Der Elefant und die Blinden - Thomas Metzinger - E-Book

Der Elefant und die Blinden E-Book

Thomas Metzinger

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Beschreibung

Eine erkenntnisreiche Reise in unser Bewusstsein Was wäre, wenn unser Ziel nicht gewesen wäre, auf dem Mars zu landen, sondern im reinen Bewusstsein? Die Erfahrung der reinen Bewusstheit – wie sieht sie aus? Was ist die Essenz des menschlichen Bewusstseins? Neueste Erkenntnisse zu Meditation und Achtsamkeit: Mit über 500 Erfahrungsberichten aus der Praxis Thomas Metzinger, einer der international führenden Bewusstseinsforscher, versammelt mehr als 500 Erfahrungsberichte von Meditierenden aus 57 Ländern – die erste umfassende Darstellung von Zuständen reinen Bewusstseins weltweit. Indem er kontemplative Praxis, kognitive Neurowissenschaften und die moderne Philosophie des Geistes verbindet, gelingt es ihm, die spirituelle Erfahrung aus den Händen der New-Age-Gurus und der Religionen zu lösen. Ein lang erwartetes Buch! Für alle, die sich für eine wissenschaftlich fundierte, unideologische Form von Achtsamkeitspraxis interessieren. 

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Gewidmet den postbiotischen bewussten Systemen der Zukunft

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2023

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Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: agefotostock / Alamy Stock Foto

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Zitat

Einleitung

Die Erfahrung des »reinen Bewusstseins«: Wie fühlt sie sich an?

Alte Begriffe, neue Begriffe: Die Leerheit von »Leerheit«

Der Elefant und die Blinden

Kapitel 1

Psychometrie, sensationsloses Staunen und existenzielle Leichtigkeit

Kapitel 2

Zwölf Faktoren und ihre Grenzen

Kapitel 3

Stille und die Keine-Person-Perspektive

Kapitel 4

Die Phänomenologie der tonischen Wachheit und epistemischen Offenheit

Kapitel 5

Ein offener epistemischer Raum

Kapitel 6

Abstrakte Körperinnenwahrnehmung und Ultra-Glattheit

Kapitel 7

Der E-Fehlschluss

Kapitel 8

Das Kontraktionsprinzip

Kapitel 9

Zeitloses self-evidencing und »Sehen, was ist«

Kapitel 10

Spontane Präsenz und das Delfin-Modell der Meditation

Kapitel 11

Der peripersonale Raum

Kapitel 12

Der B-Fehlschluss

Kapitel 13

Das Wiedererkennen des unkonstruierten Grundzustands

Kapitel 14

Ataraxie

Kapitel 15

Spirituell, aber nicht religiös?

Kapitel 16

Einfachheit und Profundität

Kapitel 17

Leerheit, Sinnkonstruktion und Sterblichkeitsverleugnung

Kapitel 18

Leeres Erkennen

Kapitel 19

Sākṣin und der ideale Beobachter

Kapitel 20

Weiße Nächte: epistemische Offenheit und minimales Bewusstsein im Schlaf

Triangulation 1:

Triangulation 2:

Triangulation 3:

Kapitel 21

Reines Gewahrsein, verschiedene Arten von Luzidität und der verkörperte You-Turn

Kapitel 22

Die Leerheit des Zeiterlebens

Kapitel 23

Mittelpunktlosigkeit und Unbegrenztheit

Kapitel 24

Abstrakte Verkörperung, wechselnde Einheiten der Identifikation – und was Reinkarnation wirklich ist

Kapitel 25

Das Modell eines epistemischen Akteurs

Kapitel 26

Seelengrund und groundless ground

Kapitel 27

Was ist Non-Dualität?

Kapitel 28

Durchsichtigkeit, Unbestimmtheit und der »Weltinnenraum«

Kapitel 29

Nicht-egoische Einheiten der Identifikation und der Blick von Nirgendwo

Kapitel 30

Das, was niemals spricht

Kapitel 31

Noumenales Bewusstsein und Sympathy for the Devil

Kapitel 32

Spontaneität und Anstrengungslosigkeit

Kapitel 33

MPE als globaler Modus des bewussten Erlebens

Kapitel 34

Reines Bewusstsein: Was ist das?

Das Subjektivitäts-Argument

Fünf Formen der Reinheit

Eine kurze Kontextualisierung von »Reinheit«

Ein Minimalmodell des Bewusstseins

»Reines Bewusstsein«: Von Begriffen und psychometrischen Daten zur qualitativen Phänomenologie

Von Zuständen zu Modi

Offene Fragen

The Elephant in the Room

Epilog

Praktische Philosophie des Geistes

Die systematische Kultivierung positiver Bewusstseinszustände: Konkrete Beispiele

Welche Bewusstseinszustände (wenn überhaupt irgendwelche) sollten illegal sein?

Welche Bewusstseinszustände (wenn überhaupt irgendwelche) dürfen wir nicht-menschlichen Tieren aufzwingen?

Welche Bewusstseinszustände (wenn überhaupt irgendwelche) dürfen wir Maschinen oder anderen bewussten postbiotischen Systemen aufzwingen?

Welche Bewusstseinszustände wollen wir aktiv fördern und in unsere Gesellschaft integrieren?

Welche Bewusstseinszustände wollen wir unseren Kindern vermitteln?

In welchen Bewusstseinszuständen wollen wir sterben?

Enkulturation

Der erweiterte Kontext: Säkulare Spiritualität und die planetare Krise

Intellektuelle Redlichkeit

Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und Bewusstseinskultur

Danksagung

Glossar der verwendeten Begriffe

Bibliographie

Fragebogen

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Wenn man das Wesen eines Dings erkennen will, muss man es in seinem reinen Zustand untersuchen, da jeder Zusatz zu einem Ding ein Hindernis für die Erkenntnis dieses Dings ist.

Plotin, Enneaden, IV. 7, 10 [28 – 32]

Einleitung

Der Elefant und die Blinden

Die Erfahrung des »reinen Bewusstseins«: Wie fühlt sie sich an?

So rein wie weißer, frisch gefallener Schnee [#1186]

 

Als ob die Pause zwischen den Gedanken sehr lang wird, aber ohne zu warten. [#521]

 

Das ist genau das, was so unmöglich daran zu beschreiben ist: dass es eben gar keine Erfahrung ist. Das ist das Erste, was mir dabei jedes Mal intuitiv klar wurde: »Das ist jetzt keine Erfahrung«. [#1311]

 

Dies ist ein Buch über die Phänomenologie des »reinen Bewusstseins«. Als Teil eines längeren Forschungsprojekts handelt es von allen Zuständen, in denen wir entweder überhaupt keine Bewusstseinsinhalte zu erleben scheinen oder, alternativ, die Inhalte zusammen mit der tieferen Natur des Bewusstseins selbst, dem phänomenalen Charakter der Bewusstheit als solcher. Präsentiert wird eine Auswahl von Erfahrungsberichten aus dem Minimal Phenomenal Experience-Projekt, einer interdisziplinären Forschungsinitiative, die eine »Minimalmodell-Erklärung« für Bewusstsein anstrebt. Eine Minimalmodell-Erklärung ist eine Erklärung, die alles Überflüssige weglässt und die zentralen kausalen Faktoren isoliert, die das Zielphänomen hervorbringen, das wir am Ende besser verstehen wollen.[1]

Im vorliegenden Fall ist das Zielphänomen das Bewusstsein selbst. Deshalb ist die Erfahrung des Bewusstseins an sich, die Erfahrung des »reinen Gewahrseins« oder »reinen Bewusstseins«, wie sie in der Meditationspraxis auftritt, von besonderem Interesse. Zu meiner Arbeitshypothese gehört, dass Bewusstsein nicht nur in Abwesenheit von Gedanken und Sinneswahrnehmungen existieren kann, sondern sogar ohne Zeiterfahrung, ohne Selbstverortung in einem räumlichen Bezugssystem und ohne jede Form von körperlichem oder egoischem Selbstbewusstsein.

Das Ich-Gefühl stellt keine notwendige Bedingung für Bewusstsein dar. Und tatsächlich verfügen wir inzwischen über eine ganze Reihe empirischer Belege dafür, dass es bewusstes Erleben völlig losgelöst von jeder egoischen Selbstwahrnehmung gibt. Ich behaupte sogar, dass es ohne eine erlebnismäßige Erste-Person-Perspektive existieren kann. In diesem Sinne ist Bewusstsein vielleicht gar kein subjektives Phänomen.

Ich bin ein Philosoph, der sich schon lange für die Philosophie des Geistes und der Kognitionswissenschaft sowie für das Problem des Bewusstseins interessiert. 2019 habe ich das Minimal Phenomenal Experience-Netzwerk gegründet, weil ich das Problem des Bewusstseins aus einem neuen Blickwinkel betrachten wollte: »Was ist eigentlich die einfachste Art des bewussten Erlebens, die wir kennen?« Aus verschiedenen Gründen schien es mir an der Zeit, einen Neuanfang zu wagen und die Phänomenologie des »reinen Bewusstseins« oder des »reinen Gewahrseins« in der Meditation endlich ernst zu nehmen – zum Beispiel, indem man sie als empirischen Einstiegspunkt für die wissenschaftliche Bewusstseinsforschung nutzt. Dieses Buch soll einen solchen neuen Einstiegspunkt vorbereiten.

Die Bewusstseinsforschung hat in den letzten drei Jahrzehnten große Fortschritte erzielt. Wir verfügen mittlerweile über eine Flut empirischer Daten und ein besseres Verständnis der physikalischen Korrelate des bewussten Erlebens. Trotzdem gibt es immer noch viele konkurrierende Ansätze, und wir sind nach wie vor weit von einer einzigen, in sich stimmigen Theorie des Bewusstseins entfernt. Ähnlich wie das Standardmodell in der Teilchenphysik müsste ein überzeugendes Standardmodell in der Bewusstseinsforschung zu klaren Erfolgen bei der Entwicklung experimentell testbarer Vorhersagen führen und dabei gleichzeitig einen Großteil der wirklich grundlegenden Faktoren benennen und klassifizieren. Aber in der consciousness community, der auf das Problem des Bewusstseins konzentrierten Wissenschaftlergemeinschaft, haben wir noch einen langen Weg vor uns, bis etwas, das dem Standardmodell der Teilchenphysik auch nur annähernd ähnelt, niedergeschrieben werden könnte. Fast drei Jahrzehnte nach der Gründung der Association for the Scientific Study of Consciousness im Jahre 1994 wissen wir noch nicht einmal, was genau es eigentlich ist, das hier erklärt werden muss.

