Die Erbin - John Grisham - E-Book
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Die Erbin E-Book

John Grisham

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Beschreibung

Spektakulärer hätte Seth Hubbard seinen Tod nicht inszenieren können. Als sein Mitarbeiter ihn eines Morgens aufgehängt an einem Baum findet, ist die Bestürzung im beschaulichen Clanton groß. Niemand hätte mit einem Freitod gerechnet. Hubbards Familie sieht das pragmatischer und ist in erster Linie an der Testamentseröffnung interessiert. Was sie nicht weiß: Kurz vor seinem Tod hat Hubbard sein Testament geändert. Alleinige Erbin ist seine schwarze Haushälterin Lettie Lang. Ein erbitterter Erbstreit beginnt ...

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Seitenzahl: 932

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JOHN

GRISHAM

DIE ERBIN

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Kristiana Dorn-Ruhl,

Bea Reiter und Imke Walsh-Araya

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Sycamore Row bei Doubleday, New York

Copyright ©2013 by Belfry Holdings, Inc.

Copyright ©2014 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Oliver Neumann

Das Zitat entstammt John Grisham:

Die Jury, Wilhelm Heyne Verlag, München;

übersetzt von Andreas Brandhorst

Umschlaggestaltung: HAUPTMANN & KOMPANIE

Werbeagentur, Zürich

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN 978-3-641-13133-3

www.heyne.de

Für Renée

1

Sie fanden Seth Hubbard an der vereinbarten Stelle, allerdings anders als erwartet. Er hing am Ende eines Seils zwei Meter über dem Boden und schwang leicht im Wind. Es regnete in Strömen, und Seth triefte vor Nässe, wobei das natürlich keine Rolle mehr spielte. Jemand merkte an, dass seine Schuhe nicht schlammig und unter ihm keine Fußabdrücke zu sehen seien. Er müsse folglich schon tot hier gehangen haben, als der Regen eingesetzt habe. War das noch wichtig? Letztendlich nicht.

Sich selbst an einem Baum zu erhängen ist gar nicht so einfach. Offensichtlich hatte Seth sein Vorhaben sorgfältig geplant. Das Seil war zwanzig Millimeter dick, aus Manilahanf, nicht mehr neu, aber stabil genug, um Seth zu tragen, der 72,5 Kilogramm wog, wie einen Monat zuvor in seiner Arztpraxis festgestellt worden war. Ein Angestellter aus einer von Seths Fabriken würde später berichten, dass er gesehen habe, wie sein Chef das fünfzehn Meter lange Stück Seil von einer Rolle abschnitt, das er dann zu diesem fatalen Zweck benutzte. Das eine Ende war mit Knoten und Schlingen an einem der unteren Äste des Baumes befestigt, improvisiert, aber es hielt. Das andere Ende lag in sechseinhalb Meter Höhe über einem Ast, der gut fünfzig Zentimeter dick war. Von dort hing es rund drei Meter herab und mündete in eine Henkerschlinge mit dreizehn Wicklungen wie aus dem Lehrbuch, die aussah, als hätte Seth eine Weile dafür geübt. Ein echter Henkersknoten lässt das Genick brechen, sodass der Tod schneller eintritt und weniger schmerzvoll ist. Offenbar hatte Seth seine Hausaufgaben gemacht. Neben den charakteristischen Malen wies seine Leiche keine Spuren von Kampf oder Todesqual auf.

Auf dem Boden lag eine harmlos wirkende, drei Meter lange Stehleiter. Seth hatte sich seinen Baum ausgesucht, das Seil über den Ast geworfen und festgebunden, die Leiter erklommen, die Schlinge übergestreift und, als alles passte, die Leiter unter sich weggetreten. Seine Hände baumelten neben seinen Hosentaschen.

Hatte es einen Moment des Zweifels gegeben? Hatte Seth, als seine Füße keinen Halt mehr fanden, instinktiv nach dem Seil über seinem Kopf gegriffen und verzweifelt daran gezogen? Niemand würde es je erfahren, aber es sah nicht danach aus. Später sollte sich herausstellen, dass Seth von einer Mission getrieben gewesen war.

Seth hatte für den Anlass seinen besten Anzug gewählt, aus Schurwolle, dunkelgrau und normalerweise für Beerdigungen bei kühler Witterung reserviert. Er besaß nur drei Anzüge. Erhängen führt zu einer Streckung des Körpers, sodass ihm die Hosenbeine nur noch bis zu den Knöcheln reichten und das Jackett bis zur Hüfte. Die schwarzen Lederschuhe waren auf Hochglanz poliert, die blaue Krawatte sorgfältig gebunden. Nur sein weißes Hemd war verschmiert, weil unter der Schlinge Blut ausgetreten war. Binnen Stunden würde bekannt sein, dass Seth Hubbard am Elf-Uhr-Gottesdienst in der nahen Kirche teilgenommen hatte, dort mit Bekannten geplaudert, mit dem Diakon gescherzt und seinen Teil zur Kollekte beigesteuert hatte und relativ guter Dinge gewesen war. Die meisten wussten, dass er an Lungenkrebs erkrankt war, aber nicht, dass ihm die Ärzte nur noch kurze Zeit gegeben hatten. Seths Name stand auf mehreren Gebetslisten in der Kirche. Allerdings war er zweimal geschieden. Für einen echten Christen war das ein Stigma.

Und jetzt hatte er auch noch Selbstmord begangen.

Der Baum war eine alte Platane, die Seth und seiner Familie seit vielen Jahren gehörte. Um sie herum erstreckte sich ein Hartholz-Wald, den Seth wiederholt mit Hypotheken belastet und gewinnbringend erweitert hatte. Sein Vater hatte den Forstbestand in den Dreißigerjahren durch zweifelhafte Methoden an sich gebracht. Seths Exfrauen hatten beide hartnäckig versucht, das Land in die Scheidungsmasse einfließen zu lassen, doch Seth war hart geblieben. Dafür hatte er ihnen fast alles Übrige überlassen.

Als Erster war Calvin Boggs vor Ort gewesen, ein Handwerker und Farmarbeiter, der seit einigen Jahren für Seth tätig war. Am frühen Sonntagmorgen hatte Calvin einen Anruf von seinem Chef bekommen. »Wir treffen uns um vierzehn Uhr an der Brücke«, hatte Seth ohne weitere Erklärung gesagt, und Calvin war nicht der Typ, der nachfragte. Wenn Mr. Hubbard ihn rief, kam er. Im letzten Moment wollte sein zehnjähriger Sohn unbedingt mitkommen, und trotz eines unguten Gefühls im Magen nahm Calvin ihn mit. Sie folgten einer Schotterstraße, die sich kilometerlang durch Hubbards Ländereien schlängelte. Auf der Fahrt fing Calvin an, sich Gedanken zu machen. Sein Chef hatte ihn noch nie an einem Sonntagnachmittag zu sich bestellt. Er wusste, dass Mr. Hubbard krank war, sogar todkrank, wenn die Gerüchte stimmten, doch von ihm selbst hatte er dazu nie etwas gehört.

