Familiäre Verhältnisse - Sophie Bassignac - E-Book
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Familiäre Verhältnisse E-Book

Sophie Bassignac

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Beschreibung

Isabelle liebt Pierre, so viel steht fest. Doch sie wird ihn erst heiraten, wenn ihre Familie ihn für geeignet befunden hat. Also nimmt sie ihn mit auf das Landgut der Großeltern, wo sich die Familie jeden Sommer versammelt. Doch was Pierre für eine reine Formalität gehalten hat, entpuppt sich als wahrer Albtraum. Unversehens findet er sich unter Exzentrikern wieder: ein Großvater, der einer koreanischen Studentin schmachtende Haikus schreibt, eine Mutter, die als Cowgirl und Dessous-Designerin in Erscheinung tritt und eine Schwester, die sich für die Liebe als Pfau verkleidet. Um von ihnen akzeptiert zu werden, muss Pierre sich einer ganz besonderen Prüfung unterziehen … Warmherzig und voller Humor erzählt Sophie Bassignac von der Kunst des familiären Zusammenlebens.

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Seitenzahl: 179

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Sophie Bassignac

Familiäre Verhältnisse

Roman

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Atlantik

Für Pierre Bassignac

Fräulein V. ist sehr romantisch,

gleichwohl ist sie sehr brünett.

Josep Pla, El quadern gris

Die Dynastie der Pettigrews

1. Generation

James Pettigrew

Henriette Pettigrew

Suzanne, Schwester von Henriette

2. Generation

Ludovic Pettigrew, Sohn von Henriette und James Pettigrew

Umberto Beati, Freund von Ludovic

Catherine Axilette, Tochter von Henriette und James Pettigrew

Philippe Axilette, Ehemann von Catherine

3. Generation

Barbara Hiver, Tochter von Catherine und Philippe Axilette

Guillaume Hiver, Ehemann von Barbara

Frédéric Axilette, Sohn von Catherine und Philippe Axilette

Isabelle Axilette, Tochter von Catherine und Philippe Axilette

Pierre Réveillon, Freund von Isabelle

4. Generation

Noémie Hiver, Tochter von Barbara und Guillaume Hiver

Benjamin Hiver, Sohn von Barbara und Guillaume Hiver

1

Morgenlicht fiel durch das offene Fenster und legte einen leuchtenden Schleier über Isabelles Haut. Das zurückgeschobene Laken bedeckte kaum ihre Fußspitzen. Pierre hatte einen Riesenständer, aber sie schlief so tief, dass er sein Verlangen unterdrückte. Er strich mit der Hand sanft von den schmalen Hüften bis hinauf zu ihrem dichten schwarzen Haar. Dann schob er sich zwei Kissen in den Rücken und sah sich gründlich im Schlafzimmer um, das er nach ein Uhr morgens nur undeutlich wahrgenommen hatte. Gleich dem Rest des Hauses schien auch durch diesen Raum ein Tornado gefegt zu sein. Das staubige, seit Ewigkeiten vergessene Durcheinander auf der Kommode mit verblassten Blumenmotiven war so überladen wie die deprimierende Auslage eines Trödlers. Die Tapete, eine berauschende Wiederholung kleiner Paradiesvögel, war mit Feuchtigkeitsflecken, abgegriffenen Ansichtskarten und schief angepinnten Kinderzeichnungen übersät. Die Hälfte des Raumes nahm ein riesiger Schrank ein, der beunruhigende Koloss war vermutlich mit alten, von Mottenschwärmen bewohnten Kleidungsstücken vollgestopft. Wenn Räume die Persönlichkeit ihrer Bewohner widerspiegeln, überlegte Pierre besorgt, ist Isabelle chaotisch, traumatisiert und immun gegen die Gesetze der Symmetrie.

