Bewusstseinskultur - Thomas Metzinger - E-Book
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Bewusstseinskultur E-Book

Thomas Metzinger

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Beschreibung

Wie bewahrt man seine Selbstachtung in einer historischen Epoche, in der die Menschheit ihre Würde verliert? Wir brauchen ein neues Leitbild für die planetare Krise. Das alte, durch Gier, Neid und Dominanzstreben angetriebene Modell des kontinuierlichen Wirtschaftswachstums führt uns in eine globale Katastrophe. Der offensichtlichste Grund (von vielen) ist die enge Korrelation zwischen Wachstum und Kohlendioxidemissionen. Wir müssen uns ehrlich machen! Realistisch betrachtet sind unsere Möglichkeiten bereits jetzt auf Schadensbegrenzung und intelligentes Krisenmanagement beschränkt. Intellektuelle Redlichkeit, Mitgefühl und eine bestimmte Form von innerer Bewusstheit sind das, was wir für mentale und politische Resilienz dringend brauchen. Der Begriff einer »Bewusstseinskultur« bildet den Ausgangspunkt für eine neue Debatte.  Für mehr Mitgefühl und radikale Selbstachtung Mehr als dreißig Jahre lang haben wir sehenden Auges versagt. Neben unserem Mangel an Selbstachtung und dem fehlenden Mitgefühl für künftige Generationen war eine der Hauptursachen für die sich anbahnende planetare Krise ein Mangel an kultureller Kreativität: Wir waren nicht in der Lage, die alten Werte hinter uns zu lassen und alternative Leitbilder zu schaffen. Genau das ist aber dringend erforderlich, um einen neuen kulturellen Kontext für den Ausstieg aus dem Wachstumsmodell zu schaffen. Wir brauchen eine Bewusstseinskultur, die sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene funktioniert. Wege dahin zeigt dieses Buch. Wir brauchen eine radikale neue Bewusstseinskultur »Viele von uns haben wenig Mitgefühl und keine Achtung vor den Personen und leidensfähigen Wesen, die nach uns auf diesem Planeten leben werden. Das führt dazu, dass wir bald auch uns selbst nicht mehr als rationale Personen ernst nehmen können, weil wir über Jahrzehnte vorsätzlich empirische Tatsachen ignoriert und auf politischer Ebene unsere eigene Selbsttäuschung organisiert haben. Die Klimakatastrophe wird deshalb auch dazu führen, dass wir uns zunehmend als scheiternde Spezies erleben und auf eine historisch neue Weise unter dem Verlust unserer Würde leiden. Wir brauchen eine radikale neue BewusstseinskulturThomas Metzinger 

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

1 Selbstachtung, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise

Optimismus ist keine Option

Gesellschaftliche Kipppunkte

Intellektuelle Redlichkeit

Die Lauterkeit der Absicht, sich selbst gegenüber aufrichtig zu sein

Reines Bewusstsein: Die Kultivierung von epistemischer Offenheit

Täter, Opfer und der Panikpunkt

Würde, Selbstmitgefühl und das menschliche Selbstmodell

Wie löst man das Problem der Selbstachtung?

2 Bewusstseinskultur

Was ist Bewusstseinskultur?

Praktische Philosophie des Geistes

Das systematische Kultivieren positiver Bewusstseinszustände: Konkrete Beispiele

Neue Möglichkeiten zur Erzeugung veränderter Bewusstseinszustände

Bewusstsein bei anderen Tieren

Künstliches Bewusstsein

Bewusstseinskultur und das allgemeine Bildungssystem

Bewusstseinskultur in der Schule

Bewusstseinskultur und der Tod

Enkulturation

Was Bewusstseinskultur nicht ist

Was sind wirklich interessante Zustände?

Die Konvergenzzone: Gibt es eine Essenz des Bewusstseins?

3 Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit

Ein neuer psychologischer Kontext

Die Tiefendimension

Was ist »säkulare Spiritualität«?

Unbestechlichkeit

Spiritualität ohne Religion

Existiert Gott?

Die Evolution der Selbsttäuschung: Adaptive Wahnsysteme

Gibt es ein Leben nach dem Tod?

Gibt es eine Erlösung vor dem Tod?

