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Ein modernes Märchen über Mut, Herz und die große Liebe. Prinzessin Olivia Charlton, Vierte in der britischen Thronfolge, glaubt an die große Liebe – was in einem traditionsbewussten Königshaus wie dem ihren eher eine Nebensache ist. Rosie Perkins, durch und durch bürgerlich, hat keine Zeit für romantische Eskapaden, denn sie kämpft darum, ihr Café und ihr Leben über Wasser zu halten. Als Olivia nach Cornwall flieht, um ihren königlichen Pflichten zu entkommen, treffen die beiden aufeinander und es dauert nicht lange, bis die Funken sprühen. Aber können eine Cafébesitzerin und eine Prinzessin wirklich glücklich werden, wenn alles gegen sie spricht? Für dieses Buch haben sich die beiden Bestsellerautorinnen Clare Lydon & Harper Bliss zusammengetan und ein modernes Märchen für ihre Leserinnen geschaffen.
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Seitenzahl: 356
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Inhaltsverzeichnis
Von Harper Bliss außerdem lieferbar
Von Clare Lydon außerdem lieferbar
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
Über Harper Bliss
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Von Harper Bliss außerdem lieferbar
Jenseits der Harmonie
Küsse und Wellenrauschen
Ein Kuss wie kein zweiter
Vielleicht nur dieser eine Kuss
Eine Französin zum Küssen
Zwei Herzen allein, suchend, vereint
Die Erfahrung von Liebe
Ergreif die Sterne
Summer’s End: Eine lesbische Liebesgeschichte
Sommergeflüster zu zweit
Kaffee mit einem Schuss Liebe
Von Clare Lydon außerdem lieferbar
Noch einmal für die Liebe
Was das Herz sich wünscht
Weil es immer noch Liebe ist
Biete Hoffnung, suche Glück
Das Gefühl von Liebe
Bevor du sagst »Ich will«
Kapitel 1
Olivia Charlton ballte die linke Hand zur Faust und versuchte, die Kopfschmerzen, die sekündlich schlimmer wurden, zu ignorieren. Hinter ihr erklangen immer noch das Surren der Kameralinsen und die Rufe der Fotografen mit der Anweisung, sich noch einmal umzudrehen – aber sie blickte nicht zurück. Zwanzig Minuten lang hatte sie posiert und Fragen beantwortet, mehr würde die Presse heute nicht bekommen. Ihr Lächeln war breit, ihr Kopf erhoben und ihre Hand lag in der von Jemima Bradbury, die jetzt ihre Verlobte war.
Es war Anfang Mai, der Himmel blau und wolkenlos, während sich in ihrem Inneren launische Sturmwolken zusammenbrauten.
Erst als sie durch das dicke schwarze Holztor in den Hof des Anwesens trat, ließ sie Jemimas Hand los, lockerte ihre Schultern und seufzte frustriert. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass ihre Eltern sie so kurzfristig – vor weniger als vierundzwanzig Stunden – zu einer Pressekonferenz gezwungen hatten, um ihre Verlobung bekannt zu geben. Das war nicht gerade der Stil ihrer Eltern, was Olivia vermuten ließ, dass sie mit einer Flucht rechneten. Und da hatten sie gar nicht so unrecht.
Als sie aufsah, streckte Jemima ihr leicht lächelnd die Hand entgegen. »Meine Güte, du hast meine Hand so fest gehalten, dass ich mir fast etwas gebrochen hätte. Es wirkt fast so, als wolltest du mich gar nicht heiraten.« Sie unterstrich ihre Bemerkung mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Und was sollte diese Antwort wegen des Heiratsantrags? Du hättest wenigstens eine gute Geschichte erfinden können, damit die Presse bekommt, was sie will. Falls du es vergessen hast, das ist ein fröhlicher Anlass.«
Jemima neigte den Kopf und ihre langen, blonden Haare fielen über ihre gebräunten Schultern. Sie trug einen maßgeschneiderten weißen Rock und ein passendes Top mit schwarzem Saum, ihre Füße steckten in einem Paar makellos weißer Manolo Blahniks.
»Welchen Sinn hätte eine erfundene Geschichte, Jem?« Olivia fuhr sich mit den Fingern durch die langen kastanienbraunen Haare. Ihre Schultern verkrampften sich schon wieder. »Willst du mich wirklich heiraten? Obwohl du genauso gut weißt wie ich, dass wir uns nicht lieben?«
Es war vielleicht altmodisch von Olivia, aber sie hatte immer geglaubt, dass sie sich in ihre zukünftige Braut verlieben und die Verlobung ein glücklicher Moment sein würde. Ihre Mutter konnte das nicht verstehen und hatte ihr, der jüngsten Tochter, immer wieder gesagt, dass das in ihren gesellschaftlichen Kreisen nicht wichtig war. »Liebe steht recht weit unten auf der Liste der Notwendigkeiten im Leben, Olivia. Ich dachte, mit dreiunddreißig Jahren hättest du das inzwischen begriffen.«
Eine leichte Brise wehte ihr entgegen, als sie die Rückseite des Anwesens aus rotem Backstein in Surrey betrachtete, das in den letzten drei Jahren seit ihrer Rückkehr ihr Zuhause gewesen war.
Oder ihr Gefängnis, wie sie oft dachte.
Jemima lachte und ein gequälter Ausdruck trat auf ihr Gesicht. »Ich habe es mit der Liebe versucht, aber das hat nicht funktioniert. Wie so oft.« Sie hielt inne. »Mit Ellie hat es auch nicht geklappt, oder?«
Den Name ihrer Ex-Partnerin zu hören, war für Olivia immer noch das Äquivalent eines Schlags in die Magengrube.
Jemima fuhr fort. »Und meiner Meinung nach bist du gar kein schlechter Fang. Du bist eine Prinzessin. Ich habe nicht vor, mir diese Gelegenheit, ein Mitglied der Königsfamilie zu heiraten, entgehen zu lassen.« Sie seufzte und griff nach Olivias Hand.
Olivia zuckte zusammen, als sie sie berührte. Jemimas Handfläche war schweißnass.
»Wir könnten als Paar gut zusammen funktionieren, das weißt du. Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit.« Jemima klimperte geübt mit ihren langen Wimpern.
»Ich bin nicht sicher, ob das reicht.« Und doch standen sie jetzt hier: verlobt. Jemima und sie waren in ihren frühen Zwanzigern miteinander ausgegangen, bis Olivia sich für eine Karriere in der British Army statt für ein Leben als Partylöwin entschieden hatte. Natürlich verkehrten sie immer noch in denselben Kreisen und hatten vor einem Jahr einen unklugen One-Night-Stand gehabt, den Olivia immer noch bereute. Nun wurde ihre alte Flamme per königlichem Dekret wieder in ihr Leben gezerrt. Das Problem war nur, dass alle anderen – einschließlich Jemima – viel glücklicher darüber waren als Olivia selbst.
