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Wer alles verloren hat, kann nur noch gewinnen. Scarlet ist ganz unten angekommen: von ihrer Ex-Frau betrogen, von Freunden und ihrer Familie gemieden, abgeschnitten von ihrem früheren Leben, gibt sie sich ganz ihrem Selbstmitleid hin. Und doch kommt es noch schlimmer: Eine Flutwelle bedroht die Stadt, und Scarlet bleiben gerade mal 30 Minuten, um aus ihrer Kellerwohnung zu retten, was zu retten ist. In ihrer Not kommt sie bei Joy unter, der Bürgermeisterin von Dulshaw. Auch Joy hat so ihre Probleme, traute sie sich doch bislang nicht, ihre Liebe zu Frauen öffentlich zu machen. Kann das gut gehen, wenn zwei so unterschiedliche Charaktere aufeinandertreffen? Und was wird bleiben, wenn das Wasser abgelaufen ist und die Aufräumarbeiten beginnen?
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Seitenzahl: 331
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Inhaltsverzeichnis
Weitere Bücher von Clare Lydon
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
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Über Clare Lydon
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Das Gefühl von Liebe
Bevor du sagst »Ich will«
Kapitel 1
Scarlet riss erschrocken die Augen auf. Irgendetwas hatte sie unsanft geweckt. Schnell schaltete sie die Lampe neben ihrem Bett an. Das hartnäckige Klopfen schien von ihrer Haustür zu kommen. Verwirrt sah sie auf ihren Wecker. Es war erst vier Uhr morgens.
Dann rief jemand.
Scarlets Herz raste. Sie schlug ihre Bettdecke zurück und fischte den roten Morgenmantel vom Fußboden. Um Himmels willen, wer stand um diese Uhrzeit bitte vor ihrer Tür? Und was konnte so dringend sein, am frühen Morgen hier aufzutauchen? War irgendetwas mit ihren Brüdern, den Zwillingen Fred und Clark? Furcht trieb sie zur Eile.
Nicht nach der Sache mit Mom und Dad. Bitte mach, dass Fred oder Clark nichts passiert ist.
Das Klopfen wurde lauter.
»Ich komm ja schon!« Scarlet schaltete das Flurlicht an und kniff die Augen zusammen, bis sie sich an das grelle Licht der frei herabhängenden Glühbirne gewöhnt hatte. Einen Lampenschirm zu kaufen stand schon länger auf ihrer To-do-Liste, bisher war das allerdings irgendwie untergegangen.
Die Rufe wurden auf dem Weg zur Tür immer deutlicher.
»Hallo! Polizei! Ist jemand zu Hause?«
Mit zitternden Händen griff sie nach ihrem Schlüssel. Wenn es schon in ihrer Wohnung so kalt war, wie eisig würde die Nachtluft dann sein? Sie atmete tief durch, schnürte ihren Morgenmantel fester zusammen und öffnete die Tür.
Ihr gegenüber stand ein Polizist mit Helm unterm Arm. Er sah aus wie ein Teenager. Da sie inzwischen aber auf die vierzig zuging, sahen für Scarlet in letzter Zeit die meisten Leute furchtbar jung aus. Der Polizist wirkte besorgt und sein Atem bildete kleine Wolken in der kühlen Luft.
»Entschuldigen Sie die Störung, aber die Flutbarriere wird gleich geöffnet. Sie müssen hier weg.« Er schien nach weiteren Worten zu suchen. Schließlich sagte er: »Es tut mir leid, aber Ihre Wohnung wird höchstwahrscheinlich überschwemmt werden. Nehmen Sie bitte alles mit, was Sie retten möchten. Sie haben eine halbe Stunde.«
Scarlet blinzelte ihn perplex an. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie war so verwirrt.
Was hatte er gesagt? Flut. Wohnung überschwemmt. Raus. Halbe Stunde.
Ihr Gehirn schien nicht in der Lage zu sein, seine Worte zu verarbeiten. Das konnte nicht stimmen. Es ging hier um ihre Wohnung. Ihren sicheren Hafen. Den einzigen Ort, an dem sie auf dieser ganzen katastrophalen Welt ihren Frieden fand.
»Wie bitte?« Sie versuchte angestrengt, die Situation zu begreifen. »Ich verstehe nicht … Soll die Flutbarriere nicht verhindern, dass wir überflutet werden?«
Beim Kauf der Wohnung hatte man ihr versichert, das Gebiet sei seit mehr als sechzig Jahren nicht überflutet worden. Darauf war der Makler bei der Vertragsunterzeichnung besonders stolz gewesen.
Der Polizist zuckte mit den Schultern und sah Scarlet entschuldigend an.
»Ich bin nur der Bote, Ma’am. Die elektrischen Systeme der Barriere stehen unter Wasser und die Umweltbehörde will nicht riskieren, dass der Staudamm bricht. Die Öffnung der Sperre wurde angeordnet, um einen Teil des Wassers kontrolliert entweichen zu lassen. Sie versuchen, den Schaden auf einige Hundert Häuser mit gefluteten Kellergeschossen zu begrenzen. Andernfalls würden Tausende Gebäude mitgerissen und zerstört werden. Leider gehört Ihr Wohnhaus zu denen, die in der Gefahrenzone liegen. Wir bereiten auch Ihre Nachbarn auf das Schlimmste vor.«
Scarlet schüttelte den Kopf. Da musste ein Irrtum vorliegen. Das konnte nicht sein. Der Makler hatte gesagt, sie müsse sich keine Sorgen machen. Ihr Körper war wie festgefroren, ihr Gehirn streikte.
Sie hatte geglaubt, ihr Leben könne nicht noch schlimmer werden. Zuerst hatte Liv sie verlassen und nun das? Wenn es so etwas wie einen Gott gab, schien er oder sie sich köstlich über Scarlet zu amüsieren.
»Sie sagen, ich muss hier raus? Jetzt gleich?«
Der Polizist nickte und wandte sich leicht zur Seite.
Sie hörte, wie sein Kollege ihrem Nachbarn, Ben mit den zwei Hunden, die gleiche Geschichte erzählte.
»Ich fürchte ja. Packen Sie und dann raus hier. Gehen Sie zum Gemeindezentrum, dort wird man sich um alles Weitere kümmern.«
Scarlet wurde schwindelig. Sie suchte am Türrahmen Halt. »Besteht die Möglichkeit, dass Sie sich irren? Sie sagten doch höchstwahrscheinlich überschwemmt, richtig?«
Er runzelte die Stirn und rieb sich sein stoppeliges Kinn. »Das ist der Extremfall, aber bei einer Souterrainwohnung am Fluss und offener Flutbarriere liegt die Überflutungswahrscheinlichkeit bei etwa hundert Prozent. Wenn ich Sie wäre, würde ich alles mitnehmen, was wertvoll oder unersetzlich ist.« Er zögerte einen Augenblick und sah flüchtig an ihr vorbei in den Flur. »Benötigen Sie Hilfe mit Kindern oder Tieren?«
Seine Worte trafen sie, sogar so früh am Morgen und in dieser Situation.
