Der Gefangene - John Grisham - E-Book
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Der Gefangene E-Book

John Grisham

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Beschreibung

Die Hölle auf Erden – Die Geschichte eines Justizskandals

Debbie Carter arbeitet als Bardame im »Coachlight Club« in Ada, Oklahoma. Sie ist beliebt bei den Gästen. Auch der ehemalige Baseballprofi Ron Williamson sitzt oft bei ihr an der Bar. Eines Morgens wird die junge Frau erwürgt in ihrer Wohnung aufgefunden. Ron Williamson wird der Tat bezichtigt und zum Tode verurteilt. Er verbringt elf Jahre in der Todeszelle. Kurz vor der Hinrichtung zeigt eine DNA-Analyse, dass Williamson die Tat nicht begangen hat. Er wird freigesprochen. Der wahre Täter, damaliger Hauptbelastungszeuge der Anklage, wird kurz darauf verhaftet. Fünf Jahre später stirbt Ron Williamson an den Folgen der Haft.

In der Tradition von Truman Capotes »Kaltblütig« widmet sich John Grisham einem Kriminalfall, der Zeugnis ablegt über die Ungerechtigkeit eines modernen Rechtssystems. Ein erschütternder Bericht, der wie ein packender Thriller nicht mehr aus der Hand zu legen ist.

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Seitenzahl: 656

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JOHN

GRISHAM

DER GEFANGENE

Aus dem Englischen von Dr. Bernhard Liesen, Bea Reiter,

Kristiana Ruhl, Imke Walsh-Araya

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

The Innocent Man bei Doubleday, New York

9. Auflage

Copyright © 2006 by Bennington Press, LLC

Copyright © 2006 der deutschen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Oliver Neumann

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN 978-3-641-11029-1

www.heyne.de

Für Annette Hudson und Renee Simmons,

in Erinnerung an ihren Bruder.

1

In sanften Wellen erstrecken sich die Hügel des südöstlichen Oklahoma von Norman bis nach Arkansas. Wenig erinnert hier an die Ausbeutung der riesigen Ölvorkommen, die einst unter der Erde lagen. Da und dort sind noch einige träge, alte Ölförderpumpen in Betrieb, doch der Vorbeikommende fragt sich, ob sich der Aufwand lohnt. Viele andere wurden irgendwann stillgelegt, und ihre reglosen, rostigen Skelette erinnern an die glorreichen Tage, als man hier bei Erstbohrungen Springquellen entdecken und im Handumdrehen ein Vermögen machen konnte.

Solche Ölförderpumpen finden sich auch gelegentlich noch in der Umgebung von Ada, einer Stadt mit sechzehntausend Einwohnern, einem College und dem Gericht der County. Aber diese Pumpen sind nicht mehr in Betrieb, die Ölvorkommen ausgebeutet. Heute werden die Einwohner nach Stunden bezahlt und sind in Fabriken, der Tierfutter- oder Holzverarbeitung beschäftigt.

Ada ist eine geschäftige Stadt. An der Main Street finden sich keine unbewohnten Häuser mit zugenagelten Fenstern. Der Einzelhandel hat überlebt, obwohl viele Geschäfte an den Stadtrand umgezogen sind. Die Lokale im Zentrum sind um die Mittagszeit sehr gut besucht.

Das Gerichtsgebäude von Pontotoc County ist ein altes, schmales Haus, in dem sich die Anwälte und ihre Mandanten drängen. In der Nachbarschaft findet man die übliche Ansammlung von Kanzleien und kommunalen Einrichtungen. Das Gefängnis, ein flacher, fensterloser, an einen Bunker erinnernder Bau, wurde aus irgendeinem vergessenen Grund auf dem Rasen vor dem Gericht errichtet. Die Schwemme synthetischer Drogen sorgt dafür, dass es immer gut belegt ist.

Die Main Street endet am Campus der East Central University, an der viertausend Studierende eingeschrieben sind, von denen viele zwischen Ada und ihrem Wohnort pendeln. Die jungen Menschen tragen zur Vitalität und Vielfalt des Lebens in Ada und im südöstlichen Oklahoma bei.

Den aufgeweckten Journalisten der Ada Evening News entgeht nur wenig – die Tageszeitung der Region gibt sich viel Mühe, im Konkurrenzkampf mit dem Oklahoman zu bestehen, der größten Zeitung des Bundesstaates. Auf der Titelseite finden sich internationale und nationale Nachrichten, gefolgt von Neuigkeiten aus dem Staat, der Region und wichtigen örtlichen Themen – Highschool-Sport, Lokalpolitik, Veranstaltungen, Nachrufe.

In der Bevölkerungsstruktur Adas und der Pontotoc County mischen sich auf sympathische Weise Einflüsse des kleinstädtischen Südens und des freiheitsliebenden Westens. Der Akzent mit den lang gezogenen Vokalen erinnert an den von Osttexas oder von Arkansas. Es ist das Land der Chikasaw. In Oklahoma gibt es mehr Nachfahren amerikanischer Ureinwohner als in jedem anderen Bundesstaat, und nach einhundert Jahren der Vermischung fließt auch in den Adern vieler Weißer indianisches Blut. Heutzutage ist das längst kein Makel mehr; tatsächlich ist man zunehmend stolz auf dieses Erbe.

Ada liegt mitten im »Bible Belt«. In der Stadt gibt es fünfzig Kirchen und ein Dutzend verschiedene christliche Glaubensgemeinschaften. Die Gotteshäuser sind gut besucht, nicht nur an Sonntagen. Es finden sich eine katholische Kirche und eine für die Episkopalen, aber weder ein Tempel noch eine Synagoge. Viele Einwohner sind Christen oder geben vor, es zu sein. Dass man zu einer Glaubensgemeinschaft gehört, wird mehr oder weniger erwartet. Oft ist die gesellschaftliche Stellung von der religiösen Zugehörigkeit abhängig.

Mit seinen sechzehntausend Einwohnern gilt Ada im ländlichen Oklahoma fast schon als Großstadt, und die Beschäftigten und Kunden vieler Fabriken und Discounter kommen aus mehreren Countys hierher. Ada liegt hundertzwanzig Kilometer südöstlich von Oklahoma City und drei Autostunden nördlich von Dallas. Alle kennen jemanden, der in Texas lebt oder arbeitet.

Der größte Stolz der Einwohner ist das Quarter-Horse-Business. Viele der besten Pferde stammen von Züchtern aus Ada. Und wenn die Ada High Cougars wieder einmal die Footballmeisterschaft des Bundesstaates gewinnen, ist das noch lange ein Grund zum Prahlen.