Von der Religion zur säkularen Spiritualität

Bescheidener Rationalismus

Wissenschaft und säkulare Spiritualität

Die Einheit der geistigen Tugenden

4 Bewusstseinskultur und die planetare Krise

Bewusstseinskultur als Ausstiegsstrategie

Realismus und Skalierbarkeit

Eine neue Kultur der Würde

Säkulare Spiritualität und nicht-egoische Würde

Offenheit

Dank

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

1 Selbstachtung, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise

Wir müssen uns ehrlich machen. Die Menschheit befindet sich mitten in einer planetaren Krise. Die globale Krise ist selbstverschuldet, historisch beispiellos – und es sieht nicht gut aus. Sowohl die politischen Institutionen als auch eine große Zahl von Einzelpersonen auf der ganzen Welt versagen bei der Bewältigung dieser Krise kläglich, und zwar sehenden Auges und schon sehr lange. Es gibt ein neues Problem zu lösen, das eine etwas radikalere Form von Ehrlichkeit erfordert: Wie bewahrt man seine Selbstachtung in einer historischen Epoche, in der die Menschheit als ganze ihre Würde verliert? Oder können wir vielleicht doch noch rechtzeitig eine neue Art zu leben entwickeln, eine Lebensform, die es uns ermöglicht, das giergetriebene Wachstumsmodell zu verlassen? Was uns fehlt, ist ein neues Leitbild, ein kultureller Kontext für die sich beschleunigende planetare Krise.

Seit einem halben Jahrhundert wissen wir, dass das alte, von Gier, Neid und rücksichtslosem Wettbewerb angetriebene Modell des kontinuierlichen Wirtschaftswachstums uns in die globale Katastrophe führt – vor allem aufgrund der engen Korrelation zwischen Wirtschaftswachstum und Kohlendioxidemissionen. Die Klimakatastrophe rollt, und sie beschleunigt sich spürbar. Realistisch betrachtet sind unsere Handlungsoptionen mittlerweile nur noch auf Schadensbegrenzung und ein möglichst intelligentes Krisenmanagement beschränkt. Neben unserem Mangel an moralischer Selbstachtung und dem fehlenden Mitgefühl für künftige Generationen besteht eine der Hauptursachen für die planetare Krise aber auch in fehlender kultureller Kreativität: Wir wussten sehr genau, was kommen würde, waren aber nicht in der Lage, die alten Werte hinter uns zu lassen und tatsächlich funktionierende alternative Lebensformen zu schaffen.

Dabei bräuchten wir neue Handlungsnormen und ein wirklich weitreichendes und wesentlich tiefer gehendes Leitbild dringend. Wir müssen zu einem angemessenen kulturellen Kontext für die Bewältigung der sich beschleunigenden planetaren Krise gelangen. »Bewusstseinskultur« könnte ein solches kulturelles Leitbild sein, bietet sie doch eine praktische Strategie, die auf individueller und auf gesellschaftlicher Ebene funktionieren könnte, und zwar sowohl in einem Worst-Case- als auch in einem Best-Case-Szenario. Wir brauchen etwas, das im tatsächlichen Leben einzelner Menschen und Länder auch dann trägt, wenn die Menschheit als ganze scheitert. Das Ziel dieses kurzen Buches ist es, eine etwas ernsthaftere Diskussion über die Möglichkeit solch eines neuen kulturellen Kontextes zu beginnen.

Die meisten Menschen spüren bereits, dass sich etwas geändert hat. Wenn es um die Klimakatastrophe geht, ist es intellektuell nicht mehr redlich, noch Optimist zu sein. Viele von uns fühlen auch, dass wir uns seit geraumer Zeit selbst belügen. Sicher, aus Sicht der Klimawissenschaft und aus einer rein physikalischen Perspektive ist es immer noch möglich, die Erderwärmung unter 1,5  °C oder vielleicht 2 °C zu halten. Aber aus psychologischer, aus kognitions- und politikwissenschaftlicher Sicht ist es das eben nicht. Wenn wir uns den heute verfügbaren psychologischen und politischen Fakten unvoreingenommen stellen, deutet alles darauf hin, dass die Menschheit an diesem Problem scheitern wird – sehenden Auges.