»Nein, hier wohne nur ich.« Kein Kind, kein Haustier; Scarlet war allein, wie neuerdings immer. Fühlte sich unwürdig, ungeliebt, einsam. Und selbst als ihr Leben plötzlich zu einem Katastrophenfilm wurde, ließ sie die Erinnerung an ihr Alleinsein nicht kalt. Es fühlte sich an, als würde ein Messer in ihre Brust gedrückt werden.
Der Polizist hatte sich bereits abgewendet. »Ich komme später noch einmal vorbei.« Seine Stiefel klangen dumpf auf dem Bürgersteig. Dann warf er einen Blick zurück. »Und es tut mir wirklich leid.« Er lächelte sie mitfühlend an und lief zum nächsten Haus.
Scarlet sah ihren Nachbarn von der anderen Straßenseite und winkte ihm zu.
Mark war ein kahl werdender Mann, der immer scheußliche Fleecepullover mit Tiermustern trug. Heute Morgen war es nicht anders. Dazu hatte er eine schäbige Jeans und eine Pudelmütze angezogen. In den zwei Jahren, die sie hier inzwischen lebte, hatte sie nur zweimal mit ihm gesprochen.
Sie rieb sich die Augen. »Eine Überschwemmung mitten in der Nacht. Ist das zu fassen?«, rief sie über die Straße.
Mark bewegte sich wie in Zeitlupe. »Ich bin hierhergezogen, um den Überschwemmungen zu entkommen. Und jetzt öffnen sie die Barriere. Mir fehlen die Worte.« Er schüttelte den Kopf und trat auf dem Weg in sein Haus gegen den Türrahmen.
In der Tür stehend blickte Scarlet die Straße entlang. Überall blitzten die Taschenlampen von Polizisten auf und in einem schockierten Murmeln verbreitete sich die Nachricht. In jedem Haus brannten die Lichter, doch hier draußen regte sich kein Lüftchen. Die Nacht wirkte so unschuldig. Es wirkte nicht, als würde gleich etwas Gewaltiges passieren. Die Ruhe vor dem Sturm.
Sie ging zurück in ihre Wohnung und ließ die Eingangstür ins Schloss fallen. Sie lehnte ihre Stirn gegen die kühle Wand des Flurs und lauschte ihrem laut klopfenden Herzschlag.
Bumm, bumm, bumm.
Eine halbe Stunde.
Erst letzte Woche hatte sie sich mit dem Thema Suizid beschäftigt und darüber nachgedacht, wie das wohl wäre. Einen Stuhl wegtreten, sich erhängen, eine Überdosis Tabletten schlucken. Schlussendlich verlangten alle Methoden Recherche und dafür fehlte ihr die Energie. Also hatte sie davon abgesehen. Jetzt fragte sie sich, ob das ein Fehler gewesen war. Wenn sie tot wäre, müsste sie sich dieser Katastrophe jetzt nicht stellen, nicht wahr?
Sie könnte einfach in ihrer Wohnung bleiben und aufs Wasser warten. Würde sie vermisst werden? Scarlet bezweifelte es. Auf der Arbeit würde ihr Fehlen auf die Überschwemmung geschoben werden. Und in wenigen Wochen wäre sie vergessen, nur jemand, den ihre Mitarbeiter einmal gekannt hatten. Und sie hatte seit Monaten nicht mit ihren Brüdern gesprochen. Wie lange würde es dauern, bis Fred und Clark ihr Verschwinden bemerkten?
Ihre Abwesenheit würde nur am Spielfeldrand des FC Dulshaw, ihrem heiß geliebten lokalen Fußballverein, auffallen. Matt und Eamonn würden ganz sicher ihr Fluchen vermissen. Beide waren fast vierzig und trotzdem amüsierte es sie jedes Mal, dass eine Frau sich genauso heftig ausdrücken konnte wie sie.
Scarlet nahm einen Rucksack aus ihrem Schrank und packte die wichtigsten Sachen ein: Geldbörse, Ausweis, Handy, Tablet, Laptop. Sie betrachtete ihr Hab und Gut im Wohnzimmer. Wollte sie irgendetwas davon behalten? Regale voller Bücher und CDs. Die Geschichten, die ihr Leben ausmachten. Und sie konnte sie nicht mitnehmen. Ein Ansturm des Bedauerns überkam sie und ihr Atem stockte. Sie schloss die Augen und wartete darauf, dass es vorbeiging.
Sie erinnerte sich an ein früheres Leben, an glücklichere Zeiten. Scarlet, Liv, Nancy und Sarah im The Golden Lion. Vor ihnen auf dem Tisch vier Gläser Bier und eine offene Tüte Chips für alle. Laute Musik, gerötete Wangen, getrübte Sinne. Für mehr als ein Jahr war das ihre Routine gewesen: gemeinsames Mittagessen im Pub am Sonntag, hinterher einige Bier und schräge Unterhaltungen über ihre Zukunft. Und nach ein paar Bier im Pub hatten ihre Freundinnen einmal gefragt: »Dein Haus brennt lichterloh und du hast nur wenige Minuten, um rauszukommen. Was nimmst du mit?«
Liv hatte ihren Hund Alfie, Schmuck und ihre Fotos genannt. Nancy ihre Plattensammlung – sie war verrückt nach Vinyl. Sarah konnte sich nicht entscheiden, was sie mitnehmen sollte, daher spekulierten die anderen, sie würde lebendig verbrennen.
Scarlet hatte gesagt, dass sie einfach gehen und keinen Gedanken an ihren Besitz verschwenden würde. »Das sind nur Gegenstände«, meinte sie. »Alles ersetzbar. Bis du deine Platten eingesammelt hast, bist du längst an einer Rauchvergiftung gestorben.«
Jetzt stand sie an einem vermeintlich friedlichen Januarmorgen in ihrem Wohnzimmer und war sich damit nicht mehr so sicher. Sie war hin- und hergerissen zwischen Panik und Starre, Aktionismus und Resignation. Sie wollte ihre Bücher und CDs nicht verlieren. Oder ihre Fotos. Sie war mit ihrem Leben vielleicht unglücklich, aber sollte sie wirklich zulassen, dass all ihre Erinnerungen weggeschwemmt wurden, als wären sie unbedeutend?