Wenn wir in der Zukunft ein erstes Standardmodell des Bewusstseins formulieren wollen, brauchen wir als Grundlage dafür zunächst ein minimales Modell bewusster Erfahrung. Dies ist der neue strategische Weg, den ich vorschlage. Ein Minimalmodell wird aus einer formalen Beschreibung bestehen, die nur die wichtigsten kausalen Faktoren enthält, die unser Zielphänomen hervorbringen. Das Minimalmodell wird die Essenz des Phänomens darstellen und dabei alles nicht unbedingt Notwendige weglassen: Es wäre ein idealisiertes Modell der universellen und wiederholbaren Merkmale aller Formen von Bewusstsein, ein möglicher Weg, um zum innersten Kern dieses besonderen Erkenntnisziels vorzudringen und das herauszufiltern, was für ein tieferes wissenschaftliches und philosophisches Verständnis wirklich relevant ist. Als Philosoph des Geistes lautet meine erste Frage daher: Was ist die einfachste Art von bewusster Erfahrung, die wir kennen?

Das Hauptmotiv hinter diesem Buch ist jedoch ein ganz anderes. Ich möchte etwas mit der breiteren Öffentlichkeit teilen. Etwas, von dem ich glaube, dass es nicht nur für Philosophen und Wissenschaftler hilfreich und inspirierend sein kann, sondern für eine ganze Reihe von sehr unterschiedlichen Menschen – und das möglicherweise aus Gründen, die ich selbst mir gar nicht vorzustellen vermag. Ich denke, dass das hier vorgestellte phänomenologische Material für andere Meditierende, für Künstler, Schriftsteller und Dichter, für Pädagogen, Therapeuten und politische Entscheidungsträger, vielleicht auch für Theologen und Religionswissenschaftler von Interesse sein könnte, ganz sicher aber auch für Neurowissenschaftler, Mathematiker und Forscher, die an abstrakten komputationalen Modellen für Bewusstsein arbeiten.

Ich bin ein Philosoph des Geistes und der Kognitionswissenschaften, der interdisziplinär arbeitet und einen undogmatischen naturalistischen Ansatz verfolgt. Andere Menschen könnten auf ganz andere Weise inspiriert werden oder zu wichtigeren Einsichten gelangen. So stelle ich mir etwa vor, dass andere Philosophen, die mit ganz anderen Hintergrundannahmen arbeiten und ganz andere Ziele verfolgen als ich, dieses Material ebenso wertvoll finden könnten wie ich; ich denke da an Phänomenologen, Erkenntnistheoretiker und Wissenschaftsphilosophen, aber auch an Kollegen mit Interesse an vergleichender und kulturübergreifender Philosophie. Wie wir schrittweise entdecken werden, steht die Ausgangsfrage nach der Phänomenologie des »reinen Bewusstseins« in Wirklichkeit in einem viel größeren Zusammenhang.

Da die Bewusstseinsforschung in einem sich rasch verändernden soziokulturellen Kontext stattfindet, ist dies indirekt auch ein Buch darüber, warum wir eine neue Bewusstseinskultur brauchen und wie wir sie erreichen können. Eine Bewusstseinskultur untersucht die mentalen Zustände ihrer Mitglieder auf ethische und evidenzbasierte Weise und kultiviert wertvolle Zustände. Noch besitzen wir eine solche Kultur nicht. Aber wir brauchen sie, weil wir ohne sie keinerlei Hoffnung haben, irgendeine der Krisen zu lösen, die die heutige Welt heimsuchen – vom ökologischen oder politischen Kollaps bis hin zu unserem Schlafwandeln in die Ära der künstlichen Intelligenz und des postbiotischen Bewusstseins. Ich werde am Ende noch etwas dazu sagen. Wer sich mehr für dieses wichtige Thema interessiert, sei aber auf ein kleines Buch verwiesen, das ich ebenfalls im Jahr 2023 veröffentlicht habe.[2]

Die neue Kultur des Bewusstseins wird nur dann erwachsen werden, wenn sie von einer philosophisch informierten Wissenschaft des Bewusstseins begleitet wird, die uralte Fragen auf neue Weise zu beantworten vermag. Ebenfalls am Ende dieses Buches werde ich kurz darlegen, dass die Erfahrung des »reinen Gewahrseins« der Kern sein könnte, um den herum dieses Wachstum stattfindet – wenn es denn stattfindet. Reines Gewahrsein könnte sich als die »Konvergenzzone« erweisen, in der eine radikalere und intellektuell ehrlichere Form der spirituellen Praxis, die kognitiven Neurowissenschaften sowie die moderne Philosophie des Geistes schließlich zusammenkommen. Will die Philosophie (und Wissenschaft) des Bewusstseins echte Fortschritte erzielen, muss sie endlich jene Formen des Bewusstseins ernst nehmen, denen sie lange Zeit am skeptischsten gegenüberstand: die selbstlosen Erfahrungen des »reinen Bewusstseins«, wie sie unter anderem in der Meditation auftreten.

Die Bewusstheit selbst kann nicht nur aus der Erste-Person-Perspektive erfahren werden, sondern auch aus einer Perspektive, die in diesem Buch als »Keine-Person-Perspektive« (engl. zero-person perspective) bezeichnet wird. Diese besondere Zugangsform wird unter anderem durch die besten Formen spiritueller Praxis erzeugt. Wie sich herausstellen wird, ist das Bewusstsein selbst auf seiner tiefsten Ebene kein subjektives Phänomen in einem philosophisch interessanten Sinne. Stattdessen erkennt es sich offenbar selbst, jedoch »nicht-egoisch«. So paradox es klingen mag: Es existieren tatsächlich selbstlose Formen des Selbstbewusstseins. Sie sind der Schlüssel zum Verständnis aller anderen Formen von Bewusstheit. Aber über die Bewusstseinsforschung hinaus kommt ihnen auch für die angewandte Ethik, für unsere Kultur und Gesellschaft Bedeutung zu. Am Ende unserer gemeinsamen Reise werde ich auf die vielfältigen Beweggründe für dieses Buch zurückkommen. Bis dahin wird der Text selbst immer wieder Hinweise auf den weiteren philosophischen Zusammenhang geben, während wir uns zusammen schrittweise tiefer in die phänomenologische Landschaft hineinbewegen.

Doch lassen Sie uns nun versuchen, so schnell wie möglich zum eigentlichen Material zu kommen. Die Erfahrungsberichte von Meditierenden, die Sie auf den folgenden Seiten finden, sind das Ergebnis eines allerersten Versuchs, die psychometrischen Grundlagen zu schaffen für eine phänomenologische Analyse, die feinkörniger ist als die alltagspsychologischen Beschreibungen, die wir bereits haben.[3] Sie wurden im Rahmen einer Online-Studie erhoben, die mein Kollege Alex Gamma und ich Anfang 2020 durchgeführt haben. Mehr als 3500 Personen aus 57 Ländern nahmen daran teil, und 1403 von ihnen lieferten verwertbare Daten. Die letztgenannte Gruppe bestand zu gleichen Teilen aus Männern und Frauen mit einem Durchschnittsalter von 52 Jahren, und mehr als 77 % gaben an, regelmäßig zu meditieren.

Zusätzlich zur Beantwortung der 92 Fragen in einem längeren Online-Formular konnten die Teilnehmenden auch Freiformberichte einreichen, in denen sie vergangene Episoden reinen Gewahrseins in ihren eigenen Worten beschrieben. Während der dreimonatigen Datenerhebung wurden 1171 solcher Berichte eingereicht; 841 waren verwertbar, mehr als 500 davon habe ich für dieses Buch ausgewählt. Sie werden hier mit dem ausdrücklichen Einverständnis ihrer Verfasser veröffentlicht und sind vollständig anonymisiert. Alle Teilnehmenden hatten zwei Möglichkeiten, ihre Erfahrungsberichte von der Veröffentlichung auszuschließen: indem sie am Ende des Fragebogens ihre entsprechende Präferenz angaben oder indem sie auf eine individuelle E-Mail, die nach Abschluss der Datenerhebung verschickt wurde und in der sie formell um ihr Einverständnis zur Veröffentlichung gebeten wurden, abschlägig antworteten.

Unser Ziel bestand nicht darin, Meditationsforschung zu betreiben.[4] Wir wollten die subjektive Erfahrung des Bewusstseins an sich besser verstehen lernen, über die seit vielen Jahrhunderten und in unzähligen verschiedenen soziokulturellen Kontexten berichtet wird. Die Anweisung an alle Teilnehmenden lautete wie folgt:

Beim vorliegenden Fragebogen geht es um alle Erlebniszustände, in denen ein Gewahrsein des Gewahrseins selbst oder ein Bewusstsein des Bewusstseins selbst auftritt. Wir wollen also das subjektive Erleben der »Bewusstheit als solcher« erfassen. Manchmal werden diese Zustände auch als »reines Gewahrsein« oder »reines Bewusstsein« bezeichnet. Es geht uns dabei nicht in erster Linie um mystische Erlebnisse oder dramatische spirituelle Gipfelerfahrungen, sondern vielmehr um alle Zustände, die durch eine Erlebnisqualität des »reinen Gewahrseins« oder der »Bewusstheit selbst« charakterisiert sind. Das bedeutet, dass in uns – unabhängig von dem Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein anderer Bewusstseinsinhalte – auch ein »Gewahrsein des Gewahrseins« entstanden ist; dass also die Qualität der »Bewusstheit« selbst noch einmal klar und deutlich erlebt wird.

 

Lassen Sie mich schnell ein erstes mögliches Missverständnis ausräumen. Wenn wir nach der Erlebnisqualität der Bewusstheit »an sich« suchen, dann suchen wir noch nicht nach seiner begrifflichen Essenz, nicht nach dem Bewusstsein, wie es aus der Perspektive einer bestimmten Theorie erscheinen könnte (einer Theorie, die uns sagt, worin die innere Natur des Bewusstseins wirklich besteht). Wir suchen nicht nach Bewusstsein »unter einer begrifflichen Repräsentation«, wie ein moderner Philosoph der Kognitionswissenschaft vielleicht sagen würde. Wenn wir von der Erfahrung des »Bewusstseins als solchem« oder des »Bewusstseins an sich« sprechen, beziehen wir uns dabei also nicht auf einen geistigen Akt, bei dem wir das begriffliche Wesen des Bewusstseins erfassen und dabei einen Gedanken über das Bewusstsein als Bewusstsein bilden. Genau das Gegenteil ist der Fall. Im Fokus dieses Buches steht das vollständig nicht-begriffliche Erleben der Bewusstheit selbst.