Physikalische Möglichkeit ist nicht dasselbe wie psychologische oder politische Möglichkeit. Wir dürfen den Begriff des »noch Möglichen«, wie er sich aus der Physik und der aktuellen Klimaforschung ergibt, nicht mit dem verwechseln, was realistischerweise noch möglich ist aufgrund unseres Wissens über unseren eigenen Geist und seine evolutionäre Geschichte, über die verschiedenen politischen Institutionen auf dem Planeten sowie über den aktuellen Zustand menschlicher Gesellschaften und Kulturen. Die vernünftigste Annahme ist jetzt, dass der Klimawandel in den kommenden Jahrzehnten und Jahrhunderten einen katastrophalen und weitgehend unkontrollierten Verlauf nehmen wird.

Ich weiß, dass diese Einschätzung extrem schwer zu akzeptieren ist, vor allem gefühlsmäßig. Aber wir müssen uns endlich den Tatsachen stellen. Ich denke, wir haben sogar eine ethische Verpflichtung dazu. Um möglichen (oder sogar vorsätzlichen) Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich gleich zu Anfang klarstellen, dass es sich bei den folgenden Ausführungen weder um eine Form von Zweckpessimismus handelt noch um eine Verteidigung von Defätismus und Passivität. Ich sage keineswegs, dass wir uns aus dem politischen Geschehen zurückziehen oder aufhören sollten, etwas zu tun. Bei der Idee einer Bewusstseinskultur, die ich im zweiten Kapitel näher erläutere, geht es nicht um eine philosophisch verbrämte Form von Gleichgültigkeit und auch nicht um eine Entschuldigung für Mutlosigkeit oder Resignation. Ich rede weder einer eleganten neuen Form von Welt- oder Wirklichkeitsflucht das Wort, noch plädiere ich für einen pseudo-spirituellen Quietismus oder den unpolitischen Rückzug in eine reine Innerlichkeit. Ganz im Gegenteil: Wir brauchen einen neuen kulturellen Kontext, der es uns ermöglicht, mehr zu tun. Aber die Überschätzung unserer eigenen Fähigkeiten, ob individuell oder kollektiv, führt nicht zu diesem Ziel. Sie ist kontraproduktiv und psychologisch nicht nachhaltig. Leider zeigt die psychologische Forschung, dass gerade Menschen mit geringen Fähigkeiten diese bei der Problemlösung am meisten überschätzen – mit gefährlichen Folgen. Um überhaupt eine Chance zu haben, noch möglichst viel zu retten, müssen wir uns sowohl von ideologischen Formen eines Zweckpessimismus als auch von den vielen verlogenen Varianten eines reinen Zweckoptimismus befreien. Es ist der Realismus, der auf eine neue Ebene gehoben werden muss.

Optimismus ist keine Option

Wissenschaftler sprechen schon seit Langem von der Großen Beschleunigung.[1] Viele verschiedene Aspekte unseres Lebens gewinnen zunehmend an Geschwindigkeit. Auch die planetare Krise verschärft sich, aber sie hat viele verschiedene Gesichter. Nicht nur die Weltbevölkerung, die Informationsflut und die Geschwindigkeit des technologischen Wandels nehmen ständig zu, sondern auch viele globale Entwicklungstendenzen wie der Energieverbrauch, der Wasser- und Flächenverbrauch, die Treibhausgas-Emissionen, die Versauerung der Ozeane, der Verlust der Tropenwälder und insbesondere das Artensterben verstärken und beschleunigen sich.

Wir haben den Übergang von einem wachstumsorientierten, durch Gier, Neid und Dominanzstreben motivierten Wirtschaftsmodell zu einer funktionierenden Suffizienz-Ökonomie nicht geschafft, also zu einer wirklich nachhaltigen und entschleunigten Form des Wirtschaftens. Weil wir über Jahrzehnte hinweg das rechte Maß und den Übergang zu naturverträglichen Technologien nicht gefunden haben, intensiviert und beschleunigt sich nun die planetare Krise noch einmal deutlich.

Das alles wussten wir schon lange. Aber wir haben beschlossen, die Tatsachen so gut wie möglich zu ignorieren. Zudem haben wir unsere eigene Selbsttäuschung auf politischer Ebene erfolgreich organisiert. Nun hat uns das Wachstumsmodell endgültig in eine sich selbst verstärkende Umweltkatastrophe geführt. Der zentrale Faktor, den alle kennen, ist dabei der enge Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und der Rate der globalen Kohlendioxidemissionen.

