Noch einmal für die Liebe - Clare Lydon - E-Book

Noch einmal für die Liebe E-Book

Clare Lydon

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Beschreibung

Einmal und nie wieder? Als Harriet Lockes erste Liebe unerwartet wieder in ihr Leben tritt, ist sie hin und weg - denn Sally McCall sieht immer noch umwerfend aus. Doch Sally traut Harriet nicht, und das aus gutem Grund: Sie hat nicht vergessen, was Harriet ihr vor 17 Jahren angetan hat. Werden Harriet und Sally das Glück haben, zweimal im Leben zueinander zu finden? Und wenn ja, wird es diesmal gut gehen?

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Seitenzahl: 372

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

Von Clare Lydon außerdem lieferbar

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen

Über Clare Lydon

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Von Clare Lydon außerdem lieferbar

Was das Herz sich wünscht

Weil es immer noch Liebe ist

Biete Hoffnung, suche Glück

Das Gefühl von Liebe

Bevor du sagst »Ich will«

Kapitel 1

Sally McCall hatte Angst vor Wasser und daran war größtenteils ihre Tante Paula schuld.

Nein, eigentlich war sie ganz allein daran schuld.

Sally war gerade einmal zarte fünf Jahre alt gewesen, als ihre damals zwanzigjährige Tante sie in den Pool des Hotels warf – leider ohne sich vorher zu vergewissern, ob Saly überhaupt schwimmen konnte. Sie erinnerte sich noch gut an die blauen Kacheln der Pool­wände, die sie unter Wasser umgaben, ebenso wie an die gedämpften Geräusche, die zu ihr hinabdrangen, während sie panisch mit ihren kleinen Armen und Beinen strampelte und versuchte, die Oberfläche zu erreichen.

Als ihr Vater Rick sie schließlich rauszog und sie wie eine zuckende Sardine in seinen starken Armen hing, bekam sie am Rand mit, wie ihre Mutter Tante Paula wild gestikulierend zusammenstauchte. Nachdem Sally das restliche Wasser ausgehustet hatte, saß sie wenig später in ein weiches Handtuch gewickelt unter einem strahlend blauen Himmel auf dem Schoß ihrer Mutter und lauschte ihrem dumpfen Herzschlag. Sie erinnerte sich noch an den pistaziengrünen Badeanzug ihrer Mutter und den Geruch nach Zigaretten und Sonnenschein.

Ein weiteres unvergessliches Zusammentreffen mit ihrer Tante hatte zehn Jahre später stattgefunden, als Sally am Geburtstag ihres Vaters im Kreis seiner Seite der Familie in einem gehobenen Restaurant saß. Mit fünfzehn war Sally schüchtern und unbeholfen gewesen und hatte gerade das dritte Mal in ihrem Leben ihre Regel. Das sollte sich jetzt wirklich für die nächsten vierzig Jahre jeden Monat wiederholen? Zweifellos musste es sich dabei um einen grausamen Scherz handeln.

An jenem Tag war Tante Paula viel zu spät hereingeschneit und hatte Sally nach einer etwas zu festen Umarmung gefragt, ob sie schon Sex gehabt hatte – so laut, dass man sie auch am anderen Ende des Lake Michigan hätte hören können. Vor Scham wäre Sally am liebsten im Boden versunken.

Daher hielt sich ihre Begeisterung heute, beinahe zwanzig Jahre später, verständlicherweise in Grenzen, als sie gemeinsam mit ihrem Vater in ihrem New Yorker Lieblingssteakhaus saß und verdaute, was er ihr eben eröffnet hatte. Um sie herum eilten Kellner mit Silbertabletts durch die Gegend, auf denen sich Berge von New-York-Roastbeef und Rocksteak türmten, die einen betörenden Duft nach gebratenem Fleisch und sämiger Soße verströmten.

»Die Frau, die mich beinahe ertränkt hätte, bevor mein Leben überhaupt richtig begonnen hat, will sich mit mir zum Mittagessen treffen?«

Seit jenem Tag hatte Sally höllische Angst vor Wasser, die sich auch auf ihr Leben und ihre Beziehungen auswirkte. Beispielsweise während des Hawaiiurlaubs mit Casey, ihres Trips nach Mexiko mit Taylor, und selbst damals, als sie vor vielen Jahren mit Harriet in dem Haus am See gewesen war. Sie ließ einen langen Atemzug entweichen, als sie prompt wieder Harriets Sonnencreme auf ihren Lippen schmeckte, und schüttelte energisch den Kopf, um sich auf die Gegenwart zu besinnen. Die Erinnerungen an Harriet waren selbst nach Jahren noch so lebhaft, so schnell abrufbar, als besäße ihr Gehirn eine Schnellwahltaste dafür.

»Du kennst doch Paula … Sie ist einfach ein Wirbelwind«, erwiderte ihr Vater und schwenkte sein Rotweinglas, bevor er einen Schluck nahm und anerkennend nickte.

»Ein tödlicher Wirbelwind.«

»Du hattest es noch leicht. Stell dir vor, wie es ist, ihr Bruder zu sein.«

Seine Worte ließen Sally schmunzeln. Ihr Vater war einer der gelassensten Menschen, die sie kannte, und sie konnte sich nur schwer vorstellen, wie es für ihn gewesen sein musste, mit Paula aufzuwachsen. Obwohl er zwölf Jahre älter war als Paula, war sie vom ersten Moment an wie ein Orkan in sein Leben gefegt und hatte ihm seitdem keine ruhige Minute gelassen.

»Warum will sie sich mit mir treffen? Sie war ewig nicht mehr hier.« Sobald Paula alt genug gewesen war, hatte sie ihre Koffer gepackt, um auf Kreuzfahrtschiffen zu arbeiten, und kehrte nur selten nach Hause zurück. Hin und wieder hatte Sally Gerüchte darüber gehört, dass ihre Tante in Immobilien investierte, aber das war auch schon alles.

»Meines Wissens möchte sie über ein geschäftliches Angebot mit dir sprechen, daher wäre es vielleicht keine schlechte Idee, dich mit ihr zu treffen, Liebes. Es klingt, als hätte sie mittlerweile Geld wie Heu. Sie kehrt endgültig in die USA zurück und möchte sich in Chicago niederlassen, um wieder engeren Kontakt zur Familie aufzubauen. Das schließt auch dich mit ein, ihre geliebte Nichte.«

Geliebte Nichte? Sally war sich ziemlich sicher, dass Paula sie nicht als solche betrachtete, da sie einander kaum kannten. Während ihre Freundinnen innige Beziehungen zu ihren Tanten pflegten, war Paula stets ein Rätsel für Sally gewesen.

»Das klingt beängstigend. Außerdem wohne ich in New York, falls du es nicht bemerkt hast.« Als wollte er ihren Worten Nachdruck verleihen, bremste ein Taxifahrer mit quietschenden Reifen vor dem Fenster ihrer lederbezogenen Sitznische und hupte laut, während er mit der anderen Hand wild aus dem Fenster gestikulierte. In Chicago gab es so etwas nicht.