Er legte seine Hand auf den Hintern der schlafenden Schönen und rief sich den verblüffenden Ablauf des Vorabends in Erinnerung. Seit sechs Monaten war er mit Isabelle zusammen, und fast jeder Tag brachte ihn aus der Fassung. Eigentlich war sie ein offenes Wesen, aber wann immer er sie drängte, konkret zu werden oder ihm etwas zu erklären, setzte sie eine erschöpfte Miene auf. Ständig musste er Leerstellen füllen und allein das Wie und Warum ihrer zahllosen Extravaganzen herausfinden. Das hingepfuschte Bild, das ihm Isabelle von ihren Großeltern gezeichnet hatte, hätte ihn misstrauisch machen müssen. Ohne ins Detail zu gehen, hatte sie gesagt, ihre Familie sei speziell, und dieses »speziell« hatte es in sich, das wurde nun offensichtlich. Anhand ihrer wenigen Hinweise hatte er sich seine eigene Vorstellung von ihnen gemacht, sehr provinziell und ziemlich ungezwungen. Zwar hatte Isabelle ihn nicht belogen, aber das Wichtigste hatte sie unterschlagen. James Pettigrew, seine Frau Henriette und seine Schwägerin Suzanne waren krasse Exzentriker und schamlose Snobs. Sie hatten ihn mit Freudenschreien und einer furchterregenden Begeisterung begrüßt, die jeden in die Flucht getrieben hätte, der etwas weniger in ihre Enkelin verliebt gewesen wäre als er. In ihrer Gesellschaft hatte Isabelle sich verändert; auf einmal redete sie ohne Punkt und Komma und mit einer schrillen Stimme, die er nicht an ihr kannte. Das verrückte Quartett hatte ihn auf ein kaputtes Sofa gesetzt, ihm ein Glas Portwein in die Hand gedrückt und ihn beobachtet wie gierige Psychopathen, die keine Zurückhaltung kannten. Nachdem er die erste Verblüffung überwunden hatte, konzentrierte er sich im Verlauf eines langen Abendessens darauf, seine Gefühle zu ordnen und eine Überlebensstrategie im unbekannten Umfeld zu entwickeln; am Ende des Abends – wieder auf demselben Sofa, diesmal mit einem Cognacschwenker voll Armagnac in der Hand – fühlte er sich in der Gesellschaft der Pettigrews ziemlich wohl.

Isabelle bewegte sich im Schlaf und gab einen entzückenden Seufzer von sich. Pierre schmiegte sich an ihren Körper und unterdrückte ein Lachen. Wie hatte er es bloß geschafft, den ganzen Auftaktabend lang ernst zu bleiben? Isabelle hatte ihm gesagt, dass sie ihre Großmutter Henriette abgöttisch liebe, die seit jeher ein Idol für sie sei. Er hatte sich von der Alten sein eigenes Bild gemacht und war auf eine etwas angespannte alte Dame eingestellt gewesen, bürgerlich, eisig, zerbrechlich wie Kristall, alte Schule. Henriette Pettigrew war das genaue Gegenteil. Sie war eine junge Frau von zweiundachtzig Jahren, deren eckiges Gesicht zur Hälfte hinter einer großen Brille mit dickem Horngestell verborgen war. Sie war groß und hager, der Prototyp der Engländerin, die sie gar nicht war. Der Schnitt ihrer silbergrauen Haare ließ an Rockabilly und seine schrägen Bad Boys denken und bildete einen krassen Kontrast zu dem roten Kimonokleid, auf dessen Rücken ein prächtiger Kranich mitten im Abflug gestickt war. Henriette Pettigrew, die ihn barfuß empfangen hatte, war mindestens einen Meter fünfundsiebzig groß, ein bemerkenswertes Detail, denn die Frauen ihrer Generation waren eher klein. Ihre langen Arme machten ausladende Bewegungen, und sie nahm auf den Sofas schmachtende Posen ein, deren einziges Ziel darin zu bestehen schien, ihren Mann James Pettigrew zu bezirzen. Ihre Redeweise ließ die Luft vibrieren, das Flüstern einer Tragödin, ein schrilles Lachen und mit aristokratischer Nonchalance hingeworfene Sätze wechselten einander ab. Sie schien alterslos zu sein oder vielmehr alle Alter gleichzeitig zu haben und verkörperte in einem anstrengenden Durcheinander von einer Minute zur anderen alle Frauen, die sie je gewesen war. Die verwirrende und sinnliche Henriette war die Antithese zur lieben Oma auf den Joghurtbechern im Supermarkt.