Es ist ein angenehmer Ort, in dem die Menschen miteinander reden, Fremden gegenüber aufgeschlossen und stets hilfsbereit sind. In den schattigen Vorgärten spielen Kinder. Tagsüber stehen die Haustüren offen. Die Teenager machen nachts kaum einmal Ärger.

Wären nicht die beiden berüchtigten Morde zu Beginn der Achtzigerjahre gewesen, hätte die Welt nie von Ada Notiz genommen. Was den Einwohnern der Pontotoc County ganz recht gewesen wäre.

Als hätte ein ungeschriebenes Gesetz der Stadtverwaltung existiert, befanden sich in Ada die meisten Kneipen und Bars am Stadtrand, damit ihre zweifelhafte Klientel, die nur Unglück bringen konnte, die rechtschaffenen Bürger nicht behelligte. Einer dieser Läden war das Coachlight. In dem schummrig beleuchteten, höhlenartigen Metallschuppen gab es billiges Bier, Jukeboxes, eine Tanzfläche und Liveacts am Wochenende. Auf dem großen, mit Kies bestreuten Parkplatz vor dem Eingang standen deutlich mehr staubige Pick-ups als gepflegte Pkw. Die Stammkundschaft entsprach den Erwartungen – Fabrikarbeiter, die nach Feierabend einen Drink kippten, Landjugendliche auf der Suche nach Spaß, Endzwanziger, die spätnachts kamen, Musikliebhaber und Tanzwütige, die sich von den Liveacts angezogen fühlten. Im Frühstadium ihrer Karriere hatten auch die Countrysänger Vince Gill und Randy Travis hier gespielt.

Das Coachlight war beliebt und gut besucht, und die Inhaber beschäftigten etliche Teilzeitkräfte – Barkeeper, Rausschmeißer und Kellnerinnen. Eine von ihnen war Debbie Carter, eine einundzwanzigjährige Frau aus der Stadt, die vor ein paar Jahren in Ada die Highschool abgeschlossen hatte und das Leben als Single genoss. Sie hatte zwei weitere Teilzeitjobs und arbeitete gelegentlich auch als Babysitterin. Debbie besaß ein Auto und lebte allein in einer Drei-Zimmer-Wohnung über einer Werkstatt in der Eighth Street nahe der East Central University. Sie war ein gut aussehendes, dunkelhaariges Mädchen, schlank und athletisch, bei den Jungs beliebt und sehr auf ihre Unabhängigkeit bedacht.

Ihre Mutter, Peggy Stillwell, war der Ansicht, Debbie verbringe zu viel Zeit im Coachlight und anderen Bars. Sie hatte ihre Tochter nicht nach den Vorschriften des Glaubens großgezogen, damit sie so ein Leben führte. Doch nach der Highschool war sie abends immer häufiger ausgegangen und spät nach Hause gekommen. Gelegentlich führte ihr neuer Lebensstil zu Streit. Debbie beschloss, ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen zu führen, suchte eine Wohnung und zog aus, ohne jedoch das sehr enge Verhältnis zu ihrer Mutter aufzugeben.

Am Abend des 7. Dezember 1982 arbeitete Debbie im Coachlight. Während sie Drinks servierte, schaute sie immer wieder auf die Uhr. Es war nicht viel los, und sie fragte ihren Chef, ob sie ihre Schicht beenden und sich zu ein paar Freunden setzen könne. Er hatte nichts dagegen, und bald saß sie mit einem Drink bei einigen Bekannten am Tisch, unter ihnen Gina Vietta, eine Freundin von der Highschool. Ein Freund aus dieser Zeit war auch Glen Gore, der kurz darauf hereinschneite und Debbie zum Tanzen aufforderte. Sie willigte ein, hatte aber nach der Hälfte des Songs die Nase voll und ließ Gore wütend stehen. Später sagte sie auf der Damentoilette, sie würde sich sicherer fühlen, wenn eine ihrer Freundinnen bei ihr übernachte, aber über den Grund ihrer Besorgnis äußerte sie sich nicht.

Das Coachlight machte zeitig dicht, etwa um halb eins, und Gina Vietta lud einige aus der Gruppe auf einen Drink in ihre Wohnung ein. Die meisten stimmten zu, aber Debbie sagte, sie sei müde und hungrig und wolle nach Hause. Sie verließen das Lokal ohne besondere Eile.

Als das Coachlight schloss, sahen mehrere Leute, wie sich Debbie auf dem Parkplatz mit Glen Gore unterhielt. Tommy Glover kannte Debbie gut, weil beide bei einer örtlichen Glasfirma arbeiteten. Auch Gore kannte er. Als er in seinen Pick-up stieg, sah er, wie Debbie auf der Fahrerseite die Tür ihres Autos öffnete. Wie aus dem Nichts tauchte Gore auf. Sie redeten ein paar Sekunden miteinander, dann stieß Debbie ihn weg.

Mike und Terri Carpenter arbeiteten im Coachlight, er als Rausschmeißer, sie als Kellnerin. Auf dem Weg zu ihrem Wagen kamen sie an Debbies Auto vorbei. Sie saß hinter dem Steuer und sprach mit Glen Gore, der neben der Tür stand. Einen Monat zuvor hatte Debbie Mike erzählt, Gore mache ihr wegen seines Charakters Angst.

Toni Ramsey arbeitete als Schuhputzerin im Coachlight. Im Jahr 1982 boomte das Ölgeschäft in Oklahoma noch, und in Ada wurde jede Menge hübsches Schuhwerk spazieren geführt. Irgendjemand musste es auf Hochglanz polieren, und Toni verdiente auf diese Weise dringend benötigtes Geld. Sie kannte Gore gut. Als sie in dieser Nacht Feierabend machte, sah sie Debbie hinter dem Lenkrad ihres Autos sitzen. Gore kauerte vor der offenen Tür auf der Beifahrerseite. Sie unterhielten sich auf eine offenbar zivilisierte Weise. Alles schien in Ordnung zu sein.

Gore, der kein eigenes Auto besaß, hatte sich von einem Bekannten namens Ron West zum Coachlight mitnehmen lassen. Als sie gegen halb zwölf eingetroffen waren, hatte West Bier bestellt und sich mit seinem Glas an einen Tisch gesetzt, während Gore eine Runde durch den Laden machte. Er schien jeden zu kennen. Als die letzte Bestellung angekündigt wurde, zog West Gore am Ärmel und fragte ihn, ob er mit ihm mitfahren wolle. Gore bejahte, und West trat auf den Parkplatz hinaus, um auf ihn zu warten. Ein paar Minuten später kam Gore angestürmt und stieg ein.