Ihr Vater lächelte und rieb sich den grauen Dreitagebart. Von ihm hatte sie ihre rotblonden Haare geerbt, für die sie in der Schule oft gehänselt worden war, auf deren Farbe sie inzwischen jedoch stolz war. Abgesehen von den beginnenden Geheimratsecken konnte ihr Vater sich für seine einundsechzig Jahre noch mit einer recht vollen Haarpracht rühmen.

»Ich glaube nicht, dass Paula jemals ein Nein akzeptiert hat, aber du kannst es gern versuchen«, erwiderte er mit einem Grinsen. »Wenn sie nächsten Monat kommt, hole ich sie vom O’Hare-Flughafen ab. Ich habe ihr angeboten, sie zu begleiten, um zwischen euch zu vermitteln, aber davon wollte sie nichts wissen. Sie will dich ohne mein Beisein richtig kennenlernen und das muss ich respektieren.«

In diesem Augenblick erschien der Kellner mit ihren Steaks, garniert mit Sauce béarnaise und Pommes frites. Nachdem er ihnen Wein nachgeschenkt hatte, entfernte er sich mit einem höflichen Lächeln. Sally knurrte der Magen, als sie nach ihrem Besteck griff und in das saftige Stück Fleisch schnitt. Es war zartrosa in der Mitte, genau, wie sie es mochte.

»Glaubst du, sie will mich wieder ertränken?«, fragte sie.

»Reservier am besten einen Tisch in einem Etablissement ohne Pool, dann solltest du auf der sicheren Seite sein«, erwiderte ihr Dad. »Was hast du schon zu verlieren? Sie will dir helfen. Du hast meine und die Hilfe deiner Mutter stets abgelehnt, aber wenn Paula dir Geld geben möchte, solltest du das einfach als Entschädigung für das emotionale Kindheitstrauma ansehen.« Er hielt kurz inne. »Apropos, vielleicht sollte sie mir für mein Trauma auch etwas zurückzahlen.«

Sally lachte und ließ sich einen Bissen ihres Steaks schmecken, bevor sie antwortete. »Ich bringe sie dazu, zwei Schecks auszustellen«, sagte sie. Dann legte sie ihr Besteck weg. »Nächsten Monat also?«

»Das hat sie zumindest gesagt. Kann ich ihr deine E-Mail-Adresse geben? Dann könnt ihr die Sache direkt miteinander klären … Vergiss nur nicht, dass den armen Boten keine Schuld trifft, ja?« Ihr Vater leckte sich etwas Steaksoße von den Lippen.

»Ich werd’s versuchen«, erwiderte Sally. »Du weißt, dass Mom durchdrehen wird, oder?«

»Nur, wenn du ihr davon erzählst«, konterte er.

Sie musste schmunzeln, als sie daran dachte, wie oft ihre Mutter ihrem Dad Predigten gehalten hatte, und wie er jedes Mal klein beigab, weil er Konfrontationen hasste. Natürlich war das jetzt nach der Scheidung kein Problem mehr.

»Also kann ich Paula zusagen?«

Sally nickte und unterdrückte dabei ihren Drang nach Unab­hängigkeit. Aber vielleicht hatte ihr Vater recht: Paula war ihr etwas schuldig und sie konnte das Geld gut gebrauchen. Dieses Steak war die erste anständige Mahlzeit, die sie seit Anfang der Woche zu sich nahm, und es schmeckte gleich doppelt so gut, weil sie wusste, dass sie nicht dafür zahlen musste.

»Ja, kannst du. Sag ihr, sie soll sich melden und mir Zeit und Ort des Treffens nennen. Vorzugsweise in New York. Manche von uns müssen nämlich arbeiten.«

Kapitel 2

»Also ist es gut gelaufen?«, fragte ihre Geschäftspartnerin Joanna am anderen Ende der Leitung.

»Extrem gut«, erwiderte Harriet und bewegte sich mit dem Rest der Schlange vorwärts. Trotz des kurzen Flugs waren ihre Füße geschwollen, die fluoreszierende Beleuchtung über ihr summte schrill und die Klimaanlage sorgte für Kühlschranktemperaturen. Jemand in ihrer Nähe aß Chips mit Rindfleischgeschmack und der Geruch drehte ihr den Magen um.

»Die Firmeninhaberin war richtig nett. Wir hatten beide das Gefühl, gut zusammenzupassen.« Harriet musste ein Gähnen unter­drücken. Ihr Tag hatte mit dem Frühstücksmeeting um sieben viel zu früh begonnen. »Wir haben über die Finanzen und den Vertrieb geredet. Ihr gefällt unser Kundenstamm, deshalb will sie mit uns zusammenarbeiten. Und die Designs sind unglaublich … Freu dich schon mal auf die Muster, die ich im Gepäck habe: Manager­spielzeuge, technischer Schnickschnack und superhochwertige Schreibwaren. Angeblich könnten wir ihr Sprungbrett zum echten Erfolg werden. Ihre Worte, nicht meine.«

»Hervorragend, ich liebe großen Erfolg. Und ich liebe mein Strandhaus, habe ich das schon mal erwähnt?«

»Ein- oder zweimal.«

»Wir brauchen zahlungskräftige Klienten, damit ich mir meinen Traum erfüllen kann, mich mit vierzig in meinem Strandhaus zur Ruhe zu setzen«, fuhr Joanna fort. »Erinnerst du dich an unseren Schwur?«

Harriet lachte leise, weil Joanna das schon so oft gesagt hatte. »Dieser Deal könnte uns deinem Traum einen Schritt näherbringen.«

Sie hielt inne, als die Schlange sich erneut in Bewegung setzte, und bückte sich ein wenig, um ihren schwarzen Trolley mit sich zu ziehen. Eigentlich sollte sie sich dafür nicht bücken müssen, aber der ausziehbare Plastikgriff führte ein störrisches Eigenleben, und das schon seit dem Kauf. Sie hätte den Koffer direkt umtauschen sollen, hatte aber zu viel zu tun und dadurch nicht mehr rechtzeitig daran gedacht.

Eine Frau in der schwarzen Uniform der Grenzbeamten lehnte sich über die Absperrung und wedelte mit einer Hand vor Harriets Gesicht herum. »Verzeihung, Ma’am … Hier sind keine Mobiltelefone erlaubt.«

Harriet nickte ihr zu. »Hör mal, ich muss Schluss machen«, sagte sie zu Joanna. »Handyverbot am Flughafen. Wir sehen uns später. Ich muss mein Zeug zu Hause abladen und kurz bei meinen Eltern vorbeischauen, aber dann komme ich ins Büro, okay?«

»Alles klar, bis nachher«, erwiderte Joanna und fügte nach einer kurzen Pause noch hinzu: »Und immer dran denken: Strandhaus, Baby!« Mittlerweile beendete sie jedes Gespräch so.

Harriet steckte das Telefon zurück in die Tasche ihrer grünen Hose und schob ihren Trolley mit dem Fuß vorwärts, der daraufhin leicht nach links eierte. Glücklicherweise war die Einreise-Schlange am kleineren Midway-Flughafen in Chicago nicht allzu lang. Viel schlimmer war es, wenn sie auf ihren zahlreichen Geschäftsreisen nach New York zum O’Hare fliegen musste.

Fünfzehn Minuten später stand sie bereits an der Gepäck­ausgabe und scrollte auf ihrem Handy, während sie auf ihren Koffer wartete.