Nein! Sie riss hektisch ihren größten Koffer auf und warf Sachen hinein. Kleidung, Schuhe, Fotos, Kosmetik. Sie rannte vom Bad ins Schlafzimmer und dann die Küche. Wo war Moms Lieblingstasse von ihrer Silberhochzeit? Die konnte sie nicht zurücklassen; sie gehörte zu den wenigen Dingen, die ihr von ihrer Mutter geblieben waren. Scarlet öffnete den Schrank über dem Herd, schob Tassen hin und her, fand sie dort allerdings nicht. Sie suchte das Regal ab; nichts zu sehen. Sie sah zum Abtropfbrett neben der Spüle – da stand sie nicht. Sie riss die Spülmaschine auf und entdeckte die Tasse, noch voller Teeflecken vom Vortag. Zum Ausspülen war es zu spät. Sie wickelte die Tasse in einen Pullover ein.
Dann warf Scarlet einen Blick auf ihre Armbanduhr – wie viel Zeit blieb ihr? Wahrscheinlich etwa zehn Minuten. Ihr Koffer war fast voll und ihr Kopf im Gegensatz dazu wie leergefegt.
Das echte Leben funktionierte nicht wie Kneipenspielchen. Im echten Leben hatten ihre Entscheidungen auch Konsequenzen. Sie hätte alles dafür gegeben, wieder glücklich im Pub zu sitzen.
Beim Zähneputzen kamen ihr die Tränen. Sie schluckte sie herunter und erstickte fast an der Zahnpasta. Sie spuckte aus und musterte ihr Gesicht im Badezimmerspiegel, den sie schon vor Wochen putzen wollte.
Das war jetzt egal.
Alles war egal.
Sie war stolz auf ihre Wohnung. Die eine Sache, die ihr noch geblieben war, die nur ihr gehörte. Nach der Trennung von Liv. Nachdem ihre sorgsam verwobenen Leben auseinandergerissen wurden – und ihr empfindliches Herz dazu.
Scarlet atmete tief durch. Die letzten Momente, die sie in ihrer Wohnung verbringen würde. Sie stand schon wieder kurz davor, in Tränen auszubrechen. Langsam atmete sie aus und versuchte, sich zusammenzureißen. Ja, sie würde ihren sicheren Hafen verlieren, aber sie durfte jetzt nicht weinen. Dafür hatte sie keine Zeit.
Sie zog sich schnell Jeans, T-Shirt und ihren Lieblingspullover an, dazu Turnschuhe und Mantel. Sie konnte nicht alle Jacken mitnehmen. Sie konnte Moms Kunstpelzmantel nicht mitnehmen.
Sie schluckte.
Scheiß drauf.
Scarlet öffnete den Koffer und stopfte den Pelz hinein. Sie setzte sich drauf, damit er zuging. Das klappte. Ihr war klar, dass sie bei einer Überflutung keinen Pelzmantel brauchen würde, aber er war eines der wenigen Erinnerungsstücke, die sie nach dem Tod ihrer Eltern aus deren Haus mitgenommen hatte. Den und das restliche Geschirr, aber das konnte sie nicht auch noch einpacken. Sie hatte die Tasse, das musste reichen.
Dann erblickte sie die Gitarre. Sollte sie die zurücklassen? Scarlet hob das Instrument an. Ein weiteres Symbol eines besseren, harmonischeren, aber vergangenen Lebens. Sie konnte die Gitarre nicht hierlassen, auch wenn sie seit mehr als einem Jahr nicht gespielt hatte. Scarlet stieg auf einen Stuhl und zog den Gitarrenkoffer vom Schrank herunter. Behutsam legte sie das Instrument hinein und verschloss den Koffer.
Vielleicht würde die Überschwemmung nicht so schlimm werden, wie vermutet. Andererseits waren Souterrainwohnungen und Wasser nicht die beste Kombination. Sie sollte von dem Schlimmsten ausgehen, das wusste sie. Aber ihre Uhr, die sie auf dem Flohmarkt in Lissabon erworben hatte, nie wieder zu sehen? Andererseits hatte sie die mit Liv zusammen gekauft. Wenn sie es sich recht überlegte, war zumindest dieser Verlust vielleicht ein Segen.
Ihre Beine fühlten sich bleischwer an, wollten sich nicht bewegen. Sie betrachtete das Bild an der Wand, auf dem die Berge der Umgebung zu sehen waren. Ein Foto, auf das sie stolz war und das ihr sehr viele Komplimente eingebracht hatte.
Es würde kein Problem sein, es einfach noch einmal drucken zu lassen.
Ein lautes Klopfen riss sie aus ihren Gedanken.
Diesmal erschrak Scarlet allerdings nicht. Sie lief noch einmal durch jedes Zimmer und prüfte, ob sie etwas Wichtiges vergessen hatte. Eigentlich genau so, wie sie es tat, wenn sie für ein paar Tage verreiste und kurz vor der Abfahrt kontrollierte, ob Licht, Ofen und Bügeleisen ausgeschaltet waren.
Doch wer wusste, was sie dieses Mal bei ihrer Rückkehr vorfinden würde? Sie konnte es sich nicht einmal vorstellen.
Sie kontrollierte ihr Schlafzimmer. Es war ihr nicht gelungen, daraus ihr Allerheiligstes zu machen. Sie war nie in der richtigen Stimmung dafür gewesen.
Als Nächstes das Badezimmer – ihr Lieblingsraum in der Wohnung. Ihre luxuriöse Regenwalddusche. Die Mosaikfliesen. Sie hatte das Bad in Anlehnung an eins gestaltet, das sie damals in Mailand gesehen hatte. Sie atmete tief durch.
Vielleicht würde es erhalten bleiben.
Vielleicht.
Das Klopfen an ihrer Tür wurde lauter.
Scarlet griff Koffer, Rucksack und Gitarre und ging die Treppe hinauf. Jeder Schritt schien das Schicksal ihrer Wohnung mehr zu besiegeln. An der Vordertür angekommen, drehte sie sich um und warf einen letzten Blick zurück. Ihr Flur in Taubenblau. Ihr altmodischer, hölzerner Hutständer. Die Glühbirne an der Decke, für die sie noch einen perfekten Schirm ausgesucht hätte. Sie wollte nicht gehen, aber sie musste.
Als sie die Tür öffnete, stand der Polizist, der zuvor geklopft hatte, wieder dort. Er schaute gerade besorgt über seine Schulter nach hinten, wandte sich dann aber wieder Scarlet zu.