Da beide Hunger hatten, fuhr West zu Waffler, einem Lokal im Zentrum, wo sie ein Frühstück bestellten. West bezahlte, wie schon im Coachlight. Er hatte den Abend im Harold’s begonnen, wo er ein paar Geschäftsfreunde gesucht hatte, stattdessen aber über Gore gestolpert war, der dort gelegentlich als Barkeeper und Discjockey arbeitete. Die beiden kannten sich kaum, doch als Gore fragte, ob West ihn zum Coachlight bringen könne, wollte dieser nicht Nein sagen.

West war glücklich verheiratet und Vater zweier junger Töchter. Normalerweise trieb er sich nicht zu später Stunde in Bars herum. Er wollte eigentlich nach Hause, blieb aber in Gores Gesellschaft hängen, die ihn stündlich teurer kam. Als sie das Waffler verließen, fragte West Gore, wohin er wolle. Zum Haus seiner Mutter, antwortete Gore, sie wohne an der Oak Street, nur ein paar Straßen weiter nördlich. West kannte die Stadt gut und fuhr in diese Richtung, doch bevor sie die Oak Street erreichten, überlegte Gore es sich plötzlich anders. Nachdem er stundenlang mit West herumgefahren war, wollte er nun plötzlich laufen. Die Temperatur war eisig, es ging ein scharfer Wind. Eine Kaltfront näherte sich.

West hielt in der Nähe der Oak Avenue Baptist Church, nicht weit entfernt von der Straße, wo Gore zufolge dessen Mutter wohnte. Gore sprang aus dem Wagen, bedankte sich für alles und ging in westlicher Richtung davon.

Von der Oak Avenue Baptist Church waren es etwa eineinhalb Kilometer bis zu Debbie Carters Wohnung.

Gores Mutter wohnte auf der anderen Seite der Stadt, mitnichten in der Nähe der Kirche.

Gegen halb drei erhielt Gina Vietta, die noch einige Freunde zu Gast hatte, zwei Anrufe, beide von Debbie Carter. Beim ersten Telefonat bat Debbie Gina, sie mit dem Auto zu holen, weil in ihrer Wohnung ein Besucher sei, in dessen Gesellschaft sie sich unbehaglich fühle. Gina fragte, wer bei ihr sei. Das Gespräch wurde unterbrochen, unverständliche Stimmen und Geräusche ließen darauf schließen, dass um das Telefon gekämpft wurde. Gina war aufrichtig besorgt und fand die Bitte merkwürdig. Debbie hatte ein Auto – ein Oldsmobile Baujahr 1975 – und konnte an sich doch selbst fahren, wohin sie wollte. Als Gina ihre Wohnung gerade eilig verlassen wollte, klingelte das Telefon erneut. Es war Debbie, und sie sagte, sie habe ihre Meinung geändert. Bei ihr sei alles in Ordnung, Gina brauche sich keine Sorgen zu machen. Als diese erneut fragte, wer bei ihr sei, wechselte Debbie das Thema, ohne den Namen zu nennen. Sie bat Gina, sie am Morgen durch einen Telefonanruf zu wecken, damit sie nicht zu spät zur Arbeit komme. Eine seltsame Bitte, die Debbie noch nie geäußert hatte.

Sie fuhr dennoch los, überlegte es sich unterwegs aber anders. In ihrer Wohnung waren noch Gäste. Es war sehr spät. Debbie Carter konnte gut allein auf sich aufpassen, und wenn ein Mann bei ihr war, wollte sie nicht stören. Irgendwann ging sie ins Bett, und ein paar Stunden später hatte sie vergessen, dass sie bei Debbie anrufen sollte.

Am 8. Dezember hielt Donna Johnson um elf Uhr morgens vor Debbies Wohnung, um Hallo zu sagen. Bevor Donna nach Shawnee gezogen war – etwa eine Autostunde entfernt –, waren die beiden auf der Highschool eng befreundet gewesen. Donna war nach Ada gekommen, um ihre Eltern und ein paar Freunde zu besuchen. Als sie die schmale Außentreppe zu Debbies Wohnung über der Werkstatt hinauflief, hielt sie inne, nachdem ihr bewusst geworden war, dass sie auf Scherben trat. Die Scheibe des kleinen Fensters in der Tür war zerbrochen. Aus irgendeinem Grund kam ihr zuerst der Gedanke, dass Debbie sich ausgesperrt hatte und gezwungen gewesen war, das Fenster einzuschlagen, um in die Wohnung und an die Schlüssel zu gelangen. Donna klopfte. Keine Reaktion. Dann hörte sie von drinnen Musik aus einem Radio. Sie drehte den Türknauf, es war nicht abgeschlossen. Sobald sie in der Wohnung stand, war ihr klar, dass etwas nicht stimmte.

Das kleine Wohnzimmer war ein einziges Chaos – auf den Boden gefallene Sofakissen, herumliegende Kleidungsstücke. Auf die Wand zu ihrer Rechten hatte jemand mit einer rötlichen Flüssigkeit geschrieben: »Als Nächstes stirbt Jim Smith.«

Donna rief Debbies Namen; keine Reaktion. Da sie schon einmal in der Wohnung gewesen war, wusste sie, wo das Schlafzimmer war. Sie ging dorthin, noch immer rufend. Das Bett war verrückt, Bezüge und Laken waren heruntergerissen worden. Plötzlich sah sie einen Fuß, dann Debbie – sie lag auf der anderen Seite des Betts auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten, nackt, blutverschmiert. Und auf ihrem Rücken stand etwas geschrieben.

Donna erstarrte, vor Entsetzen wie gelähmt. Fassungslos sah sie auf ihre Freundin hinunter und wartete darauf, dass sie zu atmen begann. Vielleicht, dachte sie, war alles nur ein Traum.

Sie wich zurück und trat in die Küche, wo der Mörder auf dem kleinen weißen Tisch eine weitere Nachricht hinterlassen hatte. Er könnte noch hier sein, dachte sie plötzlich. Sie stürmte aus der Wohnung, sprang in ihren Wagen, raste die Straße hinab und fand einen Eckladen mit einem Münztelefon, von dem aus sie Debbies Mutter anrief.

Peggy Stillwell hörte die Worte, wollte ihnen aber keinen Glauben schenken. Ihre Tochter sollte reglos auf dem Boden liegen, nackt und blutverschmiert? Sie forderte Donna auf, alles zu wiederholen, dann lief sie zu ihrem Auto. Die Batterie war leer. Halb betäubt vor Angst rannte sie ins Haus zurück und rief Charlie Carter an, ihren Exmann und Debbies Vater. Bei der Scheidung vor ein paar Jahren hatte man sich nicht eben freundschaftlich getrennt, und die beiden sprachen selten miteinander.

Bei Charlie Carter nahm niemand ab. Gegenüber von Debbies Wohnung, auf der anderen Straßenseite, lebte eine Freundin namens Carol Edwards. Peggy rief sie an und sagte, es sei etwas Schreckliches passiert, sie solle bitte sofort nach ihrer Tochter sehen. Peggy wartete und wartete. Schließlich rief sie erneut bei Charlie an, und diesmal meldete er sich.