Dann dehnte sie ihren Nacken und gähnte. Sie hatte einen fiesen Geschmack im Mund und ihr Magen knurrte. Das Mittagessen hatte sie ausfallen lassen und auch während des Flugs nur einen Kaffee bestellt, daher sollte sie sich einen Snack besorgen, bevor sie sich auf den Weg zu ihrem Vater machte, der sich noch immer von seiner »Episode« erholte, wie ihre Mutter es nannte. Ihre Mom tat sich schwer damit, zu akzeptieren, dass Harriets Vater nicht mehr der widerstandsfähige Mann von früher war. Anstatt sich der Realität zu stellen, versteckte sie sich lieber unter der Motorhaube ihres geliebten Mustangs.

Als nach mehreren Minuten immer noch kein Gepäck kam, warf Harriet einen Blick auf den Bildschirm über dem Ausgabeband, um sicherzugehen, dass sie am richtigen wartete. Dabei fiel ihr auf der gegenüberliegenden Seite eine Frau auf, die eine Cubs-Baseballkappe, ein weißes T-Shirt und abgeschnittene Jeans-Shorts trug. Sie sah ebenfalls auf die Anzeige, und etwas am Schwung ihrer Lippen und dem rötlich-goldenen Glanz ihrer Haare kam Harriet bekannt vor. Sie sah aus wie … Harriets Puls begann zu rasen und die Vene an ihrer rechten Hand pochte wie verrückt.

Die Frau sah ein wenig aus wie Sally.

Könnte sie es tatsächlich sein?

Harriet legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen, aber bevor sie die Frau genauer unter die Lupe nehmen konnte, setzte sich das zerschrammte graue Förderband in Bewegung und die Öffnung spuckte ein Gepäckstück nach dem anderen aus. Ihren eigenen Koffer erkannte sie sofort an dem orangefarbenen Band am Griff und sie schnappte sich ihn schnell. Nachdem sie ihn heruntergehievt hatte, richtete sie sich auf und blickte hinüber auf die gegenüberliegende Seite, doch die andere Frau war verschwunden.

Harriet rollte ihr Gepäck ein paar Meter von der Ausgabe weg und sah sich um, konnte die Unbekannte jedoch nirgends entdecken. Nach einer Weile normalisierte sich ihr Puls halbwegs und sie atmete mit zusammengebissenen Zähnen tief durch.

Wahrscheinlich war es nicht Sally.

Und selbst wenn … Was hätte sie zu ihr sagen sollen?

Sie schickte ihrem Bruder Daniel, der bereits bei ihren Eltern war, eine Nachricht mit der Frage, ob sie schon gegessen hatten. Die Antwort kam postwendend und enthielt die Anweisung, etwas vom Lieblingschinesen ihres Vaters mitzubringen.

Harriet ließ den Blick noch ein letztes Mal über den Gepäck­ausgabebereich schweifen, bevor sie sich mit ihren Koffern zum Parkplatz des Flughafens begab, wo ihr silberner Prius auf sie wartete.

Kapitel 3

»Ich drehe gleich durch!«, rief Sally und sah hinauf zur Decke des Gepäckausgabebereichs, deren Beleuchtung die Halle in ein gelblich-weißes Licht tauchte, das sie an die Farbe von saurer Milch erinnerte. Außerdem roch es ein wenig modrig, wie feuchte Wäsche, die man in der Waschmaschine vergessen hatte.

»Immer mit der Ruhe. Erzähl mir noch mal, was passiert ist.«

Es tat gut, Taylors Stimme zu hören, wenn auch nur durchs Telefon. Sie hatte eine beruhigende Wirkung auf Sally, und genau das brauchte sie gerade. Taylor arbeitete als Tapetendesignerin im gleichen Co-Working-Space für Kreative wie Sally in Queens. Seit Sally dort vor fast drei Jahren ein Büro angemietet hatte, waren sie eng befreundet. Sie hatten sich auf Anhieb gut verstanden, weil sie dieselben Farbkombinationen und Biermarken mochten, die beiden wichtigsten Gesprächsthemen unter Designern.

»Jemand hat meinen Koffer mitgenommen«, sagte sie und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Besser gesagt: Irgendein Vollpfosten hat meinen Koffer mitgenommen!«

Einen Monat nach dem Treffen mit ihrem Vater hatte ihre Tante Paula sie zum Abendessen in Chicago eingeladen und zahlte ihr dafür sowohl den Flug als auch die Unterkunft. Also war sie an diesem Donnerstagmorgen auf dem La Guardia ins Flugzeug gestiegen und machte nun den ersten Besuch in ihrer Heimatstadt dieses Jahr. Nur gestaltete sich die Reise schon jetzt zu Beginn weitaus komplizierter als erwartet.

»Ich dachte, du hast ein oranges Band an deinen Koffer gebunden, wie in der Fernsehsendung, von der du mir erzählt hast? Du warst doch so stolz auf die Idee.«

»War ich auch! Trotzdem hat ihn sich jemand einfach geschnappt.«

Taylor hatte ihr geraten, ein regenbogenfarbenes Band um den Griff zu binden, um sich von der breiten Masse abzuheben und ein bisschen queerer rüberzukommen, aber Sally wollte nicht als wandelndes Klischee herumlaufen. Nun allerdings wünschte sie sich, sie hätte auf den Rat ihrer Freundin gehört.

Sie seufzte laut, als ein Mann und eine Frau mit einem Gepäck­wagen voller Koffer an ihr vorbeigingen, ohne etwas von ihrem Leid zu ahnen. Am Griff eines der Gepäckstücke prangte ein orangefarbenes Band. Sally schüttelte resigniert den Kopf. Offensichtlich hatten so ziemlich alle den Rat der Reisereportage befolgt, was den ursprünglichen Sinn und Zweck der Gepäck­kennzeichnung zunichtemachte.

»Also hast du jetzt gar nichts mehr? Hast du denn nichts im Handgepäck dabei?«

Sally runzelte die Stirn. »Nein, du Nervensäge, habe ich nicht.«

»Das heißt, du hast viel zu viel für einen Wochenendtrip ein­gepackt, anstatt nur mit Handgepäck zu fliegen, und jetzt hast du deinen Koffer verloren?«

Die unverhohlene Belustigung in Taylors Stimme brachte Sally unwillkürlich zum Lächeln. Die ganze Situation war in der Tat absurd. Sie verdrehte die Augen und spielte mit der Baseballkappe, die auf ihrem Schoß lag. »Ja, so könnte man es zusammenfassen.«

»Dann bist du wohl aufgeschmissen … Zumindest, bis die Person, die deinen Koffer mitgenommen hat, ihn dir zurückgibt. Vorausgesetzt, es war ein Versehen.« Taylor hielt kurz inne. »Du hast doch nichts Verfängliches eingepackt, oder?«

Sally nagte an ihrer Oberlippe. »Inwiefern?«

»Keine Ahnung … Einen rosa Dildo oder Bondage-Ausrüstung oder so.«

»Nein, die habe ich ausnahmsweise mal zu Hause gelassen«, erwiderte Sally trocken. »Es waren nur meine Klamotten, meine Schuhe und mein Tagebuch drin.« Sie stutzte. »Ich wusste, ich hätte das Tagebuch in meine Handtasche packen sollen.« Bei dem Gedanken, eine fremde Person könnte ihre privatesten Gedanken lesen, verkrampfte sich ihr Magen.