Ihre Schwester Suzanne war anders gestrickt, konnte es aber durchaus mit ihr aufnehmen. Sie war seit einigen Monaten Witwe und trug unter dem sanften Schimmer des lavendelfarbigen Haars eine eher heuchlerische Halbtrauer zur Schau. Suzanne war genauso schlank wie Henriette, aber viel kleiner, und trug einen enganliegenden, kurzen schwarzen Rock und eine Bluse, die mit bunten Pacman-Figuren übersät war. Ihre in Flipflops steckenden Füße schienen zu einem anderen Körper zu gehören. Pierre begriff schnell, dass Suzannes Schwerhörigkeit die Lautstärke im Haus erklärte, und klammerte sich an diese Logik, die ihn etwas erleichterte. Im Unterschied zu ihrer Schwester war Suzanne nicht affektiert. Sie war eher der Typ Pfadfinderführerin und neigte dazu, wie ein Huhn zu glucksen. Ihre Sätze beendete sie mit einem kleinen ruckartigen Kopfnicken, als bekunde sie die Absicht, ihre höchst wertvollen Kommentare zum Thema auf später zu vertagen. Die Harmonie zwischen den Schwestern war sichtbar und rührend. Henriette umhegte Suzanne mit dem Blick der Älteren, Suzanne umhegte Henriette mit dem Blick der Jüngeren, die sie überleben würde.

Der Jackpot ging allerdings an James Pettigrew, der mitten im August in einem maßgeschneiderten Nadelstreifenanzug aus blauem Tuch steckte, den auch einer der unzähligen Banker in der City hätte tragen können. Wie seine Frau hatte auch er ein langgezogenes Gesicht, einen riesigen Mund und die Bewegungen eins Schlafwandlers. James war rot geädert wie ein Engländer und soff auch wie einer. Alles brachte ihn zum Lachen, sogar die Gesprächspausen, die er mit grundlosem Kichern füllte. Isabelle hatte Pierre empfohlen, ihn nach seinem Hühnerhof zu fragen, aber das war nicht nötig. James, Suzanne und Henriette genügten sich selbst. Ihre Bildung war beängstigend, und sie spielten damit so geschickt wie Jongleure, die ihre Teller in die Luft werfen, ohne sich um die Scherben zu kümmern. Während des Abendessens wurden immer neue Schriftsteller, Maler und Musiker erwähnt, adoptierte Ahnen, von denen Pierre nie gehört hatte. Die drei hatten alles gelesen, alles gesehen, alles bereist und auch viel Zeit hier im Anjou verbracht.

Pierre war allerdings nicht entgangen, dass ihn die drei Alten, denen Isabelle sicher von ihren Hochzeitsplänen erzählt hatte, pausenlos beobachteten. Vor einem Monat hatte er ihr offiziell einen Antrag gemacht. Statt ja zu sagen und ihm um den Hals zu fallen, hatte sie ihm zu seiner Überraschung vorgeschlagen, ihre Familie kennenzulernen. Pierre hatte begriffen, dass ihre Zustimmung vom Urteil der Pettigrews abhängen würde, und eingewilligt, sich ihm zu unterwerfen, obwohl er ziemlich gekränkt war. Es stand also einiges auf dem Spiel, wenn er nun eine Woche in der Höhle des Löwen verbrachte. Er musste sich wohl zu den anderen auf die Bühne stellen, sich seine eigene Rolle ausdenken und ebenso glänzend improvisieren wie seine Mitspieler. Während des Abendessens hatten ihm seine Gastgeber zwischen zwei Gängen und unzähligen Zitaten Fragen gestellt. Sie ersparten ihm das ewige »Lügenpresse«, das normalerweise wie ein Mantra ertönte, sobald er seine Tätigkeit als Nachrichtenjournalist erwähnte. Gerührt von der tiefen Einsamkeit der Schwerhörigen, die Suzannes Blick trübte, erhob er die Stimme, um Presseanekdoten zu erzählen. Seine Lautstärke und die ständigen Wiederholungen gaben ihm das unangenehme Gefühl, nur Blödsinn zu reden.