Carol Edwards rannte über die Straße, bemerkte die Scherben und die offene Wohnungstür. Sie trat ein und sah die Leiche.

Charlie Carter war ein stämmiger Maurer, der gelegentlich auch als Rausschmeißer im Coachlight arbeitete. Er sprang in seinen Pick-up und fuhr mit Vollgas zur Wohnung seiner Tochter. Unterwegs bedrängte ihn jeder schreckliche Gedanke, der einem Vater in einer solchen Situation nur kommen kann. Es war schlimmer als alles, was er sich hätte vorstellen können.

Als er sie sah, rief er zweimal ihren Namen, kniete sich dann neben sie und hob behutsam ihre Schulter, um das Gesicht sehen zu können. In ihrem Mund steckte ein blutgetränkter Waschlappen. Für ihn bestand kein Zweifel, dass seine Tochter tot war, und doch wartete er, in der Hoffnung, sie würde irgendein Lebenszeichen von sich geben. Als das nicht geschah, richtete er sich langsam auf und sah sich um. Das Bett war von der Wand weggeschoben, die Bettwäsche abgezogen worden. In dem Zimmer herrschte Chaos. Offensichtlich hatte es einen Kampf gegeben. Er ging ins Wohnzimmer und las den Satz an der Wand, dann trat er in die Küche und blickte sich um. Die Wohnung hatte sich in einen Tatort verwandelt. Charlie schob die Hände in die Hosentaschen und verließ den Raum.

Donna Johnson und Carol Edwards warteten weinend auf dem Treppenabsatz vor der Wohnungstür. Sie hörten, wie Charlie sich von seiner toten Tochter verabschiedete und sagte, wie schrecklich dies alles sei. Als er nach draußen trat, weinte auch er.

»Soll ich den Notarzt rufen?«, fragte Donna.

»Nein«, erwiderte er. »Für den ist es zu spät. Benachrichtigt die Polizei.«

Trotzdem kam zuerst ein Notarztwagen mit zwei Rettungssanitätern. Sie eilten die Stufen hinauf und stürmten in die Wohnung. Innerhalb von Sekunden stand einer von ihnen wieder auf dem Treppenabsatz und übergab sich.

Als Detective Dennis Smith eintraf, drängten sich draußen Streifenpolizisten, Sanitäter und Schaulustige. Selbst zwei Staatsanwälte waren da. Da Smith klar war, dass es sich möglicherweise um Mord handelte, ließ er die nähere Umgebung sichern und absperren.

Als Captain mit siebzehn Dienstjahren beim Ada Police Department wusste Smith, was zu tun war. Ab sofort durften nur noch er selbst und ein anderer Detective sich in der Wohnung aufhalten, und er beauftragte die anderen Polizisten, in der Nachbarschaft nach Zeugen zu suchen. Smith war aufgebracht und musste gegen seine Emotionen ankämpfen. Er hatte Debbie gut gekannt – seine Tochter und Debbies jüngste Schwester waren Freundinnen. Außerdem kannte er Charlie Carter und Peggy Stillwell. Er konnte einfach nicht glauben, dass deren Tochter tot auf dem Fußboden ihrer Wohnung lag. Als seine Befehle zur Sicherung des Tatorts umgesetzt waren, begann er mit der Untersuchung der Wohnung.

Die Scherben der zerbrochenen Fensterscheibe der Eingangstür lagen sowohl draußen auf dem Treppenabsatz als auch im Inneren der Wohnung. Im Wohnzimmer stand links ein Sofa, dessen Kissen im Raum herumlagen. Vor dem Sofa fand er ein neues Flanellnachthemd, an dem noch das Preisschild von Wal-Mart hing. Auf der gegenüberliegenden Wand stand der Satz »Als Nächstes stirbt Jim Smith«, und er sah sofort, dass die Wörter mit Nagellack geschrieben worden waren.

Er kannte Jim Smith.

Auf dem kleinen weißen Tisch in der Küche fand er die nächste Nachricht, diesmal offenbar mit Ketchup geschrieben: »Sucht nich nach uns, sonst pasiert was.« Auf dem Boden vor dem Tisch lagen Jeans und ein paar Stiefel. Bald sollte er erfahren, dass Debbie sie in der Nacht zuvor im Coachlight getragen hatte.

Er ging zum Schlafzimmer, wo das Bett teilweise die Tür blockierte. Die Vorhänge waren zurückgezogen, die Fenster standen offen, es war sehr kalt in dem Raum. Debbies Tod musste ein heftiger Kampf vorausgegangen sein. Auf dem Boden lagen Kleidungsstücke, Bettwäsche, Decken und Stofftiere. Nichts schien mehr an seinem Platz zu sein. Als Detective Smith neben Debbies Leiche niederkniete, fiel ihm die dritte Botschaft des Killers auf. Auf ihrem Rücken stand, anscheinend wieder mit inzwischen getrocknetem Ketchup geschrieben: »Duke Gram«.

Er kannte auch Duke Graham.

Unter der Leiche lagen ein Kabel und ein Gürtel im Cowboystil mit großer Silberschnalle, in deren Mitte der Name »Debbie« eingraviert war.

Während Officer Mike Kieswetter, ebenfalls vom Ada Police Department, den Tatort fotografierte, begann Smith mit der Sicherung von Beweisen. Er fand Haare – auf der Leiche, dem Boden, dem Bett, den Stofftieren –, sammelte sorgfältig jedes einzelne auf, legte es in ein gefaltetes Stück Papier und notierte die genauen Fundstellen.

Danach wandte er sich den Bettlaken, Kopfkissenbezügen und Decken zu, hob schließlich das Kabel und den Gürtel auf. Bevor er die Sachen vorsichtig verstaute, notierte er erneut die Einzelheiten. Auf dem Boden des Badezimmers fand er einen zerrissenen Slip. Er beschloss, einige der Stofftiere mitzunehmen, außerdem ein Päckchen Marlboro nebst Zigarettenstummeln, eine leere 7-Up-Dose, eine Shampooflasche aus Kunststoff, ein Glas aus der Küche, das Telefon und einige weitere Haare, die er unter der Leiche fand. Außerdem entdeckte er neben der Toten, eingewickelt in ein Laken, eine Del-Monte-Ketchupflasche, die ebenfalls behutsam gesichert wurde, weil sie mit den anderen Fundstücken im kriminaltechnischen Labor des Bundesstaates untersucht werden sollte. Von dem Deckel der Flasche war nichts zu sehen; der forensische Pathologe würde ihn später finden.

