag raste, auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Mit der Linken umklammerte er noch immer das Lenkrad, und er sagte sich permanent, er müsse sich entspannen.

Entspannen. Was für ein Witz.

»Ich hatte noch nie solche Angst«, erwiderte Mary Grace.

»Ich auch nicht.«

Eine lange Pause. Beide atmeten tief durch und beobachteten den Übertragungswagen eines Fernsehsenders, der fast einen Fußgänger überfahren hätte.

»Können wir eine Niederlage überleben?«, fragte sie. »Das ist die Frage.«

»Wir müssen überleben, uns bleibt keine andere Wahl. Aber wir haben nicht verloren.«

»Wenn du es sagst. Auf geht’s.«

Gemeinsam mit den anderen Mitarbeitern ihrer kleinen Kanzlei betraten sie das Gericht. Im Erdgeschoss wartete wie üblich neben dem Getränkeautomaten ihre Mandantin Jeannette Baker, die Klägerin. Als sie ihre Anwälte sah, brach sie in Tränen aus. Wes ergriff ihren einen Arm, Mary Grace den anderen, und gemeinsam führten sie Jeannette die Treppe hinauf, in den großen Gerichtssaal im ersten Stock. Sie hätten sie genauso gut tragen können. Jeannette wog keine fünfundvierzig Kilogramm und war während des Prozesses um Jahre gealtert. Sie litt an Depressionen, manchmal an Wahnvorstellungen, und obwohl sie nicht magersüchtig war, wollte sie nicht essen. Mit ihren vierunddreißig Jahren hatte sie bereits ihr Kind und ihren Ehemann verloren, und jetzt stand sie am Ende eines entsetzlichen Prozesses, von dem sie insgeheim wünschte, sie hätte ihn nie initiiert.

Im Gerichtssaal herrschte eine äußerst angespannte Stimmung, fast so, als stünde ein Bombenangriff bevor und als heulten bereits die Sirenen. Dutzende von Leuten rannten hin und her, suchten nach Sitzplätzen oder plapperten nervös, mit unstet umherirrenden Blicken. Als Jared Kurtin, der Verteidiger, mit seiner Armee von Helfern durch eine Seitentür einmarschierte, starrten ihn alle an, als wüsste er etwas, das ihnen unbekannt war. Während der letzten vier Monate hatte er tagtäglich bewiesen, dass er um Ecken blicken konnte. In diesem Augenblick, dicht umringt von seinen Untergebenen, wirkte er ernst, aber seine Miene gab nichts preis.

Auf der anderen Seite des Raumes, nur ein paar Schritte entfernt, nahmen die Paytons und Jeannette am Tisch der Kläger Platz. Dieselben Stühle, dieselbe Haltung, dieselbe Strategie wie immer – um den Geschworenen den Eindruck zu vermitteln, dass eine arme Witwe und zwei einsame Anwälte es mit einem riesigen Unternehmen aufnahmen, das über unbegrenzte finanzielle Mittel verfügte. Wes blickte zu Jared Kurtin hinüber, und als ihre Blicke sich trafen, grüßten beide mit einem höflichen Nicken. Es grenzte an ein Wunder, dass diese Männer noch in der Lage waren, sich mit einem bescheidenen Maß an Höflichkeit zu begegnen, und sogar miteinander reden konnten, wenn es absolut unumgänglich war. Das war zu einer Frage der Selbstachtung geworden. Wie unangenehm die Situation auch war – und es hatte viele hässliche Situationen gegeben –, beide waren entschlossen, nicht auf Gossenniveau hinabzusinken, sondern dem anderen die Hand entgegenzustrecken.

Mary Grace blickte nicht zu Kurtin hinüber. Hätte sie es getan, hätte sie weder genickt noch gelächelt. Und es war eine glückliche Fügung, dass sie keine Pistole in ihrer Handtasche hatte – andernfalls hätte die Hälfte der Männer in den dunklen Anzügen auf der anderen Seite des Raumes bereits am Boden gelegen. Sie rückte einen neuen Notizblock auf dem Tisch zurecht und kritzelte das Datum und ihren Namen darauf, dann fiel ihr nichts mehr ein. Während der einundsiebzig Prozesstage hatte sie sechsundsechzig Blöcke mit Notizen gefüllt, die jetzt chronologisch geordnet in einem gebraucht gekauften Metallschrank in der Kanzlei standen. Sie reichte Jeannette ein Papiertaschentuch. Obwohl sie praktisch alles zählte, wusste Mary Grace nicht mehr, wie viele Taschentücher Jeannette während des Verfahrens verbraucht hatte. Wahrscheinlich mehrere Dutzend Päckchen.

Die Frau weinte pausenlos, und obwohl Mary Grace ihr viel Mitgefühl entgegenbrachte, hatte sie die verdammte Heulerei satt. Eigentlich hatte sie alles satt – die Erschöpfung, den Stress, die schlaflosen Nächte, die ständige Konzentration, die Vernachlässigung ihrer Kinder und der anderen Mandanten, ihre heruntergekommene Wohnung, den Berg unbezahlter Rechnungen, das kalte chinesische Essen um Mitternacht und die tägliche Mühe, die Geschworenen durch eine perfekte Frisur und ihr Make-up zu beeindrucken, was von ihr erwartet wurde.