Als Gesellschaften ist es uns nicht gelungen, einen intelligenteren neuen Kontext zu entwickeln, der das primitive neoliberale Wachstumsmodell an Attraktivität übertrifft. Noch immer hält uns der wahnhafte Glaube an ein grenzenloses und durch immer neue Technologien weiterhin ermöglichtes Wirtschaftswachstum im Würgegriff. In Anlehnung an die philosophische Idee des Effektiven Altruismus[2] könnten wir das traditionelle Modell als »effektiven Egoismus« bezeichnen – und natürlich ist es tief in unserer biologischen Geschichte verankert. Die industrielle Revolution und die Entstehung des Kapitalismus in England ab 1760 mögen historische Zufälle gewesen sein,[3] aber die enorme Widerstands- und Anpassungsfähigkeit dieser besonderen Wirtschaftsform haben mit der Tiefenstruktur unseres eigenen Geistes zu tun.

Gier, Neid, Dominanzstreben und die Motivation durch Selbsttäuschung waren in der Welt unserer Vorfahren erfolgreiche Überlebensstrategien. Sie haben den Fortpflanzungserfolg erhöht. Die »Wachstumsideologie« ist sozusagen ein biologisches Grundprinzip, das wir mit den meisten anderen Tieren teilen – und das uns jetzt an den Abgrund führt. Im vergangenen Jahrhundert gab es trotzdem Phasen und Momente, in denen sich durchaus ein neuer soziokultureller Kontext hätte entwickeln können. Der Übergang zu etwas Neuem wäre im Prinzip möglich gewesen.

Im Prinzip. Doch jetzt ist es dafür zu spät. Die globale Finanzindustrie und die Wirtschaftslobby haben uns in eine ökologische Katastrophe geführt, und es scheint mehr als wahrscheinlich, dass sie weiterhin große Teile der Biosphäre des Planeten zerstören werden. Dabei spielt aber auch unsere eigene geistige Trägheit eine Rolle, die zum Beispiel durch die Reizüberflutung in den sozialen Medien und den Einfluss organisierter Religionen systematisch verstärkt wird. Davon bald mehr.

Natürlich könnten in der Zukunft ganz andere Entwicklungen zuerst eintreten. Entwicklungen, die durch andere menschengemachte Ereignisse ausgelöst werden und die dazu führen könnten, die Klimakatastrophe auf absehbare Zeit zu stoppen. So könnte die Erderwärmung durch eine starke und lang anhaltende globale Abkühlung des Klimas verhindert werden, wie sie zum Beispiel bereits nach einem begrenzten Atomkrieg eintreten könnte, bei dem ausgedehnte Feuerstürme Rußpartikel in die Stratosphäre einbringen und einen sogenannten »nuklearen Winter« verursachen.[4] Schon ein lokaler Konflikt zwischen Indien und Pakistan, bei dem nur etwa 350 Sprengköpfe ausgetauscht würden, könnte nicht nur zu weltweiten Hungersnöten führen, sondern auch die Erderwärmung für längere Zeit stark verlangsamen.[5]

Neue Risiken drohen durch den Fortschritt in der Gentechnik. Bioterroristen könnten mutwillig eine globale Pandemie herbeiführen, welche die durch Industrie und Verkehr verursachten CO2-Emissionen plötzlich auf nahezu null brächte.[6] Auch auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz könnten wir in der mittelfristigen Zukunft durchaus auf unknown unknowns (»unbekannte Unbekannte«, also kausale Zusammenhänge, von denen wir bis jetzt nicht einmal wissen, dass wir sie nicht kennen) und »schwarze Schwäne« stoßen (also unerwartete und sehr unwahrscheinliche Ereignisse mit großen Auswirkungen). Auch solche Ereignisse könnten die Erderwärmung vorübergehend stoppen.[7] Doch wenn es zu keinem dieser Ereignisse kommt, wird die Klimakatastrophe mit Sicherheit eintreten. Sie ist der neue basso continuo der planetaren Krise, der Generalbass, der die weitere Entwicklung der Menschheit von nun an begleitet.