Als Detective Smith mit dem Sammeln der Beweise fertig war, begann er mit der Sicherung von Fingerabdrücken, eine Prozedur, die er schon an vielen Tatorten durchgeführt hatte. Er stäubte beide Seiten der Wohnungstür ein, die Fensterrahmen, alle hölzernen Flächen im Schlafzimmer, den Küchentisch, die größeren Glasscherben, das Telefon, die gestrichenen Stellen neben Türen und Fenstern und sogar Debbies draußen geparktes Auto.

Gary Rogers war ein in Ada lebender Beamter der Polizeibehörde Oklahoma State Bureau of Investigation, kurz OSBI. Als er gegen halb eins eintraf, informierte ihn Dennis Smith über die Lage. Die beiden waren Freunde und hatten schon bei der Aufklärung vieler Verbrechen zusammengearbeitet.

Im Schlafzimmer fiel Rogers etwas auf, das wie ein größerer Blutfleck aussah – er befand sich unten an der Wand, direkt über der Fußleiste, dicht neben einer Steckdose. Später, nachdem die Leiche aus dem Zimmer gebracht worden war, bat er Officer Rick Carson, ein kachelgroßes Stück aus der Rigipsplatte herauszutrennen, um den blutigen Abdruck, der offenbar von einer Hand stammte, zu sichern.

In einer ersten Einschätzung des Falls waren sich Dennis Smith und Gary Rogers darin einig, dass es mehr als einen Täter geben musste. Das Chaos am Tatort, die Tatsache, dass Debbies Fußknöchel und Handgelenke keine Hinweise darauf verrieten, dass sie gefesselt worden war, die schwere Kopfverletzung, der in ihren Mund gestopfte Waschlappen, die blauen Flecken an ihren Seiten und auf ihren Armen, die mutmaßliche Strangulation mit dem Kabel und dem Gürtel – all das war ein bisschen viel Gewalt für einen einzelnen Täter. Außerdem war Debbie mit einer Körpergröße von einem Meter fünfundsiebzig und einem Gewicht von knapp sechzig Kilogramm keine wehrlose Person gewesen. Sie hatte mit Sicherheit entschlossen um ihr Leben gekämpft.

Schließlich traf Dr. Larry Cartmell ein, der ärztliche Leichenbeschauer aus Ada, um sich die Tote kurz anzusehen. Nach seinem ersten Eindruck war die Todesursache Ersticken durch Strangulation. Er gab die Leiche frei und vertraute sie Tom Criswell an, dem Inhaber des örtlichen Bestattungsinstituts. Debbies sterbliche Überreste wurden zwecks Obduktion in einem von Criswells Leichenwagen nach Oklahoma City gebracht, wo sie gegen halb sieben abends eintrafen und in ein Kühlfach gelegt wurden.

Smith und Rogers kehrten zum Ada Police Department zurück, um sich um Debbie Carters Angehörige zu kümmern. Während sie diese trösteten, erfuhren sie Namen – Freunde, Männer, mit denen Debbie liiert gewesen war, Mitarbeiter, Feinde, ehemalige Chefs. Namen von etlichen Leuten, die Debbie gekannt hatten und eventuell etwas über ihren Tod wussten. Die Liste wurde länger, und schließlich begannen Smith und Rogers, die männlichen Bekannten anzurufen und zu bitten, sich im Police Department zu melden. Sie sollten sich Fingerabdrücke abnehmen lassen, darüber hinaus Kopf- und Schamhaare sowie eine Speichelprobe.

Niemand verweigerte sich der Bitte. Mike Carpenter, jener Rausschmeißer des Coachlight, der Debbie in der vergangenen Nacht gegen halb eins mit Glen Gore auf dem Parkplatz gesehen hatte, fand sich als einer der Ersten ein. Tommy Glover, der Debbie und Gore ebenfalls zusammen gesehen hatte, folgte kurz darauf.

Am Abend des 8. Dezember, etwa um halb acht, tauchte Glen Gore im Harold’s auf, wo er Platten auflegen und sich um die Bar kümmern sollte. Es war praktisch niemand da, und als er sich nach dem Grund für das Ausbleiben der Gäste erkundigte, erzählte ihm jemand von dem Mord. Viele Gäste und selbst einige Angestellte hatten sich zum Police Department aufgemacht, um Fragen zu beantworten und sich Fingerabdrücke abnehmen zu lassen.

Kurz darauf fand sich auch Gore dort ein. Er wurde von Rogers und D. W. Barrett befragt, einem Polizisten aus Ada. Er sagte aus, er kenne Debbie Carter seit der Highschool und habe sie in der letzten Nacht im Coachlight gesehen.

Der komplette Polizeibericht über Gores Vernehmung lautet folgendermaßen:

Glen Gore arbeitet als Discjockey im Harold’s Club. Dort erfuhr er am 8. 12. 1982 etwa um 19:30 Uhr durch Susie Johnson von Debbie Carters Tod. Glen hat gemeinsam mit ihr die Schule besucht. Er hat sie am Montag, dem 6. 12., im Harold’s Club und am 7. 12. im Coachlight getroffen. Sie haben sich über eine neue Lackierung für Debbies Auto unterhalten. Sie hat Glen nicht erzählt, ob sie mit irgendjemandem Probleme hatte. Glen traf gegen 22:30 Uhr mit Ron West im Coachlight ein. Die beiden verließen das Lokal gemeinsam um Viertel nach eins. Glen war nie in Debbies Wohnung.

Der Bericht wurde von D. W. Barrett verfasst, im Beisein von Gary Rogers, und anschließend mit Dutzenden anderer zu den Akten genommen.

Später sollte Gore seine Aussage ändern und behaupten, er habe gesehen, wie ein Mann namens Ron Williamson Debbie Carter in der Nacht des 7. Dezember im Coachlight belästigt habe. Diese geänderte Version wurde von niemandem bestätigt. Viele der Anwesenden kannten Ron Williamson, einen einigermaßen berüchtigten Zecher mit lautem Mundwerk. Niemand erinnerte sich, ihn in der fraglichen Nacht im Coachlight gesehen zu haben. Tatsächlich behaupteten die meisten Befragten nachdrücklich, er sei nicht dort gewesen.

Wenn Ron Williamson eine Bar besuchte, entging das niemandem.

Seltsam war allerdings, dass Gore der Polizei bei der hektischen Abnahme von Fingerabdrücken und Proben am 8. Dezember irgendwie durch die Lappen gegangen war. Entweder hatte er sich heimlich verdrückt, oder er war versehentlich übergangen worden. Wie auch immer, von ihm gab es weder Fingerdrücke noch Haar- und Speichelproben.

Über dreieinhalb Jahre sollten vergehen, bis die Polizei das Versäumte nachholte bei dem Mann, der Debbie Carter vor dem Mord als Letzter gesehen hatte.

