Bewegte bis stürmische See - Sophie Bassignac - E-Book

Bewegte bis stürmische See E-Book

Sophie Bassignac

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Bed & Breakfast in der Bretagne. Hierher haben sich Maryline und William - sie Ex-Modell, er Ex-Rockstar - nach wilden Jahren in New York zurückgezogen. Doch mit dem beschaulichen Leben ist es vorbei, als eines schönen Morgens die Leiche einer jungen Frau am Strand liegt. Direkt vor ihrer Haustür! Und mitten in der Hochsaison! Schlimm genug, dass die Polizei unangenehme Fragen stellt, aber hätte denn unbedingt Inspecteur Simon Schwartz, Marylines Jugendliebe, die Ermittlungen leiten müssen? Liebeswirrungen, die Suche nach dem Mörder - bald ist in dem verschlafenen Küstenort nichts mehr, wie es war.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 242

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sophie Bassignac

Bewegte bis stürmische See

Roman

Aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn

Atlantik

Für Pierre Ganter

1

An das Treppengeländer im ersten Stock gelehnt, betrachteten Maryline und William Halloway ihre einzige Tochter Georgia, die vor Wut schäumend ihr dichtes Haar schüttelte. Sie erinnerte William an Janis Joplin kurz vor ihrem Tod, die fette und wundervolle Schlampe, die in schrillen Höhen ihre endgültige Verzweiflung herausschrie. Im Hintergrund trug die Mülldeponie, die Georgia als Zimmer diente, zum herrschenden Chaos bei. Ihre Tochter hatte sie soeben als Tyrannen bezeichnet, doch Maryline und William bewahrten mit neutralem Blick trotz der Beschimpfungen elterliche Ruhe. William seufzte und musterte die Decke, und Maryline ging, die Arme verschränkt, in Gedanken ihre Einkaufsliste durch, während sie den Zustand des Himmels durch das Dachfenster im Flur prüfte.

Ein paar Minuten zuvor hatte sie Georgia gebeten, Kopfhörer aufzusetzen, um die Bewohner der Gästezimmer im Stockwerk darüber nicht mit ihrer Musik zu stören. Georgia hatte lange Zeit gehorcht, ohne aufzumucken, doch vor ein paar Monaten hatte sie, plötzlich verwandelt in eine theatralische Pubertierende, angefangen, über alles zu diskutieren, aggressiv und streitsüchtig wie ein zu Unrecht Verurteilter. Die Spötteleien, hysterischen Anfälle und Wutausbrüche, denen sie fast täglich ausgesetzt waren, untergruben allmählich Marylines Moral, allerdings bereitete ihr das aktuelle Thema regelmäßig Bauchschmerzen, und insgeheim verstand sie die Vorwürfe ihrer Tochter durchaus.

Seit Maryline das Haus der Familie vor fünf Jahren in ein Bed & Breakfast verwandelt hatte, ertrug Georgia mit bewundernswerter Gelassenheit den Aufmarsch der Gäste, den ihre Eltern ihr in den Sommermonaten zumuteten. Sie hatte hingenommen, dass Ferienkinder ohne sie in ihrem Garten spielten, ihre Tischtennisplatte benutzten oder die Figuren ihrer Brettspiele verloren, die sie ohne Erlaubnis an den Strand mitnahmen. Die Erwachsenen waren eine weitere Hölle. Georgia hatte diese austauschbaren und honigsüßen Gesichter freundlich angelächelt, die sie verzückt betatschten. Und jeden Morgen machten sie sich lärmend in ihrem Esszimmer breit, während sie schweigend in der Küche frühstückte. Eng nebeneinander im Flur stehend, hörten Maryline und William sich zum x-ten Mal an, wie die Gäste ihre Kindheit zerstört hatten. Wie alte Bekannte ließ Georgia sie alle aufmarschieren: das »kleine Pariser Arschloch«, das sie angespuckt hatte, das Paar in Scheidung, dessen Gift sich in allen Stockwerken verbreitet hatte, und der »widerliche Alte«, der sie vor zwei Jahren belästigt hatte. Maryline dachte bei sich, dass vielleicht das Fehlen von Privatsphäre ihre Tochter dazu gebracht hatte, ihr Zimmer in eine unbewohnbare Müllhalde zu verwandeln, wo man über Hügel von Kleidungsstücken, Slips, BHs mit waschbeckengroßen Körbchen und mit zusammengeknüllten Socken gefüllten Schuhen stakste. Ein ekelhafter Geruch nach sechzehnjährigem Mädchen schwebte in dem Raum, der niemals gelüftet wurde, und trieb einen hinaus, noch bevor man das Fenster erreicht hatte. Maryline riskierte einen unauffälligen Blick auf ihre Uhr. Die Zeit drängte, sie musste vor der Rückkehr ihrer belgischen Gäste in die Stadt fahren.

