Der Ego-Tunnel - Thomas Metzinger - E-Book
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Thomas Metzinger

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Beschreibung

Unser »Selbst« existiert gar nicht. Dies beweisen, so der Philosoph und Bewusstseinsforscher Thomas Metzinger, die Erkenntnisse der aktuellen Forschung. Aber was bedeutet das für unser Menschenbild? Was sind die technologischen und kulturellen Konsequenzen? Brauchen wir neben der Neuroethik auch eine Bewusstseinsethik? Der Ego-Tunnel eröffnet einen ebenso faszinierenden wie fundierten Zugang zur geheimnisvollen Welt des menschlichen Geistes.

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Für Anja und meine Familie

Übersetzung aus dem Englischen von Thomas Metzinger und Thorsten Schmidt

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

ISBN 978-3-492-96496-8

© 2009 Thomas Metzinger Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Ego Tunnel. The Science of the Mind and the Myth of the Self«, Basic Books, New York Deutschsprachige Ausgabe: © 2009 Bloomsbury Verlag GmbH, Berlin Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung des Designs der amerikanischen Ausgabe von Henry Sene Yee Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Jede​ Theorie, die einen Fortschritt darstellt, wird anfänglich kontraintuitiv sein müssen.

DANIEL C. DENNETT, The Intentional Stance (1978)

Er [Ludwig Wittgenstein] begrüßte mich einmal mit der Frage: »Weshalb sagen die Leute, es wäre ganz natürlich, zu denken, dass die Sonne die Erde umläuft, statt dass sich die Erde um ihre eigene Achse dreht?« Ich antwortete: »Ich vermute, weil es so aussieht, als würde sich die Sonne um die Erde bewegen.« »Nun«, fragte er, »wie hätte es denn ausgesehen, wenn es so ausgesehen hätte, als würde sich die Erde um ihre Achse drehen?«

ELIZABETH ANSCOMBE, An Introduction toWittgenstein’s Tractatus (1959)

DANKSAGUNG

Dieses Buch wurde nicht für Philosophieprofessoren oder Hirnforscher geschrieben. Ganz im Gegenteil: Es ist mein erster Versuch, der breiteren Öffentlichkeit eine erste Einführung in all jene Fragestellungen anzubieten, die aus meiner Perspektive heute die wirklich wichtigen Probleme für die Bewusstseinsforschung sind. Was nun folgt, ist in vielerlei Hinsicht ein Experiment: Die Auswahl der relevanten philosophischen Probleme und der neuen empirischen Erkenntnisse ist ausschließlich meine eigene – und natürlich hoffnungslos unvollständig und notwendigerweise oberflächlich. Dennoch hoffe ich, dass dieses Buch dem interessierten Laien eine realistische Vorstellung vom neuen Bild des bewussten menschlichen Geistes vermitteln wird. Das gilt insbesondere für das Ichgefühl und die Theorie des Selbstbewusstseins, die gegenwärtig im Entstehen begriffen ist – und hoffentlich auch für die damit verbundenen ethischen Herausforderungen, denen wir alle in der Zukunft werden ins Angesicht schauen müssen.

Von den vielen Personen, die mich bei diesem Projekt unterstützt haben, möchte ich an allererster Stelle Jennifer Windt danken, die mich in zahllosen Stunden bei der Erstellung des englischen Originaltexts unterstützt hat. Ich habe viel von ihr gelernt und bin ihr zu großem Dank verpflichtet. Ich habe dieses Buch zuerst auf Englisch geschrieben. Es ist dann stark gekürzt und für ein amerikanisches Publikum überarbeitet worden. In dieser für mich oft sehr schmerzhaften Phase habe ich in Sara Lippincott eine kompetente, mitfühlende und professionelle Lektorin gefunden. Auch ihr bin ich ganz besonders dankbar.

Bei der Rückübersetzung des englischen Buchs ins Deutsche haben mich Thorsten Schmidt, Ludger Ikas vom Berlin Verlag, meine Frau Anja Krug-Metzinger sowie Sophia Pick und Nina Kitsos vom Wissenschaftskolleg zu Berlin auf großartige Weise unterstützt.

Von den vielen Kollegen, die mir bei Detailproblemen geholfen haben, danke ich insbesondere Susan Blackmore, Olaf Blanke, Peter Brugger, Holk Cruse, Daniel Dennett, Vittorio Gallese, Allan Hobson, Ruedi Imbach, Andreas Keller, Victor Lamme, Bigna Lenggenhager, Antoine Lutz, Angelo Maravita, Ulrich Ott, Martin Sauerland, Wolf Singer, Tej Tadi, Giulio Tononi, Kai Vogeley, Henrik Walter, Sarah Weigelt und Wanja Wiese. Entscheidend unterstützt wurde mein erstes Experiment auf dem Feld, das auf Englisch Public Understanding of Science heißt (und für das es vielleicht nicht ganz ohne Grund noch kein gutes deutsches Wort gibt), aber auch durch die schweizerische COGITO-Stiftung, das durch die EU geförderte DISCOS-Projekt (»Disorders and Coherence of the Embodied Self«, ein Forschungsverbund im Rahmen des Marie Curie Research Training Networks) und ein Fellowship am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Ohne die Hilfe dieser Institutionen hätte es nicht durchgeführt werden können.

Thomas Metzinger Berlin, Juli 2009

VORWORT ZUR ERWEITERTEN NEUAUFLAGE

Seit dem Erscheinen der deutschsprachigen Ausgabe meines Buchs Der Ego Tunnelim Jahr 2009 hat es sechs unveränderte Neuauflagen gegeben und ich freue mich, dass nun erstmals eine durchgesehene, aktualisierte und auch wesentlich erweiterte Fassung vorliegt. Neben dem Nachwort unter der Überschrift »Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit« am Ende des Buchs und vielen kleineren Erweiterungen gibt es jetzt eine Reihe von neuen Passagen, etwa zu den Themen »Gehirn-Computer-Schnittstellen«, »geistige Autonomie«, Mind Wandering und »Bewusstseinsethik«. Für wissenschaftlich interessierte Leser habe ich auch den Anmerkungsteil überarbeitet und einige neuere Literaturhinweise eingefügt, die den ersten Einstieg in die Fachliteratur erleichtern sollen. Für ihre Unterstützung bei der Erstellung dieser erweiterten Fassung danke ich Susan Blackmore, Marius Jung, Stefan Klein, Anja Krug-Metzinger, Nicholas Langlitz, Frank Schüre und Jennifer Windt. Die Arbeit an dieser Neufassung wurde unterstützt durch das von der EU finanzierte VERE-Projekt (»Virtual Embodiment and Robotic Re-Embodiment«; FP7-ICT).

Thomas Metzinger Mainz, November 2013

EINLEITUNG

In diesem Buch werde ich Sie davon zu überzeugen versuchen, dass es so etwas wie »das« Selbst nicht gibt. Ganz im Gegensatz zu dem, was die meisten Menschen glauben, war oder hatte niemand je ein Selbst. Es ist aber nicht nur so, dass die moderne Philosophie des Geistes und die kognitive Neurowissenschaft im Begriff stehen, den Mythos des Selbst zu zertrümmern. Vielmehr ist mittlerweile auch deutlich geworden, dass wir das philosophische Rätsel des Bewusstseins – die Frage, wie es jemals auf einer rein physikalischen Grundlage wie dem menschlichen Gehirn entstehen konnte – niemals lösen werden, wenn wir uns nicht direkt mit der folgenden, ganz einfachen Erkenntnis konfrontieren: Nach allem, was wir gegenwärtig wissen, gibt es kein Ding, keine einzelne unteilbare Entität, die wir selbst sind, weder im Gehirn noch in irgendeiner metaphysischen Sphäre jenseits dieser Welt. Wenn wir daher vom bewussten Erleben als einem subjektiven Phänomen sprechen, dann stellt sich die folgende Frage: Was ist eigentlich die Entität, die diese Erlebnisse hat?

Es gibt viele andere wichtige und neue Fragestellungen auf der großen Suche nach einem tieferen Verständnis unserer inneren Natur – spannende, neue Theorien über Emotionen und Empathie, über den Traum und die menschliche Rationalität, neueste Entdeckungen über Willensfreiheit und die bewusste Steuerung unserer eigenen Handlungen und sogar über künstliches Bewusstsein –, und alle von ihnen sind wertvoll als erste Schritte und begriffliche Bausteine auf dem Weg zu einem tieferen Verständnis unserer selbst. In diesem Buch werden wir nacheinander viele von ihnen berühren. Was uns gegenwärtig jedoch am dringendsten fehlt, ist ein allererstes Gesamtbild – also der übergeordnete, allgemeinere Bezugsrahmen, mit dem wir arbeiten können. Die neuen Naturwissenschaften vom Geist haben zwar eine Flut wichtiger Daten geliefert, aber keine theoretische Vision, kein generelles Modell, das zumindest im Prinzip all diese Daten zu einer Ganzheit integrieren könnte. Einer zentralen Frage müssen wir uns so direkt wie möglich stellen: Weshalb gibt es immer jemanden, der das Erlebnis hat? Wer ist es, der Ihre Gefühle fühlt, wer genau ist es, der Ihre Träume träumt? Wer ist der Handelnde, der das Tun tut, und was ist die Entität, die ihre eigenen Gedanken denkt? Warum ist Ihre bewusste Wirklichkeit Ihre bewusste Wirklichkeit?

Dies ist der eigentliche Kern des Rätsels. Wenn es uns nicht nur um die Bausteine, sondern um ein vereinheitlichtes Ganzes geht, dann sind dies die entscheidenden Fragen. Jetzt gibt es eine neue Geschichte – eine provokante und für manche vielleicht sogar schockierende Geschichte –, die man über den Weg zur Lösung des Rätsels erzählen kann: Es ist die Geschichte vom Ego-Tunnel.