Am Nachmittag des 9. Dezember um fünfzehn Uhr begann Dr. Fred Jordan, ärztlicher Leichenbeschauer in Diensten des Bundesstaats und forensischer Pathologe, mit der Obduktion von Debbie Carters Leiche. Anwesend waren Gary Rogers und Jerry Peters, ebenfalls vom OSBI.

Dr. Jordan, der schon Tausende von Autopsien vorgenommen hatte, stellte zunächst fest, dass es sich um die Leiche einer jungen weißen Frau handelte, die nichts als weiße Socken am Leib trug. Die Totenstarre war vollständig eingetreten, was bedeutete, dass sie mindestens vierundzwanzig Stunden tot sein musste. Auf ihre Brust hatte jemand offenbar mit Nagellack das Wort »Stirb!« geschrieben. Ihr Körper war mit einer anderen roten Flüssigkeit verschmiert, vermutlich Ketchup, und auf ihrem Rücken stand, ebenfalls mit Ketchup geschrieben, »Duke Gram«.

Es gab mehrere Prellungen und blaue Flecken auf den Armen, der Brust, im Gesicht. Dr. Jordan entdeckte winzige Schnittverletzungen an der Innenseite der Lippen, und der zwischen ihnen hervorschauende, blutgetränkte grüne Waschlappen, den er behutsam entfernte, war tief in die Mundhöhle gepresst worden, bis in den Rachen. Am Hals fanden sich, halbkreisförmig angeordnet, Abschürfungen und Druckstellen. Die Vagina wies Prellungen auf, der Mastdarm wirkte etwas aufgetrieben. Als Dr. Jordan der Sache auf den Grund ging, fand er im Anus den kleinen Schraubverschluss einer Ketchupflasche.

Die Suche nach inneren Verletzungen ergab nichts Unerwartetes – Lungenversagen und Herzerweiterung. Obwohl auch die Kopfhaut einige Prellungen aufwies, fanden sich keine Spuren einer Gehirnverletzung.

Alle Verletzungen waren Debbie Carter zugefügt worden, als sie noch gelebt hatte.

An Handgelenken und Fußknöcheln fanden sich keine Anzeichen dafür, dass sie gefesselt worden war. Eine Reihe kleiner Prellungen an den Unterarmen ging vermutlich darauf zurück, dass sie sich verteidigt hatte. Zum Zeitpunkt ihres Todes hatte sie mit 0,04 Promille nur sehr wenig Alkohol im Blut gehabt. Dr. Jordan nahm aus der Mundhöhle, der Vagina und dem Anus Abstriche. Deren Analyse unter dem Mikroskop ergab später, dass sich in der Vagina und im Anus Spermaspuren fanden, nicht aber im Mund.

Um Beweise zu sichern, schnitt Dr. Jordan ihr die Fingernägel und kratzte Proben des Ketchups und des Nagellacks ab. Dann kämmte er ein paar lose Schamhaare aus und schnitt eine Strähne von ihrem Kopfhaar ab.

Als Todesursache diagnostizierte er Ersticken, ausgelöst durch den in ihren Mund gestopften Waschlappen und die Strangulation mit dem Gürtel oder Kabel.

Nachdem Dr. Jordan die Autopsie beendet hatte, fotografierte Jerry Peters die Leiche und nahm anschließend alle Fingerabdrücke sowie Abdrücke der Hände.

Der Schock hatte Peggy Stillwell bis zur Entscheidungsunfähigkeit paralysiert. Da sie nicht vorhatte, an der Beerdigung teilzunehmen, war ihr deren Organisation und Gestaltung gleichgültig. Sie konnte weder essen noch sich waschen, und sie konnte vor allem nicht begreifen, dass ihre Tochter tot war. Peggys Schwester Glenna Lucas war ständig bei ihr und nahm sich der Formalitäten an. Gottesdienst und Beerdigung wurden geplant, und die Familie brachte Peggy schonend bei, dass mit ihrer Teilnahme gerechnet werde.

Am Samstag, dem 11. Dezember, fand in der Kapelle des Bestattungsinstituts Criswell ein Trauergottesdienst statt. Glenna badete ihre Schwester, zog sie an und fuhr sie zu der Kapelle, wo sie während der schweren Prüfung die ganze Zeit über ihre Hand hielt.

Im ländlichen Oklahoma finden Trauergottesdienste bei geöffnetem Sarg statt, der direkt unterhalb der Kanzel positioniert ist, damit alle den Verstorbenen sehen können. Woher dieser Brauch kommt, ist unklar, aber er macht den Abschied für die Trauernden umso schmerzlicher.

Niemand der Anwesenden konnte übersehen, dass Debbie misshandelt worden war. Ihr Gesicht war übel zugerichtet und geschwollen, doch die hochgeschlossene Spitzenbluse verbarg die Würgemale an ihrem Hals. Sie trug ihre Lieblingsstiefel, die Jeans mit dem Cowboygürtel mit der großen Schnalle und einen Ring mit einem diamantbesetzten Hufeisen, den ihre Mutter schon als Geschenk für das bevorstehende Weihnachtsfest gekauft hatte.

Der gut besuchte Trauergottesdienst wurde von Reverend Rick Summers abgehalten. Als Debbie danach auf dem Rosedale-Friedhof beigesetzt wurde, fiel etwas Schnee. Ihre Eltern, zwei Schwestern, zwei noch lebende Großeltern und zwei Neffen trauerten um sie. Debbie gehörte zu einer kleinen Baptistengemeinde und war im Alter von sechs Jahren getauft worden.

Der Mord erschütterte die Menschen in Ada. Obwohl die Stadt in ihrer Geschichte reichlich Erfahrungen mit Gewalt und Morden gemacht hatte, waren die Opfer gewöhnlich Cowboys, Vagabunden und ähnlich unstete Existenzen gewesen. Männer, die selbst schnell zur Waffe griffen und wahrscheinlich zur Gefahr geworden wären, wenn sie sich keine Kugel eingefangen hätten. Aber eine so brutale Vergewaltigung einer jungen Frau mit anschließendem Mord war beängstigend, und in der Stadt kursierten jede Menge Gerüchte und Spekulationen. Jetzt wurden Türen und Fenster nachts fest geschlossen, Teenager erhielten Ausgehverbote. Junge Mütter blieben in der Nähe, wenn ihre Kinder in den schattigen Vorgärten spielten.