Wenn man sich auf einen Prozess dieser Größenordnung einlässt, kommt es einem so vor, als wäre man mit einem Gewichtsgürtel in einen dunklen Teich voller Schlingpflanzen gesprungen. Irgendwie schafft man es, sich an die Oberfläche zu manövrieren, um Luft zu schnappen, aber was sonst auf der Welt vorgeht, ist einem egal. Und man glaubt ununterbrochen, ertrinken zu müssen.

Ein paar Reihen hinter ihnen, am Ende einer sich rasch füllenden Bank, kaute der für die Paytons zuständige Bankmanager auf den Nägeln, sehr darum bemüht, nach außen ruhig zu wirken. Er hieß Tom Huff, wurde aber von allen Huffy genannt. Während der letzten Monate hatte er von Zeit zu Zeit vorbeigeschaut, um den Prozess zu beobachten und seinerseits ein Stoßgebet zum Himmel zu schicken. Die Paytons schuldeten seiner Bank vierhunderttausend Dollar, und ihre einzige Sicherheit war ein Stück Farmland in Cary County, das dem Vater von Mary Grace gehörte. An einem günstigen Tag bekam man dafür vielleicht einhunderttausend, und damit blieb ein beträchtlicher Berg an ungesicherten Schulden. Wenn die Paytons den Prozess verloren, war seine einst vielversprechende Karriere beendet. Der Boss seiner Bank schrie ihn längst nicht mehr an. Mittlerweile kamen die Drohungen per E-Mail.

Was ganz harmlos mit einem Kredit von neunzigtausend Dollar begonnen hatte, für den die Paytons eine zweite Hypothek auf ihr hübsches Eigenheim in der Vorstadt aufgenommen hatten, hatte sich zu einer finanziellen Katastrophe ausgewachsen, zu einem Meer von roten Zahlen, das durch unnötige Ausgaben immer größer wurde. Unnötig zumindest nach Huffys Meinung. Jetzt gab es das hübsche Haus nicht mehr, genauso wenig wie die schmucken Büroräume im Stadtzentrum oder die ausländischen Autos. Schlechthin alles hatte sich in Nichts aufgelöst. Die Paytons setzten alles auf eine Karte, und Huffy konnte nicht anders, als sie zu bewundern. Ein spektakuläres Urteil zu ihren Gunsten, und er war ein Genie. Das falsche Urteil, und er konnte gemeinsam mit ihnen den Offenbarungseid leisten.

Die Geldsäcke auf der anderen Seite des Gerichtssaals kauten nicht auf den Nägeln und machten sich keine besonderen Sorgen wegen eines Konkurses, auch wenn darüber gesprochen worden war. Krane Chemical machte Profit und hatte jede Menge Geld und andere Vermögenswerte, doch es gab Hunderte potenzieller Kläger, die gierig auf die Nachricht warteten, welche gleich alle Welt vernehmen würde. Ein für Krane negatives Urteil würde eine Prozesslawine auslösen.

Aber im Moment wirkten sie zuversichtlich. Jared Kurtin war der beste Verteidiger, den man für Geld bekommen konnte. Die Aktien des Unternehmens waren nur leicht gefallen. Mr Trudeau, der in New York residierende Boss, schien zufrieden zu sein.

Sie konnten es nicht abwarten, nach Hause zu fliegen.

Gott sei Dank schloss die Börse gleich.

»Bitte nehmen Sie Platz«, rief Uncle Joe, und Richter Harrison betrat den Saal durch eine Tür hinter dem Richtertisch. Er hatte längst auf das törichte Ritual verzichtet, nach dem das Publikum aufstehen musste, während er seinen Thron erklomm.

»Guten Tag«, sagte er schnell. Es war kurz vor fünf. »Die Geschworenen haben mir mitgeteilt, dass sie ein Urteil gefällt haben.« Er blickte sich um, wollte sich vergewissern, dass die entscheidenden Personen anwesend waren. »Ich erwarte zivilisiertes Verhalten. Keine Gefühlsausbrüche. Alle bleiben sitzen, bis ich die Jury entlasse. Irgendwelche Fragen? Weitere alberne Winkelzüge seitens der Verteidigung?«

Jared Kurtin zuckte nicht zusammen. Er tat so, als wäre der Richter gar nicht da, und kritzelte auf seinem Block herum, scheinbar ganz von der Schaffung eines Meisterwerks in Anspruch genommen. Falls Krane Chemical verlor, würde man umgehend Berufung einlegen, die man mit der offenkundigen Parteilichkeit des Ehrenwerten Richters Thomas Alsobrook Harrison IV. zu begründen gedachte. Dieser war einst selbst Prozessanwalt gewesen und hegte eine unübersehbare Abneigung gegenüber Großunternehmen im Allgemeinen und Krane Chemical im Besonderen.