Die Person, die Ihnen diese Geschichte erzählt, ist ein Philosoph – aber einer, der seit vielen Jahren mit Hirnforschern, Kognitionswissenschaftlern und Forschern auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz zusammengearbeitet hat. Im Unterschied zu vielen meiner Kollegen in der Philosophie bin ich der Auffassung, dass empirische Daten für philosophische Fragestellungen oft unmittelbar relevant sind und dass weite Teile der akademischen Philosophie solche Daten viel zu lange ignoriert haben. Die besten Philosophen in diesem Feld sind zweifellos die analytischen Philosophen, also jene Denker, die in der Tradition Gottlob Freges und Ludwig Wittgensteins stehen: In den letzten fünfzig Jahren kamen die besten und substanziellsten Beiträge eindeutig aus der analytischen Philosophie des Geistes. Neben den empirischen Daten gab es beim Aufstieg auf die begriffliche Ebene aber noch einen zweiten Aspekt, der viel zu sehr vernachlässigt wurde: die Phänomenologie, die feinkörnige und sorgfältige Beschreibung des inneren Erlebens als solchem. Insbesondere veränderte Bewusstseinszustände (wie etwa Meditation, Klarträume oder außerkörperliche Erfahrungen) und psychiatrische Krankheitsbilder (wie etwa die Schizophrenie oder das Cotard-Syndrom, bei dem die Patienten tatsächlich fest davon überzeugt sein können, dass sie selbst überhaupt nicht existieren) sollten keine philosophischen Tabuzonen sein. Im Gegenteil: Wenn wir dem Reichtum und der Tiefe des bewussten Erlebens unsere Aufmerksamkeit schenken, wenn wir uns nicht scheuen, Bewusstsein in all seinen subtilen Variationen und Grenzfällen wirklich ernst zu nehmen, dann werden wir möglicherweise genau hier auf jene begrifflichen Einsichten stoßen, die uns für das Gesamtbild noch fehlen.

In den folgenden Kapiteln werde ich Sie schrittweise durch die aktuell stattfindende Bewusstseinsrevolution führen. In den Kapiteln 1 und 2 werden einige grundlegende Konzepte der gegenwärtigen Bewusstseinsforschung eingeführt, und vor allem werfen wir bereits einen ersten Blick in die innere Landschaft des Ego-Tunnels. In Kapitel 3 werden wir außerkörperliche Erfahrungen, virtuelle Körper und Phantomglieder näher untersuchen. In Kapitel 4 wird es dann um das Gefühl der »Meinigkeit«, um Handlungsbewusstsein und Willensfreiheit gehen, in Kapitel 5 um Träume und das Phänomen des Klartraums, in Kapitel 6 um Empathie, Einfühlungsvermögen und Spiegelneuronen und in Kapitel 7 schließlich um Künstliches Bewusstsein und die Möglichkeit postbiotischer Ego-Maschinen. All dies wird uns dabei helfen, die innere Landschaft des Ego-Tunnels zu kartographieren und immer genauer kennenzulernen. Die beiden abschließenden Kapitel behandeln dann die Folgen dieser neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die innere Natur unseres bewussten Geistes: die mit ihnen verbundenen ethischen Herausforderungen sowie die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, die als Folge der naturalistischen Wende im Menschenbild möglicherweise auftreten könnten (und zwar schneller, als viele von uns heute vielleicht noch denken). Am Ende des Buchs werde ich kurz dafür argumentieren, dass wir, um der Situation wirklich gerecht zu werden, im Grunde so etwas wie eine neue »Bewusstseinsethik« brauchen. Wenn es uns nämlich gelingt, eine umfassende Theorie des Bewusstseins aufzubauen, und wenn wir immer genauere und raffiniertere Werkzeuge zur Veränderung der Inhalte des subjektiven Erlebens entwickeln, dann werden wir uns bald sehr gründlich mit der Frage auseinandersetzen müssen, was überhaupt ein guter Bewusstseinszustand ist. Wir benötigen dringend neue und überzeugende Antworten auf Fragen wie die folgenden: Welche Bewusstseinszustände wollen wir fördern und kultivieren, welche sollten wir aus ethischen Gründen aus unserer Gesellschaft verbannen? Welche Bewusstseinszustände dürfen wir anderen Tieren oder Maschinen aufzwingen? Welche Bewusstseinszustände wollen wir unseren Kindern zeigen, in welchen wollen wir sterben? Selbstverständlich kann ich keine abschließenden Antworten auf all diese Fragen geben. Die beiden Schlusskapitel sollen jedoch vielmehr unsere Aufmerksamkeit auf die wichtige neue Disziplin der »Neuroethik« lenken, eine normative Perspektive in die Bewusstseinsforschung einführen und auf diese Weise unseren Horizont noch einmal erweitern.

Das phänomenale Selbstmodell

Bevor ich das Bild des »Ego-Tunnels« erläutere – die zentrale Metapher, die uns als eine Art roter Faden durch die weitere Diskussion in diesem Buch begleiten wird –, möchte ich kurz auf ein Experiment eingehen, das einen starken Hinweis auf die rein subjektive, erlebnismäßige Natur des bewussten Selbst liefert. Im Jahr 1998 führten die Psychiater Matthew Botvinick und Jonathan Cohen von der Universität Pittsburgh ein mittlerweile klassisches Experiment durch, bei dem gesunde Versuchspersonen ein künstliches Gliedmaß als Teil ihres eigenen Körpers erlebten.1 Die Probanden betrachteten eine Gummihand, die vor ihnen auf dem Schreibtisch lag, wobei die ihr entsprechende eigene Hand durch eine Abschirmung verdeckt war. Die sichtbare Gummihand und die unsichtbare Hand des Probanden wurden dann in einem synchronen Rhythmus mit einem Stäbchen gestreichelt. Das Experiment lässt sich leicht wiederholen: Nach einer gewissen Zeit (bei mir sind es zwischen sechzig und neunzig Sekunden) tritt die berühmte Gummihand-Illusion auf. Plötzlich erleben Sie die Gummihand als Ihre eigene Hand, und – was noch viel verblüffender ist – Sie fühlen die rhythmisch wiederholten Berührungen sogar in dieser Gummihand. Außerdem erleben Sie einen vollständigen »virtuellen Arm«, das heißt eine durchgehende Verbindung von der Schulter bis zur Handattrappe, die vor Ihnen auf dem Tisch liegt.

Abb. 1: Die Gummihand-Illusion. Eine gesunde Versuchsperson erlebt eine künstliche Gummihand als Teil ihres eigenen Körpers. Der Proband betrachtet eine Nachbildung einer menschlichen Hand, während seine eigeneHand verdeckt ist (dunkelgraues Feld). Sowohl die künstliche Gummihand als auch die unsichtbare Hand werden wiederholt und genau gleichzeitig mit einem Stäbchen gestreichelt. Die hellen Bereiche um die Hand und die schwarzen Bereiche um den Zeigefinger stellen die jeweiligen taktilenund visuellen rezeptiven Felder für Neuronen im prämotorischen Kortex dar. In der rechten Abbildung sieht man die Illusion der Versuchsperson, bei der die gefühlten Berührungen in Einklang gebracht werden mit den gesehenen Berührungen durch das Stäbchen (die dunklen Felder stellen Gebieteerhöhter Hirnaktivität dar; die phänomenal erlebte, illusorische Armstellung wird durch die helle Umrisslinie dargestellt). Die mit dem Auftreten der Illusion einhergehende Aktivierung von Neuronen im prämotorischen Kortex lässt sich experimentell nachweisen. (M. Botvinick & J. Cohen,»Rubber Hand ›Feels‹ Touch That Eyes See«, Nature 319 [1998], S. 756.) Abbildung Litwak Illustrations Studio, 2004.

Besonders interessant bei diesem Experiment war für mich das seltsame Kribbeln in der Schulter kurz vor dem Einsetzen der eigentlichen Illusion – kurz bevor mein »Seelenarm« oder mein »astrales Körperglied« sozusagen vom unsichtbaren physischen Arm in die Gummihand schlüpfte. Natürlich gibt es keinen »Geisterarm« und vermutlich auch keinen Astralleib. Das, was man bei der Gummihand-Illusion erlebt, ist das, was ich den Inhalt des phänomenalen Selbstmodells (PSM) nenne – das bewusste Modell des Organismus als Ganzem, welches vom Gehirn aktiviert wird. (»Phänomenal« wird hier und nachfolgend im philosophischen Sinne verwendet und bezieht sich auf alles, was wir allein auf der Ebene des bewussten Erlebens erfahren, eben auf die Art und Weise, wie uns die Welt subjektiv erscheint.) Der Inhalt des PSM ist das Ego.

Heute gibt es einen jahrhundertealten Begriff aus der Philosophie, der wieder hoch im Kurs steht, weil er die wahrscheinlich wichtigste Brücke zur Hirnforschung, zur Kognitionswissenschaft und zur Künstliche-Intelligenz-Forschung bildet. Fast alle Wissenschaftler, die den menschlichen Geist erforschen, sprechen von »Repräsentationen« – im Gehirn, im Geist oder auch in einem Roboter. »Repräsentation« meint dabei vor allem die Fähigkeit, die Außenwelt beziehungsweise das, was man wahrnimmt, im Geiste gleichsam widerzuspiegeln und darzustellen, indem man sich eine innere Vorstellung davon macht. Ein geistiger Zustand repräsentiert einen Teil der Wirklichkeit – etwa das Buch in Ihrer Hand –, indem er einen inneren Stellvertreter des Buchs erzeugt. Interessanterweise sind wir Menschen sogar in der Lage, uns sowohl die konkreten als auch die abstrakten Eigenschaften eines Gegenstands vorzustellen: Wir können die Farbe und das Gewicht des Buchs imaginieren, aber auch seinen Inhalt mental repräsentieren. »Repräsentieren« ist Wahrnehmen und Denken, und es kann manchmal (wie beim Gedächtnis) auch bedeuten, dass man etwas Vergangenes wieder in die Gegenwart zurückholt, indem man es gewissermaßen auf der inneren Bühne des Bewusstseins wieder »präsent« macht. Der interessanteste Fall ist jedoch der, dass ein Wesen sich selbst repräsentiert – zum Beispiel mit einem phänomenalen Selbstmodell.

