Bewegen ist Leben - Monika Hammerla - E-Book

Bewegen ist Leben E-Book

Monika Hammerla

0,0

Beschreibung

Die Umsetzung des neuen Expertenstandards „Erhaltung und Förderung der Mobilität“ stellt Pflegende von Menschen mit Demenz vor besondere Herausforderungen: Betroffene sind oft weder mental noch physisch in der Lage, aktiv an Mobilisationsmaßnahmen teilzunehmen. Doch Bewegung wirkt stimmungsaufhellend, führt zu Gangsicherheit, beugt Kontrakturen vor und hat einen positiven Einfluss auf kognitive Gedächtnisleistungen – kurzum: Bewegen ist Leben! Welche Impulse und Maßstäbe braucht eine gezielte Mobilitätsförderung von Menschen mit Demenz? Dieses Buch klärt die Voraussetzungen, bietet Konzepte und stellt eine breite Palette an Maßnahmen vor. Einrichtungen, die im Rahmen ihres Qualitätsmanagements zur Umsetzung des Standards verpflichtet sein werden, erhalten eine fundierte Basis für ihre praktische Arbeit. Auf den Punkt gebracht: Fundierte Basis für die Umsetzung des neuen Expertenstandards „Erhaltung und Förderung der Mobilität“ Konzepte und Maßnahmen für eine gezielte Mobilitätsförderung von Menschen mit Demenz Umfangreicher Praxisteil mit Bewegungs- und Mobilitätsübungen

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 196

Veröffentlichungsjahr: 2016

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Monika Hammerla

Bewegen ist Leben

Menschen mit Demenz mobilisieren

Unter Mitarbeit vonProfessor Dr. Dr. Horst Claassen

schlütersche

Monika Hammerla ist Fachpflegekraft für Gerontopsychiatrie und Geriatrische Rehabilitation, Fachtherapeutin für Gedächtnistraining (Stengel Akademie Stuttgart) sowie Fachbuchautorin.

Professor Dr. med. Dr. rer. nat. Horst Claassen, Institut für Anatomie und Zellbiologie der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Große Steinstraße 52, 06097 Halle (Saale), E-Mail: [email protected]

Bewegung macht beweglich – und Beweglichkeit kann manches in Bewegung setzen.

PAUL HASCHEK

Der Pflegebrief Newsletter – für die schnelle Information zwischendurch Anmelden unter www.pflegen-online.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-89993-348-2 (Print)

ISBN 978-3-8426-8660-1 (PDF)

ISBN 978-3-8426-8661-8 (EPUB)

© 2016 Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,Hans-Böckler-Allee 7, 30173 Hannover

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der gesetzlich geregelten Fälle muss vom Verlag schriftlich genehmigt werden. Alle Angaben erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie der Autoren und des Verlages. Für Änderungen und Fehler, die trotz der sorgfältigen Überprüfung aller Angaben nicht völlig auszuschließen sind, kann keinerlei Verantwortung oder Haftung übernommen werden. Die im Folgenden verwendeten Personen- und Berufsbezeichnungen stehen immer gleichwertig für beide Geschlechter, auch wenn sie nur in einer Form benannt sind. Ein Markenzeichen kann warenrechtlich geschützt sein, ohne dass dieses besonders gekennzeichnet wurde.

Reihengestaltung:

Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg

Umschlaggestaltung:

Kerker + Baum, Büro für Gestaltung GbR, Hannover

Titelbild:

Robert Kneschke – fotolia.com

Fotos:

Sonja Greuling

Satz:

PER MEDIEN & MARKETING GmbH, Braunschweig

Druck und Bindung:

PHOENIX PRINT GmbH, Würzburg

INHALT

Danksagungen

Vorwort

Teil IGrundlagen

Einleitung

1Zur Bedeutung von Bewegung und Mobilität

1.1Das Problem von Bewegungs- und Mobilitätsmangel bei alten Menschen

1.1.1Ausblick

1.2Physische und psychische Auswirkungen von Aktivität und Mobilität

2.1Motivation für Bewegung

2.2Mobilität und Mobilitätseinschränkungen

Horst Claassen

3Altersveränderungen des Bewegungsapparates – anatomische und physiologische Grundlagen