»Bereit?«, fragte er. »Wir haben einen Transporter, in den Sie Ihren Koffer legen können, wenn Sie möchten. Wir bringen die größeren Gepäckstücke zum Gemeindezentrum. Alles andere müssten Sie tragen.«
Scarlet blickte über seine Schulter und sah ihre Nachbarn, die in der kühlen Dunkelheit ihre Koffer in einen weißen Ford Transit einluden. Es war gespenstisch still. Nur Schritte und das dumpfe Auftreffen der Gepäckstücke auf der Ladefläche waren zu hören. Niemand sagte etwas. Was sollten sie schon sagen? Scarlet nickte und gab dem Polizisten ihren Koffer.
»Ist das alles?«, fragte er. Sein Tonfall vermittelte Scarlet den Eindruck, dass er diese Frage heute Morgen schon mehrfach gestellt hatte.
Sie nickte noch einmal. »Ja.« Ihr Leben, ihr wichtigster Besitz, alles in einem harten, schwarzen Koffer verstaut, schlicht und unauffällig. Genau wie Scarlet.
»Okay«, antwortete er. »Ich muss sichergehen, dass Sie draußen sind. Wir wollen ja nicht, dass jemand ertrinkt.« Sein letzter Satz wurde von einem Lächeln begleitet.
Scarlet war nicht in Stimmung für Witze. Sie seufzte, ertastete prüfend ihre Schlüssel in ihrer Hosentasche und schob sich den Rucksack über die Schulter. Schweren Herzens nahm sie schließlich ihre Gitarre und zog ihre Vordertür ein letztes Mal hinter sich zu.
Kapitel 2
Scarlet war bisher nur zweimal im Gemeindezentrum gewesen. Das erste Mal für die Wahl zum Unterhaus, bei der ihre Seite allerdings verloren hatte. Und das zweite Mal bei den Kommunalwahlen – dabei hatte ihre Stimme zum Gewinn beigetragen. Ratsvorsitzender der Labour-Partei wurde ein Mann namens George, der Scarlet sympathisch war. Darüber hinaus wählte der Rat dann eine Frau ins Bürgermeisteramt, die jüngste Amtsträgerin aller Zeiten – jünger als Scarlet, unter vierzig. Die örtlichen Tageszeitungen hatten das als eine Riesensensation behandelt. Joy Hudson war frisch geschieden und sah nicht schlecht aus, wenn man die Sorte »blondes Gift« mochte. Scarlet stand eher auf Brünette.
Allerdings hatte die Bürgermeisterin sich in letzter Zeit nicht an ihr Versprechen gehalten, die Fußballmannschaft des Ortes gegen die Immobilienentwickler zu verteidigen, die den Sportplatz planieren wollten, um dort Wohnkomplexe zu bauen. Die eine Sache, die Scarlet wirklich am Herzen lag, war der FC Dulshaw. Sie ging nicht mehr oft mit ihrer Familie oder Freundinnen aus, aber sie besuchte jedes Dulshaw-Heimspiel bei jedem Wetter. Manchmal war sie nicht sicher, ob ein Leben ohne das Fußballteam für sie lebenswert war.
Die Wände des Gemeindezentrums hatten die gelbliche Farbe von saurer Milch. Überall waren elektrische Heizkörper verteilt, die den Raum erwärmen sollten, doch dadurch stank die Luft nach verbranntem Haar, vermischt mit dem Geruch von verschwitzten Körpern.
Es war der Geruch, der Scarlet zuerst traf. Sie rümpfte die Nase und ihr Magen rebellierte.
An einer Seite des Saals war eine lange Reihe Feldbetten aufgebaut. Eltern versuchten dort vergeblich, ihre Kinder zum Einschlafen zu bringen. Scarlet bezweifelte allerdings, dass irgendjemand in nächster Zeit schlafen konnte, denn die Neonröhren strahlten hell über ihren Köpfen und das Zuteilen von Schlafplätzen und Vorräten sorgte für einen enormen Lärmpegel. Andere Erwachsene und Kinder liefen mit entmutigten Gesichtern umher.
Es fühlte sich surreal an, dass dies ihre tatsächliche Realität war. Dass alles einfach weg war. Sie könnte es natürlich positiv betrachten, als sauberen Schnitt für einen Neuanfang. Einerseits war die Vorstellung eines Neubeginns zwar verlockend, andererseits hatte sie jedoch panische Angst davor. Sie hatte schon einmal versucht, sich neu zu erfinden – und das hier war dabei herausgekommen.
»Sind Sie allein hier?« Eine Frau tauchte neben Scarlet auf. Ihre Wangen waren rosig und ihr zerzaustes Haar hatte offensichtlich seit langer Zeit kein Pflegeshampoo mehr gesehen. Ihr Lächeln zeigte schräge Zähne.
Scarlet nickte. »Nur ich, meine Gitarre und mein Rucksack.« Sie hob zur Verdeutlichung ihren Gitarrenkoffer an. In weniger als zwei Stunden hatten ihr zwei Fremde in Erinnerung gerufen: Ja, sie war vollkommen allein.
Die Frau nickte viel zu begeistert. »Das ist ja schön«, sagte sie. »Sie können uns später gern etwas vorsingen, wenn wir ein wenig aufgemuntert werden müssen. Aber keine Lieder über Wasser.«
Scarlets Magen schien sich erneut zu verkrampfen. »Nur Lieder, die von festem Boden handeln, versprochen.«
Die Frau streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Sue. Suchen Sie sich einen Platz; da hinten sind noch ein paar Alleinstehende. Und wenn Sie eine freie Decke finden, nehmen Sie die ruhig mit.«
Scarlet blickte in die hintere linke Ecke des Saales, wo einige Männer und Frauen saßen und sich unterhielten.
Eine Ecke für Singles. Deprimierender ging es wirklich nicht. »Ecke der Verdammnis« wäre noch eine bessere Bezeichnung. Dort, wo alle den Verliererhut trugen und einer von ihnen die Totenglocke läutete.
Sue verzog das Gesicht. »Ich fürchte, die Betten sind für Familien reserviert. Aber im Küchenbereich gibt es Tee, Kaffee und Sandwiches. Und wenn Sie sich etwas zu trinken geholt haben, registrieren Sie bitte Ihre Ankunft bei Simon am anderen Ende des Saals.«
Scarlets Blick folgte Sues Geste zu einer Küche auf der rechten Seite, die mit genau der Sorte tüchtiger Frauen besetzt war, die bei solchen Gelegenheiten immer zur Stelle waren: robust, stoisch, mit Strickjacke bekleidet. Selbst hier, auf der anderen Seite des Saals, irritierte die irrationale Fröhlichkeit der Frauen Scarlet.