Das PSM von Homo sapiens ist wahrscheinlich eine der besten Erfindungen von Mutter Natur. Es erlaubt einem biologischen Organismus auf effiziente Weise, sich selbst (und andere) bewusst als eine Ganzheit zu begreifen. Dadurch befähigt es den Organismus, auf intelligente und holistische Weise mit seiner Innenwelt wie auch der äußeren Umwelt in Wechselwirkung zu treten. Die meisten Tiere besitzen Bewusstsein in unterschiedlichen Graden der Ausprägung, aber ihr PSM ist anders als unseres. Unser in der Evolution entstandener Typ von bewusstem Selbstmodell ist einzigartig und für das menschliche Gehirn spezifisch, und zwar deshalb, weil wir den Vorgang des Repräsentierens an sich noch einmal repräsentieren und uns dadurch selbst – wie Antonio Damasio sagen würde – »im Akt des Wissens« ertappen können. Wir repräsentieren uns mental als repräsentationale Systeme, und wir tun es in phänomenologischer Echtzeit. Diese Fähigkeit verwandelt uns in Denker von Gedanken und in Wesen, die andere Denker in ihrer Umgebung entdecken können – Wesen, die fremde Bewusstseinsinhalte als solche erfassen. Sie war es auch, die es ermöglichte, dass die biologische Evolution gleichsam in die kulturelle Evolution hineinexplodierte. Das Ego erwies sich als ein extrem nützliches Werkzeug, als ein Instrument, das uns dabei geholfen hat, uns durch Empathie und soziale Kognition gegenseitig zu verstehen. Und schließlich befähigte uns das Ego dazu, die Inhalte unseres Geistes durch Kooperation und Kultur zu externalisieren, und damit zur Bildung komplexer Gesellschaften.

Was ist die Lektion der Gummihand-Illusion? Der erste Punkt ist leicht zu verstehen: Was immer Teil unseres PSM wird, was immer ein Element unseres bewussten Ego ist, ist durch das zusätzliche Gefühl der »Meinigkeit« charakterisiert, durch eine subjektive Form des Besitzens, nämlich das bewusste Erleben, dass es Teil meines eigenen Selbst ist. Ich erlebe es als mein Körperglied, meine Berührungsempfindung, meine Gefühle, meinen Körper oder meine Gedanken. Aber dann stellt sich eine tiefere Frage: Ist das bewusste Selbst nicht mehr als bloß das subjektive Erleben, dass Körperteile oder mentale Zustände Teil meines eigenen Selbst sind? Gibt es nicht auch so etwas wie »globale Meinigkeit«, ein tieferes Ichgefühl, das damit zu tun hat, dass man den Körper als eine Ganzheit besitzt und kontrolliert? Was ist mit dem subjektiven Erleben der Identifikation mit dem Körper? Ließe sich dieses tiefe Gefühl der Selbstheit womöglich experimentell beeinflussen? Als ich die Gummihand-Illusion zum ersten Mal erlebte, dachte ich sofort, es wäre wichtig, zu testen, ob so etwas auch mit einem vollständigen Gummikörper oder dem Ganzkörperbild einer Person funktionieren würde. Könnte man ein Ganzkörper-Analogon zur Gummihand-Illusion erzeugen, eine Version des Experiments, die sich auf den ganzen Körper bezieht? Ließe sich das gesamte Selbst an einen Ort außerhalb des Körpers versetzen?

Tatsächlich gibt es phänomenale Zustände, in denen Menschen fest davon überzeugt sind, sich außerhalb ihres eigenen Körpers zu befinden – dies sind sogenannte außerkörperliche Erfahrungen (oder AKEs; meistens nach dem englischen Ausdruck out-of-body experiences alsOBEs bezeichnet). Außerkörperliche Erfahrungen sind eine seit langem bekannte Klasse von Zuständen, in denen man der höchst realistischen Illusion erliegt, den eigenen Körper zu verlassen (in der Regel in der Form eines »Seelenkörpers« oder ätherischen Doubles) und sich außerhalb desselben zu bewegen. Phänomenologisch gesehen, befindet sich das Subjekt des Erlebens in diesem Double. Eines scheint klar: Wenn man ein ernsthaftes Erkenntnisinteresse hat und verstehen will, was das bewusste Selbst ist, dann sind diese Erfahrungen von größter philosophischer und wissenschaftlicher Bedeutung. Könnte man sie vielleicht im Labor erzeugen?

Einer der Neurowissenschaftler, mit dem ich seit einiger Zeit zusammenarbeite, ist Olaf Blanke, ein brillanter junger Neurologe an der École Polytechnique Fédérale de Lausanne. Er hat als erster Wissenschaftler eine außerkörperliche Erfahrung dadurch ausgelöst, dass er das Gehirn einer Patientin direkt mit einer Elektrode stimulierte. Bei solchen Erlebnissen gibt es typischerweise zwei Repräsentationen des Körpers: eine visuelle (die Versuchsperson sieht den eigenen Körper, etwa als auf einem Bett oder einem OP-Tisch liegend) und eine gefühlte, bei der die Versuchsperson den Eindruck hat, entweder ruhend oder bewegt oberhalb im Raum zu schweben. Interessanterweise ist dieses zweite Körpermodell der Inhalt des PSM. Es ist der Ort, an dem sich das Ego befindet. In einer Reihe von Experimenten haben Olaf, seine Doktoranden Bigna Lenggenhager und Tej Tadi und ich mit Hilfe von Techniken der virtuellen Realität versucht, künstliche OBEs und Ganzkörper-Illusionen zu erzeugen (mehr davon in Kapitel 3).2 Während dieser Illusionen hatten die Versuchsteilnehmer das Gefühl, sich außerhalb ihres Körpers zu befinden, und sie identifizierten sich vorübergehend mit einem computergenerierten äußeren Bild des eigenen Körpers. Diese Experimente demonstrieren, dass auch das tiefere, ganzheitliche Ichgefühl kein Mysterium ist, welches sich jeder Art von wissenschaftlicher Erforschung entzieht – es ist eine Form von bewusstem repräsentationalem Inhalt, und es lässt sich unter sorgfältig kontrollierten experimentellen Bedingungen selektiv beeinflussen.

Im weiteren Verlauf dieses Buchs verwende ich eine zentrale Metapher für das bewusste Erleben: den »Ego-Tunnel«. Bewusstes Erleben gleicht einem Tunnel. Die moderne Neurowissenschaft hat gezeigt, dass der Inhalt unseres bewussten Erlebens nicht nur ein inneres Konstrukt, sondern auch eine höchst selektive Form der Darstellung von Information ist. Darum ist Bewusstsein wie ein Tunnel: Was wir sehen und hören oder ertasten und erfühlen, was wir riechen und schmecken, ist nur ein kleiner Bruchteil dessen, was tatsächlich in der Außenwelt existiert. Unser bewusstes Wirklichkeitsmodell ist eine niedrigdimensionale Projektion der unvorstellbar reicheren und gehaltvolleren physikalischen Wirklichkeit, die uns umgibt und uns trägt. Die Leistungsfähigkeit unserer Sinnesorgane ist begrenzt: Sie entstanden im Lauf der Evolution und verbesserten die Überlebenschancen der Individuen, aber sie wurden nicht mit dem Ziel entwickelt, die enorme Fülle und den Reichtum der Wirklichkeit in all ihren unauslotbaren Tiefen wahrheitsgetreu abzubilden. Aus diesem Grund ist der kontinuierlich ablaufende Vorgang des bewussten Erlebens weniger ein Abbild der Wirklichkeit als vielmehr ein Tunnel durch die Wirklichkeit.

Immer wenn unser Gehirn erfolgreich seine geniale Strategie der Erschaffung eines einheitlichen und dynamischen inneren Porträts der Wirklichkeit verfolgt, werden wir bewusst. Zuerst erzeugt unser Gehirn eine Simulation der Welt, die so perfekt ist, dass wir sie nicht als ein Bild in unserem eigenen Geist erkennen können. Dann generiert es ein inneres Bild von uns selbst als einer Ganzheit. Dieses Bild umfasst nicht nur unseren Körper und unsere mentalen Zustände, sondern auch unsere Beziehung zur Vergangenheit und zur Zukunft sowie zu anderen bewussten Wesen. Dieses innere Bild der Person-als-Ganzer ist das phänomenale Ego, das »Ich« oder »Selbst«, so wie es im bewussten Erleben erscheint. Daher verwende ich die Begriffe »phänomenales Ego« und »phänomenales Selbst« synonym. Das phänomenale Ego ist kein geheimnisvolles Ding und auch kein kleines Männchen im Kopf, sondern der Inhalt eines inneren Bildes – nämlich das bewusste Selbstmodell, das PSM. Durch die Einbettung des Selbstmodells in das Weltmodell wird ein Zentrum geschaffen. Dieses Zentrum ist das, was wir als unser Selbst erleben, das Ego. Es ist der Ursprung dessen, was Philosophen oft die »Erste-Person-Perspektive« nennen. Wir stehen also nicht in direktem Kontakt mit der äußeren Wirklichkeit oder mit uns selbst, aber trotzdem haben wir eine Innenperspektive. Wir wissen, wie man das Wort »ich« benutzt. Wir leben unser bewusstes Leben im Ego-Tunnel.