3.1Das Bindegewebe

3.1.1Vorkommen und histologischer Aufbau

3.1.2Alterung von Bindegewebe

3.2Quergestreifter Skelettmuskel

3.2.1Histologie, Physiologie und Biochemie

3.2.2Altersbedingte Veränderungen der Skelettmuskulatur

3.3Knochengewebe

3.3.1Makroskopischer und histologischer Aufbau

3.3.2Altersbedingte Veränderungen des Knochengewebes

3.4Gelenke und Gelenkknorpel

3.4.1Makroskopischer Aufbau eines Gelenkes

3.4.2Histologie und Biochemie des hyalinen Gelenkknorpels

3.4.3Alterungsvorgänge des Gelenkknorpels

3.5Zentrales Nervensystem

3.5.1Aufbau des Großhirns

3.5.2Altersveränderungen und Erkrankungen des Großhirns

3.6Genetik des Alterns

3.7Hochbetagte Menschen

4Voraussetzungen einschätzen und klären

4.1Fit ist relativ: Einschätzung der körperlichen und mentalen Voraussetzungen der Bewohner/Patienten

Teil IIExpertenstandards

5Expertenstandards im Kontext

5.1Expertenstandard Erhaltung und Förderung der Mobilität in der Pflege

5.1.1Voraussetzungen für einen gelungenen Theorie-Praxis-Transfer

5.2Qualifikationen der Mitarbeiter

5.2.1Die Pflegefachkraft

5.3Instrumente zur Einschätzung der Mobilität

6Praktische Hinweise zum »Mobilitätsexpertenstandard«

6.1Maßnahmenplanung: Grundlagen

6.2Die Mobilisation bei Menschen mit früher und mittlerer Demenz

6.2.1Die individuelle Einschätzung

Teil IIIPraxis

7Bewegungs- und Mobilisationskonzepte in Pflege und Betreuung

7.1Mobilisation zu Hause

7.2Mobilisation in der Rehabilitation

7.3Mobilisation in Heim oder Einrichtung (mit Kurzzeitbereich und Tagespflegegästen)

7.3.1Beschäftigungsangebote

7.4Exkurs: Erinnerungsarbeit – Training der geistigen Mobilität?

8Pflegeplanung und Dokumentation

8.1Maßnahmenplanung nach Ressourcen und Problemen

8.2Evaluation

8.3SIS – Strukturierte Informationssammlung

9Reisberg-Skala – Hilfe beim Finden des passenden Angebots

9.1Integration versus Segregation

9.1.1Warum spezielle Gruppenangebote?

9.1.2Individuelle Förderung

10Bewegungsangebote nach Phasen der Reisberg-Skala

10.1Aktivierung in der 1. Phase

10.2Aktivierung in der 2. Phase

10.2.1Sich bewegen

10.3Aktivierung in der 3. Phase

10.3.1Sich bewegen

10.4Aktivierung in der 4. Phase

10.4.1Sich bewegen

10.5Ein Tagesablauf in der Wohnküche (geeignet für Bewohner in den Phasen 1–4 nach Reisberg)

10.6Aktivierung in der 5. Phase

10.6.1Sich bewegen

10.7Ein Tagesablauf in der Demenzgruppe »Wohnzimmer« (geeignet für Bewohner in den Phasen 5–6 nach Reisberg)

10.8Aktivierung in der 6. Phase

10.8.1Sich bewegen

10.9Aktivierung in der 7. Phase

10.9.1Sich bewegen

11Bewegungsangebote für Menschen mit anderen kognitiven Einschränkungen

11.1Pflege und Betreuung von Schlaganfallpatienten

11.1.1Auszüge aus dem Bobath-Konzept/Hinweise für den Pflegebereich

11.2Pflege und Betreuung von Parkinsonpatienten

11.2.1Maßnahmen der Mobilitätsförderung bei Parkinsonpatienten

12Voraussetzungen der Einrichtungen bei der Mobilitätsförderung

12.1Qualifikationen der Mitarbeiter

12.2Räumliche Voraussetzungen

12.3Materialien

13Bewegungs- und Mobilitätsübungen mit den jeweiligen Standards

13.1Alltagsbewegungen (Gruppen- und Einzelübungen)

13.1.1Standard Koch- und Backgruppe

13.1.2Standard »Männer helfen gerne dem Hausmeister«

13.1.3Standard Gehtraining mit Geräten oder auf Treppen

13.1.4Standard Spaziergang und Gehtraining

13.1.5Standard Wandergruppe

13.2Tänze (Gruppen- und Einzelübungen)

13.2.1Standard Tanzcafé

13.3Besondere Angebote zur Einzel- und Gruppenaktivierung

13.3.1Standard »Morgenrunde«

13.3.2Standard »Bewegung & Poesie«

13.3.3Standard »offener Kreis«

13.3.4Standard Vormittagsgruppe Demenzbetreuung

13.3.5Standard Einzelbetreuung

13.3.6Standard Basale Stimulation® in der Einzelbetreuung

Literatur

Literatur für das Kapitel 3

Register

DANKSAGUNGEN

Ein herzlicher Dank gebührt Annette Berghoff, die dieses Buchprojekt von Anfang an wohlwollend und kritisch begleitete. Herrn Prof. Dr. J. Kraft danke ich für das Vorwort, das dem Leser eine gute Vorinformation liefert. Dank gebührt auch allen Bewohnern die aktiv mitarbeiteten und mir viele Inspirationen lieferten.

Meinem Mann, Prof. Dr. Dr. Horst Claassen, danke ich für das Kapitel über die anatomischen Grundlagen zu den Altersveränderungen des Bewegungsapparates.

Coburg, November 2015

Monika Hammerla

VORWORT

Der Welt-Alzheimer-Report 2015 zeigt alarmierende Zahlen zur aktuellen und künftigen Häufigkeit demenzieller Erkrankungen: Gegenwärtig sind weltweit 46,8 Millionen Menschen von Demenzerkrankungen betroffen. Die Zahl der Betroffenen wird bis 2030 voraussichtlich auf 74,7 Millionen und bis 2050 auf mehr als 131,5 Millionen ansteigen. Allein im Jahr 2015 wird es weltweit 9,9 Millionen Neuerkrankungen geben. Alle drei Sekunden erkrankt ein Mensch neu an einer Demenz. In Deutschland gehen wir aktuell von 1,5 Millionen betroffenen Menschen aus. Jedes Jahr kommen hier mehr als 250.000 Erkrankte hinzu. Die geschätzten weltweiten Kosten der medizinischen, pflegerischen und sozialen Versorgung Demenzkranker liegen bei 818 Milliarden Dollar und werden bis 2030 auf 2 Billionen Dollar steigen.

Demenzerkrankungen führen zu erheblichen persönlichen Belastungen und sind für die Betroffenen eine menschliche Tragödie. Der drohende Verlust an Lebensqualität sowie die immensen Auswirkungen auf unsere Sozialsysteme werden weithin unterschätzt.

Um den Herausforderungen zu begegnen, muss es uns daher ein zentrales Anliegen sein, alle Möglichkeiten der Prävention, der Frühdiagnostik, der kompetenten Begleitung Betroffener sowie gezielter therapeutischer Maßnahmen weiterzuentwickeln. Praxisbezogene, im Alltag niederschwellig anwendbare Konzepte können dabei entscheidend zur Verbesserung des Verlaufs der Erkrankung beitragen.

Die Bedeutung der Bewegung zeigt sich oftmals durch die rasche Verschlechterung der Selbsthilfefähigkeiten bei Immobilisierung, wie sie beispielsweise im Rahmen akutstationärer Aufnahmen oder bei intermittierenden Akuterkrankungen häufig vorkommt. Auch leichtgradige demenzielle Syndrome verschlechtern sich hierbei erheblich, ein periinterventionelles oder postoperatives Delir ist eine häufige und mit großen Risiken behaftete Folge. Wenn nicht rasch und kompetent erkannt und behandelt wird, kommt es zu einer eigentlich vermeidbaren Beschleunigung des Krankheitsverlaufs mit Auftreten höhergradiger Pflegebedürftigkeit.

Lebensqualität, die nach einer geriatrischen Definition wesentlich durch Erhalt und Schaffung möglicher Autonomie, von Wohlbefinden und Achtung der Würde geprägt wird, ist gerade bei Demenzkranken durch Immobilität ganz besonders gefährdet. »Bewegen ist Leben« – dieses Motto gilt somit ganz besonders auch für die wachsende Zahl von Menschen mit demenziellen Syndromen.

»Orandum est, ut sit mens sana in corpore sano« (Juvenal, Satiren 10, 356): In seinem später oft verkürzt zitierten, eigentlich ursprünglich eher ironisch gemeinten Spruch bringt der römische Dichter Juvenal (60–140 nach Christus) seine Hoffnung zum Ausdruck, dass ein gesunder Geist in einem gesunden Körper wohnen möge.

Zweifellos besteht ein nachweisbarer Zusammenhang zwischen der Fähigkeit zu körperlicher Mobilität und kognitiver Leistungsfähigkeit.

Als wesentliche Faktoren, die zur Prävention von Demenzen beitragen, gelten neben der Verbesserung vaskulärer Risikofaktoren und einer an sekundären Pflanzenstoffen reichen Ernährung vor allem geistige und körperliche Aktivitäten.

Die positiven Auswirkungen von Bewegung sind zahlreich: Nachgewiesen sind Verbesserungen vieler Stoffwechselparameter, des Herz-Kreislauf-Systems, der Sauerstoffversorgung des Gehirns, der Stimmung und nicht zuletzt die Vermeidung fataler Stürze und damit der längere Erhalt von Selbstständigkeit.

Bewegungsprogramme, ggf. auch in Kombination mit sozialen und kognitiven Aktivitäten, können entscheidend dazu beitragen, dass Demenzerkrankungen langsamer und in ihren Auswirkungen milder verlaufen.

Das vorliegende Buch von Monika Hammerla schlägt einen weiten Bogen über die Grundlagen positiver Auswirkungen von Mobilität auf eine Vielzahl physischer und psychischer Parameter zur Verbesserung der Lebensqualität. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei in der Beurteilung sinnvoller und in der Praxis anwendbarer Konzepte.

Der differenzierten Darstellung der Expertenstandards widmet sich der zweite Teil des Buches.

Die jahrelange praktische Erfahrung der Autorin in der Betreuung demenzkranker Menschen und deren Angehöriger ist auch Grundlage des dritten Teils.

Hier erwartet den Leser eine große und immer praxisbezogene Auswahl an innovativen und kreativen als auch bewährten Möglichkeiten und Ideen, die positiven Wirkungen der Bewegung in allen Stadien der Demenzerkrankung den Betroffenen nutzbar zu machen.

»Bewegen ist Leben« – dies gilt besonders für die wachsende Zahl von Menschen mit demenziellen Syndromen. Bewegung verbessert die Stimmungslage, vermindert Stürze, unterstützt Lebensqualität und trägt nachweislich zur Stabilisierung der Gedächtnisfunktionen und der Möglichkeiten der Teilhabe bei.

Das vorliegende Werk von Monika Hammerla beleuchtet diese wesentlichen Tatsachen und macht sie im besten Sinne im Alltag anwendbar.

Coburg, September 2015

Prof. Dr. med. Johannes W. Kraft

Chefarzt Regiomed Kliniken Coburg,

Klinik für Geriatrie und Rehabilitation

TEIL 1

GRUNDLAGEN

EINLEITUNG

Glaubt man den Umfragen in diversen populären Zeitschriften, so assoziiert »die Allgemeinheit« bei Befragungen zu sportlichen Menschen lauter positive Eigenschaften wie Attraktivität, Leistungswillen, Erfolg.

Tatsächlich ist belegt, dass Sport, Bewegung, körperliche Aktivität der Gesundheit und Lebensverlängerung dienen: So geht aus einer finnischen Studie hervor, dass »einmal in der Woche zügiges Spazierengehen lebensverlängernd wirkt.« (Andrus 2005: 29) Laut der Studie waren 56 Prozent der Männer und 87 Prozent der Frauen noch zehn Jahre später am Leben. Von den physisch weniger Aktiven waren nur mehr 30 Prozent der Männer und 63 Prozent der Frauen am Leben.

»Menschen, die Fitness betreiben, profitieren noch von anderen positiven Effekten – ihre Knochendichte ist höher, die Muskelmasse ist größer, die Lungenfunktion ist wesentlich besser als bei Untrainierten. Viele der Probanden gaben zudem an, keine Probleme mit dem Gewicht zu haben, und Diabetiker teilten mit, dass ihre Werte im Normbereich lägen. Nicht zu vergessen ist die positive Wirkung auf die Psyche, das bedeutet etwa weniger Medikamenteneinnahmen und gesunden Schlaf.« (Andrus 2005: 21)

1ZUR BEDEUTUNG VON BEWEGUNG UND MOBILITÄT

1.1Das Problem von Bewegungs- und Mobilitätsmangel bei alten Menschen

Aus vielen Gesprächen mit geriatrischen Patienten oder Bewohnern in Pflegeheimen ist bekannt, dass der hochbetagte Mensch Beschwerden sehr häufig bagatellisiert, sich nicht spontan äußert oder sich überhaupt nicht mitteilt. Ein Grund hierfür könnte sein, dass jede offizielle Bemerkung über Einschränkungen als ein »Angriff« auf die Autonomie, die Selbstständigkeit der hochbetagten Menschen gesehen wird. Viele alte Menschen verschweigen Beschwerden, weil sie – oft zu Recht – vermuten, dass durch zu viele oder weitreichende Hilfsangebote ihre Selbstständigkeit beschnitten und ihre Lebensqualität damit reduziert werden könnte. Ein weiterer Gesichtspunkt ist, dass sie niemandem zur Last fallen wollen: Oft wohnen die eigenen Kinder weit entfernt, sind die Nachbarn genauso alt und Informationen über Leistungen, die ihnen zustehen würden, nicht bekannt.

Alle Professionen der Altenhilfe sollten daher diese Beweggründe mit in ihr Handeln einbeziehen. Eine genaue und sehr sensible Erhebung der Anamnese ist daher von großer Bedeutung für den hochbetagten Menschen.

Ein andauernder Bewegungsmangel oder gar eine Ruhigstellung kann für einen hochbetagten Menschen sehr gefährlich werden– aus dem Englischen kennen wir etwa das Sprichwort »bed is bad«. Alle Bereiche der Medizin, der Pflege und der geriatrischen Rehabilitation wissen daher um die einschneidenden Folgen für die Betroffenen. So berichten schon junge Patienten nach einer Liegezeit von zwei Wochen über Leistungsschwächen ihres Kreislaufs, der Reduktion ihrer Muskelmasse und der Schwächung ihrer allgemeinen Befindlichkeit.

Sehr problematisch ist die Tatsache, dass während eines Aufenthalts im Akutkrankenhaus in der Regel keinerlei Mobilisation mit den Hochbetagten durchgeführt wird. Wenn überhaupt, beschränkt sie sich auf das Sitzen am Bettrand oder den Versuch, für ein paar Minuten aufzustehen.

Ein weiteres, nicht zu unterschätzendes Problem ist die Wartezeit auf einen Rehaplatz. Häufig müssen Menschen, die nicht in der Lage sind, alleine zu stehen oder zu gehen, auf einen Platz in die Kurzzeitpflege eines Altenheimes ausweichen und auf die Reha warten. Diese Wartezeit erstreckt sich nicht selten über zwei bis vier, oft auch fünf Wochen. Viele Pflegekräfte sind nicht ausreichend geschult für Rehamaßnahmen, und so vergeht wertvolle Zeit, die Immobilität der Betroffenen schreitet fort. Manches Zeitfenster, in dem noch etwas zu verbessern wäre, schließt sich.

Bei hochbetagten Menschen kann man daher von einer Negativspirale ausgehen: Alles wird schneller abgebaut, neben der verschwindenden Muskelmasse nimmt auch die kognitive Leistungsfähigkeit ab. Schon bei jungen Menschen verschwimmt nach einer Woche Bettruhe die zeitliche Orientierung. Quälende Fragen bezüglich ihrer Zukunft lassen alte Menschen oft depressiv werden. Fehlende Reize bei einer vermeintlichen Bettlägerigkeit wirken sich negativ auf Körper, Seele und Geist aus. Ist dieser Teufelskreis erst einmal im Gang, ist ein Aufwärtstrend kaum noch zu erreichen.

So berichten Pflegekräfte aus ihrer langjährigen Tätigkeit von den raschen negativen Folgen der Mangelbewegung. Schnell entwickeln sich Kontrakturen, die nicht rückgängig zu machen sind: fatal für jeden Bewohner, da Kontrakturen immer Schmerzen und Einbußen der Lebensqualität bedeuten. Durch Mangelbewegung sind auch Gefühle betroffen, die sich bis hin zum Hospitalismus äußern können. Ängste und Depressionen können entstehen, gegen die häufig nur noch Medikamente verabreicht werden. Ein reizloses, unbegreiflich trauriges Warten bildet dann das Ende des Lebens.

Sport und Bewegung haben grundsätzlich Vorteile für die Gesundheit im Alter, denn geistig und körperlich bewegt, sind alle Alltagsaufgaben besser zu bewältigen. Sport bei Rüstigen und gezielte Bewegungsübungen bei mobilitätseingeschränkten Bewohnern im Pflegeheim erhöhen ihre physische Resilienz. Bewegungen wirken sich nachweislich positiv auf den Stoffwechsel, das Herz-Kreislauf-System, das Immunsystem, die Muskeln und das Skelettsystem aus. Das wiederum stärkt die Psyche und steigert die Lebensfreude.

Zeitungsbericht des Coburger Tageblatts vom 13. Juni 2014

»Demenz und Sport? Fachlich belegt und untermauert ist aus vielen Bereichen der Medizin und Geriatrischen Zentren, dass Sportarten, die früher geübt und motorisch gespeichert sind, noch gut und gerne ausgeübt werden. Die Betroffenen erleben sich wieder als jemand, der noch Fähigkeiten hat. Die Patienten waren weniger anfällig für Depressionen. Der Muskelaufbau sowie alle geistigen Funktionen und Fähigkeiten und die Koordination erfahren eine Verbesserung. Durch die Bewegung werden Muskeln und Gehirn besser durchblutet, dadurch steht mehr Sauerstoff zur Verfügung. Larsen Lechler: ›Es ist belegt, dass somit die Entwicklung der Demenz verlangsamt wird und die Verschlechterung hinausgezögerte.‹ Die bevorzugten Sport- und Bewegungsarten sollten aus der Biografie entnommen werden. Am Anfang werden die Hauptmuskelgruppen geübt, um im Alltag fitter zu bleiben, das Aufstehen fällt mit Kraft leichter. Spielerische Übungen, die auf die Feinmotorik abzielen, sind für Verrichtungen wie das Öffnen einer Flasche oder das Haarekämmen nötig. Regelmäßige Spaziergänge sind von großem Nutzen. Neue Sportarten, bei denen komplexe Abläufe zu erlernen sind, werden nicht empfohlen, es gilt, Altbewährtes zu bewahren.«

1.1.1Ausblick

Die oben genannten Fakten sind seit mindestens zwei Jahrzehnten bekannt; es wird und wurde viel darüber geschrieben. Wir wissen mittlerweile, was den hochbetagten Menschen guttut und sie stärkt.

All dieses Wissen heißt es gerade auch in Pflegesituationen in der Altenhilfe aufzugreifen und zu integrieren:

• für ein besseres Lebensgefühl der Bewohner und mehr Lebensqualität,

• für mehr Gesundheit und weniger Medikation,

• für größere kognitive Leistungsfähigkeit.

Letztlich bedeutet das alles auch mehr Wirtschaftlichkeit in der Finanzierung der Altenhilfe, denn fitte alte Menschen benötigen weniger Unterstützung, Pflege und Medikationen. Mobilität und Aktivität weisen in der Pflege und Betreuung alter Menschen somit sowohl gesundheitliche, soziale, ethische als auch wirtschaftliche Komponenten auf, die keinesfalls vernachlässigt werden dürfen.

Der neue Expertenstandard »Erhaltung und Förderung der Mobilität« ist ein Instrument, das entscheidend zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität in der Pflege beitragen wird. Derzeit ist er in der modellhaften Implementierungsphase, und es ist davon auszugehen, dass er Mitte 2016 verbindlich eingeführt wird. Doch gilt es auch schon jetzt, das Bewusstsein bei den Pflegenden und Angehörigen zu schärfen und zu entwickeln, damit sie die Bewohner aktiv fördern und in mobilitätsstiftende Aktionen besser einbeziehen.

Diesen Anspruch will diese Publikation unterstützen. Sie vermittelt neben Basiswissen in erster Linie Anregungen sowie Tipps, um alte Menschen so lange wie nur möglich selbstbestimmt und aktiv zu halten. Dabei werden vielen Umsetzungsebenen berücksichtigt – etwa alltägliche wie auch gezielte Förderungen.

Sind bereits Bewegungseinschränkungen bei den alten Menschen vorhanden, gilt es, alle Alternativen zu nutzen und im Rahmen der individuellen Möglichkeiten zu trainieren, um die Lebensqualität so weit als möglich wieder zu erlangen und zu halten.

Es ist an der Zeit, das Wissen zur Erhaltung und Förderung der Mobilität zu systematisieren und umzusetzen!

1.2Physische und psychische Auswirkungen von Aktivität und Mobilität

Die Realität der meisten alten Menschen in Pflege und Betreuung sieht folgendermaßen aus: Körperliche Einschränkungen des Bewegungsapparates, Stoffwechselerkrankungen, kognitive Defizite verbunden mit den Nebenwirkungen einiger Medikamente lassen Hochbetagte in stationären Einrichtungen oft resignieren. Die Motivation, sich gezielt zu bewegen, bringen nur wenige von sich aus auf. Viele Bewohner verbringen die Tage auf »ihren Plätzen« – seien sie im Aufenthaltsraum, im Speiseraum oder im Zimmer. Werden sie »mobilisiert«, erschöpfen sich diese Maßnahmen häufig darin, dass die Betroffenen von A nach B geschoben oder geführt werden, wo sie mit etwas Glück das Angebot einer tagesstrukturierenden Maßnahme bekommen. Die erleben sie dann auch meist passiv, weil viele Gruppen einfach zu groß und inhomogen sind. Vielfach sind keine Fachkräfte vor Ort, die eine Maßnahmenplanung erstellt haben und qualifiziert betreuen.

So stellen der Einzug in ein Heim oder eine Klinikentlassung oft die Weichen für eine Immobilität. Durch zu wenig fachliche Kompetenz und Zeitdruck werden die letzten Ressourcen der Betroffenen häufig »weggepflegt«. Der hochbetagte Mensch ist mit einer neuen Situation konfrontiert, die ihn überfordert. Genau hier müssen Maßnahmen ergriffen werden, um geschwächte und überforderte Menschen nicht ans Bett zu binden. Denn schon nach wenigen Tagen im Bett schwinden Muskeln, setzt eine Resignation ein, die sich bis zur Selbstaufgabe steigern kann. Wird das Stehen und Gehen nicht mehr geübt, sind die hochbetagten Menschen auf Rollstühle angewiesen, die sie oft selbst nicht mehr in Bewegung setzen können, weil ihnen die Kraft in den Armen fehlt. Der alte, bescheidene Mensch fügt sich in sein Schicksal, möchte keinem zur Last fallen, weil alle Pflegekräfte überlastet sind.

Die Pflegewissenschaftlerin Prof. Dr. Angelika Zegelin sagt dazu: »Eine Ortsfixierung entsteht durch zunehmende Schwäche, der Bewegungsmangel führt zum Muskelabbau. Schon nach wenigen Tagen des Liegens treten Veränderungen in allen Körpersystemen ein (Atmung, Kreislauf, Stoffwechsel), in vielen Studien wurde die Liegepathologie bestätigt.« (Zegelin in: Demenz DAS MAGAZIN 22/2014: 14)

Eine frühe und sanfte Mobilisierung kann die Negativspirale der Immobilität verhindern. Menschen, die sich regelmäßig an den Aktivierungsgruppen beteiligen, steigern sich kognitiv und körperlich. Aus den Evaluierungen der Pflegeplanungen geht hervor, dass sich in jedem Alter und auch mit körperlichen Einschränkungen Erfolge erzielen lassen:

• kleine Erfolge wie das Mitwippen der Füße und das Bewegen der Hände zum Takt der Musik,

• große Erfolge wie das selbstständige Essen in der Gemeinschaft oder die regelmäßige Teilnahme an den Gruppenstunden mit einer gestärkten Rumpfstabilität. Sie ermöglicht es, eine Stunde mitzuarbeiten und konzentriert bei der Sache zu sein.

Das ist Lebensqualität durch gezielte Mobilisierung.

Wirkung auf den Stoffwechsel

Häufige Diagnosen in Pflegeheimen sind Hyperlipidämie und Diabetes mellitus. Hier können durch gezielte Bewegungsmaßnahmen positive Resultate aufgeführt werden. Regelmäßige Bewegungseinheiten helfen, das Naschen zu reduzieren und die Zufuhr von Nahrungsmitteln auf die Essenszeiten zu beschränken. Bei Diabetikern führt ein regelmäßiges Training zu einer verbesserten Insulinsensitivität, Kraft- und Ausdauertraining verbessert die Stoffwechsellage. (Aigner 2005: 284)

Wirkung auf das Immunsystem

Anders als beim jungen Menschen sind die Granulozyten und Monozyten bei alten Menschen nicht mehr so gut mobilisierbar; daher werden auch bei starken Infekten oft nur wenig Leukozyten nachgewiesen. Die Phagozytose zeigt durch neutrophile Granulozyten und T-Lymphozyten Einbußen in der Funktionstätigkeit. Bewegung und körperliches Training bewirken eine Verbesserung der immunologischen Situation bei alten Menschen. »Die Verbesserung der immunologischen Situation durch körperliche Aktivitäten dürfte auch verantwortlich sein, dass in einer Studie an über 60-jährigen Männern, die täglich über 3,2 km gegangen sind, nicht nur wie erwartet das Todesrisiko für Koronargefäßerkrankungen und apoplektischen Insult signifikant gegenüber sportlich nichtaktiven Personen vermindert war, sondern auch das Todesrisiko für Karzinome. Dies kommt nicht gänzlich überraschend, sind doch positive Einflüsse körperlichen Trainings auf immunologische Mechanismen der Tumorabwehr bekannt.« (Aigner 2005: 284)

Wirkung auf die Muskulatur

Durch gezieltes Training der Muskeln kann nachweislich bei schon verminderter Kraft eine Verbesserung beobachtet werden. Dies führt in Alltagssituationen zu mehr Bewegungssicherheit, wodurch sich wiederum das Sturzrisiko der Betroffenen mindert. So benötigt eine 80-jährige Frau für das Aufstehen aus einem tiefen Sessel ihre gesamte Muskelkraft: Durch ein Training ihrer Muskeln hat die Frau mehr Reserven zur Verfügung, was ihr im Alltagsleben hilft, unabhängiger zu bleiben.

Wirkung auf die Gelenke

Die Beweglichkeit der Gelenke wird durch tägliches aktives und passives Üben erzielt. Die Gelenke werden durch Zug und Druck »ernährt« – Bewegung ist somit für sie »lebenswichtig«. Jegliche Schonhaltung lässt ein Gelenk nach kurzer Zeit (ca. sechs Wochen) versteifen.

Wirkung auf das Skelettsystem

Eine häufige Erkrankung des Skelettsystems stellt Osteoporose dar. Neben einer medikamentösen Therapie sind Übungen mit Kraft und Druck, z. B. Tanz und Sitztanz sowie Freiluftübungen im Sommer gut geeignet, um Linderung zu schaffen. Wichtig ist dabei eine fachgerechte Anleitung. (Aigner 2005: 282–286)

Wirkung auf das Gedächtnis

Durch regelmäßiges Training (körperlich und kognitiv) wird die Durchblutung im gesamten Gehirn angekurbelt; die Zellen werden besser mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Die verstärkte Bildung neuer Gehirnzellen kann nachgewiesen werden. Durch regelmäßiges Üben wird das Vernetzen und Verschalten von Neuronen gefördert. Die Aufmerksamkeit wird gesteigert. Ein positiver Antrieb und eine freudige Motivation können beobachtet werden. Der alte Mensch kann besser denken, die erhöhte Aufmerksamkeit erleichtert es ihm, komplexere Handlungen durchzuführen und Entscheidungen zu treffen. All das fördert die Fähigkeit, den Alltag aktiver und aus eigenem Impuls zu gestalten. (Jasper 2012: 20)

Exkurs: Bedeutung des Expertenstandards »Erhaltung u. Förderung der Mobilität« für »die Pflege«

Glücklicherweise haben sich durch kontinuierliche Fortentwicklungen in der Medizin und der Geriatrischen Rehabilitation in Senioreneinrichtungen schon viele Änderungen ergeben. Im neuen »Expertenstandard Mobilität erhalten und fördern« wird der Bewohner in den Mittelpunkt gestellt. Neben seinen Funktionseinschränkungen und Diagnosen werden die Psyche, das Umfeld, die Biografie, die Angehörigen und die Gesamtheit der Förderungsmöglichkeiten erfasst. Außerdem: Eine Vernetzung verschiedener Professionen, die verzahnt die Mobilität fördern, wird angestrebt.

Durch eine gezielte Planung im PDCA-Zyklus (Plan, Do, Check, Act) und dem Kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP) werden schon gewonnene Einsichten immer weiter umgesetzt. Der »Mobilisations-Expertenstandard«, der den Anforderungen gemäß Paragraf 113a SGB XI (Elftes Sozialgesetzbuch) entsprechen wird, entwickelt die Pflegequalität schrittweise weiter. Damit wird die Qualität prüfbarer und die Fachlichkeit in der Pflege gestärkt. Die Pflegequalität und die Betreuungsqualität werden sich kontinuierlich verbessern, Qualität wird messbarer, und eine Grundlage für sämtliche Qualitätsprüfungen ist vorhanden.

Mit diesem Expertenstandard entsteht ein Leitfaden, der schwerwiegende Risiken bei Bewegungsmangel grundlegend beeinflusst. Fachlich gut geschultes Pflegepersonal in guter Vernetzung zu anderen Professionen wird zu einem Anstieg des Leistungsniveaus führen – zum Wohle der Betroffenen. Das Erkennen und Beschreiben von Risiken bei hochbetagten multimorbiden Menschen wird sich in der Behandlung und Betreuung auswirken. Die Umsetzung wird verbindlich geregelt, sobald eine rechtliche Handhabe gemäß des Expertenstandards besteht.

2.1Motivation für Bewegung

Bei einer Befragung von alten Menschen im Pflegeheim der Flenderschen Spitalstiftung wurde die Frage »Was bedeutet Mobilität oder Bewegung für Sie?« von den Betroffenen folgendermaßen beantwortet:1

• Frieda M., 82 Jahre: »Dass ich mich betun kann, keine Hilfe brauche.«

• Anna W., 85 Jahre: »Zum Waschen und Toilettengang keine Hilfe zu brauchen«

• Anna G., 90 Jahre: »Dass ich nicht nur im Rollstuhl sitzen und nur warten muss, bis jemand zu mir schaut.«

• Sigrid S., 80 Jahre: »Dass ich Freunde außerhalb des Hauses treffen kann und schöne Stunden mit ihnen verbringen darf.«

• Auguste F., 79 Jahre: »Dass ich bei den Gruppen dabei sein kann.«

• Katharina S., 85 Jahre: »Dass ich meinen Hund noch ausführen und pflegen kann.«