In den Bars und Lokalen war von fast nichts anderem mehr die Rede. Da Debbie in mehreren Kneipen gearbeitet hatte, war sie vielen Stammgästen bekannt. Sie war mit einigen Männern liiert gewesen, die in den Tagen nach dem Mord alle von der Polizei befragt wurden. Namen fielen – weitere Freunde, weitere Bekannte, weitere ehemalige Partner. Dutzende von Vernehmungen brachten immer neue Namen ins Spiel, wiesen aber keine Spur zu einem Tatverdächtigen. Debbie war gesellig und sehr beliebt gewesen, und niemand konnte sich vorstellen, dass jemand ihr etwas Böses antun wollte.

Die Polizei stellte eine Liste mit den Namen von dreiundzwanzig Personen zusammen, die sich am Abend des 7. Dezember im Coachlight aufgehalten hatten, und befragte einige von ihnen. Obwohl die meisten Ron Williamson kannten, erinnerte sich niemand daran, ihn dort gesehen zu haben.

Den Polizisten kamen allerlei merkwürdige Tipps, Geschichten und Erinnerungen zu Ohren. Eine junge Frau namens Angelia Nail, die eng mit Debbie befreundet gewesen war, erzählte Dennis Smith von einer Auseinandersetzung mit Glen Gore. Debbie hatte vermutet, dass Gore die Scheibenwischer ihres Autos gestohlen hatte. Um diese Geschichte entwickelte sich ein längerer Streit. Debbie kannte Gore seit der Highschool und hatte Angst vor ihm. Etwa eine Woche vor dem Mord hatte Angelia Debbie zu Gore gefahren, weil sie eine offene Aussprache mit ihm wollte. Als sie nach dem Gespräch zum Auto zurückkehrte, war sie wütend und davon überzeugt, dass er die Scheibenwischer gestohlen hatte. Sie fuhren zur Polizei und sprachen mit einem Officer, aber ein Bericht wurde nie erstellt.

Sowohl Duke Graham als auch Jim Smith waren der Polizei von Ada gut bekannt. Graham führte mit seiner Frau Johnnie eine Kneipe, wo es einigermaßen zivilisiert zuging und selten Ärger gab. Laute Meinungsverschiedenheiten waren die Ausnahme, doch es hatte eine besonders unangenehme mit Jim Smith gegeben, einem örtlichen Kleinkriminellen, der in betrunkenem Zustand Ärger gemacht hatte. Als er sich weigerte, das Lokal zu verlassen, zauberte Graham eine Schrotflinte hervor und setzte ihn vor die Tür. Drohungen wurden ausgetauscht, und für ein paar Tage herrschte in der Kneipe eine angespannte Atmosphäre. Bei Smith musste man damit rechnen, dass er seinerseits mit einer Schrotflinte zurückkam und das Feuer eröffnete.

Glen Gore war hier Stammkunde gewesen, bis er begonnen hatte, zu intensiv mit Johnnie zu flirten. Als er einmal etwas zu aufdringlich wurde, zeigte sie ihm die kalte Schulter, und Graham ergriff die Initiative. Er erteilte Gore Hausverbot.

Wer immer Debbie Carter getötet haben mochte, er versuchte unbeholfen, Duke Graham den Mord anzuhängen, und zugleich, Jim Smith davonzujagen. Doch der war schon weg – er saß eine Strafe im Gefängnis ab. Duke Graham ging zur Polizei und präsentierte ein solides Alibi.

Debbies Familie wurde aufgefordert, die Wohnung der Verstorbenen zu räumen. Da ihre Mutter immer noch völlig handlungsunfähig war, erbot sich Glenna Lucas, die unangenehme Aufgabe zu übernehmen.

Ein Polizist schloss die Tür auf, und Glenna trat zögernd ein. Seit dem Mord war nichts angerührt worden, und ihre erste Reaktion war blanke Wut. Es war offensichtlich, dass es eine handgreifliche Auseinandersetzung gegeben hatte. Ihre Nichte hatte verzweifelt um ihr Leben gekämpft. Wer konnte gegenüber einer hübschen jungen Frau so gewalttätig werden?

Die Wohnung war kalt und von einem unangenehmen Geruch erfüllt, den sie nicht identifizieren konnte. An der Wand stand noch immer »Als Nächstes stirbt Jim Smith«. Ungläubig starrte Glenna auf die ungelenken Buchstaben des Mörders. Das hat gedauert, dachte sie. Er war lange hier. Ihre Nichte war nach langer, grausamer Qual gestorben. Im Schlafzimmer lehnte die Matratze an einer Wand, nichts befand sich dort, wo es hingehörte. Im Schrank waren kein einziges Kleid und keine einzige Bluse mehr ordentlich aufgehängt. Warum riss ein Mörder alle Kleidungsstücke von den Bügeln?

Auch in der kleinen Küche herrschte Unordnung, doch hier gab es keine Anzeichen für einen Kampf. Zu Debbies letzter Mahlzeit hatten tiefgefrorene Kroketten gehört, und die Überreste lagen auf einem Pappteller mit Ketchup. Ein Salzstreuer stand auf dem weißen Küchentisch, daneben fand sich die nächste Botschaft: »Sucht nich nach uns, sonst pasiert was.« Glenna wusste, dass der Killer zum Teil mit Ketchup geschrieben hatte. Die Rechtschreibfehler konsternierten sie.

Sie schaffte es, die schrecklichen Gedanken zu verdrängen und mit dem Packen zu beginnen. Es dauerte zwei Stunden, bis sie Kleidungsstücke, Handtücher, Geschirr und alles andere in Kisten verstaut hatte. Das blutige Bettlaken hatte die Polizei nicht mitgenommen. Auch auf dem Boden war immer noch Blut.

Es war nicht ihre Absicht gewesen, die Wohnung zu putzen. Sie hatte nur Debbies Sachen zusammenpacken und so schnell wie möglich verschwinden wollen. Trotzdem erschien es ihr merkwürdig, die Wörter stehen zu lassen, die der Mörder mit Debbies Nagellack geschrieben hatte. Und es kam ihr irgendwie nicht richtig vor, die Blutflecken auf dem Boden von einem Fremden entfernen zu lassen.

Sie dachte daran, die Wohnung zu reinigen, jeden Quadratzentimeter, um jede Spur des Mörders zu tilgen. Aber es reichte. Sie war dem Tod so nahe gekommen, dass es ihre Kräfte beinahe überstieg.

Auch in den nächsten Tagen wurden weitere Verdächtige vorgeladen. Insgesamt nahm man einundzwanzig Männern Fingerabdrücke, Haar- und Speichelproben ab. Am 16. Dezember fuhr Detective Smith mit Gary Rogers zum kriminaltechnischen Labor des OSBI in Oklahoma und lieferte dort die am Tatort gefundenen Beweise sowie die Proben von siebzehn Männern ab.