»Gerichtsdiener, bitten Sie die Jury herein.«

Die Tür neben der Geschworenenbank öffnete sich, und plötzlich schien es, als würde es allen den Atem verschlagen. Verlangsamte Herzschläge, angespannte Körper. Alle Köpfe drehten sich in eine Richtung. Zu hören waren nur die Schritte der Geschworenen, die über den abgewetzten Teppich zu ihrer Bank schlurften.

Jared Kurtin kritzelte weiter mit methodischer Sorgfalt auf seinem Block herum. Es war seine Angewohnheit, nie einem Geschworenen ins Gesicht zu blicken, wenn eine Jury zu einer Entscheidung gekommen war. Nach einhundert Prozessen wusste er, dass es vergeblich war, ihre Mienen deuten zu wollen. Und war die Mühe nicht überflüssig? Nur noch ein paar Augenblicke, dann wurde die Entscheidung sowieso verkündet. Auch seine Mitarbeiter hatten die strikte Anweisung, die Geschworenen zu ignorieren und ihre Entscheidung mit ausdrucksloser Miene zur Kenntnis zu nehmen.

Selbst bei einem für ihn negativen Ausgang hatte Jared Kurtin weder finanziell noch beruflich den Ruin zu befürchten.

Bei Wes Payton war das definitiv anders, und er konnte den Blick nicht von den Geschworenen abwenden, die sich gerade setzten. Der Molkereibetreiber schaute weg, ein schlechtes Zeichen. Der Lehrer schien durch ihn hindurchzublicken, das nächste böse Omen. Während der Obmann der Jury dem Gerichtsdiener den Umschlag übergab, warf die Frau des Pfarrers Wes einen mitleidigen Blick zu, aber andererseits setzte sie diese Leidensmiene schon seit den Eröffnungsplädoyers auf.

Obwohl sie nicht darauf achtete, nahm auch Mary Grace die schlechten Vorzeichen wahr. Als sie Jeannette Baker, die mittlerweile fast schluchzte, das nächste Taschentuch reichte, warf sie einen verstohlenen Blick zu Jurymitglied Nummer sechs hinüber, das ihr am nächsten saß. Dr. Leona Rocha, eine pensionierte Anglistikprofessorin, trug eine Lesebrille mit rotem Gestell und bedachte sie, kaum wahrnehmbar, mit dem sympathischsten und beglückendsten Augenzwinkern, das man Mary Grace je geschenkt hatte.

»Haben Sie ein Urteil gefällt?«, fragte Richter Harrison.

»Ja, Euer Ehren«, antwortete der Obmann.

»Wurde es einstimmig gefällt?«

»Nein, Sir.«

»Konnten sich mindestens neun der Geschworenen auf die Entscheidung einigen?«

»Ja, Sir. Die Abstimmung endete zehn zu zwei.«

»Nur das zählt.«

Mary Grace machte sich eine Notiz über das Augenzwinkern, konnte aber in diesem angespannten Moment ihre eigene Schrift nicht lesen. Gib dir Mühe, einen gelassenen Eindruck zu machen, sagte sie sich immer wieder.

Richter Harrison nahm den Umschlag entgegen, zog ein Blatt Papier heraus und begann mit in Furchen gelegter Stirn, das Urteil zu lesen. Als er mit Zeigefinger und Daumen seinen Nasensattel rieb, wirkte seine Miene noch sorgenvoller. »Scheint alles in Ordnung zu sein«, verkündete er nach einer scheinbaren Ewigkeit mit absolut unbewegtem Gesicht, das keinerlei Rückschlüsse auf den Inhalt des Papiers zuließ.

Dann nickte er dem Protokollführer zu und räusperte sich – er schien den Augenblick zu genießen. Kurz darauf wirkten die Sorgenfalten weniger tief, die Kiefermuskeln entspannten sich, die Schultern sackten ein bisschen herab. Wes hatte den Eindruck, als gäbe es plötzlich Hoffnung, dass die Jury dem Angeklagten eine vernichtende Niederlage bescheren würde.

»Frage Nummer eins«, begann Richter Harrison mit bedächtiger, lauter Stimme zu lesen. »Halten Sie das Ergebnis der Beweisaufnahme für ausreichend eindeutig, um die Krane Chemical Corporation der Verseuchung des Grundwassers in dem betreffenden Gebiet für schuldig zu befinden?« Nach einer tückischen Pause, die länger als fünf Sekunden dauerte, fuhr er fort. »Die Antwort lautet: Ja.«

Auf einer Seite des Gerichtssaals atmete man erleichtert auf, während auf der anderen die Stimmung sank.