»So rein wie weißer, frisch gefallener Schnee«: Wie es die ganz zu Anfang zitierte metaphorische Beschreibung eines unserer Teilnehmer treffend zum Ausdruck bringt, handelt es sich beim reinen Bewusstsein um etwas absolut Ursprüngliches. Es besitzt eine offene, wache und vollkommen stille Qualität der Klarheit (Kapitel 4 und 5). Es ist das anstrengungslose Erleben des nicht-begrifflichen Wissens selbst; es ist aber auch, wie ein anderer Teilnehmer geschrieben hat, »das, was niemals spricht« (siehe Kapitel 30).

Allen Teilnehmenden möchte ich ausdrücklich dafür danken, dass sie uns so viele persönliche Erfahrungsberichte geliefert haben. Sie haben einen großen Beitrag geleistet, indem sie aufrichtig versucht haben, etwas auf sprachlicher Ebene zu beschreiben, das seit Jahrtausenden als Paradigma dessen bezeichnet wird, was jenseits aller Worte liegt. Sie hätten dies nicht tun müssen. Unsere erste Umfrage stellte das Verfassen eines schriftlichen Erfahrungsberichts völlig frei; es war eine zusätzliche Arbeit, die unsere Teilnehmenden auf sich nahmen. Ich betrachte ihre Beiträge als eine Art Spende, ein Geschenk an die akademische Bewusstseinsforschung. Auch aus diesem Grund möchte ich sie weitergeben und mit einem breiteren Publikum teilen. Für mich sind alle Umfrageteilnehmer (auch diejenigen, deren Erfahrungsberichte aus Platzgründen nicht berücksichtigt werden konnten) Ko-Autoren meines Buches.

Alte Begriffe, neue Begriffe: Die Leerheit von »Leerheit«

Der Begriff des »reinen Bewusstseins« oder »reinen Gewahrseins« hat eine lange Tradition, man begegnet ihm in Schriften über Meditation und kontemplative Praxis, insbesondere in solchen der philosophischen Traditionen Asiens, schon seit langer Zeit. Dort ist häufig von einer inhaltslosen Form von Erleben die Rede. Im Laufe der Jahrhunderte fand die kontemplative Praxis meist vor dem Hintergrund religiöser Glaubenssysteme wie dem Buddhismus oder dem Hinduismus statt. Die Praktizierenden versuchten häufig, einen Zielzustand wie »Befreiung« oder »Erwachen« zu erreichen. Dementsprechend wurden die phänomenologischen Taxonomien solcher Zustände oft von traditionellen metaphysischen Glaubenssystemen und einem sehr alten kulturellen Kontext geprägt.

In den letzten fünfzig Jahren ist jedoch eine historisch neue Situation entstanden. Millionen von Praktizierenden in westlichen Gesellschaften meditieren regelmäßig und täglich, aber viele von ihnen (45,6 Prozent unserer Teilnehmer) tun dies innerhalb eines säkularen Kontexts. Sie bezeichnen sich selbst als »spirituell, aber nicht religiös« oder als »spirituell, aber mit keiner Organisation verbunden« (siehe Kapitel 17). Machen solche Menschen systematisch andere Erfahrungen als diejenigen, die in einem religiösen Rahmen meditieren? Gibt es einen gemeinsamen Nenner, ein verbindendes Element über verschiedene kulturelle Kontexte hinweg? Was die Möglichkeiten zur Beantwortung solcher Fragen angeht, so ist die derzeitige Situation in der Geschichte beispiellos. Uns stehen die mächtigen Werkzeuge der modernen Wissenschaft zur Verfügung, und wir verfügen über neue theoretische Ansätze für das Problem des Bewusstseins. Zum ersten Mal meditieren Millionen von Menschen regelmäßig in verschiedenen Ländern und Kulturen auf der ganzen Welt. Dies öffnet uns die Tür zu einem neuen, ideologiefreien und radikal erfahrungsbasierten Ansatz für die Phänomenologie des Bewusstseins an sich. Es gibt eine historische Chance für einen Neubeginn.

In diesem Buch werde ich die Begriffe »reines Bewusstsein« und »reines Gewahrsein« synonym verwenden. In der Geschichte der Menschheit sind bereits viele eng verwandte Begriffe geprägt worden, die alle in direktem Zusammenhang mit der Erfahrung des reinen Bewusstseins stehen. Einige der einflussreichsten lauten:

dharmakāya

(der »Wahrheitskörper« des buddhistischen Pāli-Kanons)

rig pa

(im tibetischen Dzogchen das »reine Gewahrsein«, das »Wissen des Grundes«, die spontane Präsenz der ursprünglichen »Ur-Wachheit«)

sākṣin

(das »Zeugenbewusstsein« der klassischen Advaita-Vedanta-Philosophie)

samādhi

(der »ebene Intellekt«, wie wir ihn in der

Bhagavad Gita

oder im

Yoga Sūtra von Patañjali

finden – ein geistiger Gleichgewichtszustand ohne Gedanken, in dem alle Unterscheidungen zwischen dem Meditierenden, den potenziellen Objekten und dem Vorgang der Meditation selbst verschwunden sind)

sat-chit-ananda

(»Existenz, Bewusstsein und Glückseligkeit« in der Hindu-Philosophie)

turīya

(seit den ältesten Upanischaden die Vorstellung eines vierten Zustands des »reinen Bewusstseins«, der den drei gewöhnlichen Zuständen – Wachen, Träumen und traumloser Tiefschlaf – zugrunde liegt)

ye shes

(das »zeitlose Gewahrsein der ursprünglichen Wachheit«, zum Beispiel im Vajrayāna-Buddhismus)

Dies sind nur einige Beispiele. All diese traditionellen Konzepte deuten auf eine einfache und scheinbar reine Form des Bewusstseins hin, bei der das Bewusstsein selbst allmählich in den Vordergrund der Erfahrung rückt – oder bei der die Unterscheidung zwischen Vordergrund und Hintergrund bedeutungslos wird.

Ich verspreche hiermit, dass ich in diesem Buch nur eine einzige neue Abkürzung verwenden werde. Meine Arbeitshypothese geht davon aus, dass es tatsächlich eine maximal einfache Form des Bewusstseins gibt: die »minimale phänomenale Erfahrung« (vom Englischen minimal phenomenal experience, im Folgenden mit MPE abgekürzt).[5] Dieser einfachsten Form des bewussten Erlebens fehlt die Zeitrepräsentation, die Selbstverortung in einem räumlichen Bezugssystem, das Gefühl der »Meinigkeit«, die subjektive Erfahrung von aktiver Handlungskontrolle, das autobiografische Selbstbewusstsein sowie eine phänomenal erlebte Ich-Perspektive.

Natürlich gäbe es dazu noch viel mehr zu sagen, und wir werden all dies auf unserer gemeinsamen Reise durch das Buch auch noch viel besser verstehen lernen. Für den Moment nur so viel: Ich gehe davon aus, dass unser Zeiterleben (einschließlich eines »Jetzt«), die räumlich lokalisierte Körpererfahrung und das subjektive Zentrum des bewussten Erlebens, das durch die egoische Selbstwahrnehmung und das Ich-Gefühl geschaffen wird, keine notwendigen Merkmale des Bewusstseins sind. Wenn es eine Essenz des Bewusstseins gibt, dann sind sie kein Teil davon.

Ich glaube, dass die Erfahrung reinen Gewahrseins in der Meditation ganz offensichtlich der beste und natürlichste Kandidat ist, den wir derzeit für MPE haben. Daher werde ich das neue theoretische Konzept von »MPE« und die beiden seit Langem bekannten phänomenologischen Begriffe des »reinen Bewusstseins« und des »reinen Gewahrseins« in diesem Buch synonym verwenden. Die Welt aus der Perspektive der MPE zu erleben, das werde ich in den Kapiteln 3 und 29 die »Keine-Person-Perspektive« nennen, weil diese minimale Form des Bewusstseins keine egoische Form von Selbstbewusstsein beinhaltet – obwohl sie, wie wir im Kapitel 29 sehen werden, oft als etwas beschrieben wird, das sich selbst erkennt.

Eines der interessantesten Ergebnisse unserer Studie ist die Fülle an Belegen für die Existenz eines nicht-egoischen Selbstbewusstseins. Unsere Daten deuten darauf hin, dass es tatsächlich so etwas wie Selbsterkenntnis aus der Keine-Person-Perspektive geben könnte – und wenn etwas nach philosophischer Relevanz klingt, dann ist es das. Die allgemeine Idee ist jedoch sehr leicht zu verstehen. Die Suche nach der »minimalen phänomenalen Erfahrung« bedeutet, sich ehrlich und ernsthaft die folgende Frage zu stellen: Was ist die einfachste Art von bewusster Erfahrung, zu der ein Mensch fähig ist?

Philosophen und Wissenschaftler stellen diese Frage von außen. Aber man kann Einfachheit auch von innen erleben, als Meditierender. In unserer Online-Umfrage, die in fünf verschiedenen Sprachen durchgeführt worden ist und sich an regelmäßig Meditierende auf der ganzen Welt gerichtet hat, baten wir die Teilnehmenden, ihre Zustimmung zu der folgenden Aussage zu bewerten (Punkt 84 unserer Umfrage): »Die Erfahrung des ›reinen Gewahrseins‹ ist die einfachste Art des bewussten Erlebens, die ich kenne.« In unserem Fragebogen erreichte dieses Item einen Zentralwert von 80 von 100 möglichen Punkten, was meine Intuition stützt, die Erfahrung des reinen Gewahrseins als einen guten Kandidaten für die MPE zu betrachten.