Das Ausschlussprinzip verriet ihr, dass der Mann mit Klemmbrett und einer Schlange ungeduldiger Leute vor sich nur Simon sein konnte. Er hatte einen Bart und trug einen sackartigen Wollpullover. Das war die Art Kleidungsstück, die man auf Reisen fand und für interessant hielt, die einen zu Hause in Nordengland aber wie einen Trottel aussehen ließ.
»Verstanden«, sagte Scarlet, aber Sue hatte sich bereits abgewandt, um den nächsten Ankömmling zu begrüßen. Ein Mann, den Scarlet aus dem örtlichen Fitnessstudio kannte. Nicht, dass sie regelmäßig hingehen würde. Erst recht nicht, seit ihre Mitgliedschaft abgelaufen war und sie es aufgegeben hatte, gut leben zu wollen.
Scarlet stieg über einen Stapel Koffer, der vor ihr auf dem Boden stand, und folgte dem schmalen Pfad zwischen Schuhen, vollgestopften Einkaufstaschen, Mänteln und Tischen zu beiden Seiten.
In der Küche nahm sie einen Becher lauwarmen schwarzen Kaffee von einer breit lächelnden Frau entgegen, deren Haar sich vor lauter Haarspray nicht einen Zentimeter bewegte. Sie musste lange vor Scarlet von der Evakuierung erfahren haben, wenn sie noch genügend Zeit gehabt hatte, sich zurechtzumachen.
Scarlet trat zur Seite, bevor die Frau sie in ein Gespräch verwickeln konnte. Sie war heute Morgen nicht in Stimmung für Small Talk. Nicht, nachdem gerade ihre Welt auf den Kopf gestellt worden war.
Scarlet trat ein wenig näher an zwei Frauen zu ihrer Linken heran, die lauthals miteinander sprachen. Sie war immer schon sehr neugierig gewesen. Außerdem wollte sie sich ein wenig von ihrer Situation ablenken.
»Im Haus der Bürgermeisterin?« Der Teint der Sprecherin war dunkel und sie hatte ein gewinnendes Lächeln auf den Lippen.
Ihre Freundin, die im Gegensatz zu ihr weiß wie ein Gespenst war, nickte. »Gerade eben. Die Bürgermeisterin hat ihre Türen geöffnet. Jemand war hier und hat Leute dafür ausgewählt. Daniel war auch dabei.«
Die erste Frau schnalzte mit der Zunge. »Typisch. Wir schlafen auf dem Boden des Gemeindezentrums und Daniel lebt wie die Made im Speck. Der Junge ist ein richtiger Glückspilz, das sag ich dir.« Die Frau schüttelte ihren Kopf.
Scarlet ließ diese Information sacken. Sie sah sich um und stellte fest, dass in der Singles-Ecke keine freie Decke zu sehen war. Der Krach und das grelle Licht verursachten ihr Kopfschmerzen.
Einige Leute waren ins Haus der Bürgermeisterin eingeladen worden. Sie hatte die Bürgermeisterin ein paar Mal bei Fußballspielen getroffen. Damals, als sie noch behauptet hatte, alles zu versuchen, um den Gemeinderat wegen der Baugrundentwicklung unter Druck zu setzen. Entscheidend war jedoch, dass Scarlet für den Gemeinderat arbeitete und daher wusste, wo die Bürgermeisterin wohnte. Zehn Minuten zu Fuß von hier. Gar nicht weit. Was wäre, wenn Scarlet jetzt zu dem Haus ginge und vorgab, dorthin geschickt worden zu sein? Vielleicht würde sie ja auch aufgenommen werden?
Scarlet brauchte keine dreißig Sekunden, um eine Entscheidung zu treffen. Sie trank einen Schluck Kaffee, warf sich ihre Tasche über die Schulter, griff ihre Gitarre und ging los. Sie folgte dem improvisierten Weg zurück, passierte Sue und trat zurück auf die belebte Straße, die in frühmorgendlicher Dunkelheit lag. Vom Gemeindezentrum aus ging sie nach links, die Culverdale Avenue entlang, dann den Hügel hinauf. Dem Haus der Bürgermeisterin drohten jedenfalls keine Überschwemmungen.
Auf halbem Weg fragte sie sich, ob das so eine gute Idee war. Was, wenn die Bürgermeisterin sie nicht erkannte? Was, wenn niemand aufmachte? Wäre sie besser geblieben und hätte sich einen Platz auf dem staubigen Boden des Gemeindezentrums gesichert? Würde Sue sie überhaupt wieder hereinlassen? Sie hatte jetzt allerdings keine Zeit, sich länger mit diesen Zweifeln zu beschäftigen. Mit dem Verlassen des Zentrums stand ihre Entscheidung.
Scarlet spürte die eisige Kälte nicht länger. Sie war erfüllt von Adrenalin und nervöser Erwartung. Den letzten Teil des Weges sprintete sie fast, um vor der Überschwemmung drinnen zu sein. Sie wusste nicht einmal, ob sie von der Flut in diesem Teil der Stadt überhaupt etwas mitbekommen würde. Eines war jedoch sicher: Sie wollte es nicht allein auf der Straße herausfinden.
Scarlet erreichte die Vordertür des Hauses und klopfte viermal. Ihr Klopfen wirkte zuversichtlich, selbstsicher. Es signalisierte, dass sie nicht zum ersten Mal hier war. Gleichzeitig versuchte sie, den Schweiß zu ignorieren, der ihren Rücken hinunterrann. Sie rieb sich die Finger, um sie aufzuwärmen.
Und sie wartete.
Bevor sie erneut klopfen konnte, öffnete sich die Tür. Es war die Bürgermeisterin selbst; Scarlet hatte nicht damit gerechnet, dass sie persönlich die Tür öffnen würde.
Völlig verblüfft stand Scarlet in der Tür und suchte nach den passenden Worten. Sie fand keine.
Die Bürgermeisterin betrachtete erst Scarlet, dann fiel ihr Blick auf den Gitarrenkoffer in ihrer Hand. Sie zog eine Augenbraue hoch und lächelte.
»Maria von Trapp um fünf Uhr morgens an meiner Tür – dieser Tag wird immer schräger. Ihnen fehlt allerdings der breitkrempige Hut.« Die Bürgermeisterin trat einen Schritt zur Seite. »Kommen Sie herein.« Sie winkte Scarlet wie eine Verkehrspolizistin durch die Tür. »Aber ich muss Sie warnen, ich mag Julie Andrews, bin aber kein Fan von Meine Lieder – Meine Träume.«
»Ich auch nicht, keine Sorge«, antwortete Scarlet beim Eintreten in den Flur.