»Sicher, die Presse können wir täuschen. Schließlich geben wir ein großartiges Paar ab und das ist alles, was sie wollen.« Olivia hielt Jemimas Blick fest. »Aber willst du nicht mehr als das? Willst du dich wirklich mit mir abfinden?« Sie wollte, dass Jemima über ihre Handlungen nachdachte. Sie hatte mehr Entscheidungsfreiheit als Olivia, die immer geahnt hatte, dass sie, wie ihre Schwester, eine arrangierte Ehe eingehen würde.
Jemima stieß ein ersticktes Lachen aus. »Prinzessin Olivia, an vierter Stelle der Thronfolge, ist nicht gerade jemand, mit dem ich mich abfinden muss. Und wir könnten gut miteinander auskommen. Es ist ja nicht so, als würden wir uns hassen, oder?«
Das taten sie nicht, da musste Olivia ihr zustimmen. Sie hatten sich immer gut verstanden, obwohl sie Ex-Partnerinnen waren. Sie wollte gerade gegen einen Kieselstein im Garten treten, bevor sie realisierte, dass sie statt ihrer Turnschuhe heute High Heels trug. Heute war sie professionelle Prinzessin, keine Soldatin. Sie wollte die Hände in die Taschen stecken und durch den Garten stapfen, aber geschminkt und in dem mohnroten Kleid, das sie trug, würde das nicht sehr effektiv sein.
»Denk darüber nach. Der Plan ist gar nicht so schlecht«, sagte Jemima und breitete ihre manikürten Hände aus. »Du willst dich doch irgendwann mit jemandem niederlassen, oder nicht? Und wäre es dir nicht lieber, wenn diese Person deine Welt kennt, sie versteht und sich gut an deinem Arm macht? Würde das dein Leben nicht ein winziges bisschen einfacher machen?«
Olivia leckte sich über die Lippen – sie wusste, dass Jemima nicht unrecht hatte. Aber die nagenden Zweifel blieben in ihrem Hinterkopf, sie konnte sie nicht abschütteln. Mit Ellie hatte sie die Liebe einmal erlebt und genau das wollte sie wieder haben. Nur mit einem besseren Ende.
Wenn sie heiratete, wollte sie, dass es echt war, fürs Leben, für immer.
Und Jemima Bradbury war dafür zweifellos die falsche Frau.
~ ~ ~
Malcolm, der Privatsekretär ihrer Mutter, trat durch die mit kunstvollen Schnitzereien verzierte Tür und neigte seinen kahlen Kopf. »Die Königin empfängt Sie jetzt.«
Mehr sagte er nicht, aber der Blick aus schmalen Augen verriet Olivia alles, was sie wissen musste: Bereiten Sie der Königin keinen unnötigen Ärger, denn ich bin derjenige, der sie wieder besänftigen muss.
Olivia lächelte ihn im Vorbeigehen zuckersüß an.
Sie hatte Malcolm noch nie gemocht.
Als Olivia eintrat, tippte ihre Mutter – mit vollem Titel Königin Cordelia – auf ihrem Handy herum, ihr Vater – Prinz Hugo – las in seinem Lieblingssessel die aktuelle Ausgabe der Times. Der Sessel war golden, abgewetzt und knarzte bei jeder Gelegenheit, aber ihr Vater weigerte sich, ihn neu beziehen zu lassen, und bisher hatte ihre Mutter sich seinem Wunsch gebeugt. Es war ein kleiner Sieg im Leben ihres Vaters, an den er sich klammerte.
Als Olivia sich räusperte, ließ er die Zeitung sinken.
Die Königin sah auf und verschränkte die Arme vor der Brust.
Das hier würde genauso schwierig werden, wie Olivia befürchtet hatte. Sie ging zu den weichen blauen Sofas vor dem Kamin und ihre Mutter folgte ihr. Sie setzten sich einander gegenüber. Olivia streckte ihre Zehen in den High Heels. Sie hatte sich nicht umgezogen, da sie wusste, dass ihre Mutter von Kopf bis Fuß gestylt und für den Kampf gerüstet sein würde. Und sie hatte sich nicht getäuscht: Die Königin trug einen grauen Hosenanzug, der ihrer Figur schmeichelte, und dazu passende Heels, wodurch ihre Erscheinung genauso kalkuliert wirkte wie ihre Haltung.
»Habt ihr es gesehen?«
Ihre Mutter nickte. »Ja.« Sie legte eine wohlüberlegte Pause ein und schlug ein Bein über das andere. »Du hättest mehr lächeln und ein wenig glücklicher aussehen können.« Als ihr die Nachmittagssonne durch die Bleiglasfenster des Palasts ins Gesicht schien, kniff sie die Augen zusammen und hob eine Hand, damit ihr das grelle Licht nicht direkt in die Augen schien. »Du sahst aus, als wäre es um eine Beerdigung gegangen und nicht um die Ankündigung einer Hochzeit.«
»Deine Mutter hat recht.« Ihr Vater, der in seinem üblichen schwarzen Anzug mit gestreifter Krawatte wie immer blass wirkte, setzte sich neben seine Frau. »Du hast nicht so ausgesehen, als wäre das alles in deinem Sinne.«
»Es ist ja auch nicht in meinem Sinne, das wisst ihr!« Olivia warf die Hände in die Luft – ihre Eltern schafften es mit schöner Regelmäßigkeit, sie innerhalb weniger Sekunden auf Hundertachtzig zu bringen. Wie konnten sie so ruhig bleiben, wenn sie doch wussten, dass Olivia das alles gar nicht wollte? Erst vor drei Tagen hatten sie darüber gesprochen, sie kannten Olivias Einstellung.
»Du weißt genau, dass man deinetwegen schon Fragen stellt und dass du in einem gewissen Alter bist.« Der Blick ihrer Mutter war eisig. »Deine Schwester hat das gewusst und ohne einen Mucks geheiratet. Wir zwingen dich ja nicht mal, einen Mann zu heiraten –«
»Wie großzügig von euch.« Olivia starrte sie finster an.
»Das ist es tatsächlich. Du wirst die erste lesbische Prinzessin sein, die heiratet, und Jemima ist eine geeignete Partnerin. Wenn du schon eine Frau heiraten musst, dann eine von der richtigen Sorte. Hier geht es nicht nur um dich, Olivia, es geht darum, dass du zur Königsfamilie gehörst – du musst dich mit jemandem niederlassen. Aber seit Ellie scheinst du es nicht einmal versuchen zu wollen.«
Warum mussten heute alle Ellie erwähnen? Ellie gehörte der Vergangenheit an und war sowieso mit jemand anderem verheiratet. Olivia wollte sich auf die Zukunft konzentrieren, die vielleicht noch einmal die große Liebe für sie bereithielt, vielleicht auch nicht, aber sie wollte es zumindest versuchen. Und zu diesem Zweck musste sie sich beruhigen und einen kühlen Kopf bewahren. Ihre Chancen standen am besten, wenn sie an ihren Vater appellierte.