Deshalb ist meine Arbeitshypothese, dass die Erfahrung des reinen Gewahrseins – von der Millionen von Meditierenden seit Jahrhunderten berichten und die immer noch an jedem Tag unzählige Male rund um den Globus auftritt – möglicherweise sogar tatsächlich die MPE ist. Aber stimmt das auch? Ist reines Gewahrsein wirklich die einfachste Art von bewusster Erfahrung, die wir kennen?

Um diese Frage beantworten zu können, brauchen wir exzellente neurowissenschaftliche Forschung, feinkörnige mathematische Modellierung und eine neue komputationale Phänomenologie. Wir werden auch eine gute Philosophie des Geistes benötigen, zum Beispiel um zu einer begrifflichen Synthese neuer empirischer Daten oder zu sinnvollen Kriterien für »Minimalität« oder »Einfachheit« zu gelangen. Doch zuvor müssen wir uns die Phänomenologie selbst sehr genau ansehen. Dies ist einer der wichtigsten Punkte: Die Erfahrung selbst muss wirklich ernst genommen werden. Konkret bedeutet dies, dass wir sie auf evidenzbasierte Weise untersuchen müssen, und zwar auf eine intellektuell redliche Art und Weise, die nicht von einer verdeckten metaphysischen Agenda oder den uneingestandenen Hintergrundannahmen eines religiös-ideologischen Rahmens bestimmt wird.

Wie im letzten Kapitel hoffentlich deutlich werden wird, können dieses Buch und die ihm vorangegangenen Veröffentlichungen als Vorbereitung für ein systematisches und strengeres Forschungsprogramm für die MPE angesehen werden; für zukünftige Forschung also, die direkt auf die faszinierende Erfahrung des reinen Bewusstseins abzielt und diese Erfahrung der Menschheit am Ende vielleicht sogar leichter zugänglich macht. Alles, was ich hier tue, ist das Schaffen erster begrifflicher und phänomenologischer Grundlagen, während ich zudem von Zeit zu Zeit den weiteren Kontext beleuchte. Letztendlich wird das Problem des reinen Bewusstseins jedoch den harten Wissenschaften des Geistes, den kognitiven Neurowissenschaften und der komputationalen Modellierung übergeben werden müssen. Von dort aus wird es dann in die Philosophie des Geistes und die angewandte Ethik zurückkehren. Schließlich bedürfen neue empirische Forschungsergebnisse nicht nur einer begrifflichen Interpretation, sondern immer auch einer ethischen Bewertung der neuen Handlungsmöglichkeiten, die sie hervorbringen können.

Wie bereits erwähnt, wird die MPE eine zentrale Rolle bei der Formulierung eines ersten Standardmodells des Bewusstseins spielen. Aber bei alldem geht es nicht nur um Wissenschaft. Es gibt einen tieferen Zusammenhang. Wenn überhaupt etwas jemals ein wirklich großes Thema gewesen ist, dann das reine Bewusstsein. In einigen der berichteten Erfahrungen steckt eine Tiefe, die sehr direkt auf viele der schwierigsten philosophischen Rätsel verweist. Wir können nicht so tun, als ob wir davon nichts wüssten, und diese Tiefendimension zugunsten klar definierter Forschungsfragen ignorieren. Vor allem aber müssen wir versuchen, dem Phänomen selbst so nahe wie möglich zu kommen.

Um eine allererste Grundlage zu schaffen, sind meines Erachtens drei Schritte erforderlich: (1) die Extraktion semantischer Auflagen für den Begriff des »reinen Bewusstseins« aus der vorhandenen Literatur;[6] (2) die statistische Analyse einer großen Menge psychometrischer Daten;[7] (3) die qualitative Untersuchung phänomenologischer Beschreibungen von MPE-ähnlichen Zuständen. Letzteres ist die Hauptaufgabe des vorliegenden Buches. Daneben stütze ich mich jedoch auch auf Fortschritte in den beiden anderen Bereichen sowie auf eine Auswahl historischer Quellen.

Natürlich gibt es viele Hindernisse. Der erste Schritt gestaltet sich schwierig, weil die traditionelle Literatur über reines Bewusstsein in der Meditation viele Jahrhunderte überspannt und entsprechend umfangreich ist. Jeder Versuch, aus ihr so etwas wie Kerngedanken zu extrahieren, gerät unweigerlich zu einer Art transkultureller Rosinenpickerei.[8] Es gibt keine semantische Essenz des Begriffs »reines Bewusstsein«, keinen festen Bedeutungskern, der sich einfach isolieren ließe.

Dazu kommt in einem zweiten und ebenfalls nicht einfachen Schritt, dass ein psychometrischer Ansatz die statistische Analyse von Daten aus einem Fragebogen beinhaltet. Dabei wird ein vorgegebener Satz von Items verwendet. Diese Art der Analyse ist anfällig für viele Formen der Verzerrung, sie weist schwerwiegende methodische Beschränkungen auf, wie Sie sicherlich schon nach der Lektüre der ersten beiden Kapitel erkennen werden. Der dritte Schritt, eine qualitative Analyse phänomenologischer Selbstberichte, stellt uns ebenfalls vor Probleme. Dieses Buch stellt denn auch noch keine wirklich systematische Art von qualitativer Analyse dar; es fasst lediglich eine große Anzahl phänomenologischer Berichte in sehr losen Gruppierungen zusammen.

Dieses Buch versteht sich als ein erster Anstoß bei dem Vorhaben, den qualitativen Teil einer wirklich soliden Grundlage für den neuen Forschungsansatz zu schaffen. Vielleicht kann es eine neue und flexible Heuristik liefern, die uns dabei hilft, den Raum möglicher Lösungen für das Problem des Bewusstseins auf eine bessere, radikalere Weise zu durchsuchen. Wenn wir die drei Schritte entschlossen gehen und die drei genannten Ansätze wirklich zusammenbringen, dann könnten wir eine veränderte, von überholten theoretischen Intuitionen befreite Perspektive gewinnen. Vielleicht kann diese Strategie kontraproduktive Hintergrundannahmen zerstören und uns neue Ideen liefern. Dieses Buch wird, so meine Hoffnung, zeigen, dass es hier nicht nur etwas von großem Wert und großer Relevanz gibt. Sondern auch, dass es viel weiter verbreitet ist, als wir denken; dass es zu lange ignoriert worden ist und dass es lohnend sein könnte, ihm echte Aufmerksamkeit zu schenken – sowohl wissenschaftlich als auch kulturell.

Als interdisziplinär arbeitender Philosoph des Geistes hielt ich es vor allem für wichtig, sich nicht vorschnell zu grandiosen philosophischen Theorien über »Bewusstsein ohne Inhalt« hinreißen zu lassen oder spezielle neurowissenschaftliche Forschungsprogramme auf der Grundlage noch vollkommen unklarer Untersuchungsgegenstände zu fordern. Wir müssen zuallererst dem phänomenalen Charakter der Erfahrung selbst so nahe wie möglich kommen. Wir müssen diese Erfahrung unvoreingenommen unter die Lupe nehmen.

Abgesehen von der Veröffentlichung des Materials; abgesehen von der Idee eines Minimalmodells, vom Subjektivitätsargument und von der Frage nach einer ethisch fundierten Bewusstseinskultur besteht eines der zentralen Anliegen dieses Buches darin, die Phänomenologie des reinen Bewusstseins endlich ernst zu nehmen und bei ihr zu verweilen. Die Phänomenologie des reinen Bewusstseins ist äußerst subtil. Wir müssen ihr Aufmerksamkeit und auch Respekt schenken, wenn wir verstehen wollen, was eine Theorie des Bewusstseins erklären können muss. Ist die MPE, die einfachste Art des bewussten Erlebens, überhaupt der Zustand, den Meditierende tatsächlich erleben? Wenn ja, wie sollen wir es dann verstehen, dass (wie in Kapitel 31 gezeigt) einige von ihnen behaupten, bei der MPE handle es sich um gar keine »Erfahrung«?

Noch zwei kurze Begriffsklärungen, dann sind wir startklar. Erstens: Die spezifische Phänomenologie des »reinen Gewahrseins« kann als eigenständiges Merkmal oder in Kombination mit anderen Formen von Erfahrungsinhalten auftreten. Beispielsweise kann sie in tiefen und klaren Zuständen einer ganz normalen Sitzmeditation entstehen, ohne Gedanken und bei geschlossenen Augen, wenn auch alle anderen Formen von sinnlicher Wahrnehmung vorübergehend verschwunden sind. In diesen Fällen handelt es sich um eine einzelne, unabhängige phänomenale Qualität, ein Merkmal des Erlebens, über das später berichtet werden kann. Die Erlebnisqualität kann aber nicht mitgeteilt oder beschrieben werden, während der Zustand noch anhält. Diese Tatsache können wir als »synchrone Unaussprechlichkeit« (concurrent ineffability) bezeichnen.

Ich nenne solche Episoden, die nichts anderes als das reine Gewahrsein selbst beinhalten, »Absorptions-Episoden«. In derartigen Zuständen sind wir vollständig von der Erfahrung des reinen Bewusstseins absorbiert. Aber wie die Berichte unserer Meditierenden zeigen, kann »reines Gewahrsein« auch auftreten, wenn die Augen geöffnet sind: als eine alles durchdringende Qualität von Klarheit, Stille und müheloser Achtsamkeit, etwa während der Gehmeditation. Manchmal stellt es sich auch ganz spontan ein, außerhalb jeder formalen kontemplativen Praxis (mehr dazu am Ende des Buches).