»War irgendwas dabei, wo dein Name oder deine Adresse draufsteht?«

Sally schüttelte den Kopf. »Nein, das hat die Frau bei der Gepäckermittlung auch schon gefragt. Ich weiß nicht, ob ich hier warten oder ins Hotel fahren soll. So habe ich mir den Start meines langen Wochenendes nicht vorgestellt.«

Taylor räusperte sich. »Ich drücke dir die Daumen, dass dein Koffer zurückgebracht wird … Die Chancen stehen gut, vor allem, wenn die Person den Zustand deiner Unterwäsche bemerkt.«

Darüber musste Sally trotz allem lachen und sie rieb sich übers Gesicht.

»Sieh es doch mal positiv: Alles, was in dem Koffer war, kann ersetzt werden. Hast du deinen Pass, dein Handy und deinen Geldbeutel bei dir?«

Sally tätschelte ihre schwarze Handtasche, in der sich ihr Hab und Gut befand. »Ja, alles da.«

»Dann fahr jetzt ins Hotel, genieß die luxuriöse Ausstattung dort und geh später in Chicago shoppen. Du kriegst bald einen Haufen Geld, also kannst du dir das leisten. Kauf dir ein paar hübsche, neue Klamotten und beeindruck deine Tante – und dann überredest du sie dazu, auch in mich zu investieren.«

Wieder musste Sally lachen. Taylor wusste einfach immer, was sie sagen musste, um ihr in jeder noch so bescheidenen Situation Mut zu machen. Sie warf einen Blick in Richtung der Gepäckermittlung, von wo aus die Dame, mit der sie gesprochen hatte, sie mitfühlend anlächelte.

»Weißt du was, du hast recht! Ich nehme mir jetzt ein Taxi zum Hotel und hoffentlich ist der Koffer aufgetaucht, bis ich es mir auf meinem Kingsize-Bett bequem mache.«

»Tu das«, sagte Taylor. »Und vergiss nicht, deine steinreiche Tante zu fragen, ob sie individuell gestaltete Tapete braucht.«

Kapitel 4

Langsam fuhr Harriet die Einfahrt ihrer Eltern hinauf und parkte ihren silbernen Prius vor den weißen Toren der Doppelgarage. Eine der Türen war geöffnet, was bedeutete, dass ihre Mutter an ihrem geliebten flaschengrünen 68er Ford Mustang herumwerkelte, den sie liebevoll Muzzy nannte.

Harriet stieg aus und schob gähnend ihre schwarze Sonnenbrille nach oben ins Haar, bevor sie sich den Nasenrücken massierte, wo sich zweifellos rote Abdrücke abzeichneten. Dann streckte sie die Arme über den Kopf, froh, endlich einmal fünf Minuten Pause zu haben. Für heute hatte sie die Nase gestrichen voll.

Die Mittagssonne stand hoch über dem zweistöckigen, grau-weißen Haus ihrer Eltern, dessen Vorderseite eine frisch gestrichene Veranda umgab, von der aus man den riesigen Zucker-Ahorn inmitten des gepflegten Vorgartens bewundern konnte. Ihre Eltern wohnten in Winnetka, einem Vorort im Norden Chicagos, der bei guten Straßenverhältnissen von ihrem Apartment aus in einer halben Stunde zu erreichen war. Glücklicherweise war auf dem Weg vom Flughafen nicht viel Verkehr gewesen, was bei Harriet für gute Laune sorgte. Sie war berüchtigt für ihr aufbrausendes Temperament, das bei Stau oder im zähen Feierabendverkehr regelmäßig zum Vorschein kam.

Sie betrat die Garage, an deren Wänden sich Regale voller Autoteile, alter Farbdosen sowie diverser Aufbewahrungsboxen aus weißem Plastik reihten. Am anderen Ende der Regale lehnten drei Leitern an der unverputzten Backsteinwand. Mit neun Jahren war Harriet von einer von ihnen gefallen und hatte sich den Arm gebrochen. Seitdem war sie nie wieder selbst auf eine Leiter gestiegen, sondern heuerte Menschen an, die sich weitaus geschickter anstellten als sie.

Wie erwartet steckte ihre Mutter halb unter Muzzys Motorhaube und stützte sich mit einer ölverschmierten Hand an der Karosserie ab.

»Hey, Mom«, sagte Harriet laut genug, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, ohne sie zu erschrecken. Sie wollte keinen der bitterbösen Blick kassieren, die ihre Mutter ihr jedes Mal zuwarf, wenn sie sich den nach einem unglücklichen Zusammenstoß mit der Motorhaube schmerzenden Kopf rieb.

Ihre Mom sah auf und wischte sich die Hände an einem schmutzigen Lappen ab. Sie war immer noch die schickste Mechanikerin, die Harriet je gesehen hatte. Ihr kastanienbraunes Haar war zu einem ordentlichen Knoten hochgesteckt und auf dem pinken Shirt sowie der »Arbeitsjeans« kein Fleck zu sehen. Harriet war sich sicher, dass sie nicht einmal unter ihren sorgfältig lackierten Fingernägeln Ölspuren finden würde.

Man sah ihrer Mutter nicht an, dass sie älter war als ihr Vater, da sie wesentlich besser auf sich achtgab. Sie war immer eine leiden­schaftliche Joggerin gewesen, obwohl sie in den letzten Jahren hauptsächlich wandern ging, um ihre Gelenke zu schonen. Durch einen glücklichen Zufall hatte Harriet die sportliche, schlanke Statur ihrer Mom geerbt, ohne sich groß dafür anstrengen zu müssen.

»Hallo, du«, sagte ihre Mutter mit einem matten Lächeln. »Du bist ja früh dran. Daniel hat mir doch erzählt, dass du in New York warst?«

»Stimmt, aber ich habe einen früheren Flieger erwischt.« Harriet schwieg einen Moment lang. »Wie geht’s dir?«

»Ich versuche, mich hier drin abzulenken«, erwiderte ihre Mom. »Die ganze Sache ist ziemlich nervenaufreibend, aber wir kommen klar. Heute sieht dein Vater schon viel besser aus. Er hat wieder etwas Farbe im Gesicht.«

»Das klingt doch gut.«

Ihre Mutter war fast dreiundsechzig und hatte sich nach einer erfolgreichen Karriere im Bankwesen vor zwei Jahren zur Ruhe gesetzt. Die Herzbeschwerden und der Beinahe-Tod ihres Vaters hatten die ganze Familie schwer getroffen, was sich unter anderem darin abzeichnete, dass Harriet zum vierten Mal diese Woche bei ihren Eltern vorbeischaute, obwohl sie sich sonst nur alle zwei Wochen mit ihrer Mutter austauschte.

Vielleicht sollte sie regelmäßiger zu Besuch kommen … Vielleicht wären die Unterhaltungen dann etwas entspannter.