Pierre schwitzte, er löste sich von Isabelles feuchtem Körper, legte sich quer über das Bett und betrachtete die freie Fläche an der Zimmerdecke. Woher rührte das ungewohnte Gefühl der Unterlegenheit, das ihn beim Abendessen immer wieder gepackt hatte? Er kam aus einer stolzen Pariser Familie, deren soziale Stellung er nie hinterfragt hatte. Der Status seines Vaters, Urologe im VII. Arrondissement, war einfach unbestreitbar. Wie ein prächtiger und unverwüstlicher Mantel, der vor Kälte und jedem Wetter schützt, hatte ihn seine Mutter vor jedem Ungemach bewahrt. Sie diente ihren beiden Söhnen und hatte deren sakrosankten Ehrgeiz und unterschiedliche Lebensziele unermüdlich und ohne zu zweifeln unterstützt. Warum also fühlte er sich in Gegenwart der Pettigrews so nackt und unbeholfen? Schließlich hatte ihn in dem extravaganten Salon niemand von oben herab behandelt oder eine unpassende Bemerkung gemacht, die die eigenartige Erschütterung seiner Grundfesten gerechtfertigt hätte.

Reifenquietschen, gefolgt vom dumpfen Knall zuschlagender Autotüren und vom Brüllen brünstiger Tiere, unterbrachen sein Grübeln. Isabelle wurde von dem Krach geweckt und rekelte sich, bevor sie sich umdrehte. Dann steckte sie mit einem Lächeln ihre kleine Zunge gierig in Pierres Mund.

Pierre ließ sich auf das durchgesessene Sofa im Salon der Pettigrews fallen. Der Sex vor dem Aufstehen hatte ihn vorübergehend entspannt, aber nun, allein in dem geschmacklos eingerichteten Raum, spürte er die Angst eines Hypochonders, der in einem einsamen Wartesaal vergessen wurde. Isabelle zu verführen war mühsam gewesen, und er hatte nicht gedacht, dass er das gleiche Theater mit jedem Mitglied ihrer Familie würde aufführen müssen, deren Macht über seine unmittelbare Zukunft ihm seit dem Vortag deutlich vor Augen stand. Sein Blick irrte durch den Raum und traf plötzlich auf den einer jungen Asiatin, die ihn anstarrte und mit der Regelmäßigkeit eines Schweizer Kuckucks nickte. James Pettigrew, der ihren Arm hielt, strahlte vor Glückseligkeit. Er trug, ganz unpassend in diesem extrem trockenen Sommer, Gummistiefel und protzte mit einer mehrfarbigen Tweedjacke und einem Einstecktuch, das sorgfältig als Origami eines weißen Huhns gefaltet war.

»Guten Tag!«, brüllte er. »Ich möchte Ihnen Bo-Bae vorstellen. Bo-Bae, das ist Pierre, der Freund von Isabelle.«

James betrachtete die junge Frau mit kindlichem Staunen, als entdeckte er das Wunder an seiner Seite in jedem Moment neu. Er ging summend zu einem Serviertisch, auf dem schwere, altmodisch ziselierte Flaschen schillerten, die mit dunklen Flüssigkeiten gefüllt waren.

»Whisky?«, schrie er. »Ein guter Moment!«

Pierre fragte sich, warum James in Abwesenheit von Suzanne weiter brüllte. Sein Gastgeber schenkte ihm einen Triple Baby ein, für einen Anfänger wie ihn womöglich eine tödliche Dosis. Plötzlich war er bedrückt. Seine Aufnahmefähigkeit für alkoholische Getränke würde ein entscheidender Faktor für die Feuertaufe bei den Pettigrews sein.

»Bo-Bae ist in Korea geboren«, sagte James und liebkoste sie mit Blicken. »Ihre Familie ist nach Chicago emigriert, als sie noch ein Kind war.«

»Wohnen Sie in der Nähe?«, fragte Pierre.

Ohne zu warten, antwortete James für die junge Frau.

»Bo-Bae wohnt in einem kleinen Nebengebäude, das wir als Studio eingerichtet haben. Sie besucht Französischkurse für Ausländer an der Universität und macht rasend schnell Fortschritte.«

»Warum Französisch?«

»Ich liebe Frankreich sehr«, sagte sie mit sanfter Stimme und starkem amerikanischem Akzent. »Ich mache auch einen Kochkurs bei einem Chefkoch. Ich würde gern in Chicago ein Restaurant eröffnen.«

»Bo-Bae ist eine außergewöhnliche Köchin«, sagte James mit der begeisterten Stimme eines Staubsaugerverkäufers. »Noch einen?«, fragte er und schwenkte sein leeres Glas.