In gewöhnlichen Bewusstseinszuständen gibt es immer jemanden, der das Erlebnis hat – jemanden, der sich bewusst als auf die Welt gerichtet erlebt, und zwar als ein Selbst im Akt der Aufmerksamkeit, im Akt des Wissens, Begehrens, Wollens oder auch als ein Selbst im Moment des Handelns. Dafür gibt es hauptsächlich zwei Gründe. Erstens: Wir besitzen ein integriertes inneres Bild von uns, das fest in unseren Gefühlen und körperlichen Empfindungen verankert ist, denn die von unserem Gehirn erzeugte Weltsimulation schließt das Erleben eines eigenen Standpunkts ein. Zweitens: Wir können unsere Selbstmodelle nicht als Modelle erleben und sie introspektiv als solche erkennen, denn das Selbstmodell ist – wie Philosophen sagen würden – größtenteils »transparent«.3 Transparenz bedeutet hier ganz einfach, dass wir uns des Mediums, durch das uns Informationen erreichen, nicht bewusst sind. Es ist sozusagen durchsichtig. Wir sehen nicht das Fenster, sondern nur den Vogel, der vorbeifliegt. Wir sehen nicht die Neuronen, die in unserem Gehirn vor sich hin feuern, sondern nur das, was sie für uns repräsentieren. Ein im Gehirn aktives, bewusstes Weltmodell ist genau dann transparent, wenn das System keine Möglichkeit hat, herauszufinden, dass es ein Modell ist – als Gesamtpersonen schauen wir sozusagen direkt durch es hindurch auf die Welt. Die zentrale These dieses Buchs – und der ihm zugrunde liegenden Theorie, der Selbstmodell-Theorie der Subjektivität4 – lautet, dass das robuste bewusste Erleben, ein Selbst zu sein, dadurch verursacht wird, dass das PSM in unserem Gehirn fast vollständig transparent ist.

Das Ego ist, wie wir bereits festgestellt haben, lediglich der Inhalt unseres PSM zu einem bestimmten Zeitpunkt, in genau diesem Augenblick (unsere eigenen körperlichen Empfindungen, unser emotionaler Zustand, unsere Wahrnehmungen, Erinnerungen, Willensakte, Gedanken). Aber es kann nur deshalb überhaupt zum Ego werden, weil wir konstitutionell unfähig sind, erlebnismäßig zu erkennen, dass all dies lediglich der Inhalt einer Simulation in unserem Gehirn ist. Es ist nicht die Wirklichkeit an sich, sondern ein Bild der Wirklichkeit – und zwar ein ganz besonderes. Das Ego ist ein transparentes mentales Bild: Sie – die physische Person als Ganze – schauen direkt durch es hindurch. Sie sehen es nicht. Aber Sie sehen mit ihm. Das Ego ist ein Werkzeug zur Planung und Kontrolle unseres Verhaltens, und gleichzeitig ist es ein inneres Instrument, um das Verhalten anderer zu verstehen. Jedes Mal, wenn der Organismus dieses Werkzeug benötigt, aktiviert das Gehirn ein PSM. Sobald dieses Werkzeug nicht mehr benötigt wird – wie zum Beispiel im traumlosen Tiefschlaf –, wird es abgeschaltet.

Ich möchte gleich zu Anfang darauf hinweisen, dass unser eigenes Gehirn zwar den Ego-Tunnel erzeugt, es aber trotzdem niemanden gibt, der im wörtlichen Sinne in diesem Tunnel lebt. Wir leben mit ihm und durch ihn, aber es gibt kein kleines Männchen, das all diese Vorgänge im Gehirn aktiv organisiert und hinter der Bühne die Fäden in der Hand hält. Das Ego und der Tunnel sind in der natürlichen Evolution entstandene repräsentationale Phänomene – ein Produkt automatisch ablaufender, dynamischer Selbstorganisation auf vielen Ebenen. Letztlich ist subjektives Erleben ein biologisches Datenformat, eine innere Form des Gegebenseins, eine hochspezifische Weise der Präsentation von Information über die Welt, bei der diese so erscheint, als wäre sie das Wissen eines Ego. In Wirklichkeit aber existiert so etwas wie »das« Selbst nicht. Ein biologischer Organismus als solcher ist kein Selbst. Ein Ego ist ebenfalls kein Selbst, sondern lediglich eine Form von repräsentationalem Inhalt – nämlich der Inhalt eines transparenten Selbstmodells, das im Gehirn eines Organismus aktiv ist.

Varianten dieser Tunnel-Metapher veranschaulichen neue Ideen, aber auch Kernfragen in den neuen Mind Sciences: Was würde es bedeuten, wenn sich ein Ego-Tunnel verzweigt und andere Ego-Tunnel in sein Realitätsmodell miteinbezieht? Was geschieht während des Traumzustands mit dem Ego-Tunnel? Können Maschinen eine künstliche Form von Selbstbewusstsein besitzen, und können sie einen echten, eigenen Ego-Tunnel entwickeln? Wie funktionieren Empathie und soziale Kognition? Wie ist die Kommunikation von Tunnel zu Tunnel möglich? Und natürlich müssen wir ganz am Ende fragen: Kann man den Ego-Tunnel verlassen?

Das Konzept des Ego-Tunnels basiert auf einem älteren Begriff, der seit geraumer Zeit an den verschiedensten Orten kursiert. Es ist die Idee eines »Realitätstunnels«, der in der wissenschaftlichen Erforschung virtueller Realitäten und bei der Programmierung fortgeschrittener Videospiele eine Rolle spielt, der sich aber auch in den populärwissenschaftlichen Schriften nichtakademischer Philosophen wie Robert Anton Wilson und Timothy Leary findet. Hier ist der Grundgedanke: Ja, es gibt eine Außenwelt, und es existiert auch eine objektive Realität. Doch wenn wir uns in dieser Welt bewegen, wenden wir fortwährend unbewusste Filtermechanismen an, und dabei konstruieren wir, ohne es zu bemerken, unsere ganz eigene individuelle Welt, die dann unser »Realitätstunnel« ist. Wir befinden uns niemals in direktem Kontakt mit der Wirklichkeit an sich, weil diese Filter uns daran hindern, die Welt so zu sehen, wie sie ist. Die Filtermechanismen sind unsere Sinnessysteme und unser Gehirn, dessen funktionale Architektur wir von unseren biologischen Vorfahren geerbt haben, und natürlich sind es auch unsere bereits bestehenden Überzeugungen und impliziten Annahmen über das Wesen der Wirklichkeit. Der Konstruktionsprozess selbst ist weitgehend unsichtbar. Am Ende sehen wir nur das, was unser Realitätstunnel uns zu sehen erlaubt, und die meisten von uns sind sich dieser Tatsache in keiner Weise bewusst.

Aus der Perspektive eines Berufsphilosophen enthält diese populäre Vorstellung jede Menge Unsinn. Wir erschaffen natürlich keine individuelle Welt, sondern nur ein Weltmodell. Allein die Annahme, wir könnten möglicherweise direkt mit der Wirklichkeit in Verbindung treten, ist eine altmodische Art von romantischer Folklore: Wir kennen die Welt überhaupt nur durch den Einsatz von Repräsentationen, denn Wissen und Erkenntnis sind nichts anderes als die (korrekte) Repräsentation eines äußeren Sachverhalts. Beim Ego-Tunnel geht es auch nicht um das, was Psychologen den confirmation bias nennen – also die Tendenz, genau solche Wahrnehmungen zu beachten und ihnen größere Bedeutung zuzuschreiben, die unsere Überzeugungen und Erwartungen bestätigen, während wir die Beobachtungen, bei denen das nicht der Fall ist, ausfiltern oder wegrationalisieren. Und es trifft auch nicht zu, dass wir den Tunnel niemals verlassen und nichts über die Außenwelt erfahren können: Erkenntnisgewinn und Wissen über die Außenwelt sind möglich, zum Beispiel durch die Kooperation und Kommunikation innerhalb großer Gruppen von Menschen – durch die Bildung wissenschaftlicher Gemeinschaften, die Theorien entwerfen und überprüfen, sich gegenseitig fortwährend kritisieren und ständig empirische Daten und neue Hypothesen austauschen. Schließlich wird der populäre Begriff eines »Realitätstunnels« einfach auf viel zu spielerische Art und Weise angewandt – er bleibt daher unterbestimmt und völlig vage.

Im ersten Kapitel beschränke ich deshalb die weitere Diskussion auf das Phänomen des bewussten Erlebens und entwickle ein besseres und tieferes Verständnis der Tatsache, dass es ein ausschließlich internes Phänomen ist. Es geht dann wirklich nur noch um phänomenales Bewusstsein und um nichts sonst. Dabei gehe ich unter anderem auf die folgende Frage ein: Wie kann all dies im Gehirn stattfinden und gleichzeitig die absolut robuste und subjektiv unhintergehbare Erfahrung erzeugen, in einer Wirklichkeit zu leben, die als eine äußere Wirklichkeit erlebt wird? Wir müssen verstehen, wie das möglich ist, was der finnische Philosoph und Neurowissenschaftler Antti Revonsuo eine out-of-brain experience (»außergehirnliche Erfahrung«) genannt hat, die Erfahrung, die wir ständig machen – auch Sie, zum Beispiel gerade jetzt, während Sie dieses Buch lesen. Das deutliche und stabile Erleben, nicht in einem Tunnel zu sein, sondern tatsächlich direkt und unmittelbar in Verbindung mit der äußeren Wirklichkeit zu stehen, ist nämlich eines der bemerkenswertesten Charakteristika des menschlichen Bewusstseins. Sogar wenn Sie jetzt gerade eine außerkörperliche Erfahrung hätten, wäre ihr bewusstes Erleben durch dieses Merkmal gekennzeichnet.

Sich streng auf die Erforschung des Bewusstseins als solchem zu beschränken bedeutet, dass man den »phänomenalen Gehalt« mentaler Repräsentationen untersucht, das heißt die Art, wie sich diese Repräsentationen von innen anfühlen, aus der Erste-Person-Perspektive, also wiees ist, sie (subjektiv, ganz privat, innerlich) zu haben. So ist beispielsweise der dominante phänomenale Gehalt beim Anblick einer roten Rose die Qualität der Röte selbst. Im bewussten Erleben des Riechens einer Mischung aus Ambra und Sandelholz ist dieser phänomenale Gehalt die pure, subjektive Qualität von »Ambrahaftigkeit« und »Sandelholzigkeit«, unaussprechlich und scheinbar einfach, ohne jede innere Struktur. Und wenn man eine Emotion erlebt – wenn man sich, sagen wir, besonders glücklich und entspannt fühlt –, dann ist der phänomenale Gehalt das Gefühl selbst und nicht das, worauf es sich bezieht.