Die Brücke war nicht mehr als eine Holzplattform über einem namenlosen, schmalen Bach, der von Kudzu-Kraut überwachsen war und von Mokassinottern nur so wimmelte. Mr. Hubbard hatte eigentlich vorgehabt, den Graben zu einem betonierten Kanal ausbauen zu lassen, doch in den letzten Monaten war er schon zu krank gewesen. In der Nähe standen auf einer Lichtung zwei verfallene und von Grün überwucherte Schuppen. Nichts sonst deutete darauf hin, dass sich hier einst eine kleine Siedlung befunden hatte.

Nahe der Brücke parkte Mr. Hubbards nagelneuer Cadillac, Fahrertür und Kofferraumdeckel standen offen. Calvin hielt dahinter und betrachtete den Wagen. In diesem Moment hatte er zum ersten Mal das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Es regnete beständig, und der Wind hatte zugenommen, warum also hatte Mr. Hubbard Tür und Deckel nicht geschlossen? Calvin ließ seinen Sohn im Pick-up sitzen und ging langsam um den Cadillac herum, ohne ihn zu berühren. Nirgendwo ein Hinweis auf den Chef. Er atmete tief durch, wischte sich den Regen aus dem Gesicht und suchte mit den Augen die Umgebung ab. Hinter der Lichtung, vielleicht hundert Meter entfernt, hing ein Mann an einem Baum. Er kehrte zu seinem Wagen zurück und hieß seinen Sohn, sich nicht von der Stelle zu rühren und die Türen verriegelt zu lassen. Doch es war zu spät. Der Junge hatte die Platane in der Ferne auch gesehen und starrte unverwandt in ihre Richtung.

»Du bleibst hier«, sagte Calvin streng. »Wehe, du steigst aus.«

»Ja, Sir.«

Vorsichtig machte Calvin sich auf den Weg. Der Boden war schlammig und glatt, und er musste seine Schritte bedachtsam wählen, um nicht auszurutschen. Außerdem – wozu sich eilen? Je näher er kam, desto klarer wurde das Bild. Der Mann im dunklen Anzug am Ende des Seils war eindeutig tot. Jetzt erkannte Calvin auch, wer es war. Und als er die Stehleiter sah, war ihm endgültig klar, was geschehen war. Ohne etwas anzufassen, kehrte er zum Auto zurück.

Man schrieb Oktober 1988, und selbst im ländlichen Mississippi war das Autotelefon inzwischen angekommen. Auf Mr. Hubbards Drängen hin hatte Calvin sich eines in seinen Pick-up einbauen lassen. Er rief den Sheriff von Ford County an, berichtete kurz und begann zu warten. In der Wärme seines beheizten Autos, beschwichtigt von Merle Haggard, der im Radio sang, starrte Calvin durch die Windschutzscheibe und klopfte mit den Fingern zum Takt der Scheibenwischer, bis er merkte, dass er weinte. Der Junge wagte nichts zu sagen.

Eine halbe Stunde später trafen zwei Deputys ein. Während sie Regencapes überstreiften, kam ein Krankenwagen mit drei Sanitätern. Zunächst blieben alle auf dem Weg stehen und spähten auf die Platane in der Ferne, bis sie überzeugt schienen, dass da tatsächlich ein Mann hing. Calvin erzählte ihnen, was er wusste. Die Deputys beschlossen, den Vorfall wie ein Verbrechen zu behandeln, und untersagten dem Erste-Hilfe-Team den Zutritt. Ein dritter Deputy erschien, dann ein weiterer. Sie durchsuchten den Cadillac, fanden aber nichts. Sie fotografierten und filmten Seth, wie er mit geschlossenen Augen und grotesk verdrehtem Kopf am Ast baumelte. Sie studierten die Spuren um die Platane, entdeckten jedoch keine Hinweise auf eine zweite Person. Ein Deputy fuhr Calvin zu Mr. Hubbards Haus, das ein paar Kilometer entfernt lag. Der Junge saß auf dem Rücksitz und sprach immer noch kein Wort. Das Haus war unverschlossen. Auf dem Küchentisch lag ein gelber Schreibblock mit einer Nachricht. In Seths ordentlicher Handschrift stand da geschrieben: »Für Calvin. Bitte teilen Sie der Polizei mit, dass ich mir das Leben genommen habe und dass mir niemand dabei geholfen hat. Auf dem beigefügten Blatt habe ich Anweisungen zu meiner Bestattung und Trauerfeier aufgeschrieben. Keine Autopsie! S. H.« Das Datum war das desselben Tages, Sonntag, 2. Oktober 1988.

Schließlich durfte Calvin gehen. In aller Eile brachte er seinen Sohn nach Hause, der sich in die Arme der Mutter stürzte und auch für den Rest des Tages kein Wort mehr sprach.

Ozzie Walls war einer von zwei schwarzen Sheriffs in Mississippi. Der andere war erst kürzlich gewählt worden, in einem County im Delta, dessen Bevölkerung zu siebzig Prozent schwarz war. Ford County war zu vierundsiebzig Prozent weiß, dennoch hatte Ozzie Wahl und Wiederwahl mit großer Mehrheit gewonnen. Die Schwarzen verehrten ihn, weil er einer der Ihren war, und die Weißen respektierten ihn, weil er als Polizist ein strenges Regiment führte und an der Clanton High School ein Footballstar gewesen war. Hin und wieder gelang es dem Sport sogar im Tiefen Süden, die Rassengrenzen aufzuweichen.

Ozzie trat gerade mit seiner Frau und seinen vier Kindern aus der Kirche, als er den Anruf bekam. Er begab sich sofort zur Brücke, im Anzug, ohne Waffe und Abzeichen, aber immerhin mit einem alten Paar Stiefel im Kofferraum. Begleitet von zwei seiner Deputys, machte er sich über den aufgeweichten Boden auf den Weg zu der Platane, wo ihm jemand einen Schirm reichte. Seths Leiche war inzwischen völlig durchnässt, das Wasser triefte von Schuhen, Kinn, Ohren, Fingerspitzen und Hosensaum. Ozzie blieb unweit der Schuhe stehen, hob seinen Schirm an und betrachtete das bleiche, erbarmungswürdige Gesicht eines Mannes, dem er nur zweimal im Leben begegnet war.