Unser Material zeigt, dass es einerseits Zustände von MPE gibt, andererseits aber auch globale Modi, also komplette Formen des bewussten Erlebens, die ganz von MPE durchdrungen sind. Diese begriffliche Unterscheidung übernehme ich von zwei der besten Bewusstseinsphilosophen, die ich kenne, von Timothy Bayne und Jakob Hohwy. Beide sind jedoch in keiner Weise für meine erweiterte Verwendung dieser begrifflichen Unterscheidung verantwortlich. Bayne und Hohwy unterschieden zwischen einzelnen Bewusstseinszuständen und globalen Bewusstseinsmodi. Für sie sind »Bewusstseinszustände« inhaltsspezifisch: das Erleben von Schmerz etwa, das Betrachten eines Sonnenuntergangs oder das emotionale Erleben während einer Depression. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei einem »Bewusstseinsmodus« um eine globale Form des Erlebens. Beispiele hierfür sind Wachen, Träumen, epileptische Anfälle oder hypnotische Zustände.[9]

Ich werde diese beiden Begriffe hier verwenden, um folgende phänomenologische Unterscheidung zu treffen: Während Zustände reinen Bewusstseins etwas Lokales und Episodisches sind, etwas, das zumindest im Nachhinein immer noch einem erlebenden Selbst zugeschrieben wird (dessen Zustände sie scheinbar sind, zum Beispiel in Erfahrungsberichten wie »Für ein paar Sekunden war mein Geist kristallklar und völlig still!«), finden wir auch allgemeinere, globale Bewusstseinsformen, die von einer allumfassenden Erlebnisqualität beherrscht werden, nämlich dem phänomenalen Charakter des unbegrenzten reinen Bewusstseins selbst. Zwei Beispiele für solche »MPE-Modi« sind das Phänomen des »Wachschlafs« (im Englischen auch als witnessing sleep oder clear light sleep bezeichnet) und die Erfahrung des nicht-dualen Bewusstseins im Alltag (non-dual awareness), die wir in den Kapiteln 20 und 27 näher untersuchen werden. In beiden Fällen ist die Trennung zwischen Subjekt und Objekt auf der Ebene des Erlebens nicht mehr vorhanden.

Die oben erwähnten Episoden der vollständigen Absorption – in denen sich das meditierende Selbst in reines Bewusstsein aufgelöst hat und nichts anderes existiert, von dem später berichtet werden könnte – stellen nun einen interessanten Sonderfall dar. Sie sind nicht-dual, dauern aber meist nur kurze Zeit an. Sie können gleichzeitig als Zustand und als globaler Modus beschrieben werden, weil es eine spezifische Form von Inhalt gibt, die erhalten bleibt, nämlich die MPE, die zeitlose Qualität der reinen Bewusstheit selbst. Das völlige Aufgehen im reinen Gewahrsein stellt jedoch auch einen ganz eigenen Modus des bewussten Erlebens dar, denn es schafft einen globalen, von einer einzigen Erlebnisqualität dominierten Zustand.

Um die Terminologie von Bayne und Hohwy zu verwenden: All diese verschiedenen Möglichkeiten des Erlebens bilden Regionen des »modalen Raums«[10]; Regionen, die die akademische Philosophie fast vollständig ignoriert hat, obwohl die Meditierenden und die Mystiker sie bereits seit Jahrtausenden kennen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass ein Bewusstseinsmodus eine globale Art und Weise ist, in der uns die Realität erscheint. Im Gegensatz zu einem bloßen Zustand ist diese nicht inhaltsspezifisch, denn sie kann den Fluss vieler verschiedener Arten von Erfahrungsinhalten umfassen, und das sogar auf »zeitlose« Weise (Kapitel 22). Es gibt MPE-Zustände, und es gibt MPE-Modi, und vielleicht sind es Episoden vollständiger Absorption, die sie miteinander verbinden.

Wie wir auf unserer gemeinsamen Reise sehen werden, ist die Phänomenologie des reinen Gewahrseins reichhaltig und subtil, und es fällt sehr schwer, ihr mit Worten gerecht zu werden. Zum Beispiel wäre es ein schwerwiegender phänomenologischer Fehler, einfach zu behaupten, die MPE könne »in Kombination« mit anderen bewussten Erfahrungen auftreten (etwa mit Bewegungsempfindungen bei der Gehmeditation). Beim reinen Gewahrsein handelt es sich niemals um ein einfaches »Add-on«, um ein einzelnes Element, das im Prinzip der normalen Alltagserfahrung hinzugefügt oder von ihr abgezogen werden könnte. Wenn wir beispielsweise mit einem stillen Geist langsam gehen und uns dabei der Bewegungsempfindungen auf bewertungsfreie und anstrengungslose Weise bewusst sind, dann geht es nicht darum, eine lokale phänomenale Eigenschaft hinzuzufügen, die vorher noch nicht da gewesen ist. Vielmehr können wir dabei oft auf sehr subtile, aber globale Effekte stoßen, die das Bewusstseinsfeld insgesamt verändern, so als ob es nun von etwas Größerem umhüllt wäre, in das es eingebettet ist – in einen unbegrenzten und mittelpunktlosen Raum des nicht-begrifflichen Erkennens vielleicht, in dem kein wissendes Selbst existiert. Oder in eine allumfassende Erfahrung von timeless change, von »zeitlosem Fließen«.

Das klingt möglicherweise etwas mysteriös. Aber in Wirklichkeit handelt es sich dabei um eine phänomenologische Herausforderung. Die Beziehung zwischen der Phänomenologie des »reinen Gewahrseins« und all den anderen, uns bereits bekannten Inhalten des subjektiven Erlebens – Farben, Klänge, Gedanken und Gefühle – zu verstehen, das wird eine der großen Herausforderungen sein, die sich uns in diesem Buch stellen. Wir müssen deshalb langsam und vorsichtig beginnen, indem wir zunächst alle Situationen untersuchen, in denen das Gewahrsein des Gewahrseins selbst als eine einzige, eigenständige Qualität auftritt.

Woher kommt die jahrhundertealte Vorstellung von »reinem« Bewusstsein? In drei Typen von Situationen tritt es ganz allein auf: in Zuständen der vollständigen Absorption während der Meditation; während des traumlosen Tiefschlafs bei fortgeschrittenen Meditierenden sowie, drittens, immer dann, wenn eine Person absichtlich aus einem luziden Traum heraus ins reine Bewusstsein eintritt. Das heißt: Isoliertes reines Bewusstsein kann aus dem Wachzustand heraus erreicht werden; es kann spontan nachts in einem Zustand niedriger Aktivierung auftauchen; und in seltenen Fällen kann es auch absichtlich, ausgehend von einem luziden Traum, in Form einer vollständigen Absorption erzeugt werden (Kapitel 21).

In Kapitel 20 werde ich neue phänomenologische Daten über reines Bewusstsein während des traumlosen Tiefschlafs vorstellen. Meiner Meinung nach wird das vernachlässigte Phänomen, das die tibetischen Buddhisten manchmal als das »klare Licht im Schlaf« (clear light sleep) bezeichnet haben, bald schon zu einem der meistdiskutierten Themen der aktuellen Bewusstseinsforschung avancieren. Für den Moment definiere ich eine »Absorptions-Episode« einfach als jeden Zustand, in dem die Qualität der Bewusstheit selbst die einzige phänomenale Eigenschaft ist, über die später berichtet werden kann. Wie bereits erwähnt, sind solche Erfahrungen des reinen Bewusstseins, während sie sich ereignen, stets unaussprechlich. Jeder Versuch, sie zu beschreiben, würde sie sofort zerstören. Die interessante Frage ist, was Versuchspersonen über solche Zustände sagen können, nachdem diese Zustände wieder vergangen sind. Festzuhalten bleibt, dass ein wichtiger Unterschied zwischen MPE-Zuständen und MPE-Modi besteht. Ein Teil unserer Herausforderung wird darin bestehen, herauszufinden, wie genau die beiden zusammenhängen.

Als ergebnisoffene empirische Untersuchung hat unsere psychometrische Studie keine Antwort auf die Frage vorweggenommen, ob bestimmte Inhalte in einer MPE-Erfahrung vorhanden sind oder nicht. Vielmehr ließ sie sowohl die Möglichkeit zu, dass die nicht-begriffliche Erfahrung der Bewusstheit an sich auch mit anderen bewussten Inhalten zusammen auftreten kann, als auch, dass dies nicht so sein muss. Der Begriff »MPE« bezieht sich auf einen phänomenologischen Prototyp ohne scharfe definitorische Grenzen. Diesem Ansatz zu folgen bedeutet deshalb, das Projekt der Suche nach einer ultimativen begrifflichen Essenz des Bewusstseins loszulassen.

Wenn man so will, bedeutet es auch, die Leerheit von »Leerheit« und aller anderen phänomenologischen Metaphern zu akzeptieren. In der buddhistischen Metaphysik bedeutet das Konzept der »Leerheit«, dass alle Phänomene letztlich substanzlos sind, weil ihnen eine unwandelbare Essenz oder eine innewohnende Eigennatur fehlt (Kapitel 17). Bei der phänomenologischen Untersuchung von Meditationserfahrungen kann diese Grundidee auf den Begriff des »reinen Gewahrseins« selbst angewendet werden. Wenn wir der Tatsache gerecht werden wollen, dass wir alle – Meditierende, Philosophen und Wissenschaftler – gleichermaßen stets in einen bestimmten historischen und sprachlichen Kontext eingebettet sind; dass wir biologisch verkörperte und kulturell eingebettete Wesen sind, die versuchen, den Dingen aus der Perspektive unserer eigenen kleinen kognitiven Nische und vor dem Hintergrund unserer eigenen Lebenswelt einen Sinn zu geben – dann ist es keine besonders plausible Erwartung, dass sich jeder phänomenologische Begriff (einschließlich der »Leerheit« selbst) immer auf genau ein und dieselbe Erlebnisqualität beziehen sollte. Ist es wirklich immer dieselbe Erfahrung? Wir verfügen über keine scharfen Identitätskriterien, die wir anwenden könnten, und zwar weder introspektiv, in der Stille der inneren Erfahrung, noch auf der Ebene des Denkens und der Worte.

Es gibt kein wirklich stichhaltiges Argument für die Existenz einer echten phänomenologischen, über alle möglichen Kontexte hinweg gleichbleibenden Essenz. Auf der anderen Seite deuten unsere Daten darauf hin, dass sehr wohl ein gemeinsamer Kern besteht, über verschiedene kulturelle Kontexte hinweg; eine Region im phänomenalen Zustandsraum, die als Anker für alle verbalen Berichte fungiert, weil alle sie umkreisen und sich auf sie beziehen. Letztendlich könnte sich die MPE als eine Art angeborener Archetyp des Bewusstseins herausstellen, als etwas, das im Prinzip allen neurotypischen Menschen und vielleicht auch vielen nicht-menschlichen Tieren auf unserem Planeten zur Verfügung steht.