Alle empirischen Daten deuten mittlerweile darauf hin, dass der phänomenale Gehalt lokal determiniert wird, nicht einmal ansatzweise durch die Umwelt, sondern allein durch innere Eigenschaften des Gehirns. Außerdem sind die relevanten Eigenschaften immer dieselben, ganz gleich, ob Sie eine rote Rose betrachten, sich vorstellen oder davon träumen. Das subjektive Erleben von Sandelholz und Ambra erfordert kein Räucherstäbchen, man braucht dazu nicht einmal eine Nase – prinzipiell lässt es sich auch dadurch auslösen, dass man die richtige Kombination der den Riechzellen nachgeschalteten Glomeruli im Riechkolben stimuliert. Diese Glomeruli (es gibt etwa 2000 davon) nehmen Geruchssignale von olfaktorischen Rezeptorzellen unterschiedlicher Typen auf. Angenommen, die einheitliche Sinnesqualität des Geruchseindrucks von Sandelholz und Ambra wäre mit der Aktivierung von Riechzellen der Typen 18, 93, 143 und 211 in der Nase verbunden, dann würden wir erwarten, dasselbe bewusste Erleben – eine identische Geruchsqualität – zu erhalten, wenn wir die entsprechenden Riechzellen mit einer Elektrode reizen. Die Kernfrage lautet: Was ist die minimal hinreichende Menge von neuronalen Eigenschaften? Könnten wir selektiv genau das gleiche Phänomen auslösen, indem wir sogar noch weniger tun, vielleicht an einer anderen Stelle im Gehirn? Die meisten Neurowissenschaftler (und vermutlich auch die Mehrheit der Philosophen) würden dies bejahen: Wenn man das minimale neuronale Korrelat eines gegebenen bewussten Erlebnisses aktiviert, dann erhält man das bewusste Erlebnis selbst.

Das gleiche allgemeine Grundprinzip gilt auch für komplexere Zustände. Ihr phänomenaler Gehalt ist genau jener Aspekt eines bestimmten Zustands (sagen wir, Glücksgefühl plus Entspannung), der nicht nur ganz natürlich und spontan in Alltagssituationen entsteht, sondern auch durch einen psychoaktiven Wirkstoff hervorgerufen werden kann – oder, zumindest im Prinzip, durch einen bösen Neurowissenschaftler, der an einem lebenden Gehirn in einer Nährlösung experimentiert. Beim Problem des Bewusstseins geht es ausschließlich um das subjektive Erleben selbst, um die Struktur unseres Innenlebens – und nicht um unser Wissen über die Außenwelt.

Man kann den Ego-Tunnel auch als eine komplexe Eigenschaft des globalen neuronalen Korrelats des Bewusstseins betrachten (entsprechend dem englischen Ausdruck neural correlate of consciousness spricht man auch im Deutschen heute meist einfach vom »NCC«). Unter dem NCC versteht man jene Menge neurofunktionaler Eigenschaften in Ihrem Gehirn, die hinreichend ist, um ein bestimmtes bewusstes Erlebnis hervorzubringen. Es gibt ein spezifisches NCC für die Röte der Rose, die Sie erleben, ein anderes für das Wahrnehmungsobjekt selbst (das heißt für die Rose als Ganze) und wieder ein anderes, das dem Gefühl des Glücklichseins und der Entspannung zugrunde liegt, das Sie vielleicht gleichzeitig empfinden. Aber es existiert auch ein globales NCC, das heißt eine viel größere Menge neuronaler Eigenschaften, die dem Bewusstsein als Ganzem entspricht und unserem erlebnismäßigen Modell der Welt zugrunde liegt – der Gesamtheit unseres subjektiven Fühlens und Empfindens. Der beständige Informationsfluss in diesem globalen NCC ist das, was den Tunnel erzeugt, die Welt, in der Sie selbst Ihr – selbstbewusstes – Leben leben.

Aber was ist dieses »Sie selbst«? Ganz am Anfang habe ich behauptet, dass wir niemals über eine wirklich befriedigende, umfassende Theorie des menschlichen Geistes verfügen werden, solange wir nicht den Kern des Problems auflösen. Wenn wir ein stimmiges Gesamtbild haben wollen – einen allgemeineren Bezugsrahmen, in dem alle Daten ihren Platz finden können –, dann müssen wir uns dieser Herausforderung stellen. Warum ist Bewusstsein subjektiv? Die wichtigste Frage, für die wir eine Antwort finden müssen, lautet: Weshalb hat ein bewusstes Weltmodell fast immer ein Zentrum – ein Ich, ein Ego, ein erlebendes Selbst? Was genau ist das Selbst, das die Gummihand-Illusion hat? Was genau verlässt scheinbar den Körper in einer out-of-body experience? Was genau ist es, das gerade jetzt diese Zeilen liest?

Ein Ego-Tunnel ist ein Bewusstseins-Tunnel, der die zusätzliche Eigenschaft entwickelt hat, eine stabile Erste-Person-Perspektive zu erzeugen, eine subjektive Sicht auf die Welt. Es ist ein Bewusstseins-Tunnel plus das Erscheinen eines phänomenalen Selbst. Das also ist die Herausforderung: Wenn wir ein Gesamtbild des bewussten Geistes haben wollen, dann müssen wir verstehen, wie ein echtes Ichgefühl entsteht. Wir müssen erklären, wieso Sie eine Berührungsempfindung in der Gummihand als Ihre eigene Empfindung erleben, wieso Sie das Verstehen der Sätze, die Sie gerade lesen, als Ihr eigenes Verstehen erleben. Dieses bewusste, ursprüngliche Ichgefühl ist die tiefste Form von Innerlichkeit, viel tiefer als die Tatsache, dass irgendetwas bloß »im Gehirn« oder »in einer simulierten Welt im Gehirn« ist. Diese nichttriviale Form von Innerlichkeit ist das, worum es in diesem Buch geht.

Teil I

DAS BEWUSSTSEINSPROBLEM

Kapitel 1

DAS ERSCHEINEN EINER WELT

Bewusstsein ist das Erscheinen einer Welt. Die Essenz des Phänomens des bewussten Erlebens besteht darin, dass eine einzige und einheitliche Wirklichkeit in die Gegenwart tritt: Wenn wir bewusst sind, erscheint uns eine Welt. Dies gilt für Träume ebenso wie für den Wachzustand; im traumlosen Tiefschlaf dagegen erscheint nichts: Die Tatsache, dass eine äußere Wirklichkeit existiert und dass wir darin anwesend sind, ist uns nicht zugänglich. Wir wissen nicht einmal, dass wir selbst existieren.

Bewusstsein ist ein ganz besonderes Phänomen, weil es Teil der Welt ist und gleichzeitig die Welt enthält. All unsere wissenschaftlichen Daten deuten drauf hin, dass Bewusstsein Teil der physikalischen Welt und zugleich ein evolvierendes biologisches Phänomen ist. Bewusstes Erleben ist jedoch weit mehr als Physik plus Biologie – mehr als der Tanz eines fantastisch komplexen, rhythmischen Musters neuronaler Entladungen in unserem Gehirn. Das menschliche Bewusstsein unterscheidet sich von anderen biologisch evolvierten Phänomenen grundlegend dadurch, dass es eine Wirklichkeit dazu bringt, in sich selbst zu erscheinen. Es erzeugt Innerlichkeit: Der Vorgang des Lebens ist sich seiner selbst bewusst geworden.

Nach den verfügbaren Daten über Gehirne von Tieren und evolutionäre Kontinuität zu urteilen, ist das Erscheinen von Welten in biologischen Nervensystemen ein neueres Phänomen, vielleicht nur ein paar Millionen Jahre alt. In der Darwin’schen Evolution könnte eine Frühform des Bewusstseins vielleicht vor etwa 200Millionen Jahren in den primitiven Großhirnrinden von Säugetieren entstanden sein. Es verlieh ihnen eine Körperwahrnehmung, ein Gefühl für ihre Umwelt und steuerte Teile ihres Verhaltens. Meine eigene, rein intuitive Vermutung ist, dass auch Vögel, Reptilien und Fische schon seit langer Zeit eine einfache Art von Bewusstheit besitzen. Jedenfalls kann ein Tier, das nicht logisch denken und auch keine Sprache sprechen kann, zweifellos transparente phänomenale Zustände haben – und mehr bedarf es nicht, um eine Welt im Bewusstsein erscheinen zu lassen. Bekannte Bewusstseinsforscher und theoretische Neurobiologen wie Bernard Baars, Anil Seth und David Edelman haben siebzehn Kriterien für Hirnstrukturen aufgestellt, die sehr wahrscheinlich dem Bewusstsein dienlich sind, und nicht nur bei Säugetieren, sondern auch bei Vögeln und möglicherweise sogar bei Tintenfischen sind die Belege für die Existenz solcher Strukturen oder sehr ähnlicher Funktionen überwältigend. Die empirische Evidenz für die Existenz von Bewusstsein bei Tieren ist mittlerweile weit jenseits jedes vernünftigen Zweifels.1 Genau wie wir sind auch Tiere »naive Realisten«, und wenn sie etwa Farbempfindungen haben, dann kann man plausiblerweise davon ausgehen, dass diese ihnen mit der gleichen Qualität der Direktheit, Gewissheit und Unmittelbarkeit erscheinen wie uns selbst. Der philosophische Punkt ist dagegen, dass wir all das in Wirklichkeit natürlich nicht wissen. Denn hierbei handelt es sich genau um die Art von Fragen, die wir erst genauer untersuchen können, wenn wir eine befriedigende Theorie des Bewusstseins aufgestellt haben.