Offenbar hat der menschliche Geist in der Klimakrise seinen Meister gefunden, und wir beginnen die Gründe dafür langsam zu verstehen. Es handelt sich hier um eine neue Art von Katastrophe. Sie entfaltet sich in Zeitlupe, ihre Anfänge sind sinnlich kaum wahrnehmbar. In ihrem Verlauf weist sie Kipppunkte und Schwellen der Unumkehrbarkeit auf. Diese entstehen durch komplexe Rückkopplungssysteme und physikalische, geistige und sozioökonomische Formen von Trägheit. Dem letzten Punkt kommt große Wichtigkeit zu: Es ist nicht nur so, dass komplexe Rückkopplungen und die Möglichkeit einer sich plötzlich beschleunigenden, exponentiellen Entwicklung den menschlichen Geist überfordern.[8]

Was Wesen wie wir zudem nur schwer begreifen können, ist die Trägheit der physikalischen Systeme. Das Klimasystem der Erde reagiert so langsam, dass die Erwärmung noch lange andauern wird – auch wenn es uns gelingen sollte, die Emissionen zu stabilisieren oder sogar erfolgreich zu reduzieren. Der Meeresspiegel zum Beispiel wird noch über viele Jahrhunderte ansteigen, selbst bei einer Stabilisierung der CO2-Emissionen. In den Jahren 2021 und 2022 sind sie jedoch wieder angestiegen.

Es gibt aber noch etwas anderes, das wir erst jetzt und ebenfalls nur allmählich wirklich realisieren: die Trägheit unseres eigenen Geistes und die Trägheit unserer Gesellschaften. Es gibt nämlich nicht nur drei verschiedene Arten von Möglichkeit, sondern auch drei Lesarten des Begriffs »Trägheit«. Nicht nur das Klimasystem des Planeten Erde, auch das menschliche Gehirn ist ein komplexes System, genauso wie es menschliche Gesellschaften sind. Biologische Nervensysteme haben eine lange biologische Geschichte, Teile ihrer inneren Struktur sind relativ starr. Immer drängender stellt sich daher die wissenschaftliche Frage, welche »Fenster der Plastizität« der menschliche Geist angesichts der eskalierenden Krise tatsächlich besitzt. Was an unserem eigenen Geist ist wirklich noch formbar, und wann genauim Verlauf eines menschlichen Lebens existiert die hierfür notwendige Offenheit? Wann und wie öffnen sich Fenster der Formbarkeit?

Analoges gilt für Gesellschaften und politische Institutionen. Ihr Beharrungsvermögen steht in krassem Gegensatz zur steigenden Geschwindigkeit, mit der sich die objektiven Risiken entwickeln. In der Technikethik spricht man vom pacing gap, von der gefährlichen zeitlichen Lücke zwischen neu entstandenen Risiken und einer adäquaten gesellschaftlichen Reaktion.Im Zusammenspiel kann all dies möglicherweise zu Kaskaden einzelner Kippelemente führen. Die Klimakatastrophe ist eine besondere Katastrophe.

Zeitlupe plus anfängliche Unsichtbarkeit plus die Möglichkeit eines plötzlichen exponentiellen Wachstums plus die Trägheit gleich mehrerer zugrunde liegender Prozesse – das war zu viel für den menschlichen Geist. Die planetare Krise wird wahrscheinlich all unseren – verspäteten – Strategien zur Schadenbegrenzung auf längere Zeit widerstehen, selbst dann, wenn diese weniger halbherzig ausfallen sollten als bisher. Die Trägheit der physikalischen Prozesse, die dem Klimawandel zugrunde liegen, aber eben auch die Trägheit des menschlichen Geistes und der von ihm geschaffenen politischen Institutionen wird von Optimisten systematisch unterschätzt.

Für Wesen wie uns bleibt ein kalkulierter Optimismus trotzdem gefühlsmäßig aus verschiedenen Gründen attraktiv. »Zweckoptimismus« ist ein zielgerichteter Optimismus, der versucht, in schwierigen und unglücklichen Situationen immer die Lösungsmöglichkeiten zu betonen. Die Forschung zeigt, dass Optimismus unsere Motivation stärkt und unsere Grundstimmung hebt. Er kann zudem das Durchhaltevermögen erhöhen und, bei leichteren Erkrankungen, sogar zu einem Placebo-Effekt führen. Schwache Formen von unrealistischem Optimismus sind eine Strategie der Selbststabilisierung, weil sie unser Selbstwertgefühl steigern und unser Gefühl, die Kontrolle zu besitzen.