»Nein danke«, antwortete Pierre.

Isabelle war lautlos ins Zimmer gekommen, schmiegte sich an ihn und begann unter dem unergründlichen Blick der jungen Koreanerin ohne Vorankündigung an seinem Hals zu saugen. Da tauchte aus dem Nichts plötzlich eine blonde Furie auf und stürzte sich mit der Energie eines wilden Tieres auf ihn. Bebend vor Angst löste er sich recht und schlecht von der Saugkraft seiner Geliebten.

»Catherine Axilette«, brüllte die Furie und zerquetschte fast seine Hand. »Pierre Réveillon, vermute ich? Réveillon, Réveillon«, trällerte sie. »Ein wunderbarer Name!«

Pierre lächelte. Isabelles Mutter, und das war ein gutes Omen, überlegte wohl schon, wie der Vorname ihrer Tochter mit diesem »Réveillon« klang, das ihm wie ein Klotz am Bein hing – wer hieß schon gern Silvester? Er fragte sich jedoch, wie er ihren männlichen Händedruck und den eher inquisitorischen als wohlwollenden Blick deuten sollte.

Catherine Axilette goss sich einen Drink ein, den sie unter einem Eisberg ertränkte.

»Trinken Sie nicht?«, fragte sie erstaunt und starrte auf den unberührten Triple Baby, den Pierre auf dem Tischchen zwischen einem Aschenbecher und einem Stapel Zeitungen nur schlecht versteckt hatte.

»Maman, er ist solide«, sagte Isabelle verlegen.

Pierre hatte das merkwürdige Gefühl, dass sie ihrer Mutter einen Réveillon-Makel offenbarte, den ihre künftigen Nachkommen womöglich erben würden.

»Ich komme um vor Hunger, und ich habe noch so viel zu tun«, schrie Catherine und klatschte in die Hände. »Wo sind die anderen?«

»Ludovic und Umberto wollten zum Kaffee da sein«, sagte Isabelle. »Frédéric hat sich nicht gemeldet.«

»Und Barbara?«

»Sie kommt am Nachmittag mit Guillaume und den Kindern.«

»Sehr gut. Wissen Sie eigentlich, warum wir uns alle hier versammeln?«, fragte Catherine Pierre, während sie ihr Glas schwenkte.

Pierre fühlte sich plötzlich sehr einsam, obwohl alle Blicke auf ihn gerichtet waren. Was sollte er sagen? Dass sie da waren, um ihn zu prüfen und zu urteilen, ob er es verdiente, eine Pettigrew zu heiraten?

»Catherine, nerv ihn nicht mit den Ritualen einer alten, abgetakelten Familie«, sagte James. »Bestimmt hat Isabelle es Ihnen erzählt. Wir feiern jeden Sommer gemeinsam den Geburtstag von Henriette, genau am 15. August. Es ist unumgänglich, sie besteht darauf. Das geht schon so, seit die Kinder alt genug sind, den Unterschied zwischen gestern und heute zu machen, also seit einigen Jahrzehnten.«

»Hat Isabelle Sie wenigstens auf die Aufführung vorbereitet?«, fragte Catherine.

Pierre packte eine furchtbare Ahnung. Isabelle hatte ihm von keiner Aufführung erzählt, und mit der, die diese Familie offenbar vom Aufstehen bis zum Schlafengehen gab, war er bestens bedient.

»Nein, ich wollte ihn nicht in die Flucht treiben!«, sagte Isabelle lachend. »Es gibt nämlich jedes Jahr zu Henriettes Geburtstag eine Aufführung. Jeder zeigt, was er will.« Pierre starrte sie entsetzt an. »Reg dich nicht auf, das ist cool«, versicherte sie. »Du hast eine Woche Zeit, um dir etwas einfallen zu lassen.«

Pierre überfiel plötzlich eine unendliche Müdigkeit. Nacheinander sah er den Pettigrews, die ihn dämlich angrinsten, ins Gesicht und fragte sich, ob es sich lohnte, eine Minute länger in diesem Morast zu bleiben. Und obendrein noch die merkwürdige Koreanerin, die ihn mit ihren kleinen, halbgeschlossenen Augen anstarrte, als hätte sie Spaß daran, ihm den Schädel zu durchbohren, um seine verborgensten Absichten herausbluten zu lassen.