Georgia stand wie festgewachsen in der Tür, nörgelte in einem fort weiter und fummelte an ihrem Pony, der ihre Pickel verdeckte. Maryline dachte, dass ihre Tochter die gleiche Lust an Worten wie ihr Vater hatte und sich an ihnen berauschte, bis ihr schwindlig wurde, trunken von ihrer Geschwindigkeit. Während sie zu ihrem anderen heißen Thema wechselte, ihre Clique, die einfach ohne sie nach Barcelona gefahren war, betrachtete Maryline fasziniert Georgias Brüste, die unter ihrem T-Shirt in wütendem Rhythmus wackelten. Etwas Vergleichbares hatte es in der Familie noch nicht gegeben. Einen solchen Walkürenbusen hatte man noch nie gesehen, weder bei den Leflochs noch bei den Halloways. Im letzten Winter hatte Georgia angefangen, Experimente an sich selbst vorzunehmen, die sie bis dahin ihren Barbiepuppen vorbehalten hatte. Sie schminkte sich mit einem Mal wie ein Profi und kleidete sich, als wäre sie schlank. An ihrem starren Blick, wenn sie morgens die Treppe herunterkam, eingezwängt in ihre Klamotten wie eine Mumie in ihre Stoffbinden, hatten William und Maryline schnell begriffen, dass es von nun an ratsam war, alles normal zu finden. Und doch konnte man die Augen nicht vor den Tatsachen verschließen. Mit ihren zu kleinen Kleidungsstücken, ihrer Gewichthebersensibilität und der weißlichen Salbe, die die aknegewellte Haut bedeckte, sah Georgia aus wie ein dickes, schlechtgelauntes Meerschweinchen. Trotzdem hatte Maryline Vertrauen in die Zukunft. Die Pubertät, sagte sie, war ein Kap, das es zu umschiffen galt, ein Horrortrip, von dem man sich wieder erholte. Williams Stimme riss sie aus ihren Überlegungen.

»Stopp!«, sagte er, den Blick auf die glänzenden Spitzen seiner Boots gerichtet.

»Und warum stopp? Darf ich das erfahren?«

Georgias Arroganz hatte ihren Höhepunkt erreicht, das letzte Stadium vor dem hysterischen Anfall.

»Weil du uns für blöd verkaufst. Es gibt keinen Grund, warum du nach Barcelona fahren solltest, wohingegen ich gern nach Barcelona fahren würde, aber ich fahre nicht, weil die Belgier da sind und das Haus den ganzen Sommer über voll sein wird. Hear it, honey? Und darf ich dich daran erinnern, dass du gerade ein Praktikum im Fremdenverkehrsbüro machst?«

»Arme Idioten!«, brüllte Georgia. »Und du bist ein blöder Jasager!«

Mit feuchten Augen schlug sie ihnen die Tür vor der Nase zu. William und Maryline wechselten einen müden Blick. William näherte sich der Tür und legte seine Hände wie ein Sprachrohr an den Mund.

»Stand clear of the closing doors!«, rief er, die shakespearehaft ernste Stimme aus der New Yorker U-Bahn nachäffend.

»Zum Totlachen! Ich hau ab, das habt ihr dann davon!«

Während Georgia ihre Wut abreagierte, indem sie der Tür heftige Fußtritte versetzte, ging William einen Schritt beiseite, um Maryline auf der Treppe den Vortritt zu lassen.

»Jasager? Is that was she said? Was bedeutet das?«

»Das bedeutet, dass du alles tust, was man von dir verlangt.«

Ohne weiteren Kommentar verschwand er in seinem Studio, und Maryline machte sich auf die Suche nach ihrer Tasche.

Maryline radelte in der Sonne, die Nase im Wind. Ein Flugzeug mit weißem Schweif durchschnitt den wolkenlosen Himmel. Im Ort stach ihr auf Höhe des Fischrestaurants ein heftiger Geruch nach Knoblauchbutter in die Nase, wie aus einer anderen Zeit, es war bewegend. Sie musste lachen, als ihr Georgias Jasager wieder einfiel, ein Wort, das wie eine alte, gut erhaltene Nippesfigur aus einem vergessenen Koffer klang. Vor der Bäckerei hielt sie an, weil sie Annick, ihre Putzfrau, bemerkt hatte, die sich gekrümmt und mit gesenktem Kopf zwischen den Kunden im Geschäft hindurchschlängelte. Maryline wusste Bescheid. Wenn Annick sich aus dem Staub machte, bedeutete das, dass sie ein blaues Auge, eine violette Wange oder ein verdächtiges Hinken verbarg. Maryline hatte bereits mehrmals Anzeige gegen Annicks gewalttätigen Mann erstatten wollen, doch Annick hatte ihr gedroht, sie mitten in der Touristensaison sitzen zu lassen, und sie damit gezwungen, ihr Vorhaben aufzugeben. Sie befestigte ihren Einkaufskorb auf dem Gepäckträger und stieg wieder auf ihr Fahrrad.