»Ich war einfach nicht richtig auf diese Pressekonferenz vorbereitet – ihr habt mich erst gestern Abend darüber informiert. Und es hat sich wie eine einzige Lüge angefühlt, als könnte man die Farce direkt durchschauen.«
Olivia wusste, dass es Zeit war, sich ihren königlichen Pflichten zu stellen – die Uhr tickte –, aber sie hätte nicht gedacht, dass sie sich dabei so … leer fühlen würde. Als wäre ihr etwas weggenommen worden.
»Unsinn – die Presse sieht, was sie sehen will«, erwiderte die Königin, faltete die Hände auf den Knien und nagelte Olivia mit ihrem Blick fest. »Jeder weiß, dass Jemima und du eine gemeinsame Vergangenheit habt, und ihr seht perfekt zusammen aus. Morgen werden eure hübschen, lächelnden Gesichter in allen Zeitungen sein. Na ja, zumindest Jemima lächelt.«
»Sie ist wirklich kein so schlechter Kompromiss, Olivia«, sagte ihr Vater, bevor er den Blick abwandte.
Olivia knirschte mit den Zähnen. Auch er war einen Kompromiss eingegangen und wohin hatte ihn das gebracht?
Wenn es eine Ehe gab, die Olivia nicht zum Vorbild wollte, dann war es die ihrer Eltern.
Sie wollte eine Heirat aus Liebe, einer Liebe, die jeden Tag leidenschaftlich brannte.
Sie stand auf und ging zum Kamin, wobei ihre Absätze auf dem polierten Holzboden klackerten. Sie starrte auf das Foto der sechsjährigen Alexandra, eine stolze ältere Schwester, die Olivia als Baby in den Armen hielt. Alex hatte ihre Pflicht erfüllt und Miles geheiratet und inzwischen hatten sie selbst zwei Kinder.
Olivia hatte auch nicht vor, dieser Ehe nachzueifern.
Sie drehte sich zu ihren Eltern um, nahm all ihren Mut zusammen und holte tief Luft. »Ich brauche nur etwas Zeit, um das alles richtig zu begreifen. Das Ganze hat mich überrumpelt. Ich weiß, was ihr wollt, und ich weiß, dass wir uns einig waren, aber es laut auszusprechen, hat sich … falsch angefühlt. Nicht aufrichtig.«
»Willkommen im Königshaus«, sagte ihr Vater nüchtern.
Olivia schüttelte den Kopf. »Ich würde gern eine Weile im Cornish House verbringen. Nur um den Kopf freizubekommen und herauszufinden, wie ich wirklich darüber denke.«
»Du hast die Verlobung bereits bekannt gegeben; es ist etwas spät, um wegzulaufen.« Die Miene ihrer Mutter war stoisch. Die Königin war niemals gefühlsduselig und zweifellos verstand sie Olivia schlichtweg nicht.
»Ich brauche nur etwas Raum, Mutter.« Olivia presste die Lippen aufeinander. Das musste ihre Mutter doch begreifen, auch wenn sie anderer Meinung war.
»Wir haben gerade nicht mal Personal in dem Haus. Wir mussten Kosten einsparen, um unseren guten Willen zu zeigen«, fügte die Königin hinzu. »Und was ist mit Bodyguards?«
»Ich brauche kein Personal und keine Bodyguards – ich bin kein Teenager mehr«, sagte Olivia. »Außerdem heißt das, dass ich mir wirklich etwas Zeit für mich allein nehmen und meine Gedanken sortieren kann.« Sie hielt inne. »Nur zwei Wochen, mehr verlange ich gar nicht. Danach komme ich nach Hause und spiele bei allem mit, worauf wir uns einigen, versprochen.«
Jetzt schürzte die Königin abwägend die Lippen. Sie blickte zu Boden, dann zu ihrem Mann.
»Du findest vermutlich, dass wir sie gehen lassen sollten. Schließlich konnte Olivia dich schon immer um den kleinen Finger wickeln.«
Ihr Vater zuckte mit den Schultern. »Sie bittet nur um zwei Wochen. Wenn das alles ist, um zur Besinnung zu kommen, denke ich, dass sie gehen kann.« Er blickte zu seiner jüngsten Tochter. »Aber mach keine Szene und verrate niemandem, dass du dort bist, sonst wittert die Presse womöglich einen Skandal. Sei diskret, keine wilden Nächte und kein Wettkampftrinken im Dorfpub.«
Olivia schüttelte den Kopf, während Erleichterung sie durchflutete.
Sie ließen sie gehen.
»Dafür bin ich etwas zu alt.« Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt eine auch nur annähernd wilde Nacht erlebt hatte. »Ich besorge mir eine Brille und schneide mir die Haare ab, vielleicht färbe ich sie mir sogar, um nicht erkannt zu werden. Niemand ist auf der Suche nach einer Prinzessin mit Kurzhaarschnitt.«
»Aber schneid sie nicht zu kurz. Nicht wie damals in der British Army. Du sahst aus wie ein Mann.« Die Königin rümpfte die Nase.
»Ich sah aus wie eine Frau mit kurzen Haaren, Mutter. Sei nicht so homophob.«
Die Königin richtete sich zu ihrer vollen Größe von einem Meter achtundsiebzig auf. Mit ihrer Präsenz hatte sie schon immer alles in Olivias Leben überragt. »Wir lassen dich gehen, also überspann den Bogen nicht. Sei einfach in zwei Wochen wieder hier, um Details für die Hochzeit abzusegnen.« Ihr Tonfall war knapp und duldete keinen Widerspruch. »Ich habe Malcolm gebeten, sich nach möglichen Veranstaltungsorten umzusehen und Gästelisten zu erstellen.« Sie sah Olivia streng an. »Und vergiss nicht: Auf den Hochzeitsfotos will ich lange Haare sehen, also schneid sie nicht zu kurz.«
»Die Hochzeit ist in drei Monaten.«
»Nicht. Zu. Kurz.«
»Und keine wilden Partys, sonst schicke ich Bodyguards«, fügte ihr Vater hinzu.
Olivia atmete tief durch und straffte die Schultern. »Ich werde mich benehmen, versprochen.«
Kapitel 2
Rosie reckte den Hals und starrte über die leeren Gleise hinweg in die Ferne, bevor sie einen Blick auf ihre Uhr warf. Es sollte sie nicht überraschen, dass die Bahn wieder mal zu spät war. Sie atmete tief durch. Es war ja nicht so, als wäre das Café voller Gäste, die auf sie warteten. Sie versuchte, die Schultern zu entspannen und den Moment für eine kleine Achtsamkeitsübung zu nutzen. Heutzutage konnte man in Otter Bay sogar Achtsamkeitskurse belegen – und natürlich welche für Yoga. Rosie war von beidem kein Fan.