»Frage Nummer zwei: Halten Sie das Ergebnis der Beweisaufnahme für ausreichend eindeutig, um zu der Ansicht zu kommen, dass die Verseuchung die unmittelbare Ursache für den Tod von a) Chad Baker und b) Pete Baker war? Antwort: Ja, in beiden Fällen.«

Mary Grace schaffte es, mit der Linken ein Papiertaschentuch aus der Packung zu ziehen und es Jeannette zu reichen, während sie mit der Rechten hektisch etwas auf ihrem Block notierte. Wes warf einen verstohlenen Blick auf den Geschworenen Nummer vier, der ihn mit einem Grinsen bedachte, das zu sagen schien: »Das Beste kommt noch.«

»Frage Nummer drei: Welcher Betrag soll im Fall Chad Baker an die Mutter, Jeannette Baker, gezahlt werden als Schadenersatz für diese widerrechtliche Tötung? Antwort: Fünfhunderttausend Dollar.«

Tote Kinder sind nicht viel wert, weil sie nichts verdienen, doch der für Chads Tod angesetzte Schadenersatz ließ die Alarmglocken schrillen, weil er nur ein Vorgeschmack dessen war, was gleich folgen würde. Wes starrte auf die Uhr über dem Kopf des Richters und dankte Gott, dass er dem finanziellen Ruin entgangen war.

»Frage Nummer vier: Welcher Betrag soll im Fall Pete Baker an die Witwe, Jeannette Baker, gezahlt werden als Schadenersatz für die widerrechtliche Tötung ihres Mannes? Antwort: Zweieinhalb Millionen Dollar.«

Die Geldsäcke in der ersten Reihe hinter Jared Kurtin rutschten unruhig hin und her. Krane konnte mit Sicherheit drei Millionen erübrigen, aber die Möglichkeit einer nachfolgenden Prozesslawine ängstigte sie. Mr Kurtin selbst war nicht zusammengezuckt.

Noch nicht.

Jeannette Baker schien von ihrem Stuhl zu rutschen, doch ihre beiden Anwälte legten die Arme um ihre schmalen Schultern, und es gelang ihnen, sie wieder hochzuziehen. Beide flüsterten ihr etwas ins Ohr, um sie zu beruhigen. Mittlerweile schluchzte sie hemmungslos.

Auf der von den Anwälten ausgearbeiteten Liste standen sechs Fragen, und wenn die Jury auf Frage Nummer fünf ebenfalls mit Ja antwortete, würde die ganze Welt verrückt spielen. Richter Harrison näherte sich dem Höhepunkt. Er las den Text langsam, räusperte sich, studierte die Antwort, als wollte er alle auf die Folter spannen. Er hob den Blick ein wenig, gerade so weit, dass die billige Lesebrille und seine Augen über dem Blatt Papier zu sehen waren, und schaute Wes Payton an. Sein Grinsen wirkte angespannt, verschwörerisch und zugleich befriedigt.

»Frage Nummer fünf: Halten Sie das Ergebnis der Beweisaufnahme für ausreichend eindeutig, um zu der Ansicht zu kommen, dass die Handlungsweise der Krane Chemical Corporation entweder vorsätzlich oder so grob fahrlässig war, dass ein Strafschadenersatz gerechtfertigt ist? Antwort: Ja.«

Mary Grace hörte zu schreiben auf und schaute über den heftig nickenden Kopf ihrer Mandantin hinweg ihren Mann an, der sie ebenfalls mit einem starren Blick fixierte. Sie hatten gewonnen, und das allein war unendlich befreiend, löste eine fast unbeschreibliche Euphorie in ihnen aus. Aber wie umfassend war ihr Sieg? Während dieses entscheidenden Bruchteils einer Sekunde wussten beide, dass sie tatsächlich auf der ganzen Linie gewonnen hatten.

»Frage Nummer sechs: Wie hoch soll der Betrag sein, der an Strafschadenersatz zu zahlen ist? Antwort: Achtunddreißig Millionen Dollar.«

Der Gerichtssaal stand unter Schock. Man hörte Menschen nach Luft schnappen, hüsteln oder leise pfeifen. Jared Kurtin und seine Bande notierten die Details und bemühten sich, den Anschein zu erwecken, als könnte ihnen die Explosion der Bombe nichts anhaben. Die hohen Tiere von Krane Chemical, die in der ersten Reihe hinter ihnen saßen, versuchten, sich von dem Schock zu erholen und wieder normal zu atmen. Die meisten bedachten die Geschworenen mit aggressiven Blicken und reagierten sich an niederträchtigen Gedanken ab – über die Dummheit des Menschengeschlechts, die Zurückgebliebenheit der Hinterwäldler und so weiter.

Mr und Mrs Payton ergriffen die Hand ihrer Mandantin, die völlig überwältigt war von der Dimension des Sieges und auf rührende Weise versuchte, sich aufrecht auf ihrem Stuhl zu halten. Wes flüsterte Jeannette beruhigende Worte ins Ohr, während er in seinem Inneren immer wieder die gerade vernommenen Zahlen Revue passieren ließ. Irgendwie schaffte er es, eine ernste Miene zu wahren und sich ein dümmliches Grinsen zu verkneifen.

