Das Gefühl von Liebe - Clare Lydon - E-Book

Das Gefühl von Liebe E-Book

Clare Lydon

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Beschreibung

Können eine Frau aus der Stadt und eine Frau vom Land miteinander glücklich werden? Natalie Hill hat die Hoffnung auf die große Liebe schon fast aufgegeben. Zu lange ist sie bereits Single und eigentlich auch ganz zufrieden mit ihrem Leben und ihrer Arbeit in der Gin-Destillerie ihrer Tante in den Cotswolds. Natürlich – wenn eine schöne Fremde mit dunklen Haaren auftauchen würde … Plötzlich steht Ellie Knap vor ihr. Nachdem ihre Beziehung und ihre Karriere gescheitert sind, hat sie London verlassen und will jetzt ihr Glück mit einer Eisdiele auf dem Land versuchen. Direkt gegenüber von Natalies Laden. Als die beiden sich begegnen, ist es alles andere als Liebe auf den ersten Blick. Aber langsam werden die beiden zu Freundinnen. Dann, eines Nachts, auf einer mondbeschienenen Brücke, ändert sich alles … Aber kann Ellie ihre Vergangenheit hinter sich lassen und wird ihr neues Leben in den Cotswolds von Dauer sein? Haben die beiden Frauen die Chance auf ein Happy End?

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Seitenzahl: 376

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Von Clare Lydon außerdem lieferbar

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen

Über Clare Lydon

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Von Clare Lydon außerdem lieferbar

Bevor du sagst »Ich will«

Kapitel 1

Natalie Hill liebte ihre Tante Yolanda aus vielen Gründen, aber leider gehörten ihre Kochkünste nicht dazu. Zum Glück konnte Yolandas Ehemann Max kochen und gewann jedes Mal die Diskussion darüber, wer für das wöchentliche Familienessen verantwortlich sein würde. So auch heute.

Der Duft des mit Rosmarin gewürzten Lammbratens, den sie gerade genossen hatten, hing noch in der Luft. Die Landhausküche ihrer Verwandten strahlte mit ihrem leicht abgenutzten Stil Wärme und Gemütlichkeit zugleich aus. An dem großen Holztisch fanden bequem bis zu acht Leute Platz. Der alte Kamin sowie die Kupfertöpfe und -pfannen, die von der Decke hingen, sorgten zusätzlich für eine angenehme Atmosphäre.

Natalie ließ die Fingerspitzen über die Kante des Esstischs streichen. Als sie fünf Jahre alt gewesen war, hatte sie sich mal damit angelegt. Der Tisch hatte gewonnen.

»Ich habe die neuen Gin-Pralinen probiert, die du vielleicht im Laden anbieten willst.« Yolanda rümpfte die Nase angewidert. »Hast du die vorher mal getestet?« Sie schob sich die letzte Gabel Senf-Kartoffelpüree in den Mund.

»Ja, hab ich. Aber anscheinend haben sie dir nicht geschmeckt?« Um das zu merken, musste man wirklich kein Hellseher sein.

Yolanda schüttelte den Kopf. Erst jetzt fiel Natalie auf, dass die blonden Haare ihrer Tante noch deutlich kürzer waren als sonst. Hatte sie sie abrasiert? Waren das die ersten Anzeichen einer Midlife-Crisis? »Überhaupt nicht. Die mit Whisky waren okay, aber bei denen mit Gin passt irgendwas nicht. Zu viel Schokolade vielleicht?«

»Zu viel Gin«, mischte Yolandas Tochter Fi sich ein. Den Blick hielt sie weiter auf ihr Handy gerichtet, auf dem sie offenbar Bestellungen bearbeitete. Yolanda hatte Fi während des Abendessens mehrfach darauf hingewiesen, dass sie das in ihrer Arbeitszeit hätte erledigen sollen, aber Fi bestand auf ihrem eigenen Zeitplan. Sie war eine hervorragende Brandmanagerin und Verkäuferin, von daher war das schon in Ordnung. Allerdings hasste sie es auch, wenn man ihr Vorschriften machen wollte.

Das Urteil der beiden bedeutete wohl, dass Natalie sich einen anderen Lieferanten suchen musste. »Das klingt ja nicht sehr begeistert. Ich hab welche dabei, wenn du deine Meinung abgeben willst, Max?«

Ihr Onkel verzog enttäuscht das Gesicht. »Aber ich habe einen Gin-Tonic-Cheesecake zum Nachtisch gemacht.«

»Der kommt sicher trotzdem weg. Man kann nie genug Gin haben.« Yolanda musste es ja wissen, denn als Inhaberin der örtlichen Gin-Brennerei war sie die Expertin. Sie wandte sich wieder an Natalie. »Aber wenn wir das perfekte Rezept für diese Pralinen gefunden haben, werden sie weggehen wie warme Semmel. Ich kann die Kasse praktisch schon klingeln hören, du auch?«

»Könnte ich vielleicht, wenn wir in 1985 leben würden, als Kassen noch geklingelt haben.« Fi legte ihr Handy weg, eine fein gezupfte Augenbraue fragend nach oben gezogen.