Während sie an der wilden Küste entlangfuhr, sah sie, dass ihre Steinbank am Zöllnerweg frei war, und sie nutzte die Gelegenheit zu einer Pause. Sie schob den Rock bis zur Hälfte ihrer Schenkel hoch, streckte die Beine aus und atmete tief die Seeluft ein. Draußen auf dem Meer schienen sich die Segelboote, winzige weiße Faltmodelle, in langsamer Fahrt zu verfolgen. Die Sonne stickte ihre Sterne ins Wasser, und das infernalische Tosen der Brandung machte sie schwindlig wie ein stillschweigend gebilligter Zauber. Die Möwen schwebten als Herrinnen des Himmels über den Felsen und ließen ihr böses, geisteskrankes Lachen erschallen. Maryline erkannte Erwan Rival, den Sohn ihres Nachbarn, in der kleinen Bucht unter ihr. Mit voll aufgedrehtem Radio und wild gestikulierend spielte er sich auf inmitten der Badenden. Solche labilen Wesen, die sich produzierten, angelockt von den Fremden, hatte es im Seebad immer schon gegeben. Sie redeten laut, mit dem Rücken zum Panorama, und spielten den Hanswurst für die Sommerfrischler, das war ihr großer Augenblick im Jahr. Wenn die Saison vorbei war, irrten sie durch die Stadt auf der Suche nach neuen Blicken. Peinlich berührt, wandte sie den Kopf ab.

Von der Steinbank aus konnte Maryline etwas weiter weg zu ihrer Linken ihr Landhaus aus strengem Granit erkennen, gewölbt wie ein Oberkörper, ein wunderbarer Wachhund, der sie vor der Gischt und den Neugierigen schützte. Ker Annette war ein schönes Beispiel für die Phantasie der Erbauer im vorigen Jahrhundert, denen eine große Anzahl origineller architektonischer Verrücktheiten in der Region zu verdanken war. Entlang der Küste und im Stadtkern des Seebads mischten sich ganz ungeniert Bunker, baskische Chalets, Märchenschlösser, kalifornische Villen, Tiroler Fassaden, Obelixhäuser mit Reetdächern und florentinische Palazzi. Alle Villen hatten Stil trotz der geschmacklichen Verirrungen und des Buttercremeputzes, der respektlos mit der Küchenmaschine auf die Mauern gespritzt schien, Villen, von Ker Imper umgetauft in Bellagio, von Nemesis mutiert zu Black Swans. In der Kategorie mittelalterlicher Landsitz war Marylines Haus unbestritten das gelungenste an der ganzen Küste.

Sie erkannte die zierliche Gestalt von Miss Merriman, die die Allee heraufkam. Seit Maryline ihr Bed & Breakfast eröffnet hatte, kam diese kleine reinrassige Bostonerin, eine entfernte Cousine von William aus der Linie der Halloways, jeden Sommer und blieb einen guten Monat. Maryline hatte dieses alte Mädchen mit ihrem Ethno-Schmuck und den immer roten Augen, das in dem Haus in der Bretagne das beruhigende Pendant zu ihrem Mobiliar in Neuengland gefunden hatte, schnell liebgewonnen.

Auf der Meerseite ließen die vom Strand zurückgekehrten Belgier ihre Badetücher auf dem Balkon ihres Zimmers trocknen. Die Frau erschien auf der Terrasse, betastete die Handtücher und legte sich auf einen Liegestuhl. Maryline konnte Georgia nicht widersprechen, diese beiden waren zwei prachtvolle Exemplare von Nervensägen. Von ihrem Beobachtungsposten aus sah sie, wie der Mann zu seiner Frau auf die Terrasse kam und als nörglerischer Besserwisser ebenfalls das Badetuch betastete. Maryline ertrug nur schwer solche Typen, denen der Schmerz aus jeder Pore drang. Sobald er im Haus jemandem begegnete, räusperte sich dieser von Natur aus Missmutige, weil ihm eine imaginäre Fliege im Hals steckte und wie wild ihre Beine an seinem Kehlkopf rieb. Seine Frau war weiß und »dürr wie eine Bohnenstange«, sagte William, eine, die fand, dass das Meer zu laut sei und die Gezeiten sich nicht an die Essenszeiten hielten. Diese beiden brachten sich gegenseitig um vor Angst, es war schrecklich mit anzusehen.

Wenn Maryline solche verrückten Typen ertragen musste, fragte sie sich nach dem Sinn ihrer Tätigkeit. Sie war nicht überheblich, aber sie hatte immer schon Probleme mit jeder Art von Machtgehabe gehabt. Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie als Alleinerbin von Ker Annette einige Jahre damit verbracht, die Villa zu renovieren und die Grundlagen für ein neues Leben zu legen, indem sie eine unüberwindliche Grenze zwischen vorher und nachher gezogen hatte, und »sicher nicht, um mich verrückt machen zu lassen«, wie sie sagte.