Huffy sah keinen Grund mehr, auf den Nägeln zu kauen. Während er gerade noch der blamierte und ruinierte, ehemalige Vizepräsident einer Bank gewesen war, hatte es keine halbe Minute gedauert, bis sein Stern wieder gestiegen war. Nun konnte er sich berechtigte Hoffnungen auf ein höheres Salär und ein größeres Büro machen. Er kam sich sogar intelligenter vor. Oh, was für einen triumphalen Einzug er ins Chefbüro der Bank halten würde. Gleich morgen früh würde er seinen Auftritt inszenieren. Der Richter leierte noch ein paar Formalitäten herunter und bedankte sich bei den Geschworenen, aber Huffy scherte sich nicht darum. Er hatte gehört, was er hören musste.

Die Geschworenen verließen den Gerichtssaal. Uncle Joe hielt ihnen die Tür auf und nickte anerkennend. Später sollte er seiner Frau erzählen, er habe so ein Urteil vorhergesagt. Sie konnte sich nicht daran erinnern. Er behauptete, sich während seiner jahrzehntelangen Laufbahn als Gerichtsdiener mit seinen Prognosen noch nie geirrt zu haben. Nachdem die Geschworenen verschwunden waren, erhob sich Jared Kurtin, um in vollendeter Haltung die üblichen, nach einem Urteilsspruch anfallenden Fragen herunterzurasseln. Jetzt, wo Blut geflossen war, hörte Richter Harrison sie sich mit großer Anteilnahme an. Mary Grace hatte nichts mehr zu sagen, ihr war alles egal. Sie hatte ihr Ziel erreicht.

Wes dachte an die einundvierzig Millionen und musste gegen seine Emotionen ankämpfen. Ihre Kanzlei war gerettet, wie ihre Ehe, ihr guter Ruf und alles andere.

Als Richter Harrison die Urteilsverkündung schließlich für beendet erklärte, stürzten alle aus dem Gerichtsgebäude und griffen nach ihren Mobiltelefonen.

Mr Trudeau stand noch immer am Fenster und beobachtete, wie die Sonne endgültig unterging, irgendwo weit hinter New Jersey. Am anderen Ende des geräumigen Büros nahm Stu, sein Privatsekretär, den Anruf entgegen und trat ein paar Schritte vor, bevor er den Mut aufbrachte, seinen Chef zu informieren. »Nachrichten aus Hattiesburg, Sir. Drei Millionen Schadenersatz, achtunddreißig Millionen Strafschadenersatz.«

Von hinten sah er, wie die Schultern seines Bosses etwas herabsackten. Dann ein frustrierter Seufzer, gefolgt von einem Schwall leiser Flüche.

Mr Trudeau wandte sich langsam um und bedachte seinen Sekretär mit einem wütenden Blick, ganz so, als wollte er den Überbringer der Nachricht erschießen. »Sicher, dass Sie alles richtig verstanden haben?«, fragte er, und Stu wünschte verzweifelt, er hätte sich geirrt.

»Ja, Sir.«

Die Tür hinter ihm stand offen. Bobby Ratzlaff kam herbeigeeilt, außer Atem, geschockt und verängstigt, auf der Suche nach Mr Trudeau. Ratzlaff war der Topjurist des Unternehmens und würde als Erster den Kopf hinhalten müssen. Schon jetzt war ihm der Schweiß ausgebrochen.

»Trommeln Sie Ihre Jungs zusammen, in fünf Minuten will ich Sie alle hier sehen«, knurrte Mr Trudeau, bevor er wieder ans Fenster trat.

Die improvisierte Pressekonferenz fand im Erdgeschoss des Gerichtsgebäudes statt. Wes und Mary Grace stellten sich getrennt den Fragen einer kleinen Gruppe von Journalisten und beantworteten sie geduldig und mit identischen Formulierungen. Nein, der verhängte Schadenersatz sei keinesfalls ein Rekord für den Bundesstaat Mississippi. Ja, sie hielten das Urteil für gerechtfertigt. Nein, erwartet hätten sie es nicht, zumindest hätten sie nicht mit einer so hohen Summe gerechnet. Die Gegenseite werde mit Sicherheit Berufung einlegen. Wes betonte, er habe großen Respekt vor Jared Kurtin, jedoch nicht vor dem Unternehmen, das dieser vertrete. Seine Kanzlei betreue gegenwärtig dreißig andere Mandanten, die Krane Chemical verklagt hätten. Nein, sie beide rechneten nicht damit, dass es bei diesen Fällen zu einem Vergleich hinsichtlich einer Entschädigung kommen werde.

Ja, sie seien erschöpft.

Nach einer halben Stunde konnten sie endlich verschwinden. Hand in Hand ließen sie das Gebäude des Forrest County Circuit Court hinter sich, beide mit einer schweren Aktentasche unter dem Arm. Als sie in ihr Auto stiegen und davonfuhren, wurden sie von Reportern fotografiert.

Zuerst sagte keiner etwas. Häuserblocks glitten vorbei, zehn Minuten verstrichen in völligem Schweigen. Ein Reifen des Wagens, eines verbeulten Ford Taurus, der zigtausend Kilometer auf dem Tacho hatte, war fast platt, und man hörte permanent das Klappern einer Ventilklappe. Sie fuhren durch die Straßen in der Nähe der Universität.