Yolanda schnipste ihrer Tochter gegen die Schulter. »1985 war ein denkwürdiges Jahr. Da haben wir geheiratet.« Sie beugte sich nach vorne und gab Max einen Kuss auf den Mund.

Natalie wünschte sich insgeheim, ihren Tonfall auch so schnell von tadelnd zu liebevoll ändern zu können, wie ihre Tante. »Ich gehe mal davon aus, dass sich die Kasse zumindest über die Pralinen und die Lieferung der neuen Kerzen freuen wird. Sollte sie besser auch.« Natalie zögerte kurz. »Hast du dir schon Gedanken über dieser Idee mit dem Sommerfestival gemacht? Wenn die Brennerei das Startkapital stellt, könnte das eine tolle Werbeaktion werden. Außerdem könnte es unser Image pushen.«

Yolanda lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und strich sich über den flachen Bauch. Sie verdrückte riesige Portionen, was sich aber nie in ihrem Gewicht niederschlug. In den Augen der modernen Medizin galt sie als Wunder. Natalie dagegen war der Meinung, dass es eher daran lag, dass ihre Tante selten zur Ruhe kam und immer in Bewegung war – was Fi definitiv von ihr geerbt hatte. Mutter und Tochter konnten kaum die Füße stillhalten und gerade hörte Natalie praktisch, wie Yolandas Geschäftssinn arbeitete.

»Müssen wir denn an unserem Image arbeiten?«, fragte ihre Tante stirnrunzelnd. »Wir sind beliebt. Und wir sitzen nicht wie die Carlisles in ihrem Schloss auf einem Haufen Geld.«

Natalie schüttelte den Kopf. »Nein, aber mehr gute Publicity schadet auch nie, oder?«

Yolanda nickte knapp. »Gutes Argument. Mir gefällt die Idee auch. Stell gerne ein Konzept zusammen, dann reden wir weiter. Schaffst du das mit der Planung und Umsetzung? Wir haben schon März.«

Natalie grinste. »Sollte kein Problem sein, gib mir eine Woche.«

Mit einem zustimmenden Laut wandte Yolanda sich wieder an Fi: »Warum fällt dir so was eigentlich nie ein, Töchterchen?«

Fis neuer Boxerwelpe Rocky machte sich unter dem Tisch bemerkbar. Seine Pfoten rutschten auf dem glatten Beton immer wieder weg. Nach einem Blick nach unten nahm Fi ihn auf den Schoß und glücklich schleckte er ihr erst einmal das Gesicht ab. Natalie war sich nicht sicher, ob das erziehungstechnisch eine gute Entscheidung war. Rocky pinkelte aufgrund seines Alters schnell mal, wo er stand und saß – und Fis Schoß war ihm da genauso recht wie jeder andere Platz.

»Weil ich alle Hände voll mit meiner Familiengründung habe. Du wolltest doch unbedingt Enkelkinder. Hier, bitte schön.« Fi winkte Yolanda mit einer von Rockys Vorderpfoten zu. Sie hatte sich ihre kurzen Haare vor Kurzem grau gefärbt und Natalies Tante war darüber nicht sonderlich begeistert. Mit ihren 56 Jahren tat Yolanda schließlich alles dafür, um das Alter aufzuhalten, und verdeckte ihre echten grauen Haare mit blonden Strähnchen. Wieso Fi also absichtlich graue Haare wollte, war ihr offenbar ein Rätsel.

»Wo wir gerade von Schokolade reden: Wollt ihr wissen, wo ich neulich was echt Leckeres probiert habe?« Fi wartete ihre Antwort gar nicht erst ab. »In der Chocolate Box. Keine Ahnung, wer den Laden inzwischen führt, aber deren Lieferant ist echt gut. Du solltest mal fragen, mit wem sie arbeiten.«

Natalie verschränkte die Arme vor der Brust. »Hab gehört, dass es jemand aus London ist, der hier das schnelle Geld machen will.«

Die vorherigen Inhaber, die McManns, hatten die Arbeit in ihrem Geschäft gegen Ende ein wenig schleifen lassen. Sie waren beide weit über 60 und Elijah McManns Gesundheit hatte sich zunehmend verschlechtert, weswegen sie den Laden letztendlich unter Marktwert verkauft hatten, um die Übergabe zügig abzuwickeln. Das Ganze war Natalie immer noch ein Dorn im Auge. Sie hasste es, wenn sich diese Großstadt-Idioten in kleinen Städten breitmachen wollten.