Ein wesentlich jüngeres Phänomen trat vor wenigen tausend Jahren in Erscheinung: die bewusste Bildung von Theorien im Geist von menschlichen Philosophen und Wissenschaftlern. Jetzt spiegelte sich der Lebensprozess nicht nur in individuellen bewussten Organismen wider, sondern auch in Gruppen von menschlichen Wesen, die das Auftreten des selbstbewussten Geistes als solchem zu verstehen versuchten – also was genau es bedeutet, dass etwas »in sich selbst erscheint«. Vielleicht ist das faszinierendste Merkmal des menschlichen Geistes nicht so sehr, dass er manchmal bewusst sein kann oder sogar dass er die Entstehung eines phänomenalen Selbstmodells, eines PSM, ermöglicht. Wirklich bemerkenswert ist eher die Tatsache, dass wir die innere Aufmerksamkeit auch auf die Inhalte unseres PSM lenken und dann sogar Begriffe über sie bilden können. Wir können miteinander über seinen Inhalt kommunizieren, und wir können diesen Vorgang wiederum als unsere eigene Aktivität erleben. Der Prozess, bei dem wir unser inneres Erleben bündeln und es selbst noch einmal auf unsere Gedanken und Emotionen richten, auf unsere eigenen Wahrnehmungen und körperlichen Empfindungen, wird nämlich seinerseits wieder in das bereits bestehende Selbstmodell eingebunden. Und diese Eigenschaft unterscheidet uns, wie bereits bemerkt, wahrscheinlich von den meisten anderen Tieren auf diesem Planeten: die Fähigkeit, die Erste-Person-Perspektive aktiv nach innen zu wenden, unsere Gefühlszustände zu erforschen und die Aufmerksamkeit auf unsere Denkvorgänge zu lenken. Philosophen sprechen in diesem Zusammenhang von »höherstufigen« Ebenen des PSM. Diese erlaubten uns, uns der Tatsache bewusst zu werden, dass wir Repräsentationssysteme sind.

Im Verlauf der Jahrhunderte haben die Theorien, welche wir entwickelt haben, schrittweise unser eigenes Bild von uns selbst verändert, und indem sie das taten, haben sie auf subtile Weise auch den Inhalt des Bewusstseins selbst verändert. Es ist richtig, dass Bewusstsein ein robustes Phänomen ist, das sich nicht einfach dadurch verändert, dass wir auf einmal andere Meinungen über es besitzen. Es verändert sich aber durch die Praxis selbst, durch die Art, wie wir in unserer ganz eigenen Lebenswelt handeln (denken wir nur an Weinkenner, Parfümdesigner, Ausdruckstänzerinnen oder musikalische Genies). Menschen in anderen historischen Epochen – etwa während des vedischen Zeitalters im Alten Indien (also etwa von 1500 bis 600 v. Chr.) oder während des europäischen Mittelalters, als Gott noch als eine reale und konstante Gegenwart wahrgenommen wurde – kannten wahrscheinlich Formen des subjektiven Erlebens, die uns heute fast unzugänglich sind. Viele tiefe Formen des bewussten Selbsterlebens sind im Gefolge der philosophischen Aufklärung und des Aufstiegs von Naturwissenschaft und Technologie so gut wie unmöglich geworden – zumindest für die vielen Millionen von gebildeten und wissenschaftlich informierten Menschen in den reichen Ländern. Neue sind entstanden. Theorien verändern die soziale Praxis, und die Praxis verändert irgendwann die Gehirne selbst, die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen. Die Theorie der neuronalen Netze beschreibt die Informationsarchitektur im Gehirn von Menschen und anderen Tieren, bei der Milliarden einzelner Nervenzellen in der Art eines Netzes miteinander verknüpft sind, in dem sich dann ständig Aktivitätsmuster bilden und sich in immer neue Muster verwandeln. Durch diese Theorie haben wir gelernt, dass die Unterscheidung zwischen der Struktur und dem Inhalt – also zwischen dem Träger eines mentalen Zustands und dessen innerer Bedeutung – nicht so eindeutig ist, wie gerade viele Geisteswissenschaftler oft annehmen. Die Bedeutung verändert nämlich die Struktur selbst, wenn auch häufig nur langsam. Und die Struktur ist ihrerseits das, was am Ende unser inneres Leben bestimmt, den Fluss des bewussten Erlebens.

In den frühen 1970er Jahren, nachdem die große Zeit des Behaviorismus vorbei war, wuchs wieder das Interesse an Bewusstsein als einem Gegenstand ernsthafter Forschungen. In einer Reihe von wissenschaftlichen Disziplinen avancierte das Thema des subjektiven Erlebens nach und nach zur heimlichen Forschungsfront. Dann, im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, akzeptierten endlich etliche bedeutende Hirnforscher Bewusstsein auch in der Öffentlichkeit als ein für die streng naturwissenschaftliche Forschung angemessenes Erkenntnisziel. Von da an begannen die Dinge sich sehr schnell zu entwickeln. Im Jahr 1994, im Anschluss an eine sehr bunte Konferenz von Bewusstseinsforschern in Tucson, Arizona, half ich dabei, eine neue Organisation zu gründen, die Association for the Scientific Study of Consciousness (ASSC). Ihr Ziel besteht darin, den harten Kern der wirklich ernsthaften Forscher in der Naturwissenschaft und aus der Philosophie des Geistes zusammenzubringen. Die Zahl von wissenschaftlichen Tagungen und Zeitschriftenartikeln stieg steil an.2 Im folgenden Jahr gab ich eine Sammlung philosophischer Texte unter dem Titel Bewusstsein – Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie heraus, die gleichzeitig auch auf Englisch erschien.3 Als ich mit einem meiner ASSC-Mitgründer, dem australischen Philosophen David Chalmers, die Bibliographie für dieses Buch zusammenstellte, deckte sie den Zeitraum von 1970 bis 1995 ab und enthielt etwa tausend Einträge. Zehn Jahre später, als ich diese Bibliographie für die fünfte deutsche Auflage überarbeitete, umfasste sie fast 2700 Einträge. An diesem Punkt gab ich jeden Versuch auf, die neu entstehende Fachliteratur über Bewusstsein komplett zu erfassen – es war ganz einfach nicht mehr möglich. Das Feld der seriösen Bewusstseinsforschung ist jetzt fest etabliert und entwickelt sich stetig weiter.

Auf dem Weg dahin haben wir viele Lektionen gelernt. Wir haben gelernt, wie groß die Angst vor dem Reduktionismus ist, in den Geisteswissenschaften genauso wie in der allgemeinen Öffentlichkeit, und wie groß der Markt für Irrationalismus und Obskurantismus ist, für das, was man in den angelsächsischen Ländern »Mysterianism« nennt – die Tendenz, immer neue Nebelkerzen zu werfen und das Problem des Bewusstseins zu einem unlösbaren Mysterium hochzustilisieren. Es gibt natürlich eine klare und eindeutige philosophische Antwort auf die weitverbreitete Furcht, wonach Philosophen oder Naturwissenschaftler »das Bewusstsein reduzieren« werden, und sie besteht in dem Hinweis, dass Reduktion ausschließlich eine Beziehung zwischen Theorien ist und nicht zwischen Phänomenen. Kein seriöser empirischer Forscher und kein Philosoph will »das Bewusstsein reduzieren«. Allenfalls lässt sich eine Theorie darüber, wie der Inhalt des Bewusstseins entstanden ist, auf eine andere Theorie reduzieren. Unsere Theorien über die Phänomene verändern sich, aber die Phänomene bleiben gleich. Ein schöner Regenbogen bleibt auch dann ein schöner Regenbogen, wenn er mit den Begriffen einer Theorie über elektromagnetische Strahlung erklärt worden ist. Sich eine primitive szientistische Ideologie zu eigen zu machen wäre genauso schlimm, wie sich dem antireduktionistischen Ressentiment, dem Irrationalismus und dem Obskurantismus zu unterwerfen. Darüber hinaus sind sich die meisten Beteiligten einig, dass die wissenschaftliche Methode nicht die einzige Form des Erkenntnisgewinns ist.

Aber das ist nicht alles, was zu diesem Thema gesagt werden muss. Ich denke, in Wahrheit könnte häufig tatsächlich eine tiefere, schwer zu artikulierende Einsicht hinter unserem Unbehagen gegenüber reduktiven Ansätzen bei der Erforschung des bewussten Geistes stehen. Wir wissen, dass unsere Überzeugungen über das Bewusstsein auf subtile Weise das verändern können, was wir wahrnehmen, indem sie den Inhalt und das funktionale Profil des subjektiven Erlebens selbst verändern – sie bilden nicht nur einen inneren Filter, sie bestimmen auch, welchen Situationen wir uns überhaupt aussetzen und wie wir miteinander umgehen. Manche von uns befürchten, eine materialistische »Entzauberung« als Folge von Fortschritten in den neuen Naturwissenschaften vom menschlichen Geist könnte unerwünschte soziale und kulturelle Konsequenzen mit sich bringen. Wie ich in den beiden abschließenden Kapiteln dieses Buches zeigen werde, haben auch diese Stimmen vollkommen recht: Auch dies ist ein wichtiger Aspekt der Entwicklung in den sogenannten Mind Sciences (die bald die Nachfolge der Life Sciences, der Lebenswissenschaften, antreten könnten). Wir haben auf vielen neuen Ebenen verstanden, dass Bewusstsein – wie auch die Wissenschaft selbst – ein kulturell eingebettetes Phänomen ist.