Endlich brach Wes das Schweigen. »Wie viel ist ein Drittel von einundvierzig Millionen?«

»Du solltest nicht mal dran denken.«

»Tu ich nicht. War nur ein Witz.«

»Fahr einfach.«

»Haben wir ein bestimmtes Ziel?«

»Nein.«

Der Taurus kreuzte ziellos durch die Vorstädte. In ihre Kanzlei wollten sie noch nicht zurück, und sie mieden die Gegend, wo das hübsche Eigenheim stand, das ihnen einst gehört hatte.

Als die Zahlen ihre Macht über sie verloren, kehrte allmählich ein nüchterner Blick auf die Realität zurück. Ein Prozess, einst nur nach langem Zögern angestrengt, hatte nun ein dramatisches Ende gefunden. Hinter ihnen lag ein erschöpfender Marathon, und obwohl sie vorerst den Sieg davongetragen hatten, waren ihnen die zurückliegenden Monate an die Substanz gegangen. Die Nerven lagen weiter blank, die Wunden waren noch nicht verheilt.

Die Benzinanzeige wies darauf hin, dass der Tank nicht einmal mehr zu einem Viertel gefüllt war – was Wes noch vor zwei Jahren kaum zur Kenntnis genommen hätte. Nun nahm er es ernster. Damals hatte er einen BMW gefahren – Mary Grace einen Jaguar –, und wenn das Benzin zur Neige ging, schaute er einfach an seiner gewohnten Tankstelle vorbei und bezahlte mit Kreditkarte. Kontoauszüge oder Rechnungen sah er nie an, dafür hatte er eine Buchhalterin. Jetzt gab es weder eine Kreditkarte noch einen BMW oder Jaguar, und die besagte Buchhalterin arbeitete für den halben Lohn und hatte ein paar Dollar springen lassen, die der Kanzlei der Paytons knapp das Überleben gesichert hatten.

Auch Mary Grace schaute auf die Benzinanzeige, was erst seit Kurzem zu einer Gewohnheit geworden war. Sie kannte und erinnerte sich an jeden Preis, wusste genau, was Benzin, Brot oder Milch kosteten. Sie war fürs Sparen zuständig, er für die Ausgaben. Noch vor einigen Jahren, als die Kanzlei sehr gut lief, war sie ein bisschen unvorsichtig gewesen und hatte ihren Erfolg genossen. Sparen oder Geldanlegen hatten seinerzeit nicht ganz oben auf der Prioritätenliste gestanden. Sie waren jung, die Kanzlei prosperierte, die Zukunft schien voller Versprechen.

Das Geld, das sie damals in Investmentfonds angelegt hatten, war flüssig gemacht und in den Baker-Prozess gesteckt worden.

Vor einer Stunde waren sie praktisch bankrott gewesen, erdrückt von einem Schuldenberg, gegen den ihre dürftigen Aktiva nicht ins Gewicht fielen. Jetzt hatte sich die Lage geändert. Die Verbindlichkeiten hatten sich nicht in Luft aufgelöst, aber auf der Habenseite sah es deutlich besser aus.

Oder doch nicht?

Wann würden sie einen Teil des Geldes oder gar die Gesamtsumme sehen, die ihnen dieses wundervolle Urteil bescherte? Würde Krane Chemical jetzt vielleicht einen Vergleich anbieten? Wie lange würde das Berufungsverfahren dauern? Wie viel Zeit konnten sie jetzt ihren anderen Mandanten widmen?

Keiner wagte, an die Fragen zu rühren, die beide bedrängten. Sie waren zu müde und zu erleichtert. Während einer Ewigkeit hatten sie praktisch über nichts anderes geredet, und jetzt war ihnen gar nicht nach Reden zumute. Morgen oder übermorgen blieb noch genug Zeit, die Lage zu erörtern.

»Der Tank ist fast leer«, sagte sie.

Dazu fiel Wes nichts ein. »Wie sieht’s mit dem Abendessen aus?«, fragte er stattdessen.

»Makkaroni mit Käse. Mit den Kindern.«

Das Verfahren hatte sie nicht nur ihrer Energie und ihres Geldes beraubt, sondern auch jener überflüssigen Pfunde, die sie zu Beginn des Prozesses vielleicht noch auf den Rippen gehabt hatten. Wes vermutete, dass er etwa sieben Kilo abgenommen hatte, aber sicher war er nicht, weil er sich seit Monaten nicht gewogen hatte. Außerdem hatte er keine Lust, dieses heikle Thema mit seiner Frau zu erörtern. Aber es war unübersehbar, dass sie mehr essen mussten. Sie hatten zu viele Mahlzeiten ausfallen lassen – das Frühstück, weil sie in Eile die Kinder anziehen und zur Schule bringen mussten, das Mittagessen, weil der eine in Harrisons Büro Formalitäten erledigen und der andere das nächste Kreuzverhör vorbereiten musste, die Abendmahlzeit, weil sie bis Mitternacht arbeiteten und das Essen einfach vergaßen. Ernährt hatten sie sich von Kraftriegeln und Energy-Drinks.