1983, als Ozzie zum ersten Mal zur Wahl für das Amt des Sheriffs angetreten war, hatte er drei weiße Konkurrenten, aber kaum Geld gehabt. Eines Tages kam ein Anruf von Seth Hubbard, damals ein Unbekannter für ihn, der sich, wie er im Lauf der Zeit erfahren sollte, generell lieber im Hintergrund hielt. Seth wohnte im Nordosten von Ford County, kurz vor der Grenze zum benachbarten Tyler County. Er erklärte, er handele mit Holz, besitze einige Sägewerke in Alabama, dazu die eine oder andere Fabrik. Ein erfolgreicher Mann, wie es schien. Er bot an, Ozzies Wahlkampagne zu finanzieren, aber nur, wenn er Bargeld annehme. Fünfundzwanzigtausend Dollar. Hinter verschlossener Tür in seinem Büro zeigte er Ozzie die Kassette, die das Geld enthielt. Ozzie erklärte, dass Wahlkampfspenden ordnungsgemäß deklariert werden müssten. Seth erwiderte, dass er das nicht wolle. Entweder bar auf die Hand oder gar nicht.

»Was erwarten Sie dafür?«, hatte Ozzie gefragt.

»Ich will, dass Sie gewählt werden. Sonst nichts«, hatte Seth entgegnet.

»Ich weiß nicht recht.«

»Glauben Sie vielleicht, Ihre Gegner nehmen kein Schwarzgeld?«

»Doch, wahrscheinlich schon.«

»Natürlich. Machen Sie sich nichts vor.«

Ozzie nahm das Geld. Er peppte seine Kampagne auf, schaffte es mit knapper Not in die Stichwahl und zermalmte seinen Gegner am Ende. Im Anschluss daran fuhr er zweimal bei Seths Büro vorbei, um sich zu bedanken, doch Mr. Hubbard war nicht da, und Anrufe erwiderte er nicht. Ozzie versuchte, unauffällig Informationen über ihn zu sammeln, aber es war nicht viel in Erfahrung zu bringen. Es hieß, Mr. Hubbard habe ein Vermögen mit Möbeln gemacht, Genaueres wusste niemand. Er besitze achtzig Hektar Land in der Nähe seines Anwesens, sei kein Kunde örtlicher Banken, Anwaltskanzleien oder Versicherungsagenturen, besuche aber gelegentlich die Kirche.

Vier Jahre später, bei der nächsten Wahl, sah sich Ozzie mit kaum ernst zu nehmender Konkurrenz konfrontiert, dennoch bestand Seth auf einem Treffen. Erneut wechselten fünfundzwanzigtausend Dollar den Besitzer, und erneut verschwand Seth von der Bildfläche. Nun war er tot, erdrosselt von seiner eigenen Schlinge, und baumelte triefend im Regen.

Irgendwann erschien Finn Plunkett, der Coroner des County, der den Tod offiziell bestätigte.

»Holen wir ihn herunter«, ordnete Ozzie an, und die Knoten wurden gelöst und Seths Leiche langsam herabgelassen. Sie legten ihn auf eine Trage und verhüllten ihn mit einer Isolierdecke. Vier Mann schleppten ihn mühsam zum Krankenwagen. Ozzie folgte dem kleinen Tross. Er war nicht weniger ratlos als alle anderen.

Es war sein fünftes Jahr in diesem Job, und er hatte schon viele Leichen gesehen. Er hatte tödliche Autounfälle erlebt, ein paar Morde, auch ein paar Selbsttötungen. Er war weder abgestumpft noch abgeklärt. Oft genug hatte er selbst spätabends bei Eltern oder Ehepartnern angerufen, und er fürchtete sich immer noch vor dem nächsten Mal.

Der gute alte Seth. Wen sollte Ozzie anrufen? Seth war geschieden, das wusste er, aber er hatte keine Ahnung, ob er wieder geheiratet hatte. Auch über die Familie wusste er nichts. Seth war um die siebzig. Wenn er Kinder hatte, waren sie erwachsen. Man musste sie erst einmal ausfindig machen.

Nun, bald würde er mehr wissen. Auf dem Weg zurück nach Clanton, den Krankenwagen im Schlepptau, begann Ozzie, Personen anzurufen, die möglicherweise mehr über Seth Hubbard wussten.

2

Jake Brigance spähte auf die leuchtenden roten Zahlen seines Digitalweckers. Um 5.29 Uhr drückte er eine Taste und schwang vorsichtig die Beine aus dem Bett. Carla drehte sich auf die andere Seite und vergrub sich tiefer in ihre Decke. Jake tätschelte ihr den Hintern und wünschte ihr einen guten Morgen, bekam aber keine Antwort. Es war Montag, und sie würde noch eine Stunde weiterschlafen, ehe sie aus dem Bett springen würde, um in aller Eile Hanna fertig zu machen und zur Schule zu bringen. In den Sommerferien schlief sie sogar noch länger. Dann waren ihre Tage erfüllt von verschiedensten Kleine-Mädchen-Aktivitäten, je nachdem, wozu Hanna Lust hatte.

Jakes Tagesplan dagegen war ziemlich eintönig. Er stand um 5.30 Uhr auf, war um sechs im Coffee Shop und noch vor sieben im Büro. Es gab nicht viele, die morgens so früh loslegten wie Jake Brigance, wobei er sich nun, da er das reife Alter von fünfunddreißig Jahren erreicht hatte, fragte, warum er das tat. Warum er unbedingt eher in der Kanzlei sein wollte als alle anderen Anwälte der Stadt. Früher hatte er diese Zweifel nicht gekannt. Schon im Studium war es sein größter Traum gewesen, ein erfolgreicher Prozessanwalt zu werden, und diesen Traum verfolgte er so ehrgeizig wie eh und je. Doch der Alltag nagte an ihm. Seit zehn Jahren kämpfte er an dieser Front, und noch immer hatte er es mit Testamenten, Beglaubigungen und Vertragsbrüchen zu tun, nicht ein einziges anständiges Verbrechen war ihm bislang untergekommen, auch kein vielversprechender Verkehrsunfall.

Möglicherweise hatte er den Zenit seiner Karriere bereits überschritten. Der Freispruch von Carl Lee Hailey lag drei Jahre zurück, seither hatte sich nicht mehr viel getan. Bislang hatte er die Zweifel aber immer wieder abschütteln können. Schließlich war er erst fünfunddreißig. Er war ein Kämpfer, und seine größten Siege vor Gericht lagen noch vor ihm.