»Philippe! Herrgott!«, rief Catherine fröhlich. »Ich suche dich überall.«

Der Neuankömmling kam geradewegs auf Pierre zu.

»Guten Tag. Philippe Axilette.«

Dieser liebenswürdige Mensch brüllte nicht, es war ein Wunder! Pierre hätte ihn gerne in die Arme geschlossen, aber seine Hände und Hosen waren ölverschmiert.

»James, Ihr Wrack ist wieder frisch wie ein junges Mädchen«, sagte Philippe, »eins aus guter Familie, glauben Sie mir. Aber ich erlaube mir, Sie noch mal daran zu erinnern, dass alle Autos vier, manchmal fünf oder gar sechs Gänge haben und dass es empfehlenswert ist, sie in der richtigen Reihenfolge einzusetzen. Essen wir?«, fragte er seine Frau.

»Wir haben nur auf dich gewartet.«

»Ich wasche mir die Hände, dann bin ich bei euch.«

Nachdem Philippe verschwunden war, setzte Catherine die Unterhaltung fort und zählte begeistert die bislang spektakulärsten Nummern ihrer jährlichen Show auf. Abgelenkt von Isabelles Hand, die an seinem Oberschenkel immer höher kroch, hörte Pierre mit halbem Ohr die lange Liste der beunruhigenden Leistungen, die vier Generationen von Pettigrews vollbracht hatten. Sie erwähnte unter anderem eine denkwürdige Parodie von König Lear, ein dressiertes Huhn, das Streichhölzer zählte, eine zersägte Frau in einem Pappsarg und einen Hexensabbat weiblicher Gespenster. Pierre schaltete ab und dachte an sein Leben als junger, vielversprechender Journalist wie an eine Parallelwelt, die plötzlich sehr verschwommen war. Er versuchte sich seine Eltern vorzustellen, die vielleicht irgendwann in diesem Salon sitzen und hören würden, wie ihr Sohn mit Wahnsinnigen herumbrüllte. Was hatten Catherine Axilette und Irène Réveillon gemeinsam? Auf welchem neutralen Boden könnten sich diese diametral entgegengesetzten Wesen vernünftig begegnen?

Schläfrig sah er zu, wie Catherine sich ein zweites Glas Whisky einschenkte. Sie war um die sechzig, eine Frau mit intensiver Präsenz und einer Figur, die von Selbstdisziplin zeugte. Die marmorharte Fönfrisur, energische Augenbrauen, eine tiefe Falte zwischen den Augen und leicht vorstehende Zähne machten sie umwerfend sympathisch. Isabelle hatte ihm erzählt, dass ihre Mutter sehr sportlich war und in ihrer Jugend Reitturniere gewonnen hatte. Pierre hatte Mühe, sie sich auf einem Pferd, zumindest auf einem ruhigen Pferd vorzustellen. Kurzum, die vibrierende Catherine Axilette strotzte beängstigend vor Energie.

»Zu Tisch!«, rief Philippe aus dem Flur.

»Alles in Ordnung?«, flüsterte Isabelle Pierre ins Ohr.

»Passt schon«, murmelte er und stand auf.

»Maman, das ist doch ein Schlafanzug!«, rief Catherine und musterte ihre Mutter von Kopf bis Fuß.

Erhaben nahm Henriette neben ihrem Mann am Tisch Platz.

»Er gefällt mir so gut!«, sagte sie. »Es wäre Verschwendung, ihn nur nachts zu tragen. Der wunderbar moirierte Seidensatin mit den Streifen in Altgold und zerdrückter Himbeere ist göttlich. Ich fühle mich, als hätte ich mich in der Garderobe von Oscar Wilde bedient«, gestand Henriette und schäkerte zugleich wie ein junges Mädchen mit James. »Meine Kleine, deine neue Kollektion ist wahnsinnig elegant. Ich gratuliere dir.«

Das Thema hielt die Tischrunde bis zum Käse in Atem. Catherine wurde mit Fragen bombardiert und beschrieb ausführlich ihre letzten Kreationen, die ein Bombenerfolg sein würden, wie sie sagte. Dann schwärmte sie vom japanischen Markt, der ganz scharf auf ihre neuen Unterhosen war.