Die erste Hürde hatte sie gemeistert; ihr Plan würde funktionieren. Sie war erleichtert. Eine der schlimmsten Nächte ihres Lebens würde sie wenigstens an einem warmen und einladenden Ort verbringen.
Scarlets Füße versanken förmlich in dem flauschigen grauen Teppich. Die Tapeten waren in einem dunklen Olivgrün gehalten, der perfekt zu dem viktorianischen Stil der Einrichtung passte. An den Wänden hing abstrakte Malerei und die Fenster waren mit schweren Vorhängen verhangen. Sie mochte den Stil. Obwohl sie wütend darüber war, wie die Bürgermeisterin ihren Fußballclub hängen ließ, fühlte Scarlet sich gleich wohl. Und über Fußball konnten sie immer noch ein anderes Mal diskutieren.
»Eiskalt da draußen, nicht wahr?«, fuhr die Bürgermeisterin fort. »Ich dachte, inzwischen wären alle angekommen, aber ich bin froh, dass Sie das Haus noch gefunden haben.« Ihre Miene war freundlich, ihre Zähne strahlend weiß. Scarlets Schneidezähne waren beim Hockeyspielen an der Universität ausgeschlagen worden und der Zahnersatz leuchtete neonfarben unter ultraviolettem Licht. Die Zähne der Bürgermeisterin waren dagegen so natürlich weiß, dass es Scarlet bereits auf dem Fußballplatz aufgefallen war.
Selbst zu dieser frühen Stunde war die Bürgermeisterin gut gekleidet, auch wenn Scarlet sie noch nie so leger gesehen hatte. Außer Dienst und in ihrem Zuhause trug die Bürgermeisterin eine enganliegende Jeans und ein puderblaues Oberteil, das ihre leuchtend blauen Augen betonte.
»Ja, ich bin ein wenig zu spät losgegangen«, sagte Scarlet. »Ich bin so schnell gerannt, wie ich konnte.«
Die Bürgermeisterin nickte. »Sogar mit der Gitarre? Respekt. Ich habe zwar die freien Schlafzimmer bereits zugeteilt, aber Sie können das Schlafsofa in meinem Büro nehmen.« Sie hielt inne. »Aber erst sollten Sie den nassen Mantel ablegen.«
Scarlet stellte Rucksack und Gitarre ab, zog ihre Jacke aus und glättete schnell ihren Pullover. »Das klingt großartig«, antwortete sie. »Viel besser als meine Wohnung, die bei meiner Rückkehr ein pitschnasses Chaos sein wird, wie die Polizei meinte.«
Die Bürgermeisterin hing Scarlets Jacke über einige andere an der Garderobe. »Das ist schrecklich, aber es war notwendig. Sonst wäre ein viel größeres Gebiet überschwemmt worden. Nach der Überflutung der Pumpstation hatte die Umweltbehörde keine andere Wahl, denn sie befürchteten einen Kurzschluss.« Sie stemmte eine Hand in ihre Hüfte. »Natürlich macht es das für die Betroffenen nicht einfacher. Ich bin selbst gerade erst zurückgekommen – wir wurden alle nach Hause geschickt, bevor die Leute am Damm ihr Vorhaben in die Tat umsetzen.« Sie seufzte. »Wie in einem Katastrophenfilm, nicht wahr?«
»Nur dass es real ist«, antwortete Scarlet und starrte sie an. »Schrecklich real.«
Die Bürgermeisterin nickte. »Ich weiß.« Sie trat einen Schritt näher und betrachtete Scarlet genauer. »Wir kennen uns, oder?« Sie dachte einen Moment lang nach. »Arbeiten Sie für den Gemeinderat?«
Scarlet nickte. »Ja. Mein Name ist Scarlet Williams. Wir haben uns auch bei Spielen des FC Dulshaw getroffen. Ich bin ein großer Fan des Vereins.«
Bei der Erwähnung des Fußballvereins glitt der Blick der Bürgermeisterin kurz zu Boden. »Ach ja. Dann halten Sie im Moment vermutlich nicht so viel von mir, habe ich recht?«
Scarlets Wangen fühlten sich heiß an. Als hätte die Bürgermeisterin geahnt, dass sie erst wenige Augenblicke zuvor darüber nachgedacht hatte. Die Situation machte sie aber gerade zu Scarlets Lieblingsperson. »Es ist nett, dass Sie mich bei sich aufnehmen. Vergessen wir den Fußball erst mal – heute ist das Thema nicht unbedingt an erster Stelle meiner Sorgen.«
Die Bürgermeisterin sah Scarlet direkt in die Augen, dann nickte sie. »Das ist sicher das Beste. Nur damit Sie es wissen, ich bin immer noch auf Ihrer Seite, aber der restliche Gemeinderat ist nicht einfach zu überzeugen.« Sie seufzte. »Möchten Sie in der Küche etwas trinken? Dort sind auch die anderen. Ich werde sie Ihnen vorstellen.«
»Gern«, antwortete Scarlet.
~ ~ ~
Die anderen Katastrophengäste waren der besagte Glückspilz Daniel und sein Freund Harry sowie das junge Paar Joe und Daisy. Die beiden besaßen ihre Wohnung, die nur wenige Minuten von Scarlets Zuhause entfernt war, erst seit drei Monaten.
»Letzte Woche wurde unser Sofa geliefert.« Daisys Mimik verriet, dass sie ihren Verlust noch nicht fassen konnte. Aber der Schock würde sicher nicht mehr allzu lange andauern.
Nach einer Tasse Tee und ein paar Keksen zogen sich alle in ihre zugeteilten Schlafzimmer zurück und nur Scarlet und die Bürgermeisterin blieben in der Küche. Für einen Moment war es still, dann ging die Bürgermeisterin um die Frühstückstheke herum in Richtung der Tür.
»Wollen wir ins Büro gehen und Ihr Bett aufstellen?«, fragte sie, doch dann zögerte sie. »Oder kann ich Ihnen etwas Stärkeres als Tee anbieten? Ich denke, das haben wir uns heute Nacht verdient.«
Scarlet lächelte grimmig. »Stärker als Tee klingt gut.«
Das Haus der Bürgermeisterin war nicht ganz so groß, wie Scarlet vermutet hatte. Das Wohnzimmer lag vom quadratischen Flur ausgehend am hinteren Ende des Erdgeschosses. Abgesehen vom Flur war die Ausstattung modern, mit ein paar persönlichen Akzenten, die das Haus wohnlich machten. Bei einer Person, die ihr ganzes Leben in dieser Gegend verbracht hatte, war ein solcher Stil ungewöhnlich.