Eine andere Lektion, die wir gelernt haben, lautet, dass Bewusstsein kein »Alles-oder-Nichts«-Phänomen ist, nicht etwas, das entweder existiert oder nicht existiert. Es ist ein graduell auftretendes Phänomen, und es zeigt sich in vielen verschiedenen Schattierungen und Stärkegraden. Bewusstsein ist außerdem kein einheitliches Phänomen, sondern es besitzt eine Reihe voneinander unterscheidbarer Aspekte: Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Gefühle, die Wahrnehmung von Farbe oder Selbstbewusstsein und Gedanken höherer Ordnung. Gleichwohl scheint es so zu sein, dass sich die Essenz des Phänomens – das, was ich das Erscheinen einer Welt nenne – durchgängig erhält. Eines der wesentlichen Merkmale von Bewusstsein besteht nämlich darin, dass es uns auf eine ganz neue Weise in dieser Welt situiert. Wenn wir am Morgen aufwachen, dann erleben wir uns als zu einem bestimmten Zeitpunkt existierend, an einem bestimmten Ort und als eingebettet in eine Szene: eine spezifische, eindeutige und integrierte Situation entsteht. Dasselbe gilt für Träume oder Halluzinationen, in denen man nicht bloß sich selbst erlebt, sondern sich selbst im Kontext einer bestimmten Situation, als Teil einer Welt, die eben zum Vorschein gekommen ist und sich nun schrittweise weiter enthüllt. Wir haben auch gelernt, dass das Bewusstsein weit ins Tierreich hinabreicht.4 Wir haben viele neue Einsichten über psychiatrische Störungsbilder und Hirnverletzungen, über Koma und minimal bewusste Zustände, über Träume, luzide Träume und andere veränderte Bewusstseinszustände gewonnen. All das hat zu einem allgemeinen Bild geführt, dem Bild eines komplexen Phänomens, das in sehr verschiedenen Ausprägungsgraden und Erscheinungsformen auftritt. Es gibt keinen An-Aus-Schalter. Die Tatsache, dass Bewusstsein ein graduelles, in Stufen auftretendes Phänomen ist, verursacht manchmal begriffliche Probleme. Gleichzeitig finden wir jedoch bereits die ersten neuronalen Korrelate für spezifische Formen von Bewusstseinsinhalten.5 Irgendwann wird es uns möglich sein, die minimale Menge von Eigenschaften zu bestimmen, die unsere Gehirne besitzen müssen, um spezifische Qualitäten des Erlebens zu aktivieren, wie etwa die rosa-aprikosenfarbene Tönung des Abendhimmels oder den Duft einer Mischung aus Ambra und Sandelholz.

Was wir jedoch nicht wissen, ist, wie weit uns die Entdeckung solcher neuronalen Korrelate in Richtung auf eine Erklärung von Bewusstsein tragen könnte. Korrelation ist jedenfalls nicht gleichzusetzen mit Verursachung. Wenn zum Beispiel fast alle Uhren in einer Zeitzone dieselbe Zeigerstellung aufweisen, dann bedeutet das noch lange nicht, dass zwischen ihnen auch Ursache-Wirkungs-Beziehungen bestehen. Vor allem ist auch eine noch so enge Korrelation keine wissenschaftliche Erklärung – wenn die beobachtbaren Mondphasen eng mit den Gezeiten korreliert sind, dann heißt das noch lange nicht, dass man Ebbe und Flut auch durch die Mondphasen erklären kann. Und wenn bestimmte Aspekte des Bewusstseins unaussprechlich sind, dann können wir sie ganz offensichtlich nicht direkt mit Zuständen in unseren Gehirnen in Beziehung setzen. Wir haben gegenwärtig kein gutes Verständnis dessen, was genau es bedeutet, zu sagen, dass Bewusstsein »subjektiv« ist, ein »privates« Phänomen, das an ein individuelles Selbst gebunden ist. Aber wenn wir die neuronalen Korrelate für spezifische Bewusstseinsinhalte schrittweise fixieren, dann wird das die Grundlagen für die Neurotechnologie der Zukunft legen. Sobald wir die hinreichenden physikalischen Korrelate für Bewusstseinsqualitäten wie »Rosa-Aprikosenfarben« und »Sandelholz-Ambra« kennen, werden wir im Prinzip in der Lage sein, diese Zustände zu aktivieren, indem wir das Gehirn in einer angemessenen Weise stimulieren. Wir werden in der Lage sein, unsere bewussten Empfindungen von Farbe oder Geruch zu modulieren, sie zu intensivieren oder zu löschen, indem wir die relevanten Gruppen von Neuronen reizen oder hemmen. Das könnte dann auch für emotionale Zustände gelten, wie etwa Einfühlung, Dankbarkeit oder religiöse Ekstase.

Zunächst benötigen wir jedoch eine solide Grundlage. Bevor wir verstehen können, was das ist, was wir in der Vergangenheit das »Selbst« genannt haben, müssen wir uns zuerst einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Bewusstseinsforschung verschaffen, indem wir einen kurzen Ausflug in die Landschaft des Bewusstseins unternehmen, eine einzigartige und faszinierende Landschaft aus theoretischen Problemen und philosophischen Rätseln. Es hat natürlich bereits beträchtliche Fortschritte gegeben, aber was unseren bewussten Geist angeht, leben wir gleichsam immer noch in prähistorischen Zeiten. Unsere Theorien über das Bewusstsein sind so naiv wie die ersten Vorstellungen, die sich die Höhlenmenschen über das wirkliche Wesen der Sterne gemacht haben dürften. Aus der Perspektive der aktuellen Forschung stehen wir erst am Anfang einer echten Wissenschaft des Bewusstseins.

Das bewusste Gehirn ist eine biologische Maschine – ein Wirklichkeitsgenerator, der vorgibt, uns zu sagen, was existiert und was nicht existiert. Es ist anfänglich vielleicht beunruhigend, zu entdecken und erstmals wirklich zu verstehen, dass es vor unseren Augen keine Farben gibt. Das zarte aprikosenfarbene Rosa der untergehenden Sonne ist keine Eigenschaft des Abendhimmels; es ist eine Eigenschaft des inneren Modells des Abendhimmels, eines Modells, das durch unser Gehirn erzeugt wird. Der Abendhimmel ist farblos. In der Außenwelt gibt es überhaupt keine farbigen Gegenstände. Es ist alles genau so, wie es uns schon der Physiklehrer in der Schule gesagt hat: Da draußen, vor Ihren Augen, gibt es nur einen Ozean aus elektromagnetischer Strahlung, eine wild wogende Mischung verschiedener Wellenlängen. Die meisten davon sind für Sie unsichtbar und können niemals ein Teil Ihres bewussten Realitätsmodells werden. Was in Wirklichkeit geschieht, ist, dass das visuelle System in Ihrem Gehirn einen Tunnel durch die unvorstellbar reichhaltige physikalische Umwelt bohrt und im Verlauf dieses Vorgangs die Innenwände des Tunnels sozusagen in verschiedenen Farbtönen anmalt. Phänomenale Farbe. Erscheinung. Nur für das Auge des Bewusstseins.

Aber das ist nur der Anfang. Es gibt keine saubere und systematische Eins-zu-eins-Abbildung von bewusst erlebten Farben auf irgendwelche physikalischen Eigenschaften »da draußen«. Viele verschiedene Wellenlängenmischungen können dieselbe qualitative Empfindung von Aprikosen- und Rosafarben erzeugen (Wissenschaftler nennen solche Mischungen Metamere). Es ist auch interessant, festzustellen, wie die wahrgenommene Farbe eines Gegenstands unter sehr verschiedenen Beleuchtungsbedingungen fast vollständig konstant bleibt. Ein Apfel sieht zum Beispiel am Mittag grün für uns aus, wenn die Hauptbeleuchtung aus weißem Sonnenlicht besteht, und auch abends, beim Sonnenuntergang, wenn die Hauptbeleuchtung Rot ist, aber mit einer beträchtlichen Menge von dazugemischtem Gelb. Diese subjektive Farbkonstanz ist eines der faszinierendsten Merkmale der menschlichen Farbwahrnehmung, eine neurokomputationale Leistung ersten Ranges. Auf der anderen Seite ist es so, dass Sie auf der Ebene des Bewusstseins dieselbe physikalische Eigenschaft – sagen wir, die heiße Herdplatte vor Ihnen – durch zwei grundverschiedene phänomenale Qualitäten erleben können. Sie können sie als eine Empfindung der Wärme erleben und als eine Empfindung von glühendem Rot, als etwas, das Sie auf Ihrer Haut spüren, und als etwas, das Sie in den Raum vor Ihren Augen hineinprojizieren. Phänomenaler Raum. Erscheinung.

Um sich eines bewussten Farberlebnisses zu erfreuen, ist es nicht einmal notwendig, dass Ihre Augen geöffnet sind. Natürlich kann man von einem rosa-aprikosenfarbenen Abendhimmel auch träumen, oder man kann ihn halluzinieren. Es ist sogar möglich, eine noch dramatischere (sozusagen »überwirkliche«) Farberfahrung unter dem Einfluss einer halluzinogenen Droge zu machen, während Sie in die Leere hinter Ihren geschlossenen Augenlidern starren. Viele experimentelle Daten aus der modernen Bewusstseinsforschung zeigen übereinstimmend, dass das, was alle möglichen bewussten Empfindungen von Rosa-Aprikosenfarben miteinander gemein haben, nicht so sehr die Existenz eines Gegenstands »da draußen« ist, sondern vielmehr ein hochgradig spezifisches Aktivierungsmuster in unserem Gehirn. Im Prinzip könnten wir dieses Erlebnis also auch ohne Augen haben, und wir könnten es sogar als entkörpertes Gehirn in einer Nährlösung haben. Woher nehmen Sie eigentlich die Gewissheit, dass Sie sich nicht jetzt gerade, während Sie dieses Buch lesen, in einem Gefäß mit einer Nährlösung befinden? Wie können Sie beweisen, dass das Buch in Ihrer Hand – oder auch die Hand selbst – in Wirklichkeit existiert? In der Philosophie nennen wir dieses Spiel »Erkenntnistheorie«, die Suche nach einer Theorie darüber, wie sicheres und verlässliches Wissen möglich ist. Wir spielen es schon seit Jahrhunderten.

Das bewusste Erleben als solches ist dagegen eine ausschließlich innere Angelegenheit. Was immer sonst noch vom Bewusstsein gelten mag, eines scheint sicher: Wenn alle internen Eigenschaften unseres Nervensystems festgelegt sind, dann sind auch alle Eigenschaften unseres bewussten Erlebens – sein subjektiv erlebter Inhalt und die Art und Weise, wie es sich von innen für uns anfühlt – vollständig determiniert. Mit dieser »Internalität« meine ich nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Innerlichkeit – also das, was immer gerade jetzt stattfindet, in genau diesem Moment. Sobald gewisse Eigenschaften unseres Gehirns festgelegt sind, ist alles, was wir genau in diesem Moment erleben, ebenfalls festgelegt.