Dies führt zur zweiten (und letzten) begrifflichen Klärung. Der Leitgedanke des Buches ist, dass sich das Konzept der MPE auf eine spezifische und fast unaussprechliche Art von Bewusstseinszustand bezieht, die – vermittelt durch eine Reihe von verbalen Beschreibungen – als eine Familie von Erfahrungsqualitäten erscheinen wird. Zwischen bestimmten inneren Erlebnissen gibt es eine Familienähnlichkeit. Das bedeutet auch, dass die beiden weitgehend äquivalenten phänomenologischen Begriffe »reines Bewusstsein« und »reines Gewahrsein« möglicherweise keine scharf abgegrenzte Kategorie bilden. Die Erlebnisformen, die in der Meditationspraxis wirklicher Menschen in der wirklichen Welt entstehen und kultiviert werden, sind vielleicht einfach viel zu fließend und zu subtil, um in ein starres Begriffsschema gepresst zu werden. Diese Art des bewussten Erlebens besitzt große Schönheit und Tiefe, aber sie ist auch kontextabhängig und sehr fein nuanciert. Vor allem besitzt sie eine starke Qualität von begrifflicher Unfassbarkeit und sprachlicher Unbeschreibbarkeit. Aber wer weiß – vielleicht stellt sich ja heraus, dass sie doch nicht ganz so unbeschreiblich ist, wie wir bisher gedacht haben. In Anbetracht unserer neuen historischen Situation könnte ein gewisser Fortschritt möglich sein. Genau das macht das reine Bewusstsein heute so interessant.

Dennoch können wir nicht das anbieten, was Philosophen eine »reduktive Definition« nennen: Der traditionelle Begriff des »reinen Bewusstseins« kann nicht definiert werden, indem man seine notwendigen und hinreichenden Bedingungen spezifiziert, sodass wir entscheiden können, ob eine bestimmte Episode des phänomenalen Erlebens darunterfällt oder nicht. Die Erfahrung reinen Bewusstseins tritt (soweit wir wissen) nur bei lebenden, verkörperten Wesen wie uns auf, bei biologischen Lebewesen, die sozial eingebettet sind, konditionierte emotionale Reaktionen zeigen sowie durch vielfältige kognitive Verzerrungen in ihrem Welterleben geprägt werden. All das fließt unbewusst in die Bildung von Überzeugungen über das eigene Erleben ein, ins Denken und Verhalten.

Viele unserer Teilnehmenden werden sich auch ihre ganz eigenen Theorien über das reine Bewusstsein gebildet haben, Theorien, die ihre Erfahrungsberichte färben. Die Heterogenität und die Größe unserer Stichprobe kann jedoch als Strategie gesehen werden, diesem Problem entgegenzuwirken: Wie bereits erwähnt, kommen die Teilnehmenden aus 57 Ländern. Entsprechend verschieden dürften ihre Lebenswelt und auch ihre Meditationstechniken sein. Dennoch ähneln sich, wie wir gleich entdecken werden, all diese kulturell so unterschiedlich kontextualisierten Erfahrungen auf verblüffende Weise.

Bei der Entwicklung des Fragebogens haben wir uns an der einschlägigen östlichen und westlichen Literatur orientiert und darüber hinaus eine Reihe von Pilotstudien mit engagierten und erfahrenen Praktizierenden durchgeführt. Aus diesen Voruntersuchungen wurden 92 mögliche Merkmale der Erfahrung reinen Bewusstseins extrahiert (siehe Kap. 1, Abb. 1), aus denen dann die Items des Fragebogens gebildet wurden. Die Idee war, innerhalb dieser Bündel oder Zusammenballungen solche Beschreibungseinheiten zu finden, die als kohärente und aussagekräftige phänomenologische Dimensionen der Erfahrung reinen Bewusstseins dienen können (siehe Kap. 2, Abb. 2). Ein dimensionaler Ansatz dieser Art impliziert, dass reines Gewahrsein nicht als etwas Absolutes behandelt wird, nicht als etwas, das völlig losgelöst ist von dem Beziehungsgeflecht, das alle anderen bewussten Erfahrungen miteinander verbindet.[11] Dies ist insofern ein neuer Ansatz, als er sich gegen grobkörnige Verdinglichungen wendet, etwa solche, die versuchen, reines Bewusstsein in eine eigenständige und irreduzible metaphysische Entität zu verwandeln, so wie es einige der alten religiösen Begriffsschemata zur Beschreibung meditativer Erfahrung tun. Es geht darum, Metaphysik und Phänomenologie so weit wie möglich auseinanderzuhalten.

All diese Erfahrungen verbindet eine Beziehung der Familienähnlichkeit. Werden sie verbal beschrieben, erkennen wir Wahrscheinlichkeiten, dass bestimmte Beschreibungen zusammenpassen oder gemeinsam auftreten – so wie Muster in einer Familie, in der Mutter und Vater oder die beiden jüngsten Geschwister vielleicht am häufigsten zusammen gesehen werden. Daher werde ich im Folgenden durchgehend davon ausgehen, dass der Begriff des »reinen Bewusstseins« eine probabilistische und keine definitorische Struktur besitzt. Einerseits ist es nicht eine einzige Essenz, die die verschiedenen Aspekte und Qualitäten des Erlebens zusammenhält, sondern ein gelebtes Muster von Wahrscheinlichkeiten. Andererseits ist an der Erfahrung des reinen Bewusstseins tatsächlich etwas dran: Reines Bewusstsein scheint definitiv über einen harten prototypischen Kern zu verfügen. Darauf werde ich am Ende dieses Buches zurückkommen.

Der Elefant und die Blinden

Kennen Sie die alte Geschichte vom Elefanten und den Blinden? Es ist eine traditionelle philosophische Fabel, sie stammt aus dem alten Südindien und hat die Jahrhunderte überdauert.[12] Ein König lädt eine Gruppe von Menschen ein, die alle blind auf die Welt gekommen sind und noch nie einem Elefanten begegnet sind. Vom König werden sie gebeten, das Wesen des Elefanten nur durch Berührungen zu erschließen. Jeder aus der Gruppe ertastet daraufhin einen anderen Teil des Elefantenkörpers: den Rüssel, den Schwanz, eine Flanke, einen Stoßzahn. Dann beginnen die Blinden, über ihre Eindrücke zu sprechen. Sie beschreiben den Elefanten als eine dicke Schlange oder als ein Seil, als eine Bürste oder als eine undurchdringliche Wand; als etwas Hartes, Glattes oder Spitzes. Wie sollen sie sich jemals darüber einigen können, ob sie sich alle auf ein und dasselbe Phänomen in der Außenwelt beziehen?

Jedes Element unseres Fragebogens kann als eine Greifbewegung betrachtet werden, jede Antwort als Bericht über die Berührung eines blind geborenen Menschen. Sicherlich kann jede Antwort einen wichtigen Aspekt enthalten, aber sie beruht immer nur auf einem lokalen Tasterlebnis, sie liefert niemals den globalen Gesamteindruck des visuellen Bildes. Wir könnten uns sogar vorstellen, dass unsere Gruppe von »Blinden« in Wirklichkeit nicht bloß einem Elefanten begegnet, sondern einer kleinen Elefantenfamilie, deren Mitglieder zwar nicht identisch, aber einander doch sehr ähnlich sind – und dass jeder »Blinde« sein individuelles Segment eines der Elefanten durch wiederholtes Anstupsen und Darüberstreichen erkunden kann.

Unerwarteterweise kamen in unserem Fall nun weit über tausend »Blinde« zusammen, um uns – dem König der Bewusstseinsforschung – bei der Arbeit zu helfen. Vielleicht hielten es die Diener des Königs insgeheim für praktischer, die Menschenmenge einen Kreis um eine große Elefantenherde bilden zu lassen? Vielleicht spielte der König den Blinden sogar einen Streich und schmuggelte ein einzelnes Nashorn, einen Esel oder sogar ein Nilpferd hinein! Natürlich beruhen die Antwortmuster der 1403 »Blinden« letztlich nur auf Worten, genau wie präzise statistische Auswertungen lediglich aus Zahlen bestehen. Beides ist wichtig und kann zu überraschenden neuen Entdeckungen führen, doch keines von beiden ist die Realität selbst. Wenn irgendetwas in der philosophischen Phänomenologie als das Paradebeispiel für Unbeschreibbarkeit gelten kann, dann ist es sicherlich die Erfahrung des reinen Bewusstseins, der selbsterkennenden, zu sich selbst erwachten Leerheit, der inneren Natur der Erscheinung selbst.

Aber was wäre, wenn wir 1403 blinde Menschen einladen und jeden von ihnen bitten würden, 92-mal einen Elefanten zu berühren? Und was wäre, wenn wir 841 blinde Menschen finden würden, denen der König befohlen hat, die Elefantenfamilie jeden einzelnen Tag ihres Lebens zu besuchen, und diese blinden Menschen dann einfach darum bitten würden, in ihren eigenen Worten zu beschreiben, was genau sie an einem guten Tag erlebt und empfunden haben? Vielleicht kämen wir auf ganz neue Ideen. Vielleicht würden wir einige Details entdecken, an die wir vorher nicht gedacht haben. Vielleicht ergäben sich unerwartete Verbindungen und Zusammenhänge zwischen den Geschichten der Blinden, durch die sich überschneidende Muster des Erlebens offenbarten. Vielleicht könnten wir ja doch einige Fortschritte machen – zumindest im Vergleich zu unserem bisherigen Wissen über Elefanten.

Dies ist kein akademisches Buch. Ich habe versucht, es so leserfreundlich wie möglich zu gestalten, indem ich die Berichte unserer Meditierenden in eine Reihe lose zusammenhängender Kapitel gruppiert habe. Jedes Kapitel hat eine leicht lesbare Länge und behandelt ein Thema aus den Erfahrungen unserer Befragten. Mein Hauptziel war es, die Fülle des Materials mit einer flexiblen Struktur zu versehen, weil ich hoffte, es dadurch zugänglicher zu machen und die phänomenologische Landschaft für Lesende mit ganz unterschiedlichen Interessen zu erschließen; Lesende, die mit der aktuellen Bewusstseinsforschung mal mehr, mal weniger vertraut sind.

Geordnet ist die vorliegende Sammlung von Erfahrungsberichten nach ihrem jeweils vorherrschenden phänomenologischen Merkmal sowie nach dem allgemeinen Kontext ihres Auftretens, nicht jedoch nach dem festen begrifflichen Rahmen einer bereits existierenden Theorie. Es handelt sich also um eine weiche qualitative Analyse, die akademischen Kriterien von Systematik und Vollständigkeit nicht genügt. Wenn überhaupt, dann spiegelt diese eher grobkörnige Einteilung meine persönliche Voreingenommenheit und wahrscheinlich auch die Tatsache wider, dass ich selbst Langzeitpraktizierender bin.

Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich darauf hinweisen, dass viele der folgenden Erfahrungsberichte leicht auch mindestens vier oder fünf anderen thematischen Abschnitten hätten zugeordnet werden können. Auch weist, wie Sie sehr bald feststellen werden, der Inhalt der von mir erstellten Abschnitte im gesamten Buch bestimmte Überschneidungen auf. Manche sind so groß, dass ich mich dazu entschieden habe, denselben Bericht (oder zumindest einen Teil davon) zweimal zu verwenden. Diese inhaltlichen Überschneidungen resultieren aus der Reichhaltigkeit vieler Berichte. Diese fallen oft unter eine Vielzahl verschiedener phänomenologischer Kategorien gleichzeitig – genauso, wie auch verschiedene Fragebogenelemente mit mehreren statistischen Faktoren gleichzeitig in Beziehung stehen können.

Folglich ist die Kapitelfolge auch nicht als »Leiter« gedacht, die aufeinanderfolgende Stadien von etwas beschreibt, das in Wirklichkeit gar keine Stadien oder Stufen besitzt. Die gewählte Gliederung soll vielmehr all jenen die Lektüre erleichtern, die sich noch nicht so viel mit dem reinen Bewusstsein beschäftigt und über es nachgedacht haben. Sie ist der Versuch, einen möglichst angenehmen Weg durch ein sehr abwechslungsreiches phänomenologisches Terrain vorzustellen. Im Idealfall kann dieses Buch eine Plattform bieten, von der aus Interessierte ihre eigenen Entdeckungsreisen beginnen, ihr eigenes Projekt starten können.

Um die Anonymisierung zu gewährleisten, und auch, um die Erfahrungen für sich selbst sprechen zu lassen, habe ich fast alle Details weggelassen, die sich auf den Ort einer Erfahrung reinen Gewahrseins beziehen (Land; Retreatzentrum oder Kloster; Innenraum oder Natur etc.). Auch so gut wie alle zeitlichen Hinweise fehlen (welches Jahr; welche formale Übungseinheit an welchem Tag während eines bestimmten Schweige-Retreats etc.). Des Weiteren fehlen meistens Informationen über die jeweils spezifische Meditationstechnik (zum Beispiel Vipassana, Metta, Shamatha oder Mahamudra; Chan oder Zen; MBSR oder TM), zu Lehrern, Übertragungslinien oder bestimmten Meditation lehrenden Organisationen.

Eingefügt habe ich jedoch ein ganzes Kapitel mit Berichten von Meditierenden über Episoden, in denen die Erfahrung des »reinen Gewahrseins« spontan und außerhalb jeder formalen Praxis aufgetreten ist (Kapitel 32). Hier werden mehr kontextbezogene Details geliefert. Darüber hinaus gibt es spezielle Kapitel über die Erfahrung des reinen Gewahrseins im traumlosen Tiefschlaf oder während des luziden Träumens (Kapitel 20 und 21) sowie über Episoden, die länger als einige Minuten gedauert haben (Kapitel 33).

Bei Ihrer eigenen Untersuchung des phänomenologischen Materials sollten Sie immer die unterschiedliche Herkunft der Teilnehmenden aus mehr als fünfzig Ländern, ihre unterschiedliche Altersstruktur und die jeweils unterschiedlichen von ihnen praktizierten (und manchmal auch miteinander kombinierten) Meditationstechniken im Hinterkopf haben. Diese Vielfalt ist gewollt. Sie ist einer der Faktoren, die das Material so interessant machen, denn sie lässt uns die Gemeinsamkeiten und unveränderlichen Strukturen des bewussten Erlebens deutlicher erkennen – aber eben auch die unzähligen Variationen, die ihnen zugrunde liegen.

Jede Leserin und jeder Leser können ihren ganz eigenen Weg durch dieses Buch wählen. Jedes Kapitel besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil beginnt immer mit einer neuen Metapher (manchmal sind es auch mehrere) oder mit anderen Analogien für das reine Bewusstsein, die aus unserer Datenbank mit persönlichen Beschreibungen stammen. Eine der vielen Überraschungen in dieser ersten Studie bestand für uns in der Fülle an neuen und oftmals wirklich schönen metaphorischen Beschreibungen des reinen Gewahrseins, die unsere Teilnehmer ganz spontan geschaffen haben, ohne von uns darum gebeten worden zu sein. Einige dieser Metaphern begleiten mich auch nach vielen Monaten noch immer, denn sie vermitteln etwas auf eine innovative Weise, das sich nur schwer in Worte fassen lässt. Manche haben mir eine völlig neue Sichtweise eröffnet, eine mögliche Perspektive, derer ich mir zuvor nie wirklich bewusst gewesen war.

Nach den Metaphern folgt eine Auswahl phänomenologischer Berichte. Manchmal sind es nur wenige, manchmal auch viele; manchmal stehen sie in einer bestimmten Reihenfolge, manchmal nicht. Im ersten Teil jedes Kapitels habe ich versucht, meine eigenen Kommentare auf ein absolutes Minimum zu beschränken, um Ihnen Gelegenheit zu geben, sich selbst ein ungestörtes Bild vom präsentierten Material zu machen.

Falls Sie bereits regelmäßig meditieren, könnte der erste Teil eines jeden Kapitels möglicherweise manchmal eine besondere Leseerfahrung für Sie sein – eine, die eventuell sogar Ihre Praxis selbst auf unerwartete Weise beeinflusst. Vielleicht werden Ihnen viele der Beschreibungen des reinen Gewahrseins ziemlich offensichtlich und selbstverständlich erscheinen, vielleicht sogar ein wenig langweilig oder trivial. Andere wiederum veranlassen Sie möglicherweise zum Stirnrunzeln oder zum Kopfschütteln. Es mag Teile des Elefanten geben, die Sie selbst noch nie berührt haben, und dann wird es Ihnen möglicherweise so vorkommen, als würden einige dieser Menschen in ihren Berichten eine ganz andere Art von Tier beschreiben. Wissen sie überhaupt, worum es in Wirklichkeit geht?

Wenn Sie emotional an einen Lehrer, eine bestimmte Übertragungslinie oder den begrifflichen Rahmen eines bestimmten Glaubenssystems gebunden sind, dann könnte es sogar sein, dass Sie sich ärgern. Und wenn Sie einer der vielen traditionellen Theorien über »Stufen« der Meditation oder einer bestimmten Taxonomie kontemplativer Erfahrungen anhängen; oder wenn Sie bereits wussten, was die »wahre Essenz des Bewusstseins« ist, bevor Sie dieses Buch aufgeschlagen haben; dann würde mich eine aversive Reaktion nicht überraschen – was natürlich eine hervorragende Gelegenheit für Sie sein kann, Ihre eigene Praxis zu vertiefen. Ich hoffe aber schon, dass Sie zumindest ein paar Erfahrungsberichte oder neuartige Metaphern finden werden, die Sie überraschen, weil diese zwar etwas Ihnen längst Bekanntes beschreiben, aber auf eine Art und Weise, die Sie selbst bisher noch nicht in Betracht gezogen haben. Wenn es Ihnen so geht wie mir, dann könnte vielleicht gerade die Entdeckung dieser unerwarteten neuen Perspektiven auf die eigene innere Erfahrung das sein, was ein genaueres Studium dieser Berichte und die Entdeckung der darin enthaltenen Nuancen und Aspekte für die eigene Praxis wirklich lohnend macht.

Das gilt auch für all jene, die noch nie in ihrem Leben meditiert haben. Ja, Sie wissen bereits, was mit dem reinen Bewusstsein gemeint ist – denn Sie kennen es längst, etwa aus Ihrer Kindheit, aus den allerersten Momenten nach dem Aufwachen, aus einer echten Notfallsituation, aus dem Sport oder eventuell auch von Drogenerfahrungen. Vielleicht haben Sie aber nie eingesehen, warum solche Erlebnisse interessant oder relevant sein sollten, und haben sie deshalb mehr oder weniger vergessen. Vielleicht haben Sie die Einfachheit gesehen, aber nicht die Tiefe (Kapitel 12). Dennoch könnten einige der in diesem Buch enthaltenen Erfahrungsberichte Sie nach der Lektüre über Wochen begleiten und Sie dazu inspirieren, die Struktur Ihres eigenen bewussten Erlebens etwas genauer und ernsthafter zu betrachten, und zwar nicht in einer formalen Meditationspraxis, sondern ganz einfach im täglichen Leben.

Solche kleinen Überraschungen und unerwarteten Einsichten könnten wertvoll für Sie sein. Denn sie würden Ihr Gehirn zwingen, das innere Modell zu aktualisieren, das Sie bereits von Ihrer normalen bewussten Erfahrung selbst haben. Sie würden damit buchstäblich Ihr bewusstes Selbstmodell verändern. Vielleicht gibt es sogar einen Sinn, in dem die Qualität der Bewusstheit selbst nie wirklich »Ihre eigene« bewusste Erfahrung war, weil die egoische Erste-Person-Perspektive und das Erleben von »Meinigkeit« keiner ihrer notwendigen Bestandteile ist (mehr dazu in Kapitel 8)? Was auch immer Ihr Hintergrund sein mag, ich hoffe, dass Sie auf Ihre ganz eigene Weise von der Fülle möglicher Überraschungen profitieren werden – in Ihrem Alltag, in Ihrer Meditationspraxis und, falls Sie selbst in diesem Bereich forschen, in dem neuen interdisziplinären Projekt einer Minimalmodell-Erklärung für Bewusstsein.