Fi zuckte mit den Schultern und schob ihren noch halb vollen Teller von sich. »Keine Ahnung, aber du solltest mal hingehen. Sie haben alles neu gemacht, sieht echt gut aus. Modern. Außerdem verkaufen sie unterschiedlichen Süßkram.« Sie zog eine Augenbraue nach oben. »Und Kerzen.«

War ja klar. »Dann müssen wir eben einfach dafür sorgen, dass unsere besser sind.«

»Da habe ich keine Bedenken, solange Natalie sich darum kümmert.« Max zwinkerte ihr zu und begann, die Teller abzuräumen. Wenn sich Natalie je wieder auf eine Beziehung einlassen würde, dann wollte sie eine wie die ihrer Tante und ihres Onkels. Im Gegensatz zu ihren eigenen Eltern waren die da ein gutes Vorbild.

»War Dad heute im Büro?«

Yolanda schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck von ihrem Merlot. Ihr diamantbesetzter Ehering funkelte, als sie das Glas anhob. Yolanda hatte teuren Schmuck schon immer genauso sehr gemocht wie teuren Gin. Zum Glück konnte sie sich beides leisten. »Nein, er hat sich wieder krank gemeldet. Aber er hat im Homeoffice gearbeitet, du weißt ja, wie er ist.«

O ja. Seine Ehe war den Bach runtergegangen, doch er hatte sich nicht einen Tag freigenommen, um sie vielleicht doch noch zu kitten. Für ihren Vater kam Arbeit immer an erster Stelle. Auch deswegen hatte ihre Mutter ihn verlassen. »Ich fahre morgen vorbei und sehe nach ihm. Als ich ihm vorhin geschrieben habe, meinte er, dass er sich bloß ein bisschen unwohl fühlt.« Das sah ihm gar nicht ähnlich, aber sie würde dem Ganzen auf den Grund gehen. Und sie würde auch das Schokoladenproblem lösen. Auf keinen Fall wollte sie ihre Tante enttäuschen.

»Hat Fi dir erzählt, dass sie sich eine Dating-App runtergeladen hat, in der sich Leute aus den Cotswolds kennenlernen können.« Ein Funkeln trat in Yolandas braun-grüne Augen und sie legte ihrer Tochter eine Hand auf den Arm.

Fis Wangen färbten sich rot und sie fühlte sich sichtlich unwohl, plötzlich so im Mittelpunkt zu stehen. »Noch kein Glück, also mach dir nicht zu viel Hoffnungen.« Sie warf Natalie einen Seitenblick zu. »Die Auswahl ist hier nicht besonders groß, davon können Natalie und ich ein Lied singen.«

»Dir kann doch niemand widerstehen.« Yolanda kniff Fi in die Wange, was diese jedoch sofort unterband, indem sie den Kopf nach hinten wegzog. Zumindest damit musste Natalie sich nicht mit ihrer eigenen Mutter herumschlagen, da diese vier Stunden entfernt wohnte.

»Du solltest es auch mal versuchen. Du arbeitest viel zu viel.«

Jetzt errötete Natalie. »Ich habe mehr als genug Freizeit.«

»Hast du nicht. Du bist noch keine vierzig, du solltest viel mehr ausgehen. Stattdessen arbeitest du ununterbrochen«, meinte Yolanda. »Du steckst quasi jede wache Minute in Upper Chewford oder die Brennerei.«

»Das macht mir nichts aus, ich habe Spaß daran.«

»Mir macht es was aus.« Yolanda stupste ihr mit dem Zeigefinger gegen die Brust. »Du könntest doch mal zu dieser Herzblatt-Veranstaltung in den Pub gehen. Da sind immer Frauen aus der Gegend dabei, und außerdem würdest du Eugenie damit einen Gefallen tun.«

Natalie seufzte. Eugenie, die Besitzerin des Golden Fleece, war eine gute Freundin von Yolanda. Aber das hatten sie alles schon so oft durchgekaut. »Ich will nicht mit Harry ausgehen, das habe ich dir schon gesagt. Und hat sie nicht ohnehin was mit Josie am Laufen?«

»Nein, Josie ist wieder zurück in die USA«, warf Fi ein.

»Ich bin nicht gern die zweite Wahl. Außerdem wisst ihr genau, dass ich nicht gerne vor Leuten spreche.« Seit einem Vorfall in ihrer Schulzeit mied Natalie das Rampenlicht, wo sie nur konnte.

»Du musst da vor niemandem sprechen. Du stellst vorbereitete Fragen, ist wirklich keine große Sache. Außerdem sind da noch zwei weitere Frauen außer Harry.«

Natalie schloss die Augen. Sollte sie das machen? Sollte sie zustimmen, damit ihre Tante das Thema endlich ruhen ließ? Sie stand dabei immerhin nicht auf einer Bühne, das war ihre größte Angst. Und im Pub fühlte sie sich immer wohl. Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum, während sie den Vorschlag abwog. »Lässt du mich in Ruhe, wenn ich darüber nachdenke?«

Yolanda grinste sie honigsüß an. »Ja. Mehr wollte ich gar nicht hören.« Sie zwinkerte Natalie zu.