Maryline spürte den aufdringlichen Blick einer Familie von Urlaubern, die vom Strand zurückkamen, auf sich. Sie wandte den Kopf ab, gestört in ihren Überlegungen durch ihre Neugier. Mit zweiundvierzig strahlte Maryline immer noch etwas irritierend Geheimnisvolles und eine unverwelkte Schönheit aus. Groß und schlank, mit etwas breiten Hüften, wie die Männer sie lieben, wirkte sie, als könnte sie kein Wässerchen trüben, womit sie unweigerlich die Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie war naturblond mit blauen Augen und hatte von ihrer Mutter eine makellose Figur und hohe Wangenknochen geerbt. Ihr Vater hatte ihr seine weiblichsten Merkmale vererbt, einen kleinen elastischen Mund und ein paar Sommersprossen, perfekt verteilt um ihre Nase und auf ihrer Stirn. Weil sie sich nicht schminkte, war sie jeden Tag von morgens bis abends sie selbst. Die Zeit verwöhnte sie. Sie ließ sie so langsam altern, dass es fast unmöglich war zu bemerken, dass sie sich veränderte. Die Sommerfrischler, denen sie im Seebad begegnete, fragten sich, woher sie ihre Souveränität nahm, die sie zweifellos besaß. Man schloss Wetten ab über ihre zwangsläufig ausländische Herkunft. Verträumt wie sie war, brachte sie andere zum Träumen, wenn sie gleichgültig ihren Beschäftigungen nachging. Mit jedem ihrer Schritte schien sie, langsam und frisch, etwas zu durchqueren, Schleier oder einen leichten Wind, der nur für sie wehte.

In der Ferne sah sie Georgia aus dem Haus stürmen und auf ihr Fahrrad springen. Die Luft war rein, sie konnte nach Hause zurück.

Kaum hatte sie den Garten betreten, stürzte sich der Belgier auf sie, kleiner als sie und purpurrot. Maryline musterte ihn und machte ein angemessen besorgtes Gesicht. Der Typ kam direkt zur Sache.

»Jemand ist in unser Zimmer gekommen, als wir nicht da waren«, sagte er mit seiner unangenehmen Fistelstimme und überaus feuchter Aussprache. »Hören Sie, ich will nicht lange drumherum reden, meine Frau findet ihren Ring nicht mehr.«

»Und was schließen Sie daraus?«, fragte Maryline und ging zur Außentreppe, dicht gefolgt von Verchueren, der fuchsteufelswild war.

Er war etwas verdutzt, denn mit so einer Unverfrorenheit hatte er nicht gerechnet. Er blieb in der Küchentür stehen.

»Der Ring meiner Frau befand sich in einem Schmuckkästchen in der Nachttischschublade. Sie hat ihn nur gestern Mittag getragen, als wir ins Restaurant gegangen sind, und sie erinnert sich ganz genau, dass sie ihn wieder hineingelegt hat, als wir zurückkamen.«

Maryline hatte am Ringfinger der Verchueren den großen Art-déco-Ring bemerkt, den sie schüttelte, damit er aufleuchtete und Bewunderung erregte.

»Und was ist Ihre Theorie?«

Sie ließ sich nicht aus der Fassung bringen, wich aber dem Blick des Streitlustigen aus.

»Können Sie sich auf Ihr Personal verlassen?«, zischte der Mann.

»Absolut«, erwiderte sie wie aus der Pistole geschossen.

Verchueren stand in der Tür und schnappte nach Luft, beide Füße fest auf dem Fliesenboden.

»Dieses Haus ist der reinste Taubenschlag«, fuhr er fort. »Und in Ihrer Werbung machen Sie unwahre Angaben über Ihre Leistungen!«

Okay, dachte Maryline, die inzwischen abgebrüht war. Die Internetseite der Halloways ließ mit ihrem äußerst eleganten Layout und wunderschönen Fotos der Zimmer mit Aussicht keinen Raum für Extravaganz. Tatsächlich erfuhr man sofort, dass das B&B in dem kleinen Seebad von einem ehemaligen Topmodel und einem Ex-Rockstar geführt wurde. Doch Maryline verlangte gemeinerweise von ihren Gästen, dass sie ihr Spiel »Alles ist völlig normal, und nichts kann mich überraschen« mitspielten, was ziemlich dreist war von jemandem, der einen majestätisch und atemberaubend schön auf der Schwelle seines Hauses empfing. Und William, mit Ray Ban Silver Mirror und schwarzen Saint-Laurent-Lackstiefeln, reichte einem eine gepflegte Hand mit Totenkopfring, die man mit angemessener Gleichgültigkeit zu schütteln hatte. Verchueren gehörte zu den Unverbesserlichen, deren Anblick die Halloways krank machte. Maryline weigerte sich zuzugeben, dass der Überraschungseffekt, den sie ihren Besuchern zumutete, manche sensiblen Gemüter überforderte.

Sie seufzte.