»Hört sich gut an.« Er bog nach links in eine Straße ab, die sie nach Hause führen würde.

Ratzlaff und zwei andere Juristen nahmen an dem mit Leder bezogenen Tisch in einer Ecke der Bürosuite von Mr Trudeau Platz. Durch die gläsernen Wände hatte man eine beeindruckende Aussicht auf die Wolkenkratzer des Finanzdistrikts, doch niemand war in der Stimmung, sie zu genießen. Mr Trudeau saß hinter seinem verchromten Schreibtisch und telefonierte. Die Firmenanwälte warteten nervös. Obwohl sie unablässig mit Teilnehmern des Prozesses in Mississippi geredet hatten, waren sie immer noch einigermaßen ratlos.

Der Boss beendete sein Telefonat und kam zielstrebig auf sie zu. »Was ist passiert?«, blaffte er sie an. »Vor einer Stunde hatten Sie noch eine große Klappe. Jetzt sitzen wir in der Scheiße. Wie konnte das passieren?« Er setzte sich und warf Ratzlaff einen aggressiven Blick zu.

»Geschworenenprozesse sind immer voller Risiken«, antwortete Ratzlaff.

»Ich habe jede Menge Prozesse hinter mir, und in der Regel gewinne ich sie. Ich dachte, wir hätten die besten Winkeladvokaten überhaupt angeheuert. Die besten Strafverteidiger, die für Geld zu haben sind. Wir haben doch keine Kosten gescheut, oder?«

»Nein. Wir haben reichlich bezahlt. Und wir zahlen noch immer.«

Mr Trudeau haute mit der Faust auf den Tisch. »Was ist schiefgelaufen?«, schrie er.

Ratzlaff hätte seine Gedanken am liebsten laut ausgesprochen, hing aber zu sehr an seinem Job. Nun, hätte er sonst gesagt, vielleicht sollten wir damit beginnen, dass wir die Pestizidfabrik in diesem Kaff in Mississippi gebaut haben, weil das Land und die Lohnkosten spottbillig waren. Dann haben wir dreißig Jahre lang Chemikalien und Abwässer in den Boden gepumpt und in die Flüsse geleitet, was natürlich illegal war. Das Trinkwasser verseucht, bis es wie ranzige Milch schmeckte. Was schon schlimm genug war, aber noch nicht das Schlimmste, denn schließlich sind Menschen an Krebs und Leukämie gestorben.

Genau das ist schiefgelaufen, Mr Boss, Mr CEO, Mr Unternehmensausschlachter.

»Unsere Anwälte sehen gute Chancen hinsichtlich der Berufung«, sagte er stattdessen ohne rechte Überzeugung.

»Na großartig. Ausgerechnet jetzt soll ich diesen Anwälten vertrauen. Wo haben Sie die Clowns aufgetrieben?«

»Es sind die Besten, okay?«

»Aber sicher. Wir müssen den Medien ja nur erklären, dass wir hinsichtlich der Berufung extrem optimistisch sind. Vielleicht geht unsere Aktie dann morgen nicht in den Keller. Wollten Sie das damit sagen?«

»Man muss es nur richtig darstellen.«

Die anderen beiden Juristen starrten auf die Fensterfronten. Welcher von ihnen wollte zuerst springen?

Eines von Mr Trudeaus Mobiltelefonen piepte, und er nahm es vom Tisch. »Hi, Honey.« Er stand auf und entfernte sich. »Honey« war die dritte Mrs Trudeau, seine jüngste Trophäe, eine unglaublich junge Frau, die Ratzlaff und alle anderen Angestellten um jeden Preis mieden. Ihr Mann flüsterte in sein Handy und verabschiedete sich.

Dann trat er in der Nähe seiner drei Juristen an eine Fensterfront und blickte auf die erleuchteten Wolkenkratzer. »Haben Sie eine Ahnung, wie die Jury beim Strafschadenersatz auf die Summe von achtunddreißig Millionen gekommen ist?«

»Nicht aus dem Stand«, antwortete Ratzlaff.

»Natürlich nicht. Während der ersten neun Monate dieses Jahres hat Krane durchschnittlich einen Profit von achtunddreißig Millionen pro Monat gemacht. Und diese Horde verblödeter Hinterwäldler, die zusammen keine hundert Riesen im Jahr verdienen, spielt Gott. Schröpft die Reichen und beglückt die Armen.«

»Noch haben wir das Geld«, erwiderte Ratzlaff. »Es wird Jahre dauern, bis sie einen Cent sehen. Wenn es überhaupt so weit kommt.«

»Großartig! Das können Sie morgen der Pressemeute verkaufen, wenn unsere Aktie den Bach runtergeht.«

Ratzlaff sackte schweigend in seinem Sessel zusammen.