Philosophisch gesehen bedeutet all das aber noch lange nicht, dass eine reduktive Erklärung von Bewusstsein wirklich möglich ist. Zum Beispiel ist nicht klar, was überhaupt als eine einzige Erfahrung, als ein ganzes Erlebnis zählt: Sind Erlebnisse diskrete, zählbare Dinge? Haben Sie einen Anfang und ein Ende? Eines ist klar: Der Fluss des Erlebens existiert auf jeden Fall, und die kognitive Neurowissenschaft hat gezeigt, dass der Vorgang des bewussten Erlebens lediglich ein sehr idiosynkratischer, ein besonderer und ganz eigener Pfad durch eine physikalische Wirklichkeit ist, die so unvorstellbar komplex und reich an Informationen ist, dass es immer sehr schwierig für uns sein wird, wirklich zu verstehen, wie stark reduziert unser subjektives Erleben tatsächlich ist. Wenn wir uns tiefer auf das intensive Empfinden all der Farben, Klänge und Gerüche einlassen, auf das weite Spektrum unserer Emotionen und unserer Sinneswahrnehmungen, dann ist es schwer, zu glauben, dass all dies nur der innere Schatten von etwas unfassbar Reicherem und Größerem sein soll. Aber genau so ist es.

Schatten besitzen keine unabhängige Existenz. Und das Buch, das Sie jetzt gerade in der Hand halten – das heißt die zu einer Ganzheit vereinigten Empfindungen seiner Farbe, seines Gewichts und seiner Oberflächentextur –, ist ebenfalls nur ein Schatten, die niedrigdimensionale Projektion eines höherdimensionalen Gegenstands »da draußen«. Es ist ein Bild, eine Repräsentation, die wissenschaftlich als eine Region in Ihrem neuronalen Zustandsraum beschrieben werden kann. Dieser Zustandsraum selbst mag durchaus Millionen von Dimensionen besitzen – trotzdem hat die physikalische Wirklichkeit, durch die Sie sich mit seiner Hilfe bewegen, eine unvorstellbar höhere Anzahl von Dimensionen.

Die Schattenmetapher erinnert uns natürlich an das siebte Buch in Platons Der Staat. In Platons wunderschöner Parabel sind die Gefangenen in der Höhle an Schenkeln und Nacken gefesselt. Sie können nur geradeaus schauen, und ihre Köpfe sind seit der Geburt in einer festen Position angekettet gewesen. Alles, was sie jemals von sich selbst und den anderen Gefangenen gesehen haben, sind die Schatten, die durch das Feuer, das hinter ihnen brennt, auf die gegenüberliegende Höhlenwand geworfen werden. Sie glauben, dass die Schatten reale Gegenstände seien. Dasselbe gilt für die Schatten, die von den Gegenständen geworfen werden, die oberhalb der Mauer hinter ihren Köpfen entlanggetragen werden. Sind wir selbst vielleicht wie die Gefangenen, weil die Gegenstände einer unbekannten Außenwelt einen Schatten auf die Wand vor uns werfen? Sind wir am Ende selbst nur Schatten? Tatsächlich hat sich die philosophische Version unserer aktuellen Grundeinstellung zur bewusst erlebten Wirklichkeit aus dem platonischen Mythos heraus entwickelt – mit dem kleinen Unterschied, dass unsere heutige Version weder die Realität der materiellen Welt leugnet noch die Existenz ewiger Formen annimmt, die die eigentlichen Gegenstände darstellen, welche durch die Schatten auf der Wand von Platons Höhle abgebildet werden. Was wir allerdings annehmen, ist, dass die Bilder, die im Ego-Tunnel erscheinen, dynamische Projektionen von etwas wesentlich Größerem und Reichhaltigerem sind.

Was aber ist die Höhle, und was sind die Schatten? Phänomenale Schatten sind niedrigdimensionale Projektionen innerhalb des zentralen Nervensystems eines biologischen Organismus. Nehmen wir einmal an, dass das Buch, das Sie gerade in der Hand halten, so wie es von Ihnen jetzt genau in diesem Moment erlebt wird, ein dynamischer, niedrigdimensionaler Schatten des tatsächlichen physikalischen Gegenstands in Ihrer tatsächlich physikalischen Hand ist, ein tanzendes Muster in Ihrem zentralen Nervensystem. Dann können wir die folgende Frage stellen: Was ist das Feuer, das die Projektion der flackernden Schatten im Bewusstsein verursacht, die sozusagen als Aktivierungsmuster auf der Wand Ihrer neuronalen Höhle tanzen? Das Feuer ist die neuronale Dynamik. Das Feuer ist der unaufhörliche, sich selbst regulierende Fluss der neuronalen Informationsverarbeitung, welcher auf der Suche nach einem stabilen Gleichgewicht ist und dabei ständig durch Sinneswahrnehmungen und kognitive Vorgänge gestört, geformt und immer wieder von neuem aufgewühlt wird. Die Wand der Höhle ist nämlich keine zweidimensionale Oberfläche, sondern der hochdimensionale phänomenale Zustandsraum der menschlichen Technicolor-Phänomenologie.6 Bewusste Erlebnisse sind komplette mentale Modelle in dem repräsentationalen Raum, der sich durch das gigantische neuronale Netzwerk in unseren Köpfen öffnet – und weil dieser Raum durch eine Person erzeugt wird, die ein Gedächtnis besitzt und sich in der Zeit vorwärtsbewegt, ist er gleichzeitig ein Tunnel. Die Kernfrage ist jetzt jedoch die folgende: Wenn so etwas wirklich die ganze Zeit in uns selbst geschieht, warum sind wir uns dieser Tatsache niemals bewusst?

Antti Revonsuo spielte auf das faszinierende Phänomen der außerkörperlichen Erfahrungen an, als er das bewusste Erleben mit einer anhaltenden und anstrengungslosen außergehirnlichenErfahrung verglich.7 Genau wie ich es getan habe, benutzt er das Modell einer Weltsimulation, um zu erklären, in welchem Sinn das Gefühl der Anwesenheit und Gegenwärtigkeit, dessen Sie sich jetzt gerade erfreuen, nur eine innere, subjektive Art von Anwesenheit und Gegenwärtigkeit ist. Phänomenales In-der-Welt-Sein. Erscheinung. Die Grundidee besagt, dass der Inhalt des Bewusstseins der Inhalt einer simulierten Wirklichkeit in unserem Gehirn ist und dass das Gefühl des Daseins selbst ein Teil dieser Simulation ist. Unser bewusstes Erleben der Welt ist auf systematische Weise externalisiert, weil das Gehirn ständig die Erfahrung erzeugt, dass ich in einer Welt außerhalb meines Gehirns anwesend bin. Alles, was wir heute über das menschliche Gehirn wissen, deutet darauf hin, dass die Erfahrung, sich außerhalb des eigenen Gehirns zu befinden und nicht in einem Tunnel, durch neuronale Systeme tief im Inneren des Gehirns hervorgebracht wird. Natürlich existiert eine Außenwelt, und Wissen und Handeln verbinden uns auf kausale Weise mit dieser Außenwelt – aber das bewusste Erleben des Wissens, des Handelns und des Verbundenseins selbst ist eine ausschließlich innere Angelegenheit.

Jede überzeugende Theorie des Bewusstseins wird erklären müssen, warum uns dies nicht so erscheint. Lassen Sie uns daher zu einem kurzen Ausflug in den Ego-Tunnel aufbrechen und einen Blick auf eine Reihe der wichtigsten Probleme für eine Theorie des Bewusstseins werfen, die sowohl philosophisch als auch neurowissenschaftlich überzeugend sein will. Wir werden uns sechs dieser Probleme im Einzelnen anschauen: das Eine-Welt-Problem oder die Frage nach der Einheit des Bewusstseins; das Jetzt-Problem oder das Rätsel, wie das Erscheinen eines gelebten Moments möglich sein kann; das Wirklichkeits-Problem oder die Frage, warum wir als naive Realisten geboren wurden; das Problem der Unaussprechlichkeit oder die Frage nach dem, worüber wir niemals werden sprechen können; das Evolutions-Problem oder die Frage, wozu Bewusstsein eigentlich gut war, und schließlich das Wer-Problem oder die Frage nach der Entität, die all die bewussten Erlebnisse in Wirklichkeit hat. Wir beginnen mit dem einfachsten Problem und enden mit dem schwierigsten. Danach besitzen wir die Grundlagen, um endlich tiefer in das eigentliche Wesen des Bewusstseins eindringen zu können.

Kapitel 2

EINE TOUR DURCH DEN TUNNEL

Das Eine-Welt-Problem:Die Einheit des Bewusstseins

Vor einiger Zeit musste ich einen Lexikonartikel zu dem Stichwort »Bewusststein« verfassen. Ich begann damit, zunächst alle existierenden Lexikonartikel zum Thema zu kopieren und die historischen Literaturverweise einen nach dem anderen zu den Originalquellen zurückzuverfolgen. Ich wollte wissen, ob es in der langen Geschichte der westlichen Philosophie so etwas wie eine gemeinsame philosophische Einsicht gegeben hatte – einen Grundgedanken, der sich wie ein roter Faden durch die jahrtausendelangen Bemühungen der Menschheit zog, den bewussten Geist zu verstehen. Zu meiner Überraschung fand ich zwei solcher wesentlichen Einsichten.

Die erste ist, dass Bewusstsein eine höherstufige Form des Wissens zu sein scheint, die Gedanken und andere geistige Zustände begleitet. Der lateinische Begriff der conscientia ist die ursprüngliche Wurzel, aus der sich alle späteren Terminologien in den englischen und romanischen Sprachen entwickelt haben. Er leitet sich seinerseits von cum (»mit«, »zusammen«) und scire (»wissen«) ab. In der Antike, genau wie in der scholastischen Philosophie des Mittelalters, bezog sich conscientia