»Und was beabsichtigen Sie zu tun, Monsieur?«, fragte sie.

An den Kühlschrank gelehnt, blickte sie ihm jetzt mit einer Arroganz in die Augen, die Verchuerens Martyrium noch vergrößerte.

»Der Ring muss vor unserer Abreise morgen Mittag wieder auftauchen. Sonst werde ich Anzeige erstatten.«

Maryline hatte sehr schnell begriffen, dass der Diebstahlsverdacht ein Klassiker bei den Kleingeistern war. Der schwarze Peter wurde stets dem Hauspersonal zugeschoben. Ihr vorzuwerfen, das Haus sei dreckig, war ihr zweites Messer. Das waren ihre Lieblingswaffen, die einzigen, die sie kannten, um der Phantasie entgegenzutreten, wenn sie ihr begegneten. Die gute Frau war vermutlich mit dem Ring an den Strand gegangen und hatte ihn im Sand verloren, dachte Maryline. Diese Schussel waren die große Freude der Pfiffigen, die abends mit Metalldetektoren den Strand abgingen auf der Suche nach Familienschmuck und Geld, das aus den Taschen gefallen war.

Maryline versprach nichts. Es war unmöglich, ihr lange die Stirn zu bieten, wenn sie mit zusammengekniffenen Augen und verschränkten Armen dieses eigentümlich mehrdeutige Lächeln voller Zwischentöne aufsetzte. Angesichts dieser ebenso schönen wie eindrucksvollen Vestalin trat Verchueren den Rücktritt an. Mit eingezogenem Schwanz ging er in sein Zimmer hinauf, mit unterdrückter Wut und dem bitteren Gefühl, nichts erreicht zu haben.

»Ich gehe jetzt«, verkündete William vom Flur aus.

Jeden Freitag traf William sich sommers wie winters mit seinen Kumpeln, um Poker zu spielen, ein paar Jetons auf die Spieltische im Casino zu werfen und Redewendungen aufzuschnappen. Der harte Kern war ein Trio, dem sich von Fall zu Fall andere lokale Persönlichkeiten und manchmal auch Touristen anschlossen. Da war Étienne Legouic alias Flag, ein Handlanger, der sich an William klammerte wie an einen lebendigen Gott. Maryline duldete ihn mehr, als dass sie ihn schätzte, doch sie nahm es auf sich, weil der arme Kerl, wie William ihr regelmäßig in Erinnerung rief, »ein schweres Schicksal« hatte. Er war ein Überlebender, der eine Vergangenheit als Hochbegabter hinter sich hatte: Vor fünfzehn Jahren hatte Flag während der mündlichen Physikprüfung im Rahmen der Aufnahmeprüfung für die École Polytechnique einen Anfall geistiger Umnachtung bekommen. Innerhalb weniger Stunden zu einem Minderbemittelten geworden, hatte er in der Notaufnahme des Krankenhauses erklärt, er sei verhext worden. William hatte seinen Weg gekreuzt, als er auf Entzauberungskur war. Bei einem Bier war der Star für den Rest seines Lebens zugleich Geschwür und Jodtinktur für ihn geworden.

Der andere Spitzbube war ein gewisser Édouard Herr, über den Maryline nicht viel wusste, außer dass der vornehme Antiquitätenhändler ein gutgehendes Geschäft hinter dem Casino hatte, in dem goldenen Dreieck, in dem die in rosa Kaschmir gekleideten Wohlhabenden aus Nantes einkauften. Wenn William von ihm sprach, hatte Maryline immer das Gefühl, dass dieser Typ ihm viel bedeutete. Ohne ersichtlichen Grund meldete sich ihr sechster Sinn, sobald der Name Herr ausgesprochen wurde, eine alte Gewohnheit der Ehefrau eines naiven und sentimentalen guitar hero, der nirgends etwas Böses vermutete.

Maryline erzählte William von ihrer Auseinandersetzung mit Verchueren.

»Das ist so nervig«, sagte sie.

»Forget it!«, rief er und betrachtete sich im Spiegel über dem Kamin im Salon.

Williams Eitelkeit zeigte sich in seinem lächelnden Spiegelbild. Er stellte den Fuß auf die Lehne eines Sessels. These boots are made for walking, trällerte er, während er mit dem Ärmel seiner Jacke seine liebevoll gepflegten Anello & Davide-Stiefel polierte.

Maryline blickte ihm in Gedanken versunken nach, wie er die Allee hinunterging, majestätisch im reinsten Monterey-69-Stil, die schlanke Gestalt eines angesäuselten Lords, und dabei Luftgitarre spielte, sein Lieblingsinstrument, dessen Saiten er niemals auszuwechseln brauchte. Mit wiegenden Hüften ging er zu seinem tannengrünen Austin Healey, den er mit offenem Verdeck startete. William, der Dandy, lebenslang ein Star, der unter keinen Umständen zu Fuß, auf einem Fahrrad und erst recht nicht in einem dieser neuen grauen Autos gesehen werden durfte, bewegte sich ausschließlich in seinem englischen Oldtimer fort, ein unverzichtbares Accessoire seines besonderen Status.