Einen Hund zum Ausführen gab es auch nicht mehr, seit Max in dem Feuer umgekommen war, das ihr wunderschönes, geliebtes und hoch verschuldetes Haus im viktorianischen Stil in der Adams Street zerstört hatte. Drei Jahre war es her, da hatte der Ku-Klux-Klan es in der Hochphase des Hailey-Prozesses im Juli 1985 in Brand gesteckt. Zuerst hatten sie ein Kreuzzeichen in den Vorgarten gebrannt, dann hatten sie versucht, das Haus in die Luft zu sprengen. Jake hatte Carla und Hanna weggeschickt, und das war eine weise Entscheidung gewesen. Einen Monat lang hatten die Klan-Leute wiederholt Mordanschläge auf ihn verübt, bis sie schließlich sein Haus anzündeten. Das Schlussplädoyer hatte er in einem geliehenen Anzug gehalten.

Das Thema Hund war zu heikel, um offen darüber zu sprechen. Sie hatten es mehrmals versucht, waren dann aber wieder davon abgekommen. Hanna wollte einen, und vermutlich wäre ein Haustier auch gut für sie, denn sie war ein Einzelkind und beklagte sich oft, dass sie immer allein spielen musste. Doch Jake und Carla – vor allem Carla – war bewusst, wer dafür zuständig sein würde, den Welpen stubenrein zu machen und hinter ihm herzuwischen, bis es so weit war. Außerdem lebten sie zur Miete, ihr Leben befand sich in einem Übergangsstadium. Vielleicht würde ein Hund etwas Normalität bringen, vielleicht aber auch nicht. Am frühen Morgen dachte Jake oft über das Thema nach. In Wahrheit hätte er selbst sehr gern einen Hund gehabt.

Nach einer schnellen Dusche zog er sich in einem kleinen Extrazimmer an, das Carla und er als Kleiderkammer benutzten. In diesem Haus, das jemand anders gehörte, waren alle Zimmer klein. Alles war provisorisch. Die Möbel waren eine traurige Mischung aus Ramschkäufen und Flohmarktüberresten, die alle eines Tages auf dem Müll landen würden, wenn die Dinge so liefen wie geplant. Allerdings musste Jake widerstrebend zugeben, dass fast nichts klappte wie geplant. Ihre Klage gegen die Versicherung war hoffnungslos festgefahren, obwohl die Hauptverhandlung noch gar nicht begonnen hatte. Eingereicht hatte er sie sechs Monate nach dem Urteil im Hailey-Prozess, als er auf der Höhe seines Ruhms war und vor Selbstvertrauen nur so strotzte. Wie konnte eine Versicherung es wagen, ihn übers Ohr hauen zu wollen? Nur her mit der nächsten Jury, dann würde er ein weiteres spektakuläres Urteil erwirken. Die Großspurigkeit verging ihm jedoch alsbald, als ihm bewusst wurde, dass sie dramatisch unterversichert waren. Vier Straßen weiter lag ihr Grundstück, ein Trümmerfeld, das allmählich von Pflanzen überwuchert wurde. Mrs. Pickle aus dem Nachbarhaus hatte versprochen, ein Auge darauf zu haben, aber es gab nicht viel zu bewachen. Die Nachbarn warteten darauf, dass ein schönes neues Haus errichtet wurde und die Brigances zurückkehrten.

Jake schlich in Hannas Zimmer, küsste sie auf die Wange und zog ihre Decke ein Stückchen höher. Sie war jetzt sieben, ihr einziges Kind, und es würden auch keine weiteren mehr kommen. Sie ging in die zweite Klasse der Clanton Elementary School, wo ihre Mutter nur ein paar Räume weiter die Vorschüler unterrichtete.

In der engen Küche schaltete Jake die Kaffeemaschine an und wartete, bis sie sich geräuschvoll an die Arbeit machte. Er öffnete seinen Aktenkoffer, berührte kurz die halb automatische 9-Millimeter-Pistole, die darin lag, und steckte ein paar Akten hinein. Dass er jetzt ständig mit Waffe herumlief, deprimierte ihn. Wie sollte man auf diese Weise ein normales Leben führen? Doch ohne die Waffe ging es nicht. Sie hatten sein Haus niedergebrannt, nachdem sie versucht hatten, es zu sprengen; sie hatten seine Frau am Telefon bedroht; sie hatten ein Kreuz in seinen Vorgarten gebrannt; sie hatten den Mann seiner Sekretärin bewusstlos geprügelt, sodass er später starb; sie hatten einen Attentäter geschickt, dessen Schuss Jake verfehlt und stattdessen einen Wachmann getroffen hatte; sie hatten während des Verfahrens Angst und Schrecken verbreitet und auch danach nicht aufgehört zu drohen.

Vier der Terroristen saßen inzwischen Haftstrafen ab – drei davon im Bundesgefängnis, einer in Parchman. Nur vier, rief sich Jake immer wieder ins Gedächtnis. Es hätte mindestens ein Dutzend Verurteilungen geben müssen, da war er sich mit Ozzie und anderen schwarzen Führungspersönlichkeiten im County einig. Aus Gewohnheit und Frust rief Jake mindestens einmal die Woche beim FBI an, um sich nach dem neuesten Stand der Ermittlungen zu erkundigen. Nachdem drei Jahre vergangen waren, wurde er oft nicht einmal zurückgerufen. Dann schrieb er Briefe. Seine Akte füllte einen gesamten Schrank in seinem Büro.

Vier saßen ein, doch Jake kannte noch viele andere, die zumindest seiner Ansicht nach verdächtig waren. Manche waren weggezogen, andere geblieben, doch sie alle waren irgendwo da draußen und lebten ihr Leben, als wäre nichts geschehen. Und so trug er Waffen, mit Waffenschein und allem Drum und Dran.Eine war in seinem Aktenkoffer, eine in seinem Wagen. Im Büro hatte er mehrere verteilt. Seine Jagdwaffen waren in den Flammen geblieben, doch nach und nach würde er seine Sammlung wieder auffüllen.

Er trat nach draußen auf die Veranda und sog die kühle Luft in seine Lungen. Direkt vor dem Haus auf der Straße stand ein Streifenwagen. Am Steuer saß ein gewisser Louis Tuck, der Deputy, der die Nachtschicht hatte. Er war vor allem dazu da, Präsenz zu zeigen und täglich von Montag bis Samstag pünktlich morgens um 5.45 Uhr neben dem Briefkasten zu stehen, wenn Mr. Brigance auf die Veranda heraustrat und ihm zuwinkte. Dann winkte Tuck zurück und konnte berichten, dass die Brigances wieder eine Nacht überlebt hatten.