»Ich habe uns was vom Chinesen mitgebracht. Kommst du mit rein?«

Ihre Mom schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin hier gerade mitten in einer Sache. Außerdem habe ich keinen großen Hunger.«

Harriet musterte sie besorgt. »Isst du überhaupt etwas? Das mit Dad belastet uns alle, aber du musst trotzdem was zu dir nehmen.«

Ihre Mutter hatte schon immer ein schwieriges Verhältnis zu ihrem Gewicht gehabt und pflegte früher regelmäßig Mahlzeiten auszulassen, eine Angewohnheit, die Harriet im Erwachsenenalter übernommen hatte, obwohl sie Essen in jeder Form liebte.

»Mach dir keine Sorgen um mich, mir geht es gut. Bring es deinem Vater, er ist derjenige, der Stärkung braucht. Bleibst du eine Weile?«

Harriet schüttelte den Kopf. »Leider nicht, ich muss mein Gepäck zu Hause abladen und dann gleich weiter zur Arbeit.«

Einen Augenblick lang sah ihre Mutter sie schweigend an, dann nickte sie. »Natürlich, der Job steht an erster Stelle«, sagte sie und wandte sich wieder ihrem Mustang zu. »Vergiss nicht, dich zu verabschieden, bevor du gehst, ja?«

Harriet nickte, verunsichert, welche Richtung sie in diesem emotionalen Labyrinth einschlagen sollte, das ihre Mom und sie immer wieder unbeabsichtigt zwischen ihnen errichteten.

»Mach ich.« War ihre Mutter enttäuscht von ihr? Womöglich deshalb, weil sie sich nicht ebenfalls für eine Karriere im Finanz­wesen entschieden hatte? Oder weil sie unverheiratet und kinderlos war? Vielleicht, weil sie beide keine film-klischeehafte Mutter-Tochter-Freundschaft verband? Wie gern würde sie ihre Beziehung in eine derartige Richtung lenken, nur hatte sie keine Ahnung, wie sie das anstellen sollte.

Sie ließ die nun noch verspannteren Schultern kreisen und ging mit einem Seufzen zurück zu ihrem Wagen, wo sie den Kofferraum öffnete.

In diesem Augenblick flog die Haustür auf und ihr Bruder Daniel kam wie ein übergroßer Labrador herausgestürmt. Bevor sie wusste, wie ihr geschah, schlang er die Arme um sie und drückte sie fest an sich. Das dunkle Haar hing ihm wirr in die Augen und sein Stoppelbart war wesentlich dichter als bei ihrem letzten Treffen vor zwei Tagen. Er pflegte generell einen Hipster-Look, aber im Moment sah er einfach nur ein bisschen verwahrlost aus.

»Lass mich los, du Höhlenmensch«, sagte Harriet mit einem Grinsen. »Und geh endlich mal zum Friseur.«

»Bist du neidisch auf meine Haarpracht?«, fragte er und schüttelte übertrieben den Kopf, sodass seine Locken hin- und herflogen.

»Du bist doch nur rausgekommen, um dir das Essen zu schnappen, ich interessiere dich kein Stück.«

»Natürlich bin ich nur deswegen hier, Shorty«, erwiderte er und griff nach den beiden braunen Papiertüten im Kofferraum. »Komm schon, wir sind am Verhungern.«

Der Geruch von Schnittblumen und Farbe stieg ihr in die Nase, als sie ihrem Bruder durch den hellen, quadratischen Eingangsbereich folgte, vorbei an dem Familienporträt, das an der frisch gestrichenen, weißen Wand gegenüber hing. Ihre Schritte waren auf dem polierten Holzfußboden kaum zu hören. Harriet versuchte, zu ignorieren, wie stark und selbstbewusst ihr Vater auf dem Bild aussah. Früher war ihr immer nur aufgefallen, wie schlaksig Daniel und sie selbst waren, oder wie toupiert die Achtzigerjahre-Frisur ihrer Mutter.

Aber nun sah sie nur noch ihren Vater.

Sie musste sich immer vor Augen halten, dass die Chancen gut für ihn standen.

Als sie die lichtdurchflutete Küche mit ihren tief hängenden Lampen und den weißen Hochglanzschränken betraten, stellte Daniel die Tüten auf einer der blitzblanken Granitarbeitsflächen ab. Auf der Kücheninsel warteten bereits vier Teller samt Besteck aus Sterlingsilber auf sie.

»Du bist ja bestens vorbereitet«, merkte Harriet beeindruckt an. Wenn er nicht gerade herumalberte, konnte ihr Bruder sie durchaus positiv überraschen.

»Ich bin stubenrein und finde mich in einer Küche zurecht«, erwiderte Daniel mit einem Zwinkern und strich sich eine Haar­strähne hinters Ohr. »Eines Tages werde ich einen hervorragenden Ehemann abgeben.«

»Ganz bestimmt«, sagte Harriet. »Wie läuft es eigentlich mit der Frau, von der du letzte Woche erzählt hast?«

Ihr Bruder grinste verlegen. »Wir gehen dieses Wochenende aus.«

Sie hielt eine Hand hoch und Daniel schlug ein. »Ich habe ein gutes Gefühl bei ihr. Du redest ununterbrochen über sie.«

»Warten wir’s ab … Ich will es bei ihr mal langsam angehen lassen.« Lächelnd lehnte ihr Bruder sich gegen die Anrichte. »Aber ich mag sie wirklich. Sie ist irgendwie anders, so … kompetent und erwachsen.«

Harriet schenkte ihm ein warmes Lächeln. »Das wäre wirklich mal etwas ganz anderes als die Frauen, die du sonst immer datest.«

»Kaum zu glauben, oder? Vielleicht lernst du tatsächlich mal eine von ihnen kennen.«

»Sie kann nur besser sein als die Letzte, die du mir vorgestellt hast.«

»Das ist sie. Hoffentlich klappt es bald mal mit einem Treffen. Und wer weiß, vielleicht bringe ich sie sogar zu Mom und Dad mit.«

Harriet hob eine Braue, während sie eine Pappschachtel mit Reis öffnete. »Du denkst darüber nach, sie unseren Eltern vorzustellen? Immer langsam mit den jungen Pferden. Ihr hattet ja noch nicht mal ein Date.«

Daniel zuckte mit den Schultern. »Ich bin zuversichtlich.«

»Apropos unsere Eltern … Wie geht es Dad heute?«, fragte sie, während sie den Rest der Schachteln aus der Tüte holte und sie auf der Arbeitsfläche aufreihte.

Abermals zuckte ihr Bruder mit den Schultern und seufzte tief. »Unverändert«, sagte er. »Im einen Moment ist er wach und relativ gut drauf, im nächsten schläft er tief und fest. Aber er scheint ziemlich starke Schmerzen zu haben, wenn er wach ist. Ich weiß auch nicht. Er klammert sich an sein Brustkissen, als würde sein Leben davon abhängen, aber das ist anscheinend ziemlich normal. Immerhin hat er eine Operation am offenen Herzen hinter sich. Als ich erwähnt habe, dass du was vom Chinesen mitbringst, wurde er deutlich munterer, deshalb hoffe ich, dass er ein bisschen davon isst.«

»Das hoffe ich auch«, erwiderte sie. »Und wie geht es Mom? Ich war gerade bei ihr in der Garage und sie … Na ja, sie war eben typisch Mom.« Harriet lachte leise und verdrehte die Augen.