Das kachelgroße Stück aus der Rigipsplatte war der Beweis, auf den sich die größten Hoffnungen setzen ließen. Wenn der blutige Handabdruck tatsächlich während des Kampfes vor dem Mord auf der Wand zurückgelassen worden war und nicht von Debbie Carter stammte, hatte die Polizei eine solide Spur, die sie zu dem Mörder führen konnte. Jerry Peters vom OSBI untersuchte das Stück aus der Rigipsplatte und verglich den Handabdruck mit denen, die er Debbie während der Obduktion abgenommen hatte. Sein erster Eindruck war, dass er nicht von Debbie Carter stammte, aber er wollte seine Analyse überprüfen.

Am 4. Januar 1983 stellte Dennis Smith weitere Fingerabdrücke zur Verfügung. Am gleichen Tag wurden Debbie Carters Haare nebst den am Tatort gefundenen an Susan Land übergeben, eine Haaranalystin vom OSBI. Zwei Wochen später landeten weitere Funde vom Tatort auf ihrem Schreibtisch. Sie wurden katalogisiert und mit den anderen erst einmal ignoriert. Eines Tages würde Land die Zeit finden, sie zu analysieren. Sie war überarbeitet und kämpfte gegen einen Rückstau unerledigter Aufgaben an. Wie die meisten kriminaltechnischen Labors hatte auch das in Oklahoma zu wenig Geld und zu wenig Mitarbeiter, stand aber unter enormem Druck, Fälle zu lösen.

Während sie auf die Resultate vom OSBI warteten, suchten Smith und Rogers weiter nach Spuren. Noch immer war der Mord das heißeste Thema in Ada, und die Leute erwarteten, dass er aufgeklärt wurde. Aber nachdem alle ehemaligen Partner von Debbie Carter, alle Barkeeper, Rausschmeißer und Nachtschwärmer vernommen worden waren, geriet die Untersuchung ins Stocken. Es gab keinen eindeutig Verdächtigen und keine eindeutigen Spuren.

Am 7. März 1983 befragte Gary Rogers einen Ortsansässigen namens Robert Gene Deatherage, der wegen Alkohols am Steuer gerade eine kurze Haftstrafe im Gefängnis von Pontotoc County abgesessen hatte. Dort hatte er die Zelle mit einem gewissen Ron Williamson geteilt, der wegen des gleichen Delikts inhaftiert war. In dem Gefängnis wurde ständig über den Mord an Debbie Carter geredet – jede Menge gewagte Theorien machten die Runde, und es gab keinen Mangel an Leuten, die angeblich über Insiderinformationen verfügten. Die beiden Zellengenossen hatten mehrfach über das Verbrechen gesprochen, und laut Deatherage schienen Williamson diese Gespräche nicht zu behagen. Sie stritten sich häufig, es kam sogar zu Handgreiflichkeiten. Schließlich wurde Williamson in eine andere Zelle verlegt. Deatherage kam der Verdacht, Williamson könnte etwas mit dem Mord zu tun haben, und so empfahl er Gary Rogers, die Polizei solle ihn sich einmal näher ansehen.

Es war das erste Mal, dass im Lauf dieser Untersuchung der Name Ron Williamson fiel.

Zwei Tage später befragte die Polizei Noel Clement, einen der Ersten, der freiwillig zur Abnahme von Fingerabdrücken und Proben erschienen war. Er berichtete, Williamson sei kürzlich in seiner Wohnung aufgetaucht, wo er angeblich einen Bekannten gesucht habe. Er sei, ohne anzuklopfen, hereinspaziert, habe nach einer Gitarre gegriffen, auf die sein Blick gefallen sei, und dann mit ihm über den Mord an Debbie Carter diskutiert. Williamson habe gesagt, als an jenem Morgen nach dem Mord die Streifenwagen in seiner Nachbarschaft aufgetaucht seien, habe er geglaubt, die Polizei sei hinter ihm her. Er habe Ärger in Tulsa gehabt und wolle Ähnliches in Ada vermeiden.

Es war unvermeidlich, dass die Polizei bei Ron Williamson auftauchen würde, doch merkwürdigerweise dauerte es drei Monate, bis sie ihn schließlich befragte. Einige Beamte, unter ihnen Rick Carson, waren mit ihm aufgewachsen, und die meisten erinnerten sich an seine Spiele mit dem Baseballteam der Highschool. Bis 1983 hatte Ada keinen Spieler hervorgebracht, der so von den Profiklubs umworben worden war. Als ihn die Oakland Athletics 1971 unter Vertrag genommen hatten, waren viele Leute der Meinung gewesen – darunter mit Sicherheit Williamson selbst –, er könne der neue Mickey Mantle werden, der nächste große Baseballstar aus Oklahoma.

Aber mit dem Baseball war es bei Williamson längst vorbei. Mittlerweile kannte ihn die Polizei als Gitarre spielenden Arbeitslosen, der bei seiner Mutter lebte, zu viel trank und ein bisschen seltsam war.

Er war zweimal wegen Alkohols am Steuer und einmal wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit festgenommen worden, und aus Tulsa hatte er einen schlechten Ruf mitgebracht.

2

Ron Williamson wurde am 3. Februar 1953 in Ada geboren, als einziger Sohn und jüngstes Kind von Juanita und Roy Williamson. Der Vater arbeitete als Vertreter für Rawleigh-Haushaltsprodukte. In Ada gehörte er zum Stadtbild. Er schleppte sich von Tür zu Tür, im Anzug und mit Krawatte, einen schweren Musterkoffer voller Proben, Gewürze und Küchengeräte in der Hand. Stets hatte er Süßigkeiten für die Kinder dabei, die ihn freudig begrüßten. Es war eine mühsame, körperlich anstrengende Art, den Lebensunterhalt zu verdienen, und abends musste noch stundenlang Papierkram erledigt werden. Das Einkommen war bescheiden, und deshalb nahm Juanita kurz nach Ronnies Geburt eine Stelle im Krankenhaus von Ada an.

Da beide Elternteile arbeiteten, fand sich Ronnie in der Obhut seiner zwölfjährigen Schwester Annette wieder, die diese Aufgabe nur zu gern übernahm. Sie fütterte und wusch ihn, spielte mit ihm, verhätschelte und verwöhnte ihn maßlos – er war ein wunderbares kleines Spielzeug, das ihr unverhofft in den Schoß gefallen war. Wenn sie nicht in die Schule musste, war sie die Babysitterin ihres Bruders, aber sie putzte und kochte auch.

Renee, das mittlere Kind, war bei Ronnies Geburt fünf. Sie zeigte wenig Interesse, für ihn zu sorgen, war aber bald seine Spielkameradin. Annette kommandierte sie herum, und als sie älter wurden, verbündeten sich Renee und Ronnie häufig gegen die ältere Schwester, die die Stelle der Mutter eingenommen hatte.

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