Aus der Ferne erklang ein Pfeifen. Dann würde ihre Schwester doch einigermaßen pünktlich ankommen. Rosie war erleichtert, nicht länger vorgeben zu müssen – wenn auch nur vor sich selbst –, Achtsamkeit zu üben. Ein, zwei Minuten, um den Kopf frei zu bekommen, könnte sie allerdings schon gebrauchen.
Mit einem lauten Rattern näherte sich der Zug und vertrieb für den Moment alle Gedanken aus ihrem Kopf. Ah. Sie brauchte also nur laute Geräusche, die die Ruhe an einem Wochentag auf dem Land von Cornwall störten, um einen klaren Kopf zu bekommen – keine alberne Achtsamkeitsübung.
Rosie versuchte, durch die vorbeiziehenden Fenster einen Blick auf Paige im Zug zu erhaschen, konnte sie aber nicht entdecken. Quietschend kam der Zug zum Stehen, es dauerte jedoch noch einige Sekunden, bevor sich die Türen öffneten.
Die ersten Fahrgäste stiegen aus. Rosie musterte sie scharf. So, wie sie Paige kannte, würde sie als Letzte herauskommen. Außer der Besuch der Bristol University hatte sie in solche Begeisterung versetzt, dass sie es kaum erwarten konnte, noch einmal alles zu wiederholen, was sie Rosie schon am Telefon erzählt hatte.
Rosie wandte nur kurz den Blick von dem stetigen Strom an aussteigenden Passagieren ab, als jemand gegen sie stieß.
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, sagte eine Frau.
»Passen Sie beim nächsten Mal einfach auf«, sagte Rosie automatisch.
Die Frau trug genau die Paul-Smith-Jacke, die Rosie heute Morgen in einer Zeitschrift gesehen hatte, die jemand im Café zurückgelassen hatte – sonst hätte sie ein so modisches Kleidungsstück nie erkannt. Der daneben abgedruckte Preis hatte ihr die Tränen in die Augen getrieben.
»Es tut mir wirklich leid«, sagte die Frau erneut und begegnete kurz Rosies Blick, bevor sie davoneilte.
Eine weitere reiche Londonerin, die die Preise in Cornwall in die Höhe treibt. Rosie sah der sich rasch entfernenden Frau nach, die vermutlich zu spät zu einem dringenden Termin kam. Vielleicht sogar zu einem Achtsamkeitskurs.
Rosie hatte nicht viel von ihrem Gesicht gesehen, aber die Frau war ihr vage bekannt vorgekommen.
»Hey.« Paige erschien neben ihr.
Der Zusammenstoß mit der Fremden hatte Rosie so abgelenkt, dass sie Paige nicht hatte aussteigen sehen.
»Danke, dass du mich abholst«, sagte Paige. »Das erspart mir eine Fahrt mit dem Bus, die mich sonst eine Stunde Zeit gekostet hätte.«
»Kein Problem.« Rosie berührte kurz die Schulter ihrer deutlich jüngeren Schwester. »Taxi Rosie steht dir immer zur Verfügung.«
»Kann ich das bitte schriftlich haben?«, fragte Paige.
Sie gingen zu Rosies ramponiertem, altem Toyota. Den hatte sie gebraucht für ein paar Hunderter bei Raymond, dem Besitzer der örtlichen Autowerkstatt, gekauft, der extra für sie und noch dazu kostenlos etwas Zeit hineingesteckt hatte, um ihn zusammenzuflicken.
»Ich möchte noch eine Klausel hinzufügen«, sagte Rosie, als sie das Auto erreicht hatten. »Taxi Rosie steht dir immer zur Verfügung, solange dieses Luxusgefährt noch durchhält.« Sie lächelte Paige zu.
»Dann sollte es besser noch ein paar Monate halten.« Paige grinste zurück. »Zumindest, bis ich zur Uni gehe.«
Sie stiegen ein. Wenigstens konnten sie noch über ihre finanzielle Situation lachen. Ein Augenblick der Erleichterung war besser als nichts.
»Erzähl mir noch mal alles über Bristol«, sagte Rosie, während sie anfuhr. Sie mussten reden, um die Stille zu vertreiben – das Autoradio hatte vor fast einem Jahr den Geist aufgegeben.
Während Paige von der Bristol University schwärmte und alle Gründe aufzählte, weswegen sie dort studieren wollte, häuften sich in Rosies Kopf die Pfundzeichen. Aber sie hatte selbst studieren können – auch wenn sie nur zwei Jahre lang die Möglichkeit dazu gehabt hatte – und würde alles tun, damit Paige dieselbe Erfahrung machen konnte, ohne einen erdrückenden Studienkredit aufnehmen zu müssen. Auch wenn die Dinge jetzt ganz anders standen.
Wenn sie Paige wirklich auf die Uni schicken wollte, gab es für Mark & Maude’s, das Café, das ihre Eltern vor zwanzig Jahren eröffnet hatten, vielleicht keine andere Zukunft als ein »Zu verkaufen«-Schild im Fenster.
~ ~ ~
Wie immer, wenn sie sich online in ihr Bankkonto einloggte, nistete sich ein ungutes Gefühl in Rosies Bauch ein: ein tief sitzendes Grauen, das ihr leichte Übelkeit verursachte. Sie sehnte sich nach dem Tag, an dem sie ganz sorgenfrei ihren Kontostand checken konnte – jetzt war sie sich stets der genauen Summe darauf bewusst und der Rechnungen, die mit dieser Summe bezahlt werden mussten.
Der Gewinn, den sie nach dem vorzeitigen Tod ihrer Eltern mit dem Verkauf ihres Hauses erzielt hatte, war längst ausgegeben. Damit hatte sie die Zahlungsrückstände der monatlich fälligen Raten der Hypothek auf dem Café beglichen.
Am Ende jedes Monats blieb nach der Miete für die winzige Wohnung, die sie sich mit Paige teilte, nicht mehr viel übrig. Davor hatten sie in einer größeren Wohnung direkt neben dem Café gewohnt, aber dann hatte ihr Vermieter die Miete erneut erhöht. Rosie konnte es ihm nicht verübeln, dass er seinen Gewinn maximieren wollte, indem er die Wohnung immer nur für einen begrenzten Zeitraum an Touristen vermietete. Wenn das Café nur ebenso von dem wachsenden Tourismusgeschäft profitieren könnte.