Zuversicht stärkt das Ich-Gefühl, sogar dann, wenn sie wahnhaft ist. Dies könnte auch ein Grund dafür sein, warum die Evolution eine optimistische Tendenz in unseren Verstand eingebaut hat: Bei unrealistischem Optimismus handelt es sich um eine wissenschaftlich gut dokumentierte kognitive Verzerrung (den sogenannten optimism bias). Diese Verzerrung lässt uns glauben, die Wahrscheinlichkeit, ein negatives Ereignis in der Zukunft zu erleben, fiele bei uns geringer aus als bei anderen Menschen.

Zweckoptimismus wirkt sich auch positiv auf die Karriere aus. Er hilft uns, in vielen verschiedenen sozialen Situationen ein wünschenswertes persönliches Image aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Er schafft das, was ich manchmal die durchaus angenehme, weil leicht selbstgefällige »Illusion der Selbstwirksamkeit« nenne: Ich bin wichtig, weil ich einen entscheidenden Einfluss darauf habe, was am Ende passiert.[9] Eine stabile Illusion der Selbstwirksamkeit ist von besonderer Bedeutung, wenn wir erfolgreiche Politiker oder Führungspersönlichkeiten werden wollen. Denn mit der öffentlichen Zurschaustellung von Optimismus können wir nach außen hin Tugendhaftigkeit signalisieren und Solidarität mit den Zielen der Gruppe demonstrieren.

Weil Zweckoptimismus dazu beiträgt, unser Selbstwertgefühl zu stabilisieren, hilft er uns dabei, unsere Ängste und andere negative Emotionen zu kontrollieren – was anderen, die wir vielleicht für uns gewinnen oder beeinflussen wollen, nicht verborgen bleibt. Man sieht es an der Körpersprache. Durch offen zur Schau gestellten Optimismus gewinnen wir Freunde, Verbündete und Unterstützer, denn wir helfen den Menschen um uns herum, bewusst an das zu glauben, was sie unbewusst schon lange gern glauben wollen – zum Beispiel, dass eigentlich alles noch möglich ist. Auf diese Weise bestärken wir uns alle gegenseitig in einer kollektiven Selbsttäuschung. Zweckoptimismus verschafft Führungspersönlichkeiten mehr Aufmerksamkeit für ihre heiteren und zuversichtlichen Zukunftsprognosen. Prognosen, die wir eigentlich alle hören und nur zu gern glauben wollen. Wer hat schon wirklich Lust, Skeptikern oder Pessimisten zuzuhören?

Aber Lügen haben kurze Beine. Die Wahrheit wird auf jeden Fall ans Licht kommen. Zweckoptimismus führt zu Heuchelei, und das Festhalten an Heuchelei führt wiederum zu einem Verlust gegenseitigen Vertrauens und zu einer Schwächung des sozialen Zusammenhalts. Das Festhalten am Zweckoptimismus raubt uns darüber hinaus die geistige Energie, die wir gerade jetzt so dringend brauchen, denn es verursacht einen permanenten inneren Konflikt: Ein Teil von uns weiß, dass das, was wir nach außen hin als unser persönliches oder politisches Ziel formulieren und einfordern, in Wirklichkeit etwas ist, wovon wir selbst nicht vollständig überzeugt sind. Ein Teil von uns würde zwar immer noch gern daran glauben; ein anderer Teil hat schon längst damit aufgehört.

Wir brauchen alle geistige Energie, die wir überhaupt aufbringen können, für das, was nun vor uns liegt. Wir können uns den inneren Konflikt, der mit Heuchelei und selbstgefälligem Optimismus einhergeht, nicht mehr leisten. Für alle, die wirklich ein Teil der Lösung sein wollen, sind Selbsttäuschung, die angenehme Illusion von Selbstwirksamkeit sowie blauäugiger Idealismus keine nachhaltigen Selbstmotivierungsstrategien. Zweckoptimismus führt mittelfristig fast immer zu emotionalem Ausbrennen und zu einem Gefühl der Verbitterung, denn es handelt sich dabei um eine gezielte und vorsätzliche Verzerrung des eigenen inneren Modells der Realität. Daher kann Zweckoptimismus manchmal sogar aus dem Ruder laufen und in einem wahnhaften Zustand enden.