Daniel, der gerade Reis auf einen Teller löffelte, hielt inne und warf ihr einen Seitenblick zu. »Es geht ihr so weit gut, sie versucht nur, den Schock zu verarbeiten. Die Hälfte der Zeit verbringt sie mit Dad, den Rest bei Muzzy – frag mich nicht, bei wem sie lieber ist.« Er grinste seine Schwester verschmitzt an. »Glaubst du, sie mag Muzzy so sehr, weil sie ihr keine Widerworte gibt?«

»Oder ihr nicht den Alkohol wegtrinkt?«

»Oder sich nicht jahrelang spätnachts ins Haus schleicht und so tut, als würde sie nicht auf Frauen stehen?«

»Vielleicht hat sie ja recht«, erwiderte Harriet lachend und nahm sich zwei der Teller. Beim Duft von gebratenem Reis und Chow-Mein knurrte ihr der Magen. Bislang hatte sie nichts gegessen als ein winziges Gebäckstück während des Morgenmeetings. »Sollen wir zu Dad hoch und bei ihm im Schlafzimmer essen?«

Daniel nickte. »Das gefällt ihm sicher. Und du kannst uns dabei alles über deinen New-York-Trip und die ganzen Frauen erzählen, die du über Nacht verführt hast.«

Hitze stieg Harriet in die Wangen. »Bei meinen Trips geht es rein ums Geschäftliche, nicht ums Vergnügen.«

»Wie langweilig«, erwiderte ihr Bruder.

Kapitel 5

Es war bereits nach halb vier, als Harriet zusammen mit Daniel von ihren Eltern aufbrach, wesentlich später als geplant. Dennoch war sie froh, ein wenig Zeit mit ihrem Dad verbracht zu haben, der sie über New York ausfragte. Sie konnte an einer Hand abzählen, wie oft er sich bisher ernsthaft für ihren Job interessiert hatte – aber vielleicht brachte das eine Nahtoderfahrung so mit sich. Vielleicht hielt sie Menschen dazu an, sich auch mal an anderen Gesprächsthemen zu versuchen.

Ihre Eltern hatten sich nie ganz mit dem Gedanken angefreundet, dass sie ein eigenes Unternehmen leitete, das talentierte Designer und Künstlerinnen an Einzelhändler vermittelte. Es war nicht die Art Beruf, die die beiden als geregelt erachteten. Wann immer sie erwähnten, dass Harriet Unternehmerin war, verzogen sie dabei leicht das Gesicht, als würde es sich dabei um eine ansteckende Krankheit handeln.

Während sie über den Highway fuhr, trommelte sie mit den Fingern im Takt der neuesten Drake-Single auf das Lenkrad. Daniel hatte den Radiosender gewählt und jedes Mal, wenn er mit dem Fuß zur Musik wippte, streifte seine Schuhsole gegen das Armaturen­brett.

»Kannst du das vielleicht sein lassen?«, sagte sie und deutete auf den Schmutzstreifen, den er hinterließ.

»Tut mir leid.« Er stellte den Fuß auf den Boden. »Willst du jetzt wirklich noch ins Büro? Nachdem du in aller Herrgottsfrühe aufgestanden bist, um dir dieses dämliche Meeting anzutun?«

Harriet verdrehte die Augen. »Klar. Arbeitest du heute etwa nicht mehr?«

Obwohl die Klimaanlage endlich Wirkung zeigte und ihr nicht mehr ganz so heiß war, war die Luft immer noch stickig und schwül.

Er schüttelte den Kopf und hielt den Blick nach vorne gerichtet. »Ich habe mir die Woche freigenommen. Irgendwer musste ja für die Familie da sein.«

»Autsch!« Harriet gab ihm einen Klaps auf den Arm. »Ich war schon ein paarmal bei ihnen.«

»Das sollte kein Vorwurf sein. Meine Arbeitszeiten sind einfach flexibler als deine«, erwiderte er achselzuckend. »Obwohl du deine eigene Chefin bist und dir das Unternehmen gehört.«

Diese Diskussion führten sie nicht zum ersten – und sicherlich auch nicht zum letzten – Mal, von daher beschloss Harriet, sie im Keim zu ersticken. Ihr Bruder war ein Freigeist, der nicht nachvollziehen konnte, wie stressig es war, eine Firma zu leiten.

»Nicht schon wieder die alte Leier«, sagte sie mit einem Lächeln, während sie vor dem blau-weißen Haus anhielt, in dem Daniel zusammen mit zwei Mitbewohnerinnen wohnte. Er liebte Frauen und umgab sich in jedem Bereich seines Lebens mit ihnen.

Nachdem er sich abgeschnallt hatte, wandte er sich Harriet zu. »Ich meine ja nur, dass es bessere Dinge gibt, mit denen du deinen Donnerstagabend verbringen könntest. Findest du nicht?«

»Nicht wirklich.« Bevor sie zum Workaholic wurde, hatte es vieles gegeben, dem sie sich lieber widmete, einschließlich Frauen, Alkohol und Tanzen. Aber inzwischen stand nichts davon mehr auf ihrer Prioritätenliste ganz oben.

»Du könntest mal wieder ausgehen, einen Lesbenklub unsicher machen und ein paar Frauen kennenlernen«, schlug Daniel vor und tippte sich an die Brust. »Wenn sogar ich als bescheidener Gärtner jemanden zum Daten finde, schaffst du das auch, Ms Erfolgreiche Unternehmerin. Die Frauen würden dir zu Füßen liegen. Und das meine ich ernst, immerhin habe ich es live miterlebt.«

Lächelnd dachte sie zurück an die Zeiten, in denen sie zusammen ausgegangen waren, erst in eine Bar für Daniel, dann in eine für Harriet. Mit ihrem Bruder im Schlepptau war sie in der Tat ziemlich erfolgreich gewesen, nur leider hatte es bei keiner ihrer Eroberungen zu mehr als drei Verabredungen gereicht. Für gewöhnlich liefen sie alle nach demselben Schema ab: Drinks, Sex, noch mehr Sex, und nach dem dritten Date sahen sie sich nie wieder.

Zwar würde Harriet das gern durchbrechen, freundete sich jedoch langsam mit dem Gedanken an, dass es okay für sie war, nie die große Liebe zu finden. Daniel mochte ihr unentwegt hinterher­jagen, aber das bedeutete nicht, dass sie zwangsläufig etwas für jeden war. Vielleicht waren Harriet und die Liebe einfach nicht kompatibel, und um diese Leere in ihrem Leben zu füllen, stürzte sie sich in ihre Arbeit.