Aber Mark & Maude’s war etwas angestaubt, hatte abends geschlossen und ging nicht mit den Trends, die wohlhabende Londoner in ihren bevorzugten Lokalen suchten. Und schenkte keinen Alkohol aus. Vielleicht sollten sie das ändern. Wie schwer konnte es schon sein, eine Genehmigung für den Alkoholausschank zu bekommen? Für andere Cafés im Dorf hatte es auf jeden Fall Wunder gewirkt, alkoholische Getränke anzubieten.
Finster starrte Rosie auf den Bildschirm ihres Laptops, als wäre es seine Schuld, dass ihr Kontostand so niedrig war. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schimpfte mit sich, weil sie ihr Onlinebanking-Programm überhaupt geöffnet hatte. Schließlich änderte sich nichts an den Zahlen, nur weil sie sie anstarrte. Sie hatte jedoch gehofft, die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation würde ihr auf magische Weise eine zündende Idee eingeben.
Sie loggte sich wieder aus. Kein magischer Funke sprang über. Sie löste ihren Pferdeschwanz und schüttelte ihre Haare aus. Ein Besuch beim Friseur war längst überfällig.
Schritte erklangen und Paige betrat das Wohnzimmer. »Bonsoir ma soeur«, sagte sie auf Französisch und mit schwerem Akzent. Paige hatte dieselben Träume wie Rosie in ihrem Alter. Sie wollte um die Welt reisen und dabei andere Sprachen lernen. An der Uni Französisch zu studieren, war ein erster Schritt. »Was gibt’s zum Abendessen?«
»Was immer du willst«, sagte Rosie. »Heute bist du dran, schon vergessen?«
Paige ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Dann also Notfallpizza aus dem Tiefkühlfach.«
»Heb dir die ungesunden Essgewohnheiten wenigstens bis zum Studium auf, ja?« Rosie klappte den Laptop zu. Die Webseite der Bank war noch geöffnet und sie wollte nicht, dass Paige ihr irgendwelche Geldfragen stellte.
»Was isst du, wenn ich weg bin?« Paige neigte den Kopf. »Du kannst mir nicht erzählen, dass dich die Tiefkühlpizza dann nicht reizt.«
Rosie hatte Schwierigkeiten, so weit in die Zukunft zu denken – und sich vorzustellen, nicht mehr mit Paige zusammenzuwohnen. Würde sie ab September nicht nur einsam, sondern auch arbeitslos sein?
»Jeden Tag Quinoa-Avocado-Toast mit Mandeln und Chiasamen«, scherzte Rosie. Sie erinnerte sich noch an das erste Mal, als eine Kundin im Café gefragt hatte, ob sie auch Quinoa hatten.
»Das ist nicht gerade eine kornische Spezialität«, hatte Rosie geantwortet und auf die Gerichte auf der Speisekarte verwiesen.
Es klingelte und Paige sprang auf. »Ich mache auf«, sagte sie.
Rosie streckte die Arme über den Kopf und überlegte, wer vor ihrer Tür stehen könnte.
»Achtung«, flüsterte Paige, als sie ins Wohnzimmer zurückkam. »Deine Ex ist hier.«
»Amy.« Rosie stöhnte. »Was will sie?«
Paige hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah Rosie an, als hätte sie gerade die überflüssigste Frage der Welt gestellt.
»Klopf, klopf«, drang Amys Stimme aus dem Korridor.
Rosie wollte ihre Schwester mit grimmigem Blick fragen, warum zum Teufel sie Amy überhaupt hereingelassen hatte, aber da Amy bereits vor ihr stand, machte das nicht mehr viel Sinn.
»Hi«, sagte Paige zu Amy. »Ich lasse euch zwei mal allein.« Sie verschwand in die Küche. Vielleicht würde sie die Zeit nutzen und sich eine Alternative zum Abendessen einfallen lassen.
Amy ging zu Rosie und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dabei ließ sie ihre Hand etwas länger als nötig auf Rosies Oberarm liegen – fand zumindest Rosie.
»Wie geht’s dir, Rosebud?«, fragte Amy, während sie Rosie von oben bis unten musterte. »Ich mag es, wenn du deine Haare offen trägst, aber du wirkst etwas bedrückt.«
Natürlich kam es Amy nicht mal für eine Sekunde in den Sinn, dass es ihr – wiederholtes – unangekündigtes Erscheinen sein könnte, das Rosie so mürrisch schauen ließ.
»Du weißt schon«, sagte Rosie. »Ich bin ein wenig gestresst.«
Amy schüttelte den Kopf. »Du kannst nicht ewig so weitermachen«, sagte sie. »Und du hast andere Möglichkeiten. Das weißt du.«
Amy hatte leicht reden. Ihre Eltern wussten tatsächlich, wie sie von der neuen Generation an Urlaubern, die Quinoa mochten, Gin in den abstrusesten Geschmacksrichtungen tranken und Achtsamkeitsübungen machten, profitierten. Ihnen gehörte praktisch der ganze Ort und ihr brandneues Café stand in direkter Konkurrenz zu Mark & Maude’s.
»Ich brauche deine Hilfe nicht«, sagte Rosie und setzte sich auf ihrem Stuhl aufrechter hin. Sie hatte keine Lust, Amy einen Platz anzubieten. Auf keinen Fall wollte sie ihr den Eindruck vermitteln, dass sie hier für ein längeres Pläuschchen willkommen war – oder dass Rosie ihre Hilfe wollte.
»Sei nicht so stur. Du bist erst achtundzwanzig. Du hast noch dein ganzes Leben vor dir. Damit könntest du so viel anfangen, wenn du dich nicht derart an dein kostbares Café klammern würdest.« Amy hatte noch nie ein Blatt vor den Mund genommen. »Du könntest eins unserer Cafés managen, einfach so.« Sie schnippte mit den Fingern. »Denk darüber nach, Rosie. Ein sicheres Gehalt. Kein Personal, das du bezahlen musst. Diese Sicherheit hat etwas für sich.« Sie senkte die Stimme. »Vor allem mit einer jüngeren Schwester, die studieren will.«
»Hör auf, dich in mein Leben einzumischen. Das geht dich nichts an.« Rosie versuchte, ihren Ärger aus ihrer Stimme herauszuhalten. In gewisser Weise mochte Amy recht haben, aber das würde sie ihr gegenüber unter keinen Umständen zugeben.
»Du bist mir wichtig.« Amy trat einen Schritt auf sie zu. »Das weißt du.«
Rosie konnte sich gerade noch beherrschen, bevor sie die Augen verdrehte. Den Spruch hatte sie schon so oft gehört. Er funktionierte bei ihr nicht mehr.
»Was machst du überhaupt hier, Amy?« Diesmal konnte sie nicht verhindern, dass man ihr die Verärgerung anhörte.