»Ich sag Eugenie, dass du so gut wie zugesagt hast.«

Kapitel 2

Ellie Knap schaute aus dem größten Fenster des Cottages. Dieser Ausblick hatte sie zur Unterschrift des Mietvertrags bewogen: saftig grüne Wiesen und ein strahlend blauer Himmel. So ganz anders als die Aussicht in ihrer Londoner Wohnung. So viel anders als in London hatte ihr Morgen heute allerdings nicht begonnen, denn sie hatte bereits drei Schmerztabletten intus. Zwei nach Einnahmeempfehlung auf der Packung und eine zusätzliche. Jetzt massierte sie sich die Schläfen, während sie wartete, dass das quälende Pochen in ihrem Schädel nachließ. Sollte sie noch eine nehmen? Sie verzog das Gesicht. Nein. Sonst endete sie wie einer dieser amerikanischen Sitcom-Stars – in einer Schmerzmittelabhängigkeit. Eigentlich hatte die viele frische Luft sie von den Kopfschmerzen befreien sollen, aber noch war die erhoffte Wirkung nicht eingetreten.

In diesem Moment riss das Geräusch eines Autos, das ihre Einfahrt herauf kam, sie aus ihren Gedanken. Ein kurzer Handgriff ließ die Kaffeemaschine zum Leben erwachen. Vielleicht hätte eine Runde Joggen die Kopfschmerzen vertrieben. Aber sie war seit fast einem Jahr nicht mehr laufen gewesen – noch ein Umstand, den sie mit dem Umzug auf das Land hatte ändern wollen.

Ellie hörte, wie draußen eine Autotür zugeschlagen wurde und rieb sich ein letztes Mal über die Schläfen, bevor sie ihr überzeugendstes Lächeln aufsetzte. Ihre Schwester Red kam für eine Woche zu Besuch und Ellie wollte, dass sie einen schönen Urlaub in den Cotswolds verbrachte. Vielleicht würde sie ihr dann nicht mehr damit in den Ohren liegen, dass Ellie sich hier vor der Welt versteckte und ein Einsiedlerleben führte. Als könnte Red da mitreden, wo sie doch ein perfektes Leben zwischen perfekt manikürten Rasenflächen in Hampshire führte.

Ellie riss die Tür auf und wurde im nächsten Moment in eine Umarmung gezogen. Mit 1,75 Meter war sie keine kleine Frau, aber Red überragte sie mit ihren knapp einsachtzig Meter um ein gutes Stück.

»Wie geht’s meiner Schwester in ihrem Kloster-Exil?« Red gab sie wieder frei und hielt sie auf einer Armlänge Abstand fest. »Du hast abgenommen.« Sie runzelte die Stirn. »Das hätte es nach der Sache mit Grace nicht auch noch gebraucht. Ich kenne keine Frau, die einen unpassenderen Namen trägt. Ich lebe praktisch nur von Koffein und Schokolade, aber ich schwöre, ich hab diese Woche schon wieder zugenommen.« Red schnappte sich Ellies Hand und diese kniff sie pflichtbewusst in den nicht vorhandenen Hüftspeck.

»Sag’s ruhig, ich bin fett geworden, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, oder? Sei ehrlich, ich brauch das. Gareth meint immer nur, dass ich dummes Zeug rede.«

Gareth war Reds duldsamer Ehemann. Ellie verdrehte die Augen. »Du redest dummes Zeug. Ich bin da ganz bei Gareth. Wie wissen beide, dass du essen kannst, was immer du willst.« Sie umarmte ihre Schwester noch einmal und hielt sie ein bisschen länger fest als nötig. Nachdem sie in den letzten Wochen mit fast niemandem gesprochen hatte, war der Anblick eines vertrauten Gesichts erfrischend. Insbesondere von einem Menschen, der sie kompromisslos unterstützte.

Red hielt Ellies Hand noch immer umfasst und zog sie nun in die Küche. Sie stellte ihre schwarze Prada-Lederhandtasche auf einem der Hocker an der Frühstückstheke ab und holte eine kleine weiße Schachtel heraus. Neue Schokoladenkreationen. Ellie war immer Reds Versuchskaninchen gewesen, als sie sich vor Jahren eine Wohnung geteilt hatten. Manchmal vermisste sie diese unbeschwerte Zeit.

»Welche Sorte?« Ellie hob den Deckel an, auf dem in silberner Schrift Red Chocolatier eingeprägt war.