Sie schenkte ihrem Bruder ein mattes Lächeln. »Mein lieber Daniel, ich weiß, du meinst es nur gut, aber wenn ich die Arbeit sausen lasse, bringt Joanna mich um.«

Er lachte laut auf. »Joanna ist eine Schmusekatze. Außerdem wette ich, dass sie heute Abend mit ihrer heißen Freundin unterwegs ist. Wie hieß die noch gleich?«

»Viv.«

»Ach ja, die umwerfende Viv.«

»Sei dir da mal nicht so sicher. Es gibt wohl Ärger im Paradies.«

»Sag das nicht«, schmollte Daniel. »Du weißt doch, wie sehr ich Happy Ends liebe.«

»Ich weiß. Irgendwer muss bei der Geburt unsere Gender-Chromosomen vertauscht haben«, erwiderte sie, nur halb im Scherz. »Und jetzt raus aus meinem Auto. Ich muss mich noch umziehen, bevor ich ins Büro fahre.«

»Wo ist dein Sinn fürs Abenteuer hin? Ich weiß, dass die Harriet von früher noch irgendwo in dir steckt, und ich werde sie da rausholen, wart’s nur ab.«

* * *

Harriets Wohnungstür fiel mit einem befriedigenden Knallen ins Schloss, nachdem sie ihren Koffer hineingeschleift und sie mit dem Hintern zugestoßen hatte. Sie durchquerte das Wohnzimmer mit der offenen Küche am gegenüberliegenden Ende, froh, dass sie vor ihrer Abreise die Holzjalousien heruntergelassen hatte – andernfalls wäre ihr Apartment nun eine Sauna.

Sie schaltete die Klimaanlage ein und trank ein Glas Wasser, bevor sie sich ihrem Gepäck widmete. Erst, als sie den größeren der beiden Koffer öffnen wollte, der die Firmenmuster enthielt, fiel ihr auf, dass das Schloss am Reißverschluss fehlte. Wie zum Teufel war das denn während des Flugs abhandengekommen? Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Was, wenn jemand die Muster gestohlen hatte?

Bitte mach, dass das Schloss einfach abgefallen ist und nicht absichtlich entfernt wurde.

Harriet kniete sich vor den Koffer und betrachtete stirnrunzelnd das orangefarbene Band am Griff. Jetzt, wo sie es genauer in Augen­schein nahm, fiel ihr auf, dass es gar nicht wie ihr Stoffband aussah.

Verdammter Mist.

War das überhaupt ihr Koffer?

Langsam zog sie den schwarzen Metallreißverschluss in eine Richtung auf, dann in die andere. Anschließend öffnete sie den Deckel.

Ungläubig betrachtete sie den Anblick, der sich ihr bot.

Der Inhalt des Koffers roch nach … Was war das für ein Duft? Etwas Süßes, Schweres, Sinnliches.

Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Hugo Boss Red. Ein Parfüm, das eines ihrer kurzlebigen Dates getragen hatte.

Und offensichtlich auch die Person, der dieser Koffer gehörte.

Sie rümpfte die Nase.

Fön, Make-up-Täschchen, marineblauer Blazer, Jeans. T-Shirts, ein rotes und ein blaues. Ein Hemd mit leuchtend gelben Bienen. Ein einzelner weißer Nike-Turnschuh – vermutlich steckte der zweite auch irgendwo da drin. Ein älterer Roman von JoJo Moyes, den Harriet vor ein paar Jahren ebenfalls gelesen hatte.

Aber nirgends eine Spur der sorgfältig verpackten Firmenmuster.

Was nicht verwunderlich war, da es sich eindeutig nicht um ihren Koffer handelte.

»Verdammt«, murmelte sie, sank zurück auf ihre Fersen und rieb sich übers Kinn. »Verdammt, verdammt, verdammt …«

Was sollte sie jetzt tun? Sie brauchte diese Muster, um sie Joanna zu zeigen, aber auch, um zu beweisen, dass sie eine fähige Geschäftsfrau war, nicht jemand, der einfach den falschen Koffer mitnahm und es erst vier Stunden später bemerkte.

Wo zur Hölle war ihr eigenes Gepäck jetzt? Gute Frage, wo­möglich auf halbem Weg ans andere Ende des Lands.

Verdammt, verdammt, verdammt.

Sie stand auf und tigerte im Wohnzimmer auf und ab, bis sie schließlich vor dem Panoramafenster innehielt und die Jalousie hochzog. Vor ihren Augen erstreckte sich der Lake Michigan, dessen Oberfläche im Licht der Sonne glitzerte. Normalerweise beruhigte sie der Anblick, an diesem Nachmittag jedoch nicht.

Abrupt drehte sie sich um und fischte ihr Handy aus der Hand­tasche. Doch dann verharrte sie mit dem Finger knapp über dem Display. Sollte sie Joanna überhaupt in Kenntnis setzen? Aber was würde das bringen?

Vielleicht sollte sie zuerst die Fluggesellschaft anrufen, oder noch besser, den Flughafen. Womöglich saß die Person, die Harriets Koffer hatte, dort über einem Bier und wunderte sich, wann sie wohl ihr Make-up-Täschchen wiedersehen würde.

Ja, sie sollte sich beim Flughafen erkundigen.

Oder vielleicht gab es in dem Koffer einen Hinweis auf die Identität der Unbekannten?

Harriet legte das Handy auf ihren hellen Eichenholzesstisch, eilte zurück zu dem Gepäckstück und begann, die Kleidung auf ihrem beigefarbenen Teppich zu verteilen. Tatsächlich fand sie darunter den zweiten Nike-Schuh. Das Paar war ziemlich abgetragen, was davon zeugte, dass die Besitzerin des Koffers offenbar auf Sport stand.

Mit einem Anflug von Schuldgefühlen dachte Harriet an das Fitnessstudio ihres Apartmentkomplexes, das sie viel zu selten benutzte. Als sie eingezogen war, hatte sie sich fest vorgenommen, regelmäßig zu trainieren, aber dann war ihr die Arbeit in die Quere gekommen. Was bei einem Fitnessraum im vierundvierzigsten Stock, von dem man einen atemberaubenden Ausblick über die Stadt hatte, einem Verbrechen gleichkam.

Außerdem befanden sich noch einige Skizzenblöcke im Koffer, die sie flüchtig durchblätterte. Eines stand fest: Die Unbekannte konnte verflucht gut zeichnen. Zudem entdeckte Harriet ein Mäppchen mit Buntstiften sowie ein Tagebuch. Aha! Das könnte den entscheidenden Hinweis liefern. Sie schlug es auf, und tatsächlich, auf der ersten Seite stand ein mit sichtlich stumpfem Bleistift geschriebener Name.

Sally.

Und darunter eine Telefonnummer.

Harriet atmete langsam aus und ließ sich auf dem Fußboden nieder. Das Tagebuch besaß einen Hardcover-Einband, den hübsche, japanische Designs zierten. Sie blätterte bis zum letzten Eintrag, der erst am Tag zuvor verfasst worden war.

Und die Besitzerin hieß Sally.

Eine Erinnerung an ihre Sally schoss ihr durch den Kopf, wie sie auf dem Balkon des Seehauses ihrer Eltern saß und Tagebuch schrieb … Aber das war eine Ewigkeit her.

Ihr Blick wanderte über die überraschend saubere, gut leserliche Schrift. Die Unbekannte schrieb über ein Treffen mit einer Person namens Ben und einer anderen namens Taylor. Dem Bericht zufolge hatten sie sich in einer Bar verabredet, dort jedoch nicht so viel geschafft wie geplant, aber zumindest hatten sie das neue Projekt zum Laufen gebracht. Der letzte Satz endete mit einem skizzierten Daumen nach oben.

Um was für ein Projekt es sich wohl handelte?