»Wir sind doch immer noch Freundinnen, oder nicht?«
Rosie seufzte. Nicht in ihrer Welt. Freundinnen wie Amy brauchte sie nicht. »Paige und ich wollten gerade zu Abend essen. Es ist nicht unbedingt ein guter Zeitpunkt für eine Unterhaltung unter Freunden.«
Amy sah sie einen Moment lang schweigend an. »Verstehe.« Dann drehte sie sich um und verließ das Wohnzimmer.
Von wegen. Rosie folgte Amy in den Flur, begierig darauf, die Wohnungstür hinter ihr zuzuknallen.
Kapitel 3
Als ihre Mutter gesagt hatte, das Haus stünde schon eine Weile leer, hatte sie nicht gelogen. Kaum war Olivia über die Schwelle getreten, hatte sie husten müssen und das Gesicht verzogen, bevor sie alle Fenster aufgerissen hatte – na ja, jedenfalls die, die sie aufbekommen hatte. Stunden später hing der Geruch von Staub, Schimmel und noch etwas, das sie nicht genau benennen konnte – Fisch, ranziges Öl? –, immer noch in der Luft, aber sie hoffte, dass es wenigstens etwas gebracht hatte, das Haus zu putzen und durchzulüften.
Ihre Schwester hätte darauf bestanden, das vom Personal erledigen zu lassen. Als Thronfolgerin hielt Alexandra solche Arbeiten für unter der Würde der Königsfamilie. Olivias liebste Antwort darauf bestand darin, ihr die Zunge herauszustrecken und ihrer Schwester beide Mittelfinger zu zeigen – worüber sich diese jedes Mal aufs Neue empörte und was Olivia genauso zuverlässig immer wieder zum Grinsen brachte. Nach acht Jahren bei der British Army und zwei Einsätzen in Afghanistan schreckte Olivia nicht vor dem echten Leben zurück, es gefiel ihr sogar. Also ließ sie sich nicht von derartigen Dingen beirren, wie den Boiler einzuschalten oder den Wasserkocher zu entkalken, um sich einen kalkfreien Kaffee zu machen – den Essig dazu fand sie unter der Spüle –, sondern brachte das Haus wieder auf Vordermann.
Jetzt stand sie an der offenen Terrassentür, die früher weiß gewesen war und inzwischen neu abgeschliffen und gestrichen werden musste. Mit einer Tasse Instantkaffee in der Hand starrte sie auf den überwucherten Garten hinaus. Der Rasen müsste mal wieder gemäht und die Büsche getrimmt werden. Der Tennisplatz lag verlassen da und unter dem durchhängenden Netz wucherte zweifellos Unkraut vor sich hin. Als Kind, wenn Alexandra mit Tennisbällen auf ihren Kopf gezielt hatte, war ihr dieses Netz so hoch vorgekommen. Olivia hatte es hier immer geliebt; irgendwie hatte es sie immer geerdet.
Sie hatte das Paket, das ihr ihre Haushälterin Anna zusammengestellt hatte, ausgepackt – Eier, Milch, Käse, Brot, Teebeutel, Kaffee und Kekse –, aber morgen musste sie einkaufen gehen. Im Dorf, ohne erkannt zu werden. Sie war ziemlich sicher, dass ihre kürzeren und jetzt dunkelrot gefärbten Haare mit den natürlichen Locken in Kombination mit der schwarz gerahmten Brille dafür ausreichen würden. Normalerweise glättete sie ihre Haare, da ihre Mutter ihr ständig vorbetete, dass sie damit eleganter aussah, aber Olivia selbst mochte den natürlichen Look. Vielleicht würde sie den beibehalten, wenn sie nach London zurückkehrte. Wenn sie ihre königliche Pflicht erfüllte, indem sie Jemima heiratete, musste sie doch wenigstens ihre Frisur bestimmen dürfen, oder? Ein kleiner Sieg, wie der abgenutzte Sessel ihres Vaters.
In diesem Zusammenhang fiel Olivia ein, dass sie mit ihrer Kreditkarte bezahlen würde, auf der ihr Name stand. An den Teil ihres Plans hatte sie überhaupt nicht gedacht. Sie war zwar nicht mehr die Partylöwin von früher und nicht halb so oft in den Zeitschriften Hello! oder OK! vertreten wie ihre Schwester, aber trotzdem. Der Name Olivia Charlton war unverkennbar. Sie würde den Palast bitten müssen, ihr ihre falsche Kreditkarte zu schicken, auf der sie Charlie Smith hieß – und hoffen, dass sie bis dahin genug Bargeld eingesteckt hatte, um alles Nötige zu bezahlen.
Sie lächelte, als sie an ihr Alter Ego Charlie Smith dachte. Jetzt hatte sie eine Menge Zeit für Charlie.
Ein Spitzname aus ihrer Zeit bei der British Army, der sich hartnäckig gehalten hatte. Frei von den Ketten, die sie im Land ihrer Familie trug, und davon, was es bedeutete, ein Mitglied der Königsfamilie zu sein, war Charlie die reinste Version von Olivia, die sie je gewesen war. Mit ihrer Einheit unterwegs zu sein, ein unverzichtbares Teil eines Teams, hatte Olivias – oder besser gesagt Charlies – Leben mehr als je zuvor einen Sinn gegeben. Im Dienst, in ihrer Uniform und mit wichtiger Arbeit betraut, war sie einfach eine Soldatin gewesen, eine weitere Frau, die ihr Land verteidigte, und das hatte sie geliebt. Dafür hatte sie die Royal Military Academy Sandhurst durchgemacht, dafür hatte sie jahrelang trainiert.
Aber vor drei Jahren hatte ihre Mutter dieser Zeit ein abruptes Ende gesetzt, indem sie beschlossen hatte, dass jetzt »Schluss mit derartigen Kinkerlitzchen« war, wie sie es genannt hatte. Sie hatte entschieden, dass es für Olivia mit dreißig an der Zeit war, ihre königlichen Pflichten wahrzunehmen und aktiver am Leben der Königsfamilie teilzunehmen. Und so war Charlie Smith gestorben, ebenso wie ihre Beziehung mit Ellie, die dieser königlichen Macht nicht hatte standhalten können.
Olivia trank einen Schluck Kaffee. Sie dachte nicht mehr oft an Ellie – das konnte sie sich nicht leisten –, aber sie wusste, dass sie mit ihr einen Einblick in eine andere Welt bekommen hatte, einen Einblick in das echte Leben. Jetzt, da ihr Leben als Vollzeit-Prinzessin für sie arrangiert worden war, bezweifelte sie, dass sie das je noch einmal erleben würde. Sie konnte sich absolut nicht vorstellen, dass Jemima glücklich damit wäre, ohne Personal hier zu wohnen und ihren eigenen Kaffee kochen zu müssen, noch dazu Instantkaffee. Jemima hätte einen hysterischen Anfall bekommen. Instantkaffee war für das gemeine Volk, zu dem sie nicht gehörte.