Aber warum ist das alles so wichtig? Was die planetare Krise betrifft, so sind wir jetzt in eine neue historische Phase eingetreten, nämlich in die Phase der Schadensbegrenzung und des Katastrophenmanagements. Angesichts der physikalischen Trägheit der Prozesse, die den Klimawandel verursachen, wird die akute Phase mindestens viele Jahrzehnte, sehr wahrscheinlich aber viele Jahrhunderte dauern. Deshalb brauchen wir eine viel grundlegendere und nachhaltigere Strategie, als sie uns der Zweckoptimismus bietet. Wir brauchen etwas, das wirklich trägt.

Gesellschaftliche Kipppunkte

Die planetare Krise hat viele Gesichter. Seit 2008 befindet sich die Demokratie weltweit auf dem Rückzug. Heute lebt mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung unter autoritärer Herrschaft, während nur 6,4 Prozent aller Menschen eine vollständige Demokratie genießen.[10] Die gemeinsame Erfahrung, dass es uns nicht gelungen ist, die Klimakatastrophe zu verhindern, vermag diese antidemokratische Entwicklung noch zu beschleunigen. Sie untergräbt das Vertrauen in politische Institutionen und lässt primitivere Formen der sozialen Organisation weiter erstarken. Möglicherweise gibt es auch hier Rückkopplungseffekte und Kipppunkte: Zum Beispiel könnte es über den Umweg von Verschwörungstheorien, neuen religiösen Bewegungen und dem Erstarken populistischer Strömungen zu einem Ausstrahlungs- oder Übertragungseffekt von primitiveren Gesellschaftsformen auf die wenigen noch verbliebenen Demokratien kommen.

Auf politischer Ebene besteht die Gefahr, dass ganze Nationalstaaten durch ihr Beharren auf klimapolitischem Zweckoptimismus delegitimiert werden. Was bedeutet das? Wenn die Vertreter unserer politischen Institutionen angesichts der rollenden und immer offensichtlicher werdenden Katastrophe auch weiterhin Zweckoptimismus verbreiten – etwa indem sie unermüdlich behaupten, das 1,5-Grad-Ziel (oder auch nur eine Erwärmung um 2 °C) sei noch erreichbar –, dann büßen nicht nur sie selbst ihre persönliche Glaubwürdigkeit ein und erscheinen zunehmend als korrupte Lobbypuppen. Dann werden nicht nur sie sich den rasch wachsenden Zweifeln der Bürger ausgesetzt sehen und der Frage, ob sie das 1,5-°C-Ziel überhaupt jemals erreichen wollten.

Nein, wenn sich die planetare Krise weiter zuspitzt, steht plötzlich die Rechtfertigung aller bestehenden Regeln und Strukturen auf dem Spiel. Dann sind es die staatlichen Institutionen selbst, die in der öffentlichen Wahrnehmung ihre Legitimität verlieren. Was wiederum das Risiko für ein Erstarken populistischer Strömungen erhöht. In einer weiteren, besonders bösartigen Form von sozialer Rückkopplung könnte das Delegitimierungsproblem im Prinzip auch die Klimabewegung selbst beschädigen. Denn ein kalkulierter, aber spürbar unrealistischer Optimismus schadet auch der Glaubwürdigkeit all jener, die ein Teil der Lösung sein wollen.

Wir brauchen neue Formen des Wirtschaftens. Auf ökonomischer Ebene besteht das ungelöste Hauptproblem darin, wie ein friedlicher Übergang in eine Postwachstumsgesellschaft im Detail aussehen soll – und zwar ohne dass unser Wirtschaftssystem zusammenbricht. Ulrike Herrmann hat überzeugend dargelegt, dass die Idee eines »grünen Wachstums« mit Solar- und Windenergie eine Illusion ist, weil die Verfügbarkeit der dazu notwendigen Rohstoffe abnimmt; weil Ökoenergie auch in einem weiterwachsenden kapitalistischen System immer teuer und knapp bleiben wird und weil Rebound-Effekte viele Fortschritte wieder zunichtemachen.[11]