»Ich lasse die Panty wieder aufleben! Es ist eine Herausforderung, aber ich glaube ganz fest daran. Meine sind so leicht, dass sie auch unter die engste Hose passen. Ihr werdet sehen, es ist eine Revolution!«

Pierre fragte sich, was eine Panty war. Ob er es wusste oder nicht, war sowieso unwichtig. Alle schienen seine Anwesenheit vergessen zu haben, mit Ausnahme von Isabelle, die rechts neben ihm saß und pausenlos seine Weichteile begrapschte. Was sie ihm zuvor über ihre Eltern erzählt hatte, half ihm, der Unterhaltung in groben Zügen zu folgen. Zwanzig Jahre zuvor hatte Philippe Axilette ohne Begeisterung das Wäscheunternehmen seiner Eltern übernommen. Da er sich mehr für Motoren als für Spitze aus Calais interessierte, reichte er die Verantwortung sehr bald an seine Frau weiter, die nur darauf gewartet hatte. Catherine übernahm die Geschäfte mit der ihr eigenen Energie. Zuerst schnappte sie einem Konkurrenten zwei junge holländische Stylisten weg, die die Oma-Marke aus ihrem Dornröschenschlaf weckten. Ohne zu zögern, schaffte sie das Flatterhemd »Elizabeth Taylor« ab, ein großer Klassiker aus pastellfarbenem Nylon, aber, wie sie versicherte, eine Katastrophe für einstige Schönheiten, deren Knie so schlaff waren wie die Hängebacken englischer Doggen. Mit Unterstützung ihrer holländischen Stylisten kreierte sie erfolgreich eine innovative Serie von Schlafanzügen, die zugleich bequem und sexy waren. Als kluge Geschäftsfrau und mit von der Konkurrenz gefürchtetem Gespür brachte sie die Damenwäsche Axilette auf den internationalen Markt. In Zeiten der Krise beschränkte sie umsichtig ihren Ehrgeiz, ohne allzu viele Federn zu lassen. Sie war stolz darauf, dass sie niemals der Vulgarität nachgegeben hatte, der Achillesferse ihres Metiers, die viele ihrer Konkurrenten vernichtet hatte. Und schließlich hatte Catherine Axilette auch dem chinesischen Lockruf widerstanden und produzierte ihre Büstenhalter, Pyjamas und später Pantys in Europa. Isabelle behauptete, ihre Mutter könne auf eine Entfernung von hundert Metern und ohne jedes Zögern eine Körbchengröße B., ein Knopfloch made in China oder einen nahtlosen Slip erkennen. Philippe hatte sich stattdessen mit dreißig Jahren den Traum seines Lebens erfüllt und seine Gesellenprüfung als Automechaniker bestanden, auf die er sich mehr zugutehielt als auf seinen Master in Ökonomie.

Pierre hörte sich gern die tausend Anekdoten über Catherines blühendes Geschäft an, allerdings sorgte er sich erneut wegen des Kulturschocks Pettigrew/ Réveillon, der ebenso unvermeidlich wie surreal war, falls die Hochzeit konkret werden sollte. Irène Réveillon trug vielleicht Unterwäsche von Axilette, aber es war sicher nicht ihre Art, darüber zu reden. Außerdem hatte das Gesellenzeugnis seines künftigen Schwiegervaters keine Chance, Doktor Réveillon, Spezialist für Harnwege und sonst nichts, zu interessieren. Ein wenig entmutigt konzentrierte sich Pierre auf seinen Teller und suchte in seinem Salat, woher der ungewohnte bittere Geschmack rührte. Isabelle knetete ihm weiter den Schritt, wie sollte er das bloß bis zum Nachtisch aushalten?

»Und, Bo-Bae«, fragte Philippe, »wie geht es unseren Hühnern?«

»Sehr gut«, sagte James. »Heute früh hat mich Bo-Bae in den Hühnerhof begleitet.«

»Bravo!«, rief Catherine im bewundernden Ton einer Kindergärtnerin.