Maryline schüttelte ein paar Kissen auf, bevor sie sich im Wohnzimmer aufs Sofa setzte, ihr Notizbuch in der Hand, um zu Erledigendes zu notieren und Erledigtes durchzustreichen. Die Geschichte mit dem Ring trug dazu bei, dass das Gefühl des Unbehagens, das sie jeden Freitag verspürte, an diesem Abend erhebliche Ausmaße annahm. Sie hatte immer Angst um William gehabt, aus gutem Grund, rechtfertigte sie sich, denn sie hatte ihn schon mehrmals beinahe verloren und war der Ansicht, dass selbst das kleine Seebad nicht hundertprozentig sicher war.

Als sie vor zehn Jahren Ker Annette geerbt hatte, war es ihr gelungen, ihn dazu zu bringen, New York zu verlassen, und sie hatte ihn – der reinste Wahnsinn! – in die Bretagne verpflanzt, wo er nie gewesen war. Damals kannte er von Frankreich nur Marylines Akzent, die Pariser Clubs Privilège und Élysée Montmartre und zwei oder drei Luxushotels, in denen seine Band in ziemlich schlechter Erinnerung geblieben war. Entgegen aller Erwartungen hatte William mit fünfundvierzig den Salzwiesen einen außerirdischen Charme abgewinnen können, und er hatte sich in den Mittelalterkitsch des Hauses der Leflochs verliebt. Inzwischen kannte er fast jeden in dem Seebad, das ihn, wie er sagte, an Cape Cod erinnerte, wo er aufgewachsen war. Brutal aus einem traumhaften, aber nicht ungefährlichen Leben in New York gerissen, hatte er sein Studio eins zu eins in einem kleinen Nebengebäude unter den großen Bäumen im Garten nachgebaut.

William Halloway war ein vergötterter Star gewesen, und dass er plötzlich abtrünnig geworden war, war bis zum Überdruss kommentiert worden. Die anderen Mitglieder der New Yorker Band, düpiert, verbittert und ihres charismatischen Gitarristen beraubt, hatten Maryline damals »the French Yoko« genannt und sie beschuldigt, die traurige Reihe der Rockerbräute zu verlängern, die ohne lange zu fackeln die Macht übernehmen. Sie hatten ohne ihn weitergemacht, bevor sie aufgaben und in der Versenkung verschwanden.

Maryline und William hatten den Gerüchten keine weitere Nahrung gegeben und waren ohne Erklärung in das Haus in der Bretagne gezogen. Die Journalisten waren über sie hergefallen, Paparazzi, die in dem Nest kaum verborgen blieben, hatten denkwürdige Fotos von den Halloways in ihrem englischen Oldtimer ohne Verdeck mit zerzauster Göre auf dem Rücksitz geschossen. Dann hatte die kalte Jahreszeit die Neugierigen vertrieben. Zehn Jahre später hielten manche William für tot, andere sammelten die Piratenaufnahmen seiner Konzerte wie Reliquien, und manche Optimisten glaubten noch immer an die Wiederauferstehung der Band. William hatte sich ernsthaft darum bemüht, Französisch zu lernen, das er täglich mit gepfefferten Ausdrücken bereicherte. Dafür hatte man sein »Schwulengehabe«, sein Angeberauto und seine Meeresfrüchteallergie akzeptiert. Er hatte sich nicht besonders anstrengen müssen, um mit den Nachtschwärmern der Gegend warm zu werden.

Doch ganz ohne Probleme hatte William sich nicht verpflanzen lassen, denn er war durchgedreht wie eine Laborratte in die Bretagne gekommen. Zerfressen vom Heroin und trotz seines Willens, davon loszukommen, schien er damals dem Tod ohne Spritze noch näher zu sein als mit ihr. Wie ferngesteuert hatte Maryline nachts seinen Arzt in New York angerufen, meist in Tränen aufgelöst und verrückt vor Sorge. Sie hatte sich geweigert, die Ärzte vor Ort um Hilfe zu bitten, da sie die Gerüchte fürchtete, für die Williams Zustand ein gefundenes Fressen gewesen wäre. Und so hatte es Maryline ertragen, wochenlang in dem alten feuchten Haus, das immer noch nach der letzten Krankheit ihres Vaters roch, in der Hölle eingeschlossen zu sein, hatte die wahnsinnigen Schreie von William auf Entzug ertragen, in die sich die disharmonischen Melodien der riesigen Kiefern mischten, die im Garten vom Wind gepeitscht wurden, hatte es ertragen, durch die Nacht zu laufen, um William zurückzuholen, wenn er schwankend am Rand der Klippen stand, kurz davor zu springen, und hatte das Delirium, das Erbrechen, die Beschimpfungen und den Sabber ertragen, und das alles, trauriger als die Sturmglocke, vor dem Hintergrund des Regens, Regens, Regens. Maryline hatte durchgehalten, William auch, und Georgia auf ihre Weise, die, ein kleines Mädchen damals und konzentriert auf ihre Miniaturpuppen, diese ganze schmutzige Geschichte vollkommen vergessen hatte.