»Mach uns einen Kaffee, dann probieren wir zusammen. Kokosnuss mit einem Hauch Kirsche. Die Idee ist mir letztes Jahr in Australien gekommen. Dort gibt es Schokoriegel mit Kokos und Kirsche, eine unglaublich tolle Kombination. Wenn sie dir schmecken, bring ich dir ein paar für deinen Laden. Ich hab schon welche an meine eigenen Kunden verschickt und das Team muss sie am laufenden Band nachproduzieren.« Sie zwinkerte Ellie zu. »Ich denke, das wird ein voller Erfolg werden.«

Ellie stellte eine Kaffeetasse unter die Ausgabe der Maschine und drückte auf den grünen Knopf, bevor sie sich eine Praline in den Mund schob. Als sich die herrlichen Geschmacksnuancen auf ihrer Zunge ausbreiteten, hielt sie einen Moment inne. Das war absolut köstlich. In letzter Zeit waren Glücksmomente rar gesät gewesen, aber auf Reds Pralinen war immer Verlass. Ellie dankte dem Schicksal dafür, dass ihre Schwester Schokoladenmeisterin geworden war und nicht Buchhalterin. Damit würde sie Ellie zwar einiges an Steuern sparen, aber es wäre bei Weitem nicht so lecker.

»Schmeckt’s?«

Ellie fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, bevor sie antwortete. »Unglaublich gut. Aber ich belasse es bei einer, sonst gibt es pures Hüftgold.«

»Ach komm schon«, entgegnete Red. »Wann hast du das letzte Mal was anderes als Marmite auf Toast gegessen?«

Ellie versuchte, das Marmite-Glas auf der Anrichte zu verstecken, scheiterte aber kläglich.

Red griff über die Theke und schnappte es sich, um es ihr triumphierend vor die Nase zu halten. »Beweisstück A.« Sie schüttelte den Kopf. »Wann hast du das Haus das letzte Mal verlassen außer zum Einkaufen?«

Ellie hatte bereits in einem Telefonat mit Red zugeben müssen, dass sie eigentlich nur zweimal vor die Tür gekommen war, um das Nötigste zu besorgen. »Ich hab dir schon gesagt, dass ich eine Auszeit von allem brauche. London hat mich geschafft. Ich nehme mir ein bisschen Zeit für mich selbst.«

Red seufzte und stellte das Glas wieder auf die Arbeitsfläche. »Machst du das denn? Verbringt man Zeit mit sich selbst nicht normalerweise mit Wellness, in Yoga-Ressorts? Oder klettert man nicht auf Berge, um sich oben angekommen so richtig frei zu fühlen?« Sie machte eine ausladende Geste. »Du hast hier die pure ländliche Idylle, aber von Eat, Pray, Love sehe ich hier nicht viel. Die Frau ist nach Italien gereist und hat alles mitgenommen, was ihr dort geboten wurde. Du bist in die Cotswolds gezogen und hast kapselst dich von allen ab.«

Ellie gab einen Schuss Milch in Reds Kaffee, bevor sie den Karton zurück in den Kühlschrank stellte. »Du liest zu viel Marie Claire. Das Leben ist kein Hochglanzmagazin. Es ist kompliziert und anstrengend. Ich hab diese Zeit gebraucht.«

Red nahm ihren Kaffee entgegen und zog Ellie hinüber zum Sofa auf der anderen Seite des Wohnraums.

»Du musst mal wieder rausgehen. Wieder in Kontakt mit anderen Menschen und dem Leben kommen.« Red griff nach Ellies Hand und strich mit dem Daumen über ihre Fingerknöchel. »Und du brauchst dringend Handcreme, darum kümmern wir uns heute Nachmittag.« Als sie lächelte, zeigten sich kleine Fältchen um ihre Augenwinkel. Doch wenigstens erreichte Reds Lächeln ihre Augen, was Ellie von ihrem Eigenen in letzter Zeit nicht behaupten konnte.

Red musterte sie von unten bis oben. »Du siehst dünn und traurig aus. Deine hübschen blauen Augen strahlen nicht mehr. Und du musst mal wieder zum Friseur.«

Gott, Menschen konnten so undiplomatisch sein, wenn man mit ihnen verwandt war. Ellie fuhr sich mit einer Hand durch die nachtschwarzen Haare. Red hatte recht. Sie betrachtete das perfekt geschminkte Gesicht und die hübsch frisierten, rot gefärbten Haare ihrer Schwester. Wenn Red jemals eine schwere Zeit in ihrem Leben durchgemacht hatte, wusste Ellie nichts davon.

»Ich weiß. Aber es ist schwer, einen neuen Friseursalon zu finden.«

»Dann erledigen wir das heute. Der einzige Punkt auf unserer Tagesordnung.« Red schüttelte erneut den Kopf. »Ich dachte, dass dein Umzug hierher deine Fahrkarte in ein glücklicheres Leben ist. Du hast letztes Mal schon gesagt, dass sich etwas verändert, aber tut es das auch?«

Ja, das hatte Ellie ihr erzählt. Aber dieses Mal würde sie es wahr machen. »Es verändert sich einiges. Das sind meine letzten Wochen in diesem Cottage. Die Chocolate Box läuft gut – hauptsächlich dank dir und Donna – und der Verkauf der Eisdiele ist durch. Ich treffe mich morgen früh mit der Maklerin zur Schlüsselübergabe.«