Das Problem sind nicht so sehr große positive Visionen. Die Wege, die wir in eine bessere Zukunft gehen könnten, sind enorm gefährlich und historisch kaum erprobt. Ein ungeordnetes »grünes Schrumpfen« etwa kann uns direkt in die Populismus-Falle führen. Herrmann schreibt: »Das ungelöste Problem ist allein, wie sich diese ökologische Kreislaufwirtschaft erreichen lässt, ohne unterwegs eine schwere Wirtschaftskrise zu provozieren, die die Bevölkerung in Panik versetzt und einen Diktator an die Macht bringt.«[12] Einer ihrer wichtigsten Punkte ist, dass neue Kosten entstehen, während zugleich die Wirtschaftsleistung schrumpfen muss, um eine Klimakatastrophe abzuwenden.[13] Es wird deshalb Verteilungskonflikte geben, die die Grundlagen der westlichen Demokratien erschüttern.

Dieses Problem betrifft auch die Weltgesellschaft als ganze. Wenn uns eine wirklich gerechte Rationierung von Gütern und Verschmutzungsrechten nicht gelingt; wenn die Mehrheit der Weltbevölkerung sieht, dass die Reichen sich immer wieder freikaufen und erfolgreich um den persönlichen Verzicht drücken können, dann wird es die so dringend benötigte globale Solidarität nicht geben. Realistischerweise ist es aber unwahrscheinlich, dass die Finanzindustrie und die reichen Länder freiwillig auf ihre Privilegien verzichten werden. Viele der entscheidenden Akteure werden ein Wachstum bis zum bitteren Ende verteidigen. Aktuell investieren die großen Energiekonzerne und Ölförderländer Milliarden in neue Projekte, mit denen sie die Erderwärmung weiter beschleunigen werden. Auch aus diesem Grund ist Optimismus keine Option mehr.

Daher brauchen wir eine robustere und nachhaltigere Form des Realismus. Die Menschheit wird sich einer Vielzahl von ineinandergreifenden politischen, gesellschaftlichen und planetaren Katastrophen stellen müssen. Die Lösung, die es zu entwickeln gilt, muss auch in einer historischen Periode des Scheiterns funktionieren. Sie kann daher nicht von großartigen »positiven Visionen« oder von wahnhaftem Optimismus und Illusionen der Selbstwirksamkeit abhängen. Sie wird ihren Ursprung auch nicht im Silicon Valley haben oder von kalifornischen Milliardären stammen. Zweckoptimismus führt nur zu Heuchelei und Misstrauen, Selbstüberschätzung ist keine nachhaltige Quelle von Motivation.

Unsere Lösung muss etwas Tieferes sein. Und wenn sie von der Mehrheit nicht akzeptiert wird, wenn die Katastrophe sich weiter entfaltet, dann muss diese Lösung zumindest auf der Ebene eines individuellen Lebens noch funktionieren und das Leben des Einzelnen in einer gefährlichen Welt und einer Phase des Scheiterns lebenswert machen. Es geht letztlich auch um unsere geistige Gesundheit. Eine echte Lösung muss uns vor allem dabei helfen, unsere Würde wiederzugewinnen und zu bewahren.

Intellektuelle Redlichkeit

Intellektuelle Redlichkeit meint die Weigerung, sich selbst in die Tasche zu lügen. Sie steht in einem engen Zusammenhang mit altmodischen Werten wie Integrität und Aufrichtigkeit und damit mit einer gewissen Form von »innerem Anstand«. Intellektuelle Redlichkeit ist eine geistige Tugend, die man haben kann oder auch nicht. Vielleicht könnte man von einer sehr konservativen Art sprechen, wirklich subversiv zu sein.

Können die Vertreter organisierter Religionen und Theologen jeglicher Art intellektuelle Redlichkeit überhaupt besitzen? Intellektuelle Redlichkeit bedeutet, dass man nicht vorgibt, etwas zu wissen oder auch nur wissen zu können, was man nicht wissen kann. Sie bedeutet aber eben auch, dennoch am bedingungslosen Willen zur Wahrheit und zur Erkenntnis festzuhalten, und zwar selbst dann, wenn es um Selbsterkenntnis geht und diese einmal nicht mit angenehmen Gefühlen einhergeht oder einer akzeptierten, etwa religiösen oder politischen Lehrmeinung entspricht.

Ende der Leseprobe