Scarlet hatte wenigstens eine Ausrede – ihr war schon einmal das meiste ihrer Einrichtung entrissen worden und sie hatte von vorn anfangen müssen. Und jetzt würde sie das noch ein zweites Mal in Angriff nehmen.
Im Wohnzimmer standen sich zwei große cremefarbene Sofas gegenüber. Der Fernseher war geschickt unauffällig auf einem Regal vor einer dunklen Wandverkleidung angebracht. Die restlichen Wände waren weiß gestrichen und vor einem Holzofen lag ein cremefarbener Teppich auf dem polierten Dielenboden. Der Raum wirkte wie aus einem Katalog. Scarlet hatte fast Angst, sich zu setzen und damit womöglich einen Abdruck zu hinterlassen.
»Bitte«, sagte die Bürgermeisterin und wies auf das erste Sofa. »Und nennen Sie mich doch Joy. Sie müssen nicht Frau Bürgermeisterin oder dergleichen zu mir sagen.«
Scarlet wusste das, hatte es aber bisher vermieden, sie direkt anzusprechen. »Danke, Joy«, antwortete sie und setzte sich. Ihr Körper sank in die weichen Kissen und zum ersten Mal, seit sie so unsanft geweckt worden war, konnte sie sich entspannen. Scarlet seufzte, als das Adrenalin abflaute und das Pochen in ihren Schläfen leicht nachließ.
Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war noch vor sechs Uhr morgens. Sie war erst vor zwei Stunden geweckt worden, doch sie hatte das Gefühl, schon stundenlang wach zu sein, gefangen in dieser neuen Realität.
»Single Malt?«
Scarlet drehte sich um und erblickte Joy an einer Anrichte aus Teakholz, deren geöffnete Mitteltür eine Hausbar freigab, komplett mit Beleuchtung und Spiegel. So etwas hatte sie bisher nur in Filmen gesehen.
Sie stand wieder auf und trat näher an die Bar heran. »Single Malt klingt wunderbar.« Vorsichtig strich sie mit den Fingern über das glatte Holz. »Das ist cool, wie aus einem James-Bond-Film.«
»Ich kann Ihnen auch einen Dirty Martini machen. Geschüttelt, nicht gerührt?«, sagte Joy mit einem Lächeln auf den Lippen.
Scarlet schüttelte den Kopf und lächelte zurück. »Single Malt reicht.«
Joy nahm ein Whiskyglas von einem Regal in der Bar, schenkte Scarlet großzügig ein und reichte ihr das Getränk.
Scarlet bedankte sich und nahm wieder auf dem Sofa Platz. Es irritierte sie, wie normal sich diese Situation trotz allem anfühlte. Während sie Whisky trinkend auf dem Sofa der Bürgermeisterin saß, lag ihr ganzes Leben auf Eis und wartete darauf, zu ertrinken.
Joy setzte sich auf das Sofa ihr gegenüber und prostete Scarlet zu. »Cheers«, sagte sie. »Machen wir das Beste aus einer fürchterlichen Nacht.«
Scarlet verzog das Gesicht und hob ebenfalls ihr Glas. »Cheers.« Sie trank einen Schluck von der goldenen Flüssigkeit, genoss den Geschmack in ihrem Mund für einen Augenblick und ließ den Whiskey dann ihre Kehle hinunterrinnen. Sofort breitete sich Wärme in ihrem Körper aus. Sie lehnte sich zurück und ließ sich von dem Gefühl trösten.
Für eine Weile saßen sie still da und nippten an ihren Drinks.
Scarlet hatte nicht erwartet, an diesem Morgen ausgerechnet hier zu enden.
»Hatten Sie für heute irgendetwas geplant?«
Scarlet blinzelte. Welcher Tag war es? Samstag. »Normalerweise würde ich zum Fußballspiel gehen.« Sie dachte darüber nach, wie ihre Samstage davon abgesehen aussahen. »Sonst nichts Besonderes.«
Ihr Samstagsprogramm bestand nur daraus, sich mit Eamonn und Matt das Spiel anzusehen. Kein ausgeprägtes Sozialleben, aber es war der Tag, auf den sie sich die ganze Woche freute. Samstage außerhalb der Fußballsaison waren dagegen genauso trostlos wie Sonntage, wenn nicht sogar schlimmer, weil Scarlet da schmerzlich bewusst war, was ihr fehlte. Und Sonntage waren am schlimmsten. Im Büro hatte sie wenigstens Beschäftigung. Für Scarlet war Freizeit ein Feind, dem nicht zu trauen war. Die freien Stunden schienen wie ganze Tage – und diese Tage dauerten ewig.
Joys Gesichtsausdruck wirkte gequält. »Ah, ja, der Fußballplatz. Wissen Sie, wenn das hier vorbei ist, können wir uns gern darüber unterhalten. Das Gelände ist von zunehmendem politischen Interesse, wie Sie sicher schon gelesen haben.«
Scarlet nickte. »Das habe ich.« Die Investoren, die auf dem Vereinsgelände bauen wollten, hatten viele Verbindungen in den Gemeinderat, deshalb waren die Pläne trotz Joys Unterstützung nicht so schnell und kategorisch zurückgewiesen worden, wie die Fußballfans gehofft hatten.
»Ich liege aber immer noch einigen der Ratsmitglieder in den Ohren, glauben Sie mir«, fügte Joy hinzu. Ihr Gesichtsausdruck zeigte eine Aufrichtigkeit, die Scarlet zu schätzen wusste.
»Wie steht es mit Ihren Plänen für das Wochenende?«
Joy seufzte daraufhin schwer. »Die Amtszeit einer Bürgermeisterin beträgt nur ein Jahr. Das bedeutet, zwölf Monate lang einen sehr vollen Terminkalender zu haben. Am Wochenende bin ich normalerweise bei allerlei Pflichtveranstaltungen, sei es eine Eröffnung, Besuche von anderen Bürgermeistern und Politikern oder sonstige öffentliche Auftritte.«
»Da Sie hier sitzen, vermute ich aber, dass Sie die Krisenreaktionsteams nicht leiten müssen?«
Joy schüttelte den Kopf. »Die Polizei, der Ratsvorsitzende und der Krisenstab kümmern sich darum – ich bin vor allem die zivile Leitung, das öffentliche Gesicht der Stadt. Meine Aufgabe ist es, bei Veranstaltungen anwesend zu sein, neue Bibliotheksflügel einzuweihen, Schulfeste zu eröffnen. Ich leite auch den Stadtrat, darf aber keiner der Parteien besonders zugeneigt sein. Ich setze mich aber für Themen ein, die ich für wichtig halte. Mir war klar, dass der Job viel Zeit beanspruchen würde, doch erst im Amt merkt man, wie viele Stunden man wirklich hineinsteckt. Da ich außerdem Vollzeit als Life Coach arbeite, hatte ich in den letzten neun Monaten eigentlich kein Privatleben mehr. Das funktioniert nur, weil ich selbstständig und dadurch flexibel bin.« Sie lächelte. »Aber ich beschwere mich nicht. Und ich werde an diesem Wochenende auch so viel Zeit investieren, wie ich kann, um zu helfen.«
»Ich trinke mit einer lokalen Berühmtheit«, meinte Scarlet.