Reds Gesichtsausdruck entspannte sich etwas. »Gut. Genau das brauchst du. Du musst wieder unter Leute kommen und aufhören, dich mit deinem Toast vor allem zu verstecken. Was würde dein Londoner Fitnesstrainer dazu sagen, dass du dich nur von Kohlenhydraten ernährst?«

Ellie lachte und diesmal war es ehrlich. Darauf konnte sie bei Red immer zählen. »Ich glaube nicht, dass er noch mal mit mir sprechen würde.«

Ihr Personal Trainer Bryan, der sich selbst nur von Eiweiß und Gemüse ernährte, wäre entsetzt. Aber nach sechs Monaten auf dem Land erschien ihr London so unglaublich weit weg. Sechs Monate, in denen ihr nur Schafe Gesellschaft geleistet hatten.

In London hatte Ellie eine erfolgreiche Karriere als Finanzanalystin zurückgelassen. Die Kopfschmerzen, die sie täglich quälten, zeugten von ihrem Erfolg. Aber dann, nachdem sie Grace mit ihrer Assistentin und Officemanagerin in flagranti erwischt hatte, war etwas in ihr zerbrochen. Ellie hatte die Notbremse gezogen, war von der Karriereleiter gestiegen und hatte es keine Sekunde lang bereut.

Nun war es an der Zeit, ein neues Kapitel in ihrem Leben aufzuschlagen. Aber sie hatte eine Heidenangst davor. Würde sie sich unter neuen Leuten zurechtfinden? Würde die Dorfgemeinschaft sie und ihre Eisdiele mit offenen Armen aufnehmen?

Die mutige, selbstbewusste Londoner Ellie hätte es einfach angepackt und durchgezogen. Diese Seite war immer noch irgendwo in ihr. Sie musste sie nur wieder herauslocken.

»Bist du wenigstens mal in der grandiosen Landschaft joggen gegangen, in der du hier wohnst? Gareth und ich haben heute Morgen zehn Kilometer geschafft, bevor ich losgefahren bin.«

Ellie verdrehte die Augen. »Du bist ja auch Superwoman und lebst ein Leben, das keiner nachmachen kann. Ich habe mich noch eine Runde im Selbstmitleid gesuhlt. Außerdem hat es viel geregnet.«

Red schüttelte den Kopf und zog ihre Schwester noch einmal in die Arme. »Ich mache mir Sorgen um dich, das weißt du, oder? Irgendwer muss es ja. Unsere Eltern sind da zu nichts zu gebrauchen.«

Darüber musste Ellie herzlich lachen. »Nein, wirklich nicht.« Sie setzte sich etwas gerader hin. »Aber wie schon gesagt: Ich fahre morgen ins Dorf und hole die Schlüssel ab. Ist noch viel Arbeit, aber die Baufirma hat gemeint, dass sie es in fünf Wochen schaffen. Mit ein bisschen Glück kann ich Ende April aufmachen. Joggen war ich zwar nicht, aber ich bin auch nicht nur herumgesessen.«

Die Eisdiele musste komplett umgebaut werden, da der Vormieter des Ladens dort eine Schneiderei betrieben hatte. Die Chocolate Box hatte Ellie übernommen, weil der Preis gut gewesen war und alles andere mit Red als Geschäftspartner dumm gewesen wäre. Außerdem hatte Red dort ihre Freundin Donna als Geschäftsführerin eingesetzt, was Ellie vom Tagesgeschäft entband. Sie musste nur für alles blechen. Doch die Eisdiele war ihr Baby, und da würde sie bei jedem Schritt selbst Hand anlegen. Bislang hatte sie ihre Arbeitstage damit verbracht, Zahlen in Tabellen zur Kooperation zu überreden – blieb nun die Frage, wie sie sich im täglichen Umgang mit der Kundschaft schlagen würde. Aber das würde sie wohl bald herausfinden.

»Gut.« Red runzelte die Stirn. »Wann holst du morgen die Schlüssel ab?«

»Irgendwann nach vier.«

»Um die Uhrzeit habe ich eine Telefonkonferenz angesetzt. Wie weit ist es bis nach Upper Chewford?« Red griff nach ihrer Kaffeetasse.

»Etwa 15 Minuten mit dem Auto.«

»Können gleich mal mit dem Rad hinfahren? Ein bisschen frische Luft würde dir guttun und ich habe die Räder mitgebracht.«

Ellie zögerte einen Moment lang, nickte dann aber. »Klar, warum nicht.«

Red grinste. »Dann Kaffee austrinken und los geht’s. Du kannst mir deine neue Eisdiele zeigen und auf dem Rückweg gehen wir Mittagessen.«

* * *

Red hatte vergessen, die Fahrradhelme einzupacken, aber Ellie fuhr sowieso lieber ohne. Als sie sich den Hügel zum Radweg hinunterrollen ließen, der durch die Felder nach Upper Chewford führte, vergaß sie einen Moment lang alle Sorgen. Red hatte recht. Sie musste nur mal wieder den Wind im Haar und die Sonne auf der Haut spüren. Lächelnd hob sie das Gesicht den warmen Strahlen entgegen. Sogar ihre Kopfschmerzen ließen etwas nach.