Olivias Handy piepte in ihrer Tasche und unterbrach ihre Gedanken. Sie stellte die Tasse auf die Anrichte und schaute auf das Display. Sie war nicht überrascht, als sie den Absender sah.
Du bist in Cornwall? Ohne Personal??? Du hast dich gerade verlobt! Ich weiß nicht, was das für ein Spielchen ist, aber unsere Mutter ist nicht begeistert und Jemima war gestern im Club in Tränen aufgelöst. Schreib ihr wenigstens eine Nachricht!
Olivia verdrehte die Augen und nahm ihre Tasse wieder auf. Sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass der beste Weg, mit ihrer Schwester umzugehen, darin bestand, sie zu ignorieren.
Und Jemima war wahrscheinlich nur deshalb in Tränen aufgelöst gewesen, weil sie zu viele Wodka-Martinis getrunken und die Bar keinen Grey Goose mehr gehabt hatte.
~ ~ ~
»Das macht £22,96, bitte.« Die Frau hinter der Kasse lächelte sie an und Olivia gab ihr £30. Sie hatte noch mehr Bargeld im Haus gefunden, sodass sie sich nicht mehr ganz so knapp bei Kasse fühlte wie noch gestern Abend. Außerdem schickte ihre Privatsekretärin ihre Kreditkarte noch heute per Kurier zum Haus.
Olivia hatte sich gefragt, ob Kartenzahlung in diesem Teil von Cornwall überhaupt schon existierte, aber wie sich herausgestellt hatte, gab es sogar die kontaktlose Bezahlmöglichkeit. Bei ihrem letzten Besuch vor fünf Jahren war das in den meisten Geschäften noch nicht der Fall gewesen. Sie bedankte sich bei der Frau, gab ihr zehn Pence zurück, um eine wiederverwendbare Tragetasche für ihre Einkäufe zu kaufen, und verließ den Dorfladen, wobei sie sich die Baseballkappe tief ins Gesicht zog, das bereits halb von einer Sonnenbrille verdeckt war.
Sie war schon zwanzig Minuten aus dem Haus und bisher hatte niemand sie erkannt.
So konnte es die nächsten dreizehn Tage weitergehen.
Das Wetter zeigte sich heute Morgen eher unentschlossen und wechselte ständig zwischen Sonnenschein und weißen Wolken, aber Olivia fühlte sich bereits so frei und lebendig wie seit Monaten nicht mehr. So ging es ihr immer, wenn sie Abstand von ihrer Familie und von London bekam. Auf die Straße gehen zu können, ohne Angst vor Paparazzi haben zu müssen oder davor, dass jemand ihren Eltern erzählte, wo sie gerade war und was sie gerade tat, war eine Seltenheit in ihrem Leben. Für die meisten Leute war das selbstverständlich, für sie dagegen etwas Besonderes, das ihr jedes Mal viel zu schnell wieder genommen wurde.
Sie schritt die Hauptstraße des Dorfs entlang, die stellenweise gerade breit genug für zwei Autos nebeneinander war, und spähte durch die Schaufenster in die Geschäfte. Ein Laden bot Küchenutensilien an, bestimmt beliebt bei Touristen, ein anderer alles rund ums Surfen. Den würde sie sich an einem anderen Tag einmal genauer ansehen. Außerdem entdeckte sie einen traditionellen Metzger mit weißer Theke, hinter dem zwei Männern mit Beilen in den Händen standen – so etwas gab es in London nicht mehr.
Während sie die Kleidungsstücke im Schaufenster einer Frauenboutique betrachtete, knurrte ihr Magen und sie dachte an all die Einkäufe in ihrer Tüte. Sie hatte Speck und Eier gekauft – die könnte sie sich zu Hause braten. Aber sie genoss es, draußen an der frischen Luft zu sein und andere Menschen um sich zu haben.
Das Läuten der Glocke über der Boutiquetür ließ sie aufsehen. Eine ältere Frau mit silbergrauem Haarschopf lächelte sie an und deutete ins Schaufenster.
»Die würde Ihnen wunderbar stehen – sie passt zu Ihrem Teint.« Sie bezog sich auf eine beigefarbene, mit roten und gelben Blumen bestickte Bluse. Olivia warf ihr einen hoffentlich höflichen Blick zu. Machte die Frau Witze? Diese Bluse stand wahrscheinlich niemandem, aber hinsichtlich Damenmode wich Olivias Geschmack meistens von dem anderer ab.
»Ich habe mich nur umgesehen.« Sie musste hier weg, bevor die Frau sie in ein Gespräch verwickelte. Sie hatte so eine Ahnung, dass sie sonst stundenlang dort festsitzen würde.
Das nächste Geschäft war ein Café – Mark & Maude’s. Wie aufs Stichwort knurrte ihr Magen erneut. Olivia traf eine spontane Entscheidung, trat ein, suchte sich einen Platz weg vom Fenster und stellte die Einkäufe zu ihren Füßen ab, bevor sie ihre schiefergraue Jacke auszog. Schnell wechselte sie die Brille, beschloss aber, die Kappe aufzubehalten, nur für den Fall. Noch war sie nicht mutig genug, sie abzusetzen.
Von außen hatte das Café süß, aber in die Jahre gekommen ausgesehen und im Inneren verhielt es sich nicht anders. Die Tische und Stühle waren bunt zusammengewürfelt und die Wände könnten einen neuen Anstrich gebrauchen, aber Olivia gefielen die unverwechselbare Theke, die an der Vorderseite mit Hunderten Retro-Colaflaschendeckeln verziert war, die Serviettenhalter aus Chrom und die Fünfzigerjahre-Zuckerstreuer auf den Tischen. Wer auch immer Mark und Maude waren, sie liebten den Retrolook.
Ein Klopfen am Fenster erregte ihre Aufmerksamkeit. Als sie aufsah, gestikulierte die Frau von der Boutique vor dem Fenster des Cafés in ihre Richtung. Entweder signalisierte sie ihr, dass Olivia später noch mal vorbeischauen sollte, oder sie wollte ihre Nummer.
Meine Güte.
Olivia lächelte die Frau gequält an, dann vernahm sie ein Lachen.
»Haben Sie den Fehler begangen, Connies Schaufenster zu betrachten?«
Olivia sah auf. Eine Frau in ihrem Alter näherte sich ihr grinsend. Ihre Lippen schimmerten dank frisch aufgetragenem Lipgloss. Sie trug schlichte Jeans, ein figurbetontes schwarzes Top und weiße Converse, und ihre dunkelblonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden. Wieso kam sie Olivia nur so bekannt vor? Sie zerbrach sich den Kopf, bis es ihr wieder einfiel – es war die Frau vom Bahnhof, die sie angerempelt hatte.