Plötzlich schoss Harriet Hitze ins Gesicht und ihr schlechtes Gewissen meldete sich laut. Sie sollte wirklich nicht im Privatleben dieser Frau herumschnüffeln, sondern sie anrufen und bitten, die Koffer so schnell wie möglich auszutauschen.

Hastig sprang sie auf und schnappte sich ihr Handy, bevor sie wieder nach dem Tagebuch griff und die angegebene Telefonnummer wählte.

Draußen auf der Straße heulte eine Sirene auf. Die einzigen Geräusche in ihrer Wohnung waren das Summen der Klimaanlage und das wilde Pochen ihres Herzens in ihren Ohren.

»Wenn du mich schon wieder vom Handy einer Bekannten aus anrufst, platzt mir langsam der Kragen, Taylor«, meldete sich eine seidige Stimme. »Ich habe heute schon mein Gepäck verloren, ich will der Liste nicht auch noch eine Freundin hinzufügen.«

»Hier ist nicht Taylor«, sagte Harriet, bevor sie sich räusperte und ihren Nacken dehnte. »Spreche ich mit Sally?«

»Ja.« Pause. »Wer ist da?«

»Mein Name ist Harriet. Ich weiß nicht, ob es Ihnen schon aufgefallen ist, aber ich glaube, wir haben am Flughafen die Koffer vertauscht.«

»Moment mal, Sie haben meinen Koffer? Er ist nicht verloren gegangen oder gestohlen worden?«

»Nein, ich habe ihn versehentlich mitgenommen und die Verwechslung erst beim Aufmachen zu Hause bemerkt. Tut mir wirklich leid.«

»Gott sei Dank«, sagte Sally. »Ich habe gerade mit einer Freundin telefoniert und sie vollgejammert, was zur Hölle ich vier Tage lang ohne Kleidung und Make-up in Chicago tun soll. Ich habe ewig am Flughafen gewartet, aber die sagten mir nur, das alle Gepäckstücke vom Band genommen wurden.«

»Also haben Sie meinen Koffer nicht?«

»Nein, der ist noch am Flughafen. Ich habe ihn nicht genommen, weil ich an dem Vorhängeschloss erkannt habe, dass es nicht meiner ist. Allerdings hatte ich ihn kurz in der Hand, weil er wie meiner ein orangefarbenes Band am Griff hatte.« Sie schwieg einen Moment. »Sie haben nicht zufällig neulich diese Reisereportage gesehen, in der den Zuschauern geraten wurde, ein Band um den Griff anzubringen, damit man sein Gepäck leichter wiedererkennt, oder?«

Harriet lachte humorlos auf. »Habe ich tatsächlich. Nur leider funktioniert das wohl nicht besonders gut, wenn alle es tun, nicht wahr?« Sie musste über ihre eigene Blödheit den Kopf schütteln. »Vor allem, wenn jeder dieselbe Farbe benutzt wie in der Sendung.«

»Wohl wahr«, stimmte Sally zu. »Woher haben Sie eigentlich meine Nummer?«

Die Frage ließ Harriets Gesicht erneut heiß werden. Obwohl es ihr nicht leidtat und sie gewissermaßen dazu gezwungen gewesen war, war es dennoch unangenehm, einer völlig Fremden beichten zu müssen, dass sie ihre persönlichen Sachen durchwühlt hatte. Allerdings kam es Harriet vor, als würde sie Sally bereits ein wenig kennen: Sie wusste, dass diese gern Sport trieb, zeichnete, Tagebuch schrieb und legere Kleidung trug.

»Ich habe Ihren Koffer geöffnet und nachgesehen, ob ich darin einen Hinweis auf den Besitzer finde. Unter den Klamotten lag Ihr Tagebuch, in dem Ihr Name und Ihre Telefonnummer standen.« Sie hielt inne und verzog das Gesicht. »Tut mir leid, das klingt irgendwie übel. Ich wollte wirklich nur Sie ausfindig machen.«

»Schon in Ordnung«, erwiderte Sally, obwohl sie nicht mehr ganz so selbstsicher klang wie zuvor.

»Ich habe nichts außer dem Namen und der Nummer gelesen, das schwöre ich«, log Harriet. »Jedenfalls würde ich Ihnen den Koffer gern bringen. Wo sind Sie denn gerade? Noch in Chicago?«

»Ja«, erwiderte Sally. »Aber nur übers Wochenende. Ich treffe mich mit meiner Tante.«

»Für einen Wochenendtrip sind Sie aber mit ganz schön viel Gepäck angereist.«

Sally lachte. »Sie klingen schon wie meine Freundin Taylor. Die hat mich gerade dafür zusammengestaucht, erst so viel einzupacken und den ganzen Kram dann zu verlieren.«

»Wo übernachten Sie? Ich kann den Koffer auf dem Weg zur Arbeit bei Ihnen vorbeibringen, das wäre wirklich das Mindeste nach dem Ärger, den Sie meinetwegen hatten.«

»Ich bin im Kimpton Gray Hotel im Loop. Ist das in Ihrer Nähe?«, fragte Sally. »Heute Abend bin ich mit meinem Vater zum Essen verabredet und hätte vorher gern mein Gepäck hier, um mich vorzeigbar zu machen.«

»Klar, verstehe ich.« Harriet ließ den Blick über die Nike-Schuhe vor sich auf dem Boden, das Tagebuch auf dem Tisch und den Haufen Kleidung neben dem Koffer schweifen. Irgendwie kam ihr die Stimme der anderen Frau seltsam vertraut vor.

Sally. Das konnte doch unmöglich ihre Sally sein, oder?

Nein, das wäre völlig absurd.

»Ich könnte in etwa einer Stunde bei Ihnen sein.«

»Perfekt, vielen Dank.«

Harriet lächelte, froh darüber, das Missverständnis so zügig aufgeklärt zu haben. »Vielleicht könnte ich Sie zur Wiedergut­machung auf einen Kaffee einladen.«

Am anderen Ende der Leitung herrschte kurz Schweigen, bevor Sally antwortete: »Kaffee klingt gut. Ich bin heute Morgen viel zu früh in New York los und brauche dringend einen.« Wie aufs Stichwort gähnte sie hörbar. »Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mich ausfindig zu machen.«

Nach dem Gespräch legte Harriet das Handy auf den Tisch und schaute erneut hinaus auf den See. Ihr deckenhohes Panoramafenster nahm fast die gesamte Breite ihres Wohnzimmers ein und bot einen atemberaubenden Ausblick auf den Lake Michigan, der von ihren Gästen immer bewundert wurde. Zu ihrer Rechten konnte sie einige imposante Gebäude des Stadtzentrums ausmachen, wie etwa den Willis Tower und das ehemalige John-Hancock-Center. Jeden Abend wurde der Himmel vom Feuerwerk auf dem Navy Pier erhellt, und es kam oft vor, dass Harriet den Anblick bei einer Tasse Kräutertee genoss.

Sie atmete tief durch, bevor sie das Zimmer durchquerte und Sallys Habseligkeiten wieder in ihren Koffer packte. Sie hatte recht unbeschwert und nicht allzu angefressen geklungen, worüber Harriet äußerst erleichtert war.

Hatte Daniel ihr nicht vorhin noch ans Herz gelegt, endlich mal wieder auszugehen und neue Leute kennenzulernen? Im Prinzip machte sie gerade genau das.