»Das ist großartig!« Der Fahrtwind trug ihr Red Worte entgegen und Ellie konnte die Freude ihrer Schwester deutlich hören. Ein Großteil von Reds Schokoladenkundschaft wohnte in ihrem Heimatdorf in Hampshire und sie fuhr immer mit dem Rad zu ihnen, wenn sie konnte. »Viel besser als im Auto zu sitzen.«

Ellie nickte und sog tief den Duft der Felder, den öligen, scharfen Geruch des Rapses ein, der auf ihnen angebaut wurde. Ein Auto passierte sie in entgegengesetzter Richtung, als sie auf den unbefestigten Weg abbogen, der für Spaziergänger und Radfahrer gedacht war. Jetzt, Mitte März und außerhalb der Ferienzeit, war hier kein Mensch unterwegs. Sie fuhren nebeneinander weiter.

»Hast du dich eigentlich schon für einen Namen entschieden?«

»Für die Eisdiele?« Ellie warf Red einen Seitenblick zu, die sich gerade etwas aus dem Gesicht wischte.

»Ja.«

Sie schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Ich will was Witziges, das hängen bleibt, aber nicht zu sehr nach Großstadt klingt. Ich will mich gut einfügen, nicht unangenehm auffallen. Das ist einer der Gründe, warum ich den Namen der Chocolate Box behalten habe.« Red hatte für einen moderneren Namen plädiert, aber in diesem Punkt war Ellie hart geblieben. Sie hoffte, die Einheimischen so von sich überzeugen zu können. Ob das geklappt hatte, würde sie herausfinden, sobald sie selbst ihren Laden eröffnete.

Sie blickte in eine goldene Zukunft – zumindest sagte Red das immer. Sie musste es nur angehen. Was Grace gerade wohl machte? Ellie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr: 10 Uhr morgens. Wahrscheinlich saß sie gerade auf ihrer Schreibtischkante, das Handy zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt und bellte Zahlen ins Telefon.

Ellie umfasste die Handgriffe des Fahrradlenkers ein wenig fester und trat kräftiger in die Pedale. In diesem Moment ging ihr etwas auf: Grace war Teil ihres früheren Lebens. Ihr neues Leben zeigte sich gerade auf diesem Fahrrad und in ihren protestierenden Muskeln.

Ihr altes Leben war auf Autopilot eingestellt gewesen, und an ihr vorbeigezogen. In ihrem neuen wollte sie sich im besten Sinn die Hände schmutzig machen. Anders als ihre Schwester, die gerade neben ihr wild gestikulierte. »Scoop-a-licious? The Ultimate Scoop? Ice Ice Baby?« Red unterstrich jeden Vorschlag mit einem ausladenden Schwenk und ihr Rad schlingerte wild nach links und rechts. Irgendwann erwischte sie sogar Ellie.

Diese konnte sich nur mit Mühe aufrecht halten und musste aufpassen, dass sie nicht im nächsten Dornenbusch landete. Sie bremste scharf und stützte sich mit einem Fuß auf dem Boden ab, damit ihr Puls sich wieder etwas beruhigen konnte. »Hey!« Kurze Bestandsaufnahme – alle Körperteile noch dran. »Pass doch auf, wo du hinfährst.«

Red stoppte und grinste sie verlegen an. »Tut mir leid. Die Namensfindung für die Eisdiele hat mich ein bisschen mitgerissen. Aber die waren doch gut, oder?«

Ellie verdrehte die Augen, ehe sie ihren Weg Seite an Seite fortsetzten. »Sie waren tatsächlich nicht schlecht«, räumte sie schließlich ein. »Du verschwendest dein Talent im Schokoladenbusiness. Geh doch ins Marketing oder in die Markenentwicklung.«

Ihre Schwester lachte schallend, behielt aber die Hände brav am Lenker. »Ich weiß. Aber ich würde wahrscheinlich schon beim ersten Meeting jemanden umbringen, also bleibe ich lieber in meiner Küche.«

»Als wärst du je in deiner Küche geblieben.« Red Chocolatier war auch deshalb so erfolgreich, weil Red selbst die Marke war. Sie war schon von Hochglanzmagazinen und Tageszeitungen interviewt worden, und ihre Schokoladenkreationen standen auf jedem Wunschzettel für handgemachte Köstlichkeiten.