Jedes der nun folgenden Kapitel gleicht einem unvollständigen Drei-Gänge-Menü, bei dem der Nachtisch zuerst serviert wird. Während der erste Teil eines jeden Kapitels (hoffentlich) inspirierend, unterhaltsam, leicht zu lesen und zu verdauen sein sollte, bietet der zweite Teil etwas mehr Stoff zum Nachdenken. Aber auch er ist nicht der Hauptgang, sondern nur eine kleine Vorspeise. Ohne allzu sehr in die Tiefe zu gehen, werde ich versuchen, die Aufmerksamkeit auf einige philosophische oder wissenschaftliche Fragen zu lenken, die in direktem Zusammenhang mit dem gerade vorgestellten phänomenologischen Material stehen. Manchmal werde ich auch neue begriffliche Instrumente vorstellen, die sich als hilfreich beim weiteren Nachdenken über das erweisen könnten, was die vorgestellten Berichte zeigen – und auch darüber, was sie nicht zeigen. In anderen Fällen werde ich einen Blick auf die neuesten empirischen Forschungsergebnisse werfen oder einfach zusätzliche Informationen und etwas historischen Kontext liefern. Manchmal werde ich auch Hinweise auf andere Publikationen geben, die mir relevant erscheinen, oder wir werden uns kurz einigen klassischen Texten zuwenden, um uns von ihnen inspirieren zu lassen, Texten aus dem Buddhismus etwa oder aus der mittelalterlichen Mystik Europas. All das ist als eine kleine Auswahl von Appetizern oder Hors d’œuvres gedacht, als vorbereitende Appetithäppchen für die eigentliche Forschung oder als mögliche Zutaten für Ihre persönlichen Hauptgerichte. Denn was ich wirklich möchte, ist: Sie ermutigen, Ihrem ganz eigenen Weg zu folgen, ganz unabhängig davon, ob dies bedeutet, neue und bessere wissenschaftliche Forschung zu organisieren, Ihre Meditationspraxis zu intensivieren oder irgendetwas ganz anderes zu versuchen, wozu Sie sich inspiriert fühlen. Wenn dieses Buch für sehr unterschiedliche Leser zu einer echten Inspirationsquelle wird, dann habe ich mein Ziel erreicht.

Alle Teile des Buches sind miteinander verknüpft, aber es gibt viele verschiedene Wege, die Sie als Leser nun einschlagen können. Nach der Lektüre dieser Einführung möchten Sie vielleicht direkt zum Schlusskapitel springen, um einen schnellen Überblick über die ersten Zwischenergebnisse zu erhalten. Oder zum Epilog über Bewusstseinskultur, um den weiteren Kontext zu sehen. Vielleicht interessiert Sie der philosophische Kommentar in der zweiten Hälfte eines jeden Kapitels am meisten, vielleicht mögen Sie die Erfahrungsberichte lieber. Wenn Sie ein Modellierer sind, werden Sie vielleicht jedes Kapitel als Beschreibung eines möglichen Zielzustands betrachten, den man auch formal darstellen kann; wenn Sie eine Neurowissenschaftlerin sind, werden Sie vielleicht damit beginnen, Kapitel für Kapitel Hypothesen über mögliche physische Korrelate und Verarbeitungsmechanismen aufzustellen; und wenn Sie selbst meditieren, dann hoffe ich, dass Sie die eingestreuten Praxistipps hilfreich finden, während Sie die Beschreibungen mit Ihren eigenen Erfahrungen vergleichen.

Zu diesem Buch gibt es eine begleitende Website, falls Sie auf der Suche nach zusätzlichen Anregungen oder Informationen sind.[13] Für das Vertiefen eines Themas oder einer Fragestellung verweise ich außerdem auf das Glossar am Ende des Buches sowie auf weiteres ergänzendes Material im Netz. Dort können Sie sich auch, egal ob Sie meditieren oder nicht, an unserer Forschung beteiligen und sie unterstützen, indem Sie eine neue und verbesserte Version des ursprünglichen Fragebogens ausfüllen. Aber noch einmal: Das Beste von allem ist vielleicht, dass Sie dieses Buch nicht von vorne nach hinten lesen müssen. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl, wo immer die Reise Sie hinführt.

Kapitel 1

Entspannung

Oh mein Gott! Die Anspannung, die ich Jeff nenne, war weg! [#2417]

 

Ein tiefes Gefühl der Entspannung ist eines der Merkmale, die am häufigsten mit der Erfahrung des reinen Gewahrseins einhergehen. Einer unserer Teilnehmer drückte dieses Gefühl bildlich aus: »… als ob ich im Wasser treibe, auf dem Rücken, unter einer hellen Sonne« (#2065); während ein anderer es ganz einfach als »Okayness« (#172) beschrieb.

Vielleicht ist reines Gewahrsein so etwas wie ein zuvor unbemerkter Grundzustand des bewussten Erlebens? Eine innere Oberfläche, auf der wir schon immer »schweben«, auch wenn unsere Aufmerksamkeit meistens von etwas anderem gefesselt ist, wie etwa der hellen Sonne über uns? Vielleicht ermöglicht uns Meditation, uns dieser unsichtbaren inneren Oberfläche bewusst zu werden, um uns dann auf ihr bewegen zu können und dabei zu lernen, wie wir mühelos von einem Moment zum anderen dahingleiten können – wie ein Wasserläufer oder wie ein Gleitschirmflieger, der eine Thermik entdeckt hat, eine dünne Schicht erwärmter Luft, auf der er »reiten« kann?

Nach dem von uns gesammelten phänomenologischen Material zu urteilen, scheint es jedenfalls klar zu sein, dass das nicht-begriffliche Gewahrsein des Gewahrseins selbst etwas ist, in das man sich hinein entspannen kann (gewissermaßen auf die innere Oberfläche), indem man schrittweise loslässt und dabei sanft und allmählich alle verbliebenen Anspannungen in Körper und Geist auflöst. Eine unserer Teilnehmerinnen beschrieb diese Art des Zugangs zum reinen Gewahrsein bildlich als »sich sanft in es hinein ›zurücklehnen‹« (#2619).

Die Phänomenologie von Entspannung und Leichtigkeit ist so ausgeprägt und so weit verbreitet, dass ich an dieser Stelle lediglich sechs einleitende Beispiele anführen möchte:

 

1647 […] Adjektive, die ich verwenden würde, um den Zustand zu beschreiben: lebendig, leicht, in Frieden, scharf, schön, erhaben, ehrfurchtgebietend, natürlich, mühelos, glückselig (aber eher als Abwesenheit von Schmerz denn als ein euphorisches Gefühl) […]. Je mehr ich meinen körperlichen und geistigen Stress und meine Ängste zur Ruhe bringen kann, desto mehr kann ich von dieser grundlegenden Erfahrungsrealität freilegen. Es fühlte sich nicht wie etwas an, das ich durch harte Arbeit erreichen könnte … sondern eher wie etwas, in das ich mich entspannen oder in das ich ganz leicht hineinsinken könnte.

1870 Ein Gefühl der völligen Leichtigkeit, des Wohlbefindens und der Präsenz mit Wellen von Glückseligkeit, mühelos und fast ohne Gedanken.

2319 Pure Entspannung, Glücksgefühl.

2620 […] Meine Empfindungen werden weich und subtil. Mein Körper wird von dieser Sanftheit durchflutet, entspannt sich, Muskelverspannungen lösen sich … bis ich ihn kaum noch wahrnehme und in einen tiefen Raum der Stille eintrete. […]

3012 […] Es […] stellte sich ein Gefühl der Ruhe ein, mein Körper entspannte sich, der Atem atmete sich von selbst. Ich hatte nur ein schwaches Gefühl von »Ich«, im Vordergrund stand das Erleben von Klarheit, Grenzenlosigkeit, Verbundenheit mit allem. In mir entstanden Gefühle von Frieden, Glück, »Alles ist okay so, wie es ist« […].

3363 Es begann wie ein normales Erlebnis, zunächst mit vielen Ideen, Bildern und »Geräuschen«. Dann eine allmähliche Entspannung. Dann ein beginnendes Loslassen jeglicher Selbstkontrolle. Dann ein eher kurzer Zustand gegen Ende der Sitzung, ein Zustand des Friedens, der Klarheit, der Auflösung des Körperbewusstseins und der Stille des Geistes.

Psychometrie, sensationsloses Staunen und existenzielle Leichtigkeit

Viele Worte, viele Gedanken – je mehr es sind, desto weniger treffen sie zu.

Seng-ts’an (Dritter chinesischer Zen-Patriarch; † 606), Die Meißelschrift vom Vertrauen in den Geist[14]

Lassen Sie uns nun langsam damit beginnen, diese phänomenologischen Eigenberichte aus der Perspektive der empirischen Wissenschaft zu betrachten. Wir hatten 1403 auswertbare Fragebögen; unsere Teilnehmenden waren zwischen 17 und 88 Jahren alt und wiesen damit ein Durchschnittsalter von 52 Jahren auf. Davon waren 48,5 Prozent Männer und 50,0 Prozent Frauen, die übrigen Teilnehmenden machten keine Angabe zu ihrem biologischen Geschlecht. Die Mehrheit der Meditierenden praktizierte regelmäßig (77,3 Prozent), war frei von diagnostizierten psychischen Störungen (92,4 Prozent) und nahm nicht regelmäßig psychoaktive Substanzen ein (84,0 Prozent). Vipassana (43,9 Prozent) und Zen (34,9 Prozent) wurden als die am häufigsten praktizierten Meditationstechniken genannt.

Werfen wir einen Blick auf einige der 92 Fragen, die wir gestellt haben.[15] Die folgende Abbildung zeigt die statistische Verteilung unserer 92 Items auf die Teilnehmer. Man kann sehen, dass die Erlebnisqualitäten von »sich wohlfühlen«, »in Frieden sein«, »im gegenwärtigen Moment sein« und »sich ganz fühlen« noch häufiger mit der Erfahrung reinen Gewahrseins oder der Bewusstheit als solcher assoziiert werden als die »Entspannung« selbst. Es zeigt sich auch, dass die phänomenologischen Qualitäten der Leichtigkeit und Entspannung in ihrer Häufigkeit dicht gefolgt werden von anderen, eher philosophisch geprägten Item-Beschreibungen wie »reines Sein«, »nicht-visuelle Klarheit«, »Einheit« und einer Erfahrung von »tiefer, grenzenloser Stille«.

 

Wie man sieht, wurden die höchsten Werte für die Items im Zusammenhang mit Wohlbefinden und Entspannung vergeben; die insgesamt niedrigsten Werte betrafen das Vorhandensein von Schmerzen während der Erfahrung und das Auftreten von reinem Bewusstsein im Traumzustand. Wir haben das Material interpretiert, indem wir es in 12 Faktoren unterteilt haben, das heißt in Untergruppen oder Cluster von statistisch stark miteinander verbundenen Fragebogenelementen. Diese Faktoren werden im nächsten Kapitel erläutert.