Mr Trudeau ging hektisch auf und ab. »Einundvierzig Millionen Dollar. Und mit wie vielen Trittbrettfahrern müssen wir rechnen? Habe ich etwas von zweihundert oder dreihundert potenziellen Klägern gehört? Nun, wenn es heute Morgen dreihundert waren, werden es morgen früh dreitausend sein. Jeder Hinterwäldler aus dem Süden Mississippis, der an einer Pustel laboriert, wird jetzt behaupten, an dem Zaubertrank aus Bowmore genippt zu haben. Und jeder billige Winkeladvokat wird sich dorthin aufmachen, um neue Mandanten zu ködern. Es hätte nie so weit kommen dürfen. Sie haben mir versichert, dass es nicht passieren wird.«

In einer verschlossenen Schublade seines Schreibtischs bewahrte Ratzlaff ein Memo auf, das vor acht Jahren unter seiner Federführung erstellt worden war. Es umfasste einhundert Seiten und beschrieb in schockierenden Details, wie das Unternehmen in dem Werk in Bowmore toxische Abfallprodukte entsorgte. Außerdem wurden Krane Chemicals raffinierte Strategien beschrieben, die illegale Entsorgung zu verbergen, die Umweltschutzbehörde an der Nase herumzuführen sowie Politiker auf der lokalen, bundesstaatlichen und nationalen Ebene zu bestechen. In dem Papier wurde eine heimliche, aber effektive Dekontamination des verseuchten Gebiets empfohlen und dafür eine Summe von fünfzig Millionen Dollar veranschlagt. Jeder potenzielle Leser wurde förmlich angefleht, die gefährliche Umweltverschmutzung zu beenden.

Außerdem prognostizierte das Memo – in diesem Moment vielleicht am wichtigsten – ein verheerendes Gerichtsurteil irgendwann in der Zukunft.

Nur durch Glück und eine eklatante Missachtung jeglichen bürgerlichen Pflichtbewusstseins hatte Ratzlaff es geschafft, das Memo geheim zu halten.

Mr Trudeau hatte vor acht Jahren ein Exemplar bekommen, wollte aber davon nichts mehr wissen und bestritt, es je gesehen zu haben. Ratzlaff war versucht, es aus der Schublade zu holen und ein paar ausgewählte Passagen vorzulesen, doch er erinnerte sich erneut daran, wie sehr er seinen Job liebte.

Mr Trudeau kam zum Tisch zurück, stützte beide Hände auf die mit italienischem Leder bezogene Platte und bedachte Ratzlaff mit einem wütenden Blick. »Ich schwöre Ihnen, dass es nie so weit kommen wird. Nicht ein Cent unseres mühsam verdienten Geldes wird je bei diesen in Trailern hausenden Provinzlern landen.«

Die drei Juristen starrten ihren Boss an, dessen Augen sich zu Schlitzen verengt hatten. Er schien Feuer zu speien, als er seinen letzten Satz aussprach. »Und wenn ich die Firma pleitegehen lassen oder sie in fünfzehn Teile zerschlagen muss, ich schwöre beim Andenken meiner Mutter, dass kein Cent von Kranes Geld je einem dieser verblödeten Bauern in die Hände fallen wird.«

Mit diesem Versprechen stiefelte er über den Perserteppich davon, nahm sein Sakko vom Haken und verließ das Büro.

2

Jeannette Baker wurde von Verwandten in ihre Heimatstadt Bowmore zurückgebracht, etwa dreißig Kilometer vom Gericht in Hattiesburg entfernt. Durch den Schock geschwächt und wie üblich unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln stehend, hatte sie keine Lust, vor einer Menschenmenge die feiernde Siegerin zu spielen. Die Zahlen kündeten unübersehbar von einem Sieg, aber die Urteilsverkündung war auch das Ende einer langen, beschwerlichen Wegstrecke. Und ihr Mann und ihr kleiner Sohn wurden durch den Sieg bestimmt nicht wieder lebendig.

Sie lebte mit ihrer Stiefschwester Bette in einem alten Trailer, der an einer unbefestigten Straße in Pine Grove stand, einem heruntergekommenen Teil von Bowmore. An anderen nicht asphaltierten Straßen standen weitere Trailer. Die meisten Autos und Pick-ups waren uralt und verbeult, die Lackierung abgeblättert. Es gab ein paar richtige Häuser auf fünfzig Jahre alten Betonsockeln, die nicht jederzeit auf einem Tieflader weggekarrt werden konnten, doch auch sie waren nicht in Würde gealtert und wirkten unübersehbar vernachlässigt. In Bowmore gab es kaum Arbeit, in Pine Grove noch weniger, und ein kurzer Gang durch Jeannettes Straße musste jeden deprimieren.

Die Neuigkeit war schneller in Bowmore angekommen als Jeannette selbst, und sie wurde von einigen Leuten empfangen, als sie nach Hause kam. Man brachte sie ins Bett, dann setzten sich die anderen in das enge Wohnzimmer, wo sie im Flüsterton über das Urteil diskutierten und sich in Spekulationen über dessen Konsequenzen ergingen.

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