Sie schob den Gedanken von sich und nickte. »Leider ja. Verfolgt sie alle ihre Kunden so hartnäckig?«
Die Kellnerin lachte ungezwungen auf und der Laut hallte von den Wänden des Cafés wider. »Jeden einzelnen. Das ist eine einzigartige Verkaufstechnik, die nur Connie anwendet.«
»Sie ist noch im Geschäft, also funktioniert sie wohl.«
»Irgendwie schon.« Die Frau musterte sie eingehend und verengte die stechend blauen Augen. »Sie kommen mir bekannt vor – sind wir uns schon einmal begegnet?«
Olivia schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Ich bin gerade erst aus London eingetroffen.« Sie streckte die Hand aus. »Ol… Charlie.« Sie hustete, um ihren Versprecher zu kaschieren.
»Rosie«, sagte die Kellnerin. Dann betrachtete Rosie sie noch einmal nachdenklich. »Sie kommen mir wirklich bekannt vor.« Sie schnippte ihren Kugelschreiber gegen den Block in ihrer Hand. »Geben Sie mir etwas Zeit, dann fällt es mir schon wieder ein.« Sie zog eine Braue hoch. »Sind Sie nur über das Wochenende hier?«
Olivia schüttelte den Kopf. »Etwas länger. Ich wollte einfach mal zwei Wochen aus London rauskommen. Ich muss über einiges nachdenken.«
»Übernachten Sie im Ort?«
Olivia wand sich auf ihrem Stuhl und stieß mit dem Fuß gegen ihre Einkaufstüte. »Ja, ich kann während ihrer Abwesenheit bei Freunden unterkommen.«
»Schön, wenn man solche Freunde hat«, sagte Rosie, bevor sie auf die Karte deutete. »Wissen Sie schon, was Sie essen wollen? Wir haben uns noch nicht dem Trend der zerdrückten Avocado gebeugt, obwohl ich weiß, dass ihr Londoner die liebt. Aber wir bieten ein umfangreiches English Breakfast an oder sogar Eggs Benedict.«
»Ich kann ohne zerdrückte Avocado leben. Wann ist die Zubereitung von Essen so gewalttätig geworden?«
Das brachte Rosie abermals zum Lachen und Olivia war seltsam zufrieden, dafür verantwortlich zu sein. Wenn Rosie lächelte, hellte sich ihr ganzes Gesicht auf.
»Ich nehme, was immer Sie empfehlen. Das English Breakfast?«
»Eine perfekte Wahl. Alle Zutaten stammen aus der Region und unsere Köchin Gina macht sogar ihren eigenen Ketchup.«
»Weit beeindruckender als eine auf Toast zerdrückte Avocado.«
»Da haben Sie recht«, erwiderte Rosie. »Sie gefallen mir, Miss London. Tee oder Kaffee?«
»Eine Kanne Tee, danke.« Olivia hielt inne. »Ist das Ihr Café?«
Rosie nickte und ihre Miene verdüsterte sich, bevor sie ihr Lächeln wieder aufsetzte. »Ja. Früher hat es meinen Eltern gehört, jetzt ist es meins.«
»Es gefällt mir sehr.« Sie spürte, dass Rosie das Kompliment brauchte. »Die Theke ist besonders beeindruckend.«
Rosie strahlte. »Finden Sie? Das war meine Idee. Ich wollte schon immer mal in die Staaten reisen, habe es aber nie geschafft. Also habe ich beschlossen, etwas Americana nach Otter Bay zu bringen.«
»Das haben Sie großartig hinbekommen.«
»Wir werden sehen«, sagte sie und tippte wieder ein paarmal mit dem Stift auf ihren Block. Dann hielt sie inne, neigte den Kopf und sah Olivia erneut an. »Diese Jacke – ist die von Paul Smith?«
Verlegenheit breitete sich kribbelnd in ihr aus. So viel dazu, sich unters Volk zu mischen. »Ja, die habe ich mir zu einem besonderen Anlass gegönnt.«
Auf einmal schien Rosie sie mit anderen Augen zu sehen. »Sie waren gestern am Bahnhof, oder?«
Sie verzog das Gesicht. »Ja.« Erwischt.
»Dachte ich’s mir doch.« Rosies Lächeln wurde steif. »Wie auch immer, ein English Breakfast und eine Kanne Tee, kommt sofort.« Sie bedachte Olivia mit einem letzten durchdringenden Blick, bevor sie sich umdrehte und ging.
Olivia seufzte, als ein weiteres Kribbeln sie durchzuckte und Hitze mit sich brachte.
Sie war nicht sicher, was gerade passiert war.
Was sie allerdings sicher wusste, war, dass es schwieriger sein könnte, incognito zu bleiben, als sie anfangs angenommen hatte.
Kapitel 4
Rosie lehnte sich an die Theke und warf einen Blick zu der einzigen Kundin ihres Cafés. Charlie hatte die Brille abgenommen und neben ihren Teller gelegt, bevor sie sich über ihr Handy gebeugt hatte. Also war es offensichtlich keine Lesebrille. Mehr wusste sie nicht über diese Fremde, die vor drei Tagen zum ersten Mal ins Mark & Maude’s marschiert war. Natürlich machten Fremde einen großen Anteil ihres Geschäfts aus, aber von dieser Frau konnte Rosie nur schwer den Blick abwenden. Ihre Haltung hatte irgendwie etwas an sich, ebenso wie die Tatsache, dass sie alle paar Minuten von ihrem Handy aufsah und in Rosies Richtung schaute.
Inzwischen hatte Charlie schon eine Weile nicht mehr aufgesehen. Was auch immer sie auf ihrem Handy las, es musste sehr interessant sein, wenn es ihre Aufmerksamkeit so viel länger fesseln konnte. Rosie hoffte, dass Charlie ihr zum Ausgleich einen längeren Blick zuwerfen würde, wenn sie das nächste Mal zur Theke schaute.
Sie unterdrückte einen Seufzer. Hatte sie wirklich nichts Besseres zu tun, als sich mit solchen Gedanken zu beschäftigen? Sie könnte zum Beispiel einen cleveren Plan entwerfen, um Paiges Studiengebühren zu bezahlen, und sich etwas ebenso Brillantes einfallen lassen, wie Gina ihren Einbürgerungstest bestehen konnte.
Aber nein, in diesem Moment schien sie sich nur auf ihre einzige Kundin konzentrieren zu können und sich für den Zeitpunkt zu wappnen, wenn sich ihre Blicke erneut treffen würden. Immerhin war Charlie für einen kleinen Umsatzaufschwung verantwortlich, da sie diese Woche jeden Tag zum Frühstück aufgetaucht war.
Ah, jetzt. Charlie legte ihr Handy weg und fuhr sich mit einer Hand durch die kurzen, lockigen Haare. Rosie versuchte, ein Auge auf sie zu haben und gleichzeitig nicht so zu wirken, als hätte sie Charlie nachspioniert.