»The Ultimate Scoop gefällt mir.« Der Pfad machte eine Biegung nach rechts in Richtung des Flusses Ale. Zu Fuß war sie hier schon ein paarmal unterwegs gewesen. »Das könnte gut passen.«

Eine Weile fuhren sie schweigend weiter, begleitet vom Zwitschern der Vögel und dem Rauschen der Baumkronen. Sie verließen den Weg und rollten ins Dorf. Red stieß einen lang gezogenen Pfiff aus. »Ist das Upper Chewford und die Brücken, von denen du erzählt hast?«

Ellie nickte und der Anblick brachte sie zum Lächeln. »Ist es.«

Der Ale im Süden des Dorfes war mit seinen etwa zehn Metern Breite und einem knappen Meter Tiefe zwar eher ein größerer Bach, aber das störte die Enten, die ihn bevölkerten, wenig. Auf der ganzen Länge des Dorfes führten zahlreiche winzige Fußgängerbrücken, auf denen jeweils nur drei oder vier Menschen gleichzeitig Platz fanden, über das Wasser. Entlang des Bachs reihten sich etliche Cottages, Pubs und üppige Gärten aneinander. Die Gebäude waren aus dem gelblichen Sandstein erbaut worden, der so typische für die Cotswolds war.

»Diese Brücken sind so niedlich! Aber dank des fehlenden Geländers landet da bestimmt der ein oder andere Pub-Besucher mal im Wasser.«

»Ich weiß«, meinte Ellie. »Mein neues Dorf ist echt goldig. Warte mal, bis du den Marktplatz siehst, wo auch das Ultimate Scoop ist. Sieht aus, als hätte jemand die Kulisse eines Fünf Freunde-Romans mit Gilmore Girls gekreuzt.«

»Wenn es einen Diner gibt, bei dem Luke hinter der Theke steht, können wir dort sehr gerne Mittagessen.«

Ellie schüttelte den Kopf. »Kein Diner. Aber wenn die Eisdiele gut läuft, könnte das meine nächste Geschäftsidee werden.« Sie passierten eine junge Frau mit einem Boxerwelpen an der Leine, der sie aufgeregt anbellte.

»Wolltest du nicht auf dicke Londoner Hose machen und einfach das ganze Dorf aufkaufen?«

»Hab ich doch glatt vergessen«, antwortete Ellie grinsend. »Aber du hast recht. Mit deiner Hilfe werde ich diese Woche zur echten Cotswolderin, die sich perfekt in die Dorfgemeinschaft eingliedert. Lass uns über die Brücke da fahren, auf der die Frau steht. Der Platz ist nur ein Stück weiter, glaube ich.«

»Kann’s kaum erwarten, dein neues Reich zu sehen«, meinte Red. »Aber versprich mir bitte, dass du kein Bananeneis auf die Karte nimmst, oder? Alles mit Bananen sollte verboten werden.«

»Ich liebe Bananen!« Ellie Rad schlingerte ein wenig, als sie sich umdrehte. Einen Sturz in den Fluss konnte sie nicht gebrauchen. Das wäre kein guter Start in ihr Leben in den Cotswolds. »Ich hatte an Banane mit Karamell gedacht. Oder vielleicht Banoffee.«

Red steckte sich zwei Finger in den Mund und machte ein Würgegeräusch. Doch dadurch verlor sie die Kontrolle über ihr Rad und fuhr direkt in Ellie rein, als sie ausscherte. Und dieses Mal machte auch Ellie einen Schlenker, als Reds Arm sie traf.

Keine gute Idee auf einer gerade mal drei Meter breiten Brücke. Sie hielt direkt auf eine zierliche Frau mit kurzen Haaren zu, die sich der Gefahr nicht bewusst war, die auf sie zurollte.

Panik breitete sich in Ellie aus und sie versuchte verzweifelt, die Kontrolle über ihr Fahrrad zu behalten. Sie drückte beide Bremsen und schwenkte noch weiter nach links. Im gleichen Moment drehte die Frau sich zu ihr um.

»Was machen Sie denn?«, rief die Frau erschrocken und machte einen Satz zur Seite. Unglücklicherweise stolperte sie dabei und taumelte nach hinten.

Ellie wollte sie noch warnen, da sie sich zu nah an der Kante der Brücke befand. Ihr Rad kam schlitternd zum Stehen und ließ kleine Steinchen aufspritzen. Die Frau machte einen Schritt nach hinten, als sie von ihnen im Gesicht getroffen wurde. Das brachte sie erneut ins Straucheln und plötzlich war da keine Brücke mehr unter ihrem Fuß, als sie weiter zurückwich.

»Nein!«, schrie Ellie erschrocken auf, ließ ihr Fahrrad los und rannte auf die Frau zu.

Zu spät.

Der Abgang der Fremden von der Brückenkante war beinahe elegant. Mit einem lauten Platschen landete sie im Wasser und das Geräusch übertönte sogar Ellies dröhnenden Herzschlag. Die Zeit schien stillzustehen und einen Moment lang herrschte Totenstille.

Ellie schloss die Augen. Scheiße.

Als sie sie wieder öffnete, kam die Frau prustend auf die Beine. Hoffentlich bedeutete das, dass sie sich nicht verletzt hatte. Es war bestimmt ein