»Genau«, antwortete Joy lachend. »Aber in drei Monaten bin ich wieder ein einfaches Ratsmitglied. Als ich meiner Großmutter meine Position erklärte, meinte sie, ich würde ein Jahr lang Leibwächterin der Stadt sein, womit sie nicht unrecht hat.« Joy lächelte. »Es war großartig, die offizielle Robe zu tragen und neue Erfahrungen zu sammeln, aber ich freue mich darauf, den Titel weiterzugeben. Ich kann nicht einmal halb so oft auf dieser Couch sitzen, wie ich gern möchte.«
»Es ist großzügig von Ihnen, uns heute Nacht aufzunehmen. Ich bezweifle, dass die anderen Stadträte Ihrem Beispiel folgen.«
Joy winkte ab. »Ich bin froh, helfen zu können. Ich habe genug Platz, also wäre es kleinlich, das nicht zu tun, während andere Menschen ihre Wohnungen und Häuser verlieren. Ich werde einen Aufruf an den Rest der Gemeinde richten, ebenfalls Betroffene aufzunehmen. Eigentlich sollten wir genügend zusätzliche Zimmer zur Verfügung gestellt bekommen, um alle unterzubringen, sodass niemand auf dem Boden des Gemeindezentrums schlafen muss. In Zeiten wie diesen sollten wir alle am gleichen Strang ziehen.«
»Dann hoffen wir, dass unsere Mitbürger sich das zu Herzen nehmen.«
Scarlet hätte selbst nach einer Ansprache wie dieser vermutlich niemanden in ihre Wohnung eingeladen – und dafür schämte sie sich jetzt. Wäre Joy nicht so hilfsbereit, wäre sie immer noch im Gemeindezentrum. Würden viele Leute ihre Türen öffnen? Sie bezweifelte es. Scarlets Erfahrung nach kümmerten sich die Menschen vor allem um sich selbst und sonst niemanden.
Die Bürgermeisterin lächelte Scarlet an. Joys Augen wirkten zärtlich. »Das werden sie. Die Menschen sind von Natur aus gutmütig. So viele haben gleich nachgefragt, ob das Altenheim Hilfe benötigt. Dafür bin ich sehr dankbar, denn meine Großmutter – ich nenne sie meine Gran – lebt dort. Glücklicherweise sind sie nicht betroffen. Es wäre schrecklich, wenn Gran und ihre Freunde mit der Überschwemmung zu kämpfen hätten. Das wäre eine einzige Katastrophe.«
»Daran habe ich gar nicht gedacht«, antwortete Scarlet. »Zum Glück verlief die Evakuierung in meiner Straße mühelos.« Sie hielt inne. »Lebt Ihre Großmutter schon lange dort?«
»Seit fünf Jahren. Ich besuche sie jede Woche. Altenheime haben oft einen schlechten Ruf, aber das hier ist eine tolle Einrichtung, mit liebevollen Mitarbeitern. Und ich bin froh, dass es so weit oben liegt, denn sie haben gerade erst einen wundervollen Gemeinschaftsraum gebaut. Es wäre eine Schande, wenn der ruiniert werden würde.«
Scarlet nickte. Mit ihrem Finger fuhr sie den Rand des Whiskyglases entlang. Früher hatte sie ebenfalls Kristallgläser gehabt. Die hatte sie jedoch bei der Scheidung verloren, wie fast alles. Sie hätte härter kämpfen sollen, doch Liv war besser im Streiten und letztendlich wollte Scarlet einfach, dass es aufhörte. Sie hatte sich dieses Jahr zwei neue teure Gläser geleistet, aber bisher immer nur eins davon gebraucht. Bald würden sie durch die Straßen der Stadt treiben.
»Sie wohnen allein hier, nehme ich an?« Scarlet hatte keine Ahnung, ob Joy einen Partner hatte. Wenn ja, würde der aber wahrscheinlich gerade mit ihnen Whisky trinken.
Joy zögerte einen Moment, ehe sie nickte. »Ja, nur ich wohne hier. Seit Steve ausgezogen ist, bin ich allein.«
~ ~ ~
Warum hatte sie das gesagt? Drei Schlucke Whisky und schon platzte Joy mit Steves Namen heraus. Herrgott noch mal, sie war nicht einmal mehr mit ihm verheiratet, und sie sprach von ihm, als wäre er immer noch ein wichtiger Teil ihres Lebens.
Scarlets Gesicht zeigte kaum eine Regung. »Wer ist Steve?«
Joy hatte angenommen, dass alle darüber Bescheid wussten. »Mein Ex-Mann«, sagte sie mit überraschend fester Stimme. Fest und kontrolliert. »Ich dachte, mein Liebesleben wäre Stadtgespräch. Die örtliche Zeitung thematisiert meine Scheidung schließlich in jedem einzelnen Beitrag. Wie mit ›die frisch getrenntlebende Bürgermeisterin Joy Hudson‹.« Den letzten Teil des Satzes betonte sie mit Anführungszeichen in der Luft und rollte mit den Augen.
Scarlet zuckte mit den Schultern. »Ich komme nicht viel raus«, antwortete sie. »Ich wusste nur, dass Sie geschieden sind, nicht wie Ihr Ex heißt.«
Scarlets Unwissenheit war ein Segen. So kannte sie auch den wahren Grund nicht, warum Joy ihren Mann nach zehn Jahren Ehe verlassen hatte. Den wahren Grund, warum sie das Amt der Bürgermeisterin übernommen hatte; damit sie beschäftigt war und nicht darüber nachgrübelte, wer sie wirklich war.
Aber Joy hatte das Gefühl, dass Scarlet sie nicht verurteilen würde, wenn sie die Wahrheit wüsste. Nein, da war sich Joy sicher.
Im Laufe des letzten Jahres hatte sie nur ihrem Ex und Gran erklärt, warum die Ehe in die Brüche gegangen war. Joy zögerte, es dem Rest der Welt zu offenbaren, auch wenn das vielleicht dumm war. Aber hatte es andere zu interessieren? Nein. Joy würde es allen mitteilen, wenn sie dazu bereit war – und das würde so schnell nicht der Fall sein.