Eines Morgens im Juni war William in die Küche gekommen und hatte Maryline in die Arme genommen. Leise hatte er gemurmelt, »it’s over now, es ist vorbei«, und er hatte das Heroin tatsächlich nicht mehr angefasst.

Maryline aß allein zu Abend und teilte ihre Teekanne anschließend mit Rebecca Merriman, die bei Einbruch der Dunkelheit melancholisch wie ein Neugeborenes wurde. Sie beklagte sich auch über die plötzliche Frostigkeit der Verchuerens ihr gegenüber.

»Diese Leute sind nicht sehr gut erzogen«, sagte sie durch die Nase sprechend wie eine Ente.

Die Amerikanerin wollte in Frankreich französisch sprechen, doch sie hatte nicht die Sprachbegabung ihres Cousins William. Das war nervig und überflüssig, denn jeder im Haus verstand Englisch. Und so musste man geduldig zuhören, wie sie die Worte suchte, und wie bei einer Stotternden warten, dass der Satz herauskam.

Maryline erzählte ihr den Vorfall mit dem Ring. Miss Merriman legte automatisch die Hand auf ihr Türkisarmband. Maryline machte sich Vorwürfe, dass sie die alte Dame, die sie an diesem Abend noch zerbrechlicher als sonst fand, beunruhigt hatte. Sie lächelte und sah ihr zu, wie sie den Kamillentee mit der Präzision einer Hausdame einschenkte. Dieses kleine, durch rigorose Disziplin abgemagerte Wesen war ein reines Neu-England-Produkt. Sie hätte eine wunderbare Anstandsdame in einer Erzählung von Henry James abgegeben, dachte Maryline, eine intelligente und diskrete Jungfer in der Rolle der Erzählerin einer Liebesgeschichte mit stark verbogenen Federn. Die Amerikanerin verausgabte sich, indem sie von sechs Uhr morgens an in einem fort den Strand entlanglief, auf dem Zöllnerweg Pflanzen sammelte und sich von Himbeertörtchen ernährte, die sie wie eine Maus im Bett aß. Rebecca Merriman hatte ihr Leben in ein Eden kleiner Dinge verwandelt, von morgens bis abends in Staunen versetzt durch die absonderlichsten Eindrücke, die ihre zerbrechlichen Knochen erzittern ließen. Sie empfing sie wie kostbare Geschenke, die sie wie ein Notar in kleinen schwarzen Notizbüchern mit Gummiband notierte, die sie immer in der Tasche hatte. Maryline ertappte sie manchmal, wie sie verständnisinnig alten Damen aus Nantes zulächelte, in denen sie sich wiedererkannte. Perlen an den Ohren, echt weißes Haar und Jungmädchenteint, die Internationale der Alten war durchaus facettenreich.

Miss Merriman hatte ihr Herbarium und ihr Wörterbuch mitgebracht. Sie holte einen Kugelschreiber hervor, der in der Bar-Tabac am Hafen verkauft wurde und auf dem ein Mann im Slip abgebildet war, den er auszog, wenn man ihn neigte. Maryline übersetzte ihr ihre Tagesfunde, darunter die gelbblütige Mittelmeerstrohblume, die sehr stark nach Curry roch. Die alte Amerikanerin leistete ihr nicht lange Gesellschaft und ging wieder in ihr Zimmer hinauf, nachdem sie ihrer Gastgeberin zum x-ten Mal während ihres Aufenthalts für ihre Gastfreundschaft gedankt hatte.

Georgia kam ein paar Minuten später nach Hause.

»Schmeiß all diese Touristen raus! Ich kann sie nicht mehr sehen! Rutsch zur Seite!«, sagte sie und ließ sich direkt neben ihrer Mutter aufs Sofa fallen.