Solange Ozzie Walls Sheriff in Ford County war, und das würde zumindest noch drei Jahre der Fall sein, wahrscheinlich sogar viel länger, würden er und seine Behörde alles tun, um Jake und dessen Familie zu schützen. Jake hatte Carl Lee Haileys Fall übernommen, hatte für ein lächerliches Honorar sein Bestes gegeben, sich Drohungen und Attentaten ausgesetzt und am Ende sein Hab und Gut verloren, bis es zu dem Freispruch kam, über den in Ford County immer noch gesprochen wurde. Jake zu schützen war Ozzies oberste Priorität.

Der Deputy fuhr los. Er würde den Block einmal umkreisen und zurückkommen, wenn Jake aus dem Haus war. Er würde das Gebäude beobachten, bis er in der Küche Licht sah und wusste, dass Carla aufgestanden war.

Jake fuhr einen von zwei Saabs, die es in Ford County gab, rot, mit gut dreihunderttausend Kilometern auf dem Tacho. Er brauchte dringend ein neues Auto, konnte sich aber keines leisten. In einer Kleinstadt wie Clanton ein so exotisches Auto zu fahren war ursprünglich mal eine lässige Idee gewesen, doch jetzt fraßen ihn die Reparaturkosten auf. Die nächste Werkstatt war in Memphis, eine Autostunde entfernt. Jede Fahrt dorthin kostete ihn einen halben Tag und eintausend Dollar. Jake war längst bereit für ein amerikanisches Modell. Jeden Morgen, wenn er den Zündschlüssel drehte, erlebte er einen bangen Moment, bis der Motor ansprang. Bislang war er immer gestartet, doch in den letzten Wochen brauchte er hin und wieder einen zweiten oder dritten Anlauf und reagierte nicht mehr so prompt. Das verhieß nichts Gutes. Außerdem waren da noch andere Geräusche, die Jake beunruhigten, und die Reifen, deren Profil allmählich seine Grenze erreichte, überprüfte er jetzt alle zwei Tage. Er bog rückwärts in die Culbert Street ein. Obwohl sie nur vier Straßen von ihrem leeren Grundstück in der Adams Street entfernt wohnten, gehörte diese Gegend eindeutig zu den einfacheren Wohngebieten der Stadt. Das Nachbarhaus war ebenfalls vermietet. In der Adams Street standen nur alte, stattliche, stilvolle Häuser, die Culbert Street dagegen war ein Sammelsurium aus Vorstadtkästen, die hochgezogen worden waren, ehe sich die Stadt ernsthaft über Stadtplanung Gedanken gemacht hatte.

Auch wenn Carla nichts sagte, wusste Jake, dass sie gern woanders hinziehen würde.

Sie hatten darüber gesprochen, umzuziehen, möglicherweise sogar ganz aus Clanton wegzugehen. Die drei Jahre seit dem Hailey-Verfahren waren wesentlich weniger erfolgreich gewesen, als sie gehofft und erwartet hatten. Wenn es Jake beschieden war, sein Anwaltsleben von der Hand in den Mund zu bestreiten, dann konnte er das genauso gut woanders tun. Als Vorschullehrerin würde Carla überall einen Job bekommen. Bestimmt würden sie sich ein neues Leben aufbauen können, in dem sie nicht ständig alarmbereit sein und Waffen tragen mussten. Jake wurde zwar von den Schwarzen in Ford County verehrt, doch viele Weiße hassten ihn. Außerdem waren die Irren immer noch auf freiem Fuß. Andererseits vermittelte es ein gewisses Gefühl von Sicherheit, von Freunden umgeben zu sein. Die Nachbarn beobachteten den Verkehr, und jedes auffällige Fahrzeug wurde sofort bemerkt. Jeder Polizist in der Stadt und jeder Deputy im County wusste, dass die Sicherheit der kleinen Brigance-Familie oberstes Gebot war.

Die Wahrheit war, dass Jake und Carla nie aus Clanton wegziehen würden, doch es machte Spaß, hin und wieder das alte Spiel zu spielen: Wo würdest du gern leben? Es war nicht mehr als ein Spiel, denn Jake wusste, dass er nicht in eine großstädtische Megakanzlei passte. Und es gab mit Sicherheit keine Kleinstadt im ganzen Land, in der es nicht schon von schlecht verdienenden Anwälten wimmelte. Er machte sich keine Illusionen, was seine Zukunft anging, aber das war in Ordnung. Solange er nur halbwegs Geld verdiente.

Er verlangsamte kurz an dem verwüsteten Grundstück in der Adams Street, fluchte leise über die Feiglinge, die das Haus abgefackelt hatten, fand auch ein paar ausgewählte Nettigkeiten für die Versicherung und gab dann wieder Gas. Von der Adams Street bog er in die Jefferson Street ein und schließlich in die Washington Street, die nördlich des Clanton Square in westöstlicher Richtung verlief. Hier lag seine Kanzlei, direkt gegenüber dem imposanten Gerichtsgebäude. Er parkte wie jeden Morgen an derselben Stelle, denn morgens um sechs Uhr gab es noch freie Auswahl. Der Stadtplatz würde noch etwa zwei Stunden lang friedlich daliegen, bis Gericht, Läden und Büros rundherum öffneten.

Im Gegensatz dazu war der Coffee Shop bereits voll von Arbeitern, Farmern und Deputys, als Jake eintrat und in die Runde grüßte. Wie gewöhnlich war er der Einzige mit Anzug und Krawatte. Die Angestellten pflegten sich eine Stunde später gegenüber im Tea Shoppe zu treffen, um über Zinsentwicklung und Weltpolitik zu diskutieren. Im Coffee Shop wurde über Football, Lokalpolitik und Barschfischen gesprochen. Jake war einer der wenigen Anzugträger, die in dieser Runde überhaupt geduldet wurden. Und dafür gab es mehrere Gründe: Er war beliebt, hart im Nehmen und gutmütig – außerdem war er immer gut für eine kostenlose Rechtsberatung, wenn einer der Mechaniker oder Trucker ein Problem hatte. Er hängte sein Jackett auf und setzte sich zu Deputy Marshall Prather an den Tisch. Zwei Tage zuvor hatte das Team der Ole Miss – der University of Mississippi – mit drei Touchdowns gegen Georgia verloren, das war natürlich das heutige Topthema. Eine aufreizende, Kaugummi kauende Bedienung namens Dell schenkte Jake Kaffee ein und versetzte ihm dabei einen kecken Stoß mit ihrem prallen Hintern, genau wie an jedem anderen Morgen der Woche außer sonntags. Ohne dass er etwas bestellte, brachte sie binnen Minuten sein übliches Frühstück, das aus Weizentoast, Maisbrei und Erdbeermarmelade bestand.

Während Jake Tabasco auf seinen Mais spritzte, fragte Prather: »Sagen Sie mal, haben Sie eigentlich Seth Hubbard gekannt?«

»Bin ihm nie begegnet«, erwiderte Jake und fing sich ein paar Blicke ein. »Ich habe seinen Namen ein-, zweimal gehört. Hatte er nicht ein Anwesen in der Nähe von Palmyra?«

»Stimmt genau.« Prather kaute auf einer Wurst, während Jake Kaffee trank.

Jake ließ einen Augenblick verstreichen, ehe er wieder sprach. »Ich gehe wohl recht in der Annahme, dass Seth Hubbard etwas zugestoßen ist, sonst hätten Sie nicht das Perfekt verwendet.«

»Was habe ich?«, fragte Prather. Der Deputy hatte die unangenehme Angewohnheit, Fangfragen in die Runde zu streuen und dann schweigend abzuwarten. Er wusste meist selbst schon Bescheid, war aber immer neugierig, ob sonst noch jemand etwas beizutragen hatte.

»Sie haben in der Vergangenheit gesprochen. Sie haben mich gefragt, ob ich ihn gekannt habe, nicht, ob ich ihn kenne. Letzteres würde bedeuten, dass er noch lebt. Stimmt’s?«

»Schätze schon.«

»Also, was ist passiert?«

Andy Furr, Automechaniker bei Chevrolet, sagte laut: »Hat sich gestern umgebracht. Man hat ihn gefunden, wie er am Baum hing.«

»Mit Abschiedsbrief und allem«, fügte Dell hinzu, die eben mit der Kaffeekanne vorbeikam. Das Café war schon seit einer Stunde geöffnet, Dell wusste also mit Sicherheit alles, was über Seth Hubbards Ableben bislang bekannt geworden war.

»Und was stand da drin?«, fragte Jake ruhig.

»Darf ich Ihnen nicht verraten, Schätzchen«, flötete sie. »Das geht nur Seth und mich was an.«

»Du hast Seth doch gar nicht gekannt«, sagte Prather.

Dell war als mannstoll bekannt und hatte außerdem eine scharfe Zunge. »Ich habe Seth geliebt. Bestimmt mehr als einmal. Wie oft, weiß ich leider nicht mehr.«

»Da waren ja auch so viele andere«, bemerkte Prather.

»Stimmt, aber du kommst nie darauf, wie viele, alter Junge.«

»Sicher, dass du das selbst noch weißt?«, konterte Prather und erntete Gelächter.

»Wo war der Abschiedsbrief?«, fragte Jake, um zum Thema zurückzukehren.

Prather stopfte sich einen Riesenbissen Pfannkuchen in den Mund, kaute eine Weile und erwiderte dann: »Auf dem Küchentisch. Jetzt hat ihn Ozzie. Der ermittelt noch, es gibt aber nicht viel dazu zu sagen. Anscheinend ist Hubbard wie immer in die Kirche gegangen, dann nach Hause gefahren, um Leiter und Seil zu holen, und hat es dann getan. Einer seiner Arbeiter hat ihn gegen zwei Uhr nachmittags gefunden, wie er im Regen baumelte. Im Sonntagsanzug.«

Das alles klang spannend, bizarr und tragisch, doch Jake fiel es schwer, für jemanden, den er nie kennengelernt hatte, Mitgefühl zu empfinden.

»War er reich?«, wollte Andy Furr wissen.

»Keine Ahnung«, erwiderte Prather. »Ich schätze, Ozzie hat ihn gekannt, aber er hat nicht viel gesagt.«

Dell füllte ihre Becher nach und hielt dann inne. Eine Hand in die Hüfte gestützt, sagte sie: »Also, ich hab ihn nicht persönlich gekannt. Aber meine Cousine kennt seine erste Frau, er war ja mindestens zweimal verheiratet, und nach dem, was die sagt, hat er Land und Geld. Sie meinte, er hätte sich immer gern bedeckt gehalten, hat wohl niemandem getraut. Sie hat auch gesagt, dass er ein verdammter Mistkerl war, aber nach einer Scheidung reden alle so.«

»Du kennst dich da ja aus«, ergänzte Prather.

»Du sagst es, mein Lieber. Gegen mich bist du ein Waisenknabe.«

»Gibt es einen Letzten Willen?«, fragte Jake. Nachlassangelegenheiten waren nicht unbedingt sein Ding, doch wenn es um eine größere Erbschaft ging, sprang ein anständiges Honorar heraus. Es war viel Papierkram, verbunden mit ein paar Gerichtsterminen, nicht kompliziert und nicht besonders aufwendig. Spätestens um neun Uhr würden die Anwälte der Stadt auf der Lauer liegen, um herauszufinden, was es mit Seth Hubbards Letztem Willen auf sich hatte.

»Weiß man noch nicht«, sagte Prather.

»Testamente sind nicht öffentlich, oder, Jake?«, fragte Bill West, der in einer Schuhfabrik im Norden der Stadt als Elektriker arbeitete.

»Erst nach dem Tod. Man kann seinen Letzten Willen bis zum allerletzten Moment ändern. Außerdem will mancher vielleicht nicht, dass alle Welt weiß, was darin steht, bevor er tot ist. Sobald der Verfasser gestorben und das Testament eröffnet ist, wird es zu den Behördenakten genommen. Ab dann ist es öffentlich einsehbar.« Jake sah sich um und zählte mindestens drei Männer, deren Testamente er aufgesetzt hatte – knapp, schnell und günstig. Es war stadtbekannt, dass er so arbeitete. Auf diese Weise kamen immer wieder neue Aufträge.

»Wann wird denn ein Testament eröffnet?«, wollte Bill West wissen.

»Da gibt es keine Vorschriften. Im Allgemeinen finden der Ehepartner oder die Kinder des Verstorbenen den Letzten Willen, bringen ihn zu einem Anwalt, und rund einen Monat nach der Beerdigung gehen sie damit zum Nachlassgericht.«

»Und wenn es keinen Letzten Willen gibt?«

»Der Traum jedes Anwalts«, sagte Jake lachend. »Chaos. Wenn Mr. Hubbard ohne Testament gestorben ist und ein paar Exfrauen, vielleicht ein paar erwachsene Kinder und dazu Enkel zurückgelassen hat, könnte es gut sein, dass sie sich die nächsten fünf Jahre um das Erbe streiten, vorausgesetzt, es ist genug da, worum man sich streiten kann.«

»Oh, da ist genug da«, sagte Dell vom anderen Ende des Raums. Ihr entging nichts. Wenn man hustete, erkundigte sie sich nach der Gesundheit. Wenn man nieste, kam sie mit einem Taschentuch gelaufen. Wenn man ungewöhnlich still war, fragte sie einen über Privatleben oder Job aus. Wenn man flüsterte, kam sie an den Tisch und füllte Becher oder Gläser auf, ganz gleich, wie voll die waren. Ihr entging nichts, sie merkte sich alles und erinnerte ihre Stammgäste oft noch Jahre später an Dinge, die sie einmal ganz anders gesagt hätten.

Marshall Prather sah Jake an und verdrehte die Augen, als wollte er sagen: Die hat sie doch nicht alle. Doch er war klug genug zu schweigen. Stattdessen aß er seine Pfannkuchen auf und machte sich auf den Weg.

Jake folgte ihm bald nach. Um 6.40 Uhr bezahlte er seine Rechnung und umarmte auf dem Weg nach draußen Dell, deren aufdringliches Parfüm ihm für einen kurzen Moment den Atem raubte. Der Himmel im Osten schimmerte rosa in der Dämmerung. Nach dem gestrigen Regen war die Luft klar und kühl. Wie immer ging Jake zunächst Richtung Osten, von seiner Kanzlei weg, mit energischen Schritten, als wäre er auf dem Weg zu einem wichtigen Termin. In Wahrheit hatte er keinen einzigen wichtigen Termin an diesem Tag. Es würden nur ein paar Leute bei ihm im Büro vorbeikommen, die seinen Rat suchten.

Sein morgendlicher Spaziergang führte ihn einmal um den Clanton Square herum, vorbei an Banken und Versicherungsagenturen, an Immobilienmaklern, Läden und Cafés, die dicht nebeneinanderlagen. Um diese Zeit hatten sie alle noch geschlossen. Mit wenigen Ausnahmen waren die Häuser zweistöckig. Ihre Klinkerfassaden waren unterbrochen von Balkonen mit schmiedeeisernen Geländern, die über das Trottoir ragten. Der Platz war quadratisch angelegt, ein Rasen in der Mitte, an einer Seite das Gerichtsgebäude. Clanton boomte zwar nicht gerade, starb aber auch nicht aus wie so viele andere Kleinstädte im Süden. Die Volkszählung von 1980 hatte etwas über achttausend Einwohner ergeben, ein Viertel der Bevölkerung des gesamten County. Es wurde damit gerechnet, dass die Zahlen bis zum nächsten Zensus leicht ansteigen würden. Es gab keine leer stehenden Ladenlokale, keine traurigen »Zu vermieten«-Schilder in den Schaufenstern. Jake stammte aus Karaway, einer kleinen Stadt mit zweitausendfünfhundert Einwohnern, knapp dreißig Kilometer von Clanton entfernt. Die Main Street dort starb nach und nach aus, je mehr Geschäfte und Cafés dichtmachten. Auch die Anwälte packten einer nach dem anderen ihre Sachen und zogen in die Hauptstadt des County. In Clanton gab es sechsundzwanzig Kanzleien, alle am Clanton Square, die Zahl stieg beständig, und die Konkurrenten begannen sich gegenseitig zu erdrücken. Jake fragte sich oft, wo das enden sollte.

Er genoss es, an den anderen Kanzleien vorbeizugehen und auf ihre geschlossenen Türen und verwaisten Empfangsräume zu blicken. Es fühlte sich dann ein wenig an, als wäre er ihnen eine Runde voraus. Während die Konkurrenz noch schlief, war er längst bereit, es anzupacken. Er ging am Büro von Harry Rex Vonner vorbei, seinem vermutlich besten Freund unter den Kollegen, der selten vor neun Uhr kam und dann meist ein Wartezimmer voller gereizter Scheidungskandidaten vorfand. Harry Rex hatte mehrere Ehefrauen verschlissen und kannte sich mit stressigem Privatleben aus, deshalb arbeitete er lieber bis in den späten Abend. Auch die verhasste Kanzlei von Sullivan passierte Jake, die die meisten Anwälte im County beschäftigte. Bei der letzten Zählung waren es neun gewesen. Neun Arschlöcher, denen Jake am liebsten aus dem Weg ging. Wobei das viel mit Neid zu tun hatte. Zu Sullivans Mandanten gehörten Banken und Versicherungen, und seine Mitarbeiter verdienten mehr als alle anderen Anwälte der Stadt zusammen. Als Nächstes kam das verriegelte Büro eines alten Freundes namens Mack Stafford, von dem seit eineinhalb Jahren niemand mehr etwas gehört oder gesehen hatte, nachdem er angeblich mitten in der Nacht verschwunden war, mitsamt dem Geld seiner Mandanten. Seine Frau und seine beiden Töchter warteten immer noch auf ihn, ebenso wie eine Anklage. Im Stillen hoffte Jake, dass Mack irgendwo am Strand lag, Rum-Cocktails trank und nie zurückkommen wollte. Er war in seiner Ehe sehr unglücklich gewesen. »Nicht aufgeben, Mack«, sagte Jake jeden Morgen und strich über das Vorhängeschloss, ohne seine Schritte zu verlangsamen.

Er kam an den Büros der Ford County Times vorbei, beim Tea Shoppe, der sich allmählich mit Leben füllte, an einem Herrenausstatter, bei dem er im Ausverkauf seine Anzüge erstand, dem Café Claude’s, das einem Schwarzen gehörte und wo er sich freitags mit den anderen liberalen Weißen der Stadt zum Mittagessen traf, einem Antiquitätenladen – der Inhaber war ein Ganove, den Jake schon zweimal verklagt hatte –, einer Bank, die noch immer die zweite Hypothek auf sein Haus zurückhielt, weswegen er einen langwierigen Prozess führte, und dem Verwaltungsgebäude des County, wo der neue Bezirksstaatsanwalt saß, wenn er in der Stadt war. Dessen Vorgänger, Rufus Buckley, war letztes Jahr von den Wählern abgestraft worden und schien sich dauerhaft aus dem Amt zurückgezogen zu haben. Zumindest hofften das Jake und viele andere. Buckley und er waren sich im Hailey-Verfahren fast an die Kehle gesprungen, und Jakes Hass hatte sich seitdem keineswegs gelegt. Inzwischen war der Mann in seine Heimatstadt Smithfield in Polk County zurückgekehrt, wo er seine Wunden leckte und in seiner Kanzlei in der Main Street zwischen vielen anderen ums Überleben kämpfte.

Damit war die Runde zu Ende, und Jake schloss die Tür zu seinem eigenen Büro auf, das als das schönste der ganzen Stadt galt. Wie viele andere Gebäude um den Platz herum war es vor hundert Jahren von der Wilbanks-Familie errichtet worden, und bis vor Kurzem hatte stets ein Wilbanks eine Kanzlei darin betrieben. Die Tradition wurde erst gebrochen, als Lucien, der letzte Wilbanks-Abkömmling und mit Sicherheit der verrückteste, seine Zulassung verlor. Gerade erst hatte er Jake eingestellt, frisch von der Uni und voller Ideale. Doch bevor Lucien ihn desillusionieren konnte, kam die Anwaltskammer und zog dessen Lizenz ein. Nachdem Lucien weg und kein weiterer Wilbanks in Sicht war, übernahm Jake die prachtvolle Kanzlei, von deren zehn Zimmern er gerade einmal die Hälfte nutzte. Es gab einen großzügigen Empfangsbereich, in dem die Sekretärin saß und die Mandanten begrüßte. Darüber hatte Jake sein Büro, einen über achtzig Quadratmeter großen Raum mit einemimposanten Eichenschreibtisch, an dem schon Lucien und dessen Vorfahren gesessen hatten. Wenn Jake sich langweilte, was öfter vorkam, ging er durch die Fenstertüren nach draußen auf den Balkon und genoss den großartigen Ausblick auf das Gerichtsgebäude und den Platz.

Pünktlich um sieben Uhr saß er am Schreibtisch und trank Kaffee. Er blickte in seinen Kalender und musste sich eingestehen, dass der Tag nicht sonderlich vielversprechend aussah.

3

Die aktuelle Sekretärin hieß Roxy, war dreißig und vierfache Mutter. Jake hatte sie nur eingestellt, weil er keine bessere fand. Als er vor fünf Monaten jemanden gesucht hatte, war er in einer Notlage gewesen. Für Roxy sprach, dass sie jeden Morgen um halb neun Uhr herum zur Arbeit erschien, meist ein paar Minuten später, und halbwegs passabel erledigte, was zu ihrer Jobbeschreibung gehörte: Anrufe entgegennehmen, Mandanten begrüßen, Schnorrer abwimmeln, tippen, Ablage machen, einen einigermaßen aufgeräumten Arbeitsplatz vorweisen. Gegen sie sprach– und da gab es schon wesentlich mehr zu sagen–, dass sie wenig Leistungsbereitschaft zeigte, ihre Arbeit nur als vorübergehende Lösung sah, bis sich etwas Besseres fand, auf der hinteren Terrasse rauchte und danach roch, dass sie über das Gehalt klagte und ständig entsprechende Anspielungen machte, alle Anwälte für reiche Geizhälse hielt und überhaupt eine unangenehme Person war. Sie stammte aus Indiana, und wie viele aus dem Norden brachte sie wenig Verständnis für die Kultur des Südens auf. Offenbar stammte sie aus besseren Kreisen, doch dann hatte es sie in ein rückständiges Nest wie Clanton verschlagen. Auch wenn Jake keine Nachforschungen angestellt hatte, vermutete er, dass ihre Ehe alles andere als gut lief. Ihr Mann hatte seine Stelle wegen Pflichtversäumnis verloren. Sie hatte Jake gebeten, für ihn zu klagen, doch Jake hatte abgelehnt, und das machte ihr Verhältnis auch nicht leichter. Außerdem fehlten rund fünfzig Dollar aus der Handkasse, und Jake vermutete das Schlimmste.

Wenn sein Verdacht stimmte, würde er sie feuern müssen, und daran wollte er noch nicht einmal denken. Morgens in seinen stillen Minuten sprach er täglich ein Gebet und bat Gott, ihm Geduld zu schenken, damit er es mit dieser Frau weiterhin aushielt.

Da waren schon so viele andere gewesen. Er hatte immer junge Frauen genommen, weil das Angebot größer war und sie geringere Gehälter akzeptierten. Die besseren heirateten, wurden schwanger und wollten ein halbes Jahr Mutterschutz. Die schlechten waren auf Flirts aus, trugen hautenge Miniröcke und machten anzügliche Bemerkungen. Eine drohte mit einer Klage wegen sexueller Belästigung, als Jake sie entließ, doch dann wurde sie wegen Scheckbetrugs festgenommen und verschwand von der Bildfläche.

Später hatte er reifere Frauen bevorzugt, um der sexuellen Versuchung von vornherein zu begegnen, doch sie waren allesamt herrschsüchtige Glucken gewesen, hatten mit Wechseljahresbeschwerden oder anderen Wehwehchen zu tun gehabt und waren ständig beim Arzt oder auf Beerdigungen.

Lange Zeit hatte Ethel Twitty das Regiment im Vorzimmer geführt, die schon für die Wilbanks gearbeitet hatte, als deren Kanzlei noch auf Hochtouren lief. Vierzig Jahre lang hatte Ethel ihre Arbeitgeber herumkommandiert, ihre Kolleginnen terrorisiert und die Junganwälte nach spätestens ein oder zwei Jahren verprellt. Inzwischen war sie im Ruhestand, nachdem Jake sie im Verlauf des Hailey-Prozesses entlassen hatte. Ihr Mann war von Schlägern zu Tode geprügelt worden, wahrscheinlich im Auftrag des Klans, doch der Fall war noch immer nicht gelöst, und die Ermittlungen liefen ins Nichts. Jake war sehr erleichtert gewesen, als sie weg war, doch jetzt vermisste er sie beinahe.

Um exakt halb neun stand er unten in der Küche und schenkte sich Kaffee ein. Dann durchstöberte er einen Archivraum, als wäre er auf der Suche nach einer alten Akte. Als Roxy um 8.39 Uhr durch die Tür kam, stand Jake vor ihrem Schreibtisch und blätterte demonstrativ Unterlagen durch. Schon wieder zu spät. Es interessierte ihn wenig, dass sie vier kleine Kinder hatte, einen arbeitslosen Mann, einen Job, den sie nicht mochte und der ihrer Meinung nach schlecht bezahlt war, und mit Sicherheit einen Haufen anderer Probleme. Wenn er sie sympathisch gefunden hätte, dann hätte er sicher etwas Mitgefühl aufbringen können. Doch er mochte sie von Woche zu Woche weniger. Er hatte im Geiste eine Liste angelegt, in der er Minuspunkte vermeidlichen Konflikt kam. Es war, als würde er heimlich ein werden. Erbärmlich.

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