Maryline stellte fest, dass in ihrer Abwesenheit Frieden geschlossen worden war, wie sie es von Georgia gewohnt war. Das Mädchen holte ein Päckchen Zigaretten aus ihrer Tasche. Als sie bemerkt hatte, dass sie rauchte, hatte Maryline betrübt an die rosigen Lungen ihrer einzigen Tochter gedacht, und dann hatte sie innerhalb weniger Wochen mitbekommen, dass sie aluminiumhaltige Deodorants verwendete, Kaffee trank und sich auf Motorroller hinter Jungs setzte, die glaubten, sie ritten ein Pferd. Und da hatte sie begriffen, dass sie nur noch eine privilegierte Zuschauerin in Georgias Leben war. An ihre Mutter geschmiegt, zündete die Jugendliche ihre Zigarette aus Virginia-Tabak an und blies den Rauch zur Decke, träumerisch wie eine Angestellte in der Pause. Georgia hatte einen kleinen Job im Fremdenverkehrsbüro für die ganze Sommersaison ergattert, »weil ich nicht nach Barcelona darf«, wie sie regelmäßig in bitterem Ton anmerkte. Sie schilderte Maryline ihren »Irrsinnsabend«, und diese konnte sich alles lebhaft vorstellen, je mehr Georgia sich in Szene setzte. Mit drei anderen Praktikantinnen hatte sie den »24 heures de la bille«, dem »Tag der Murmeln«, den letzten Schliff verpasst, der am nächsten Tag stattfinden sollte – seit einigen Sommern der Höhepunkt der Saison. »Eine echte Herausforderung für die Phantasie und das technische Fachwissen«, der lokalen Presse zufolge, die seitenweise darüber berichtete. Die Strecke, die von zwei Bildhauern auf Sand aufgebaut worden sei, »zwei Blödmänner aus Rennes, die sich furchtbar aufgespielt haben«, kommentierte Georgia, weise in diesem Jahr eine gewisse Anzahl von erhöhten Kurven ohne Ränder auf, die für die Spieler mit ihren Murmeln besonders schwer zu bewältigen seien. Reine Personnic, die Leiterin des Fremdenverkehrsbüros, verspreche sich viel von dem Ereignis, das sich dieses Jahr vor Teilnehmern kaum retten könne.

Maryline war mit Reine Personnic auf dem Gymnasium gewesen. Seit ihrer Rückkehr aus den Vereinigten Staaten liefen sie sich von Zeit zu Zeit in der Stadt über den Weg, doch die beiden Frauen taten so, als würden sie sich nicht kennen. Maryline fragte sich, wer von ihnen damit begonnen hatte, die andere zu ignorieren, und warum. Sie hatte Reine als eine kleine Blondine in Erinnerung, die schon damals eine Führernatur und ständig gestresst, ihr aber sehr sympathisch gewesen war.

»Und morgen?«, fragte Maryline.

Sie reichte Georgia den Aschenbecher, ein Vatertagsgeschenk. Ihre Tochter schien nachzudenken und seufzte.

»Morgen informieren wir über die Quallen. Die Quallen sind zurück«, rief sie, die Hände zum Sprachrohr geformt. Maryline legte einen Finger auf den Mund, den Blick in Richtung der Gästezimmer erhoben. »Anschließend«, fuhr Georgia fort, »werden wir die Ausstellung über die geheimnisvolle Welt der Algen in der großen Halle aufbauen. Ab 15 Uhr gibt es eine Weinprobe, falls du Lust hast.«

Georgia gähnte, schnappte sich den schlaffen Schlauch, der ihr als Handtasche diente, und holte einen dicken Stapel Prospekte heraus, den sie Maryline reichte. Genug Beschäftigung für die Regentage, die fürs Wochenende vorhergesagt worden waren. Jeder trug das Seine dazu bei, die Urlauber in dem Seebad, wo der Trubel bereits abflaute, bei Laune zu halten. Die Jagdgesellschaft organisierte ihren Flohmarkt auf dem Parkplatz des Supermarkts, für das Wochenende war eine Regatta historischer Segelschiffe angekündigt. Postkartenböse, Backofenfest, Fest-noz mit bretonischen Tänzen, Spendenaktionen, Country-Abend im Festsaal – für jeden Geschmack war etwas dabei, Reine Personnic hatte sich mächtig ins Zeug gelegt. Das war auch nötig, dachte Maryline, in diesem bretonischen Nest, wo es mitunter auf drei Häuser regnete, aber nicht auf das vierte, wo der Himmel sich nie entscheiden konnte. Sie sortierte die Prospekte und legte sie in Stapeln auf die Konsole im Eingang. Georgia streckte sich und verkündete, sie wolle »sich in die Falle hauen«.

Allein geblieben, spürte Maryline, wie die Müdigkeit sie übermannte. Sie kannte diese Mattigkeit nur zu gut, die sie überkam, wenn sie überfordert war. Gelähmt, als stecke sie in einer Tube Klebstoff, war sie dann nicht mal mehr fähig, auch nur den kleinen Finger zu bewegen.

Georgia stand immer noch unten an der Treppe, auf der Lauer wie ein Detektiv, sobald ihre Mutter in so einer eigenartigen Stimmung war.

»Wo ist Papa?«, fragte sie, während sie zum dreißigsten Mal an diesem Tag eine dicke schimmernde Schicht klebrigen Lippenstifts auftrug.

»Bei Herr, nehme ich an«, sagte Maryline seufzend.

Sie stand auf, knipste die zehn Lampen im Salon aus und folgte ihrer Tochter auf der Treppe.

Maryline wurde wach, als William ins Schlafzimmer kam. Er torkelte im Dunkeln. Total betrunken, stellte sie fest. Der Wecker zeigte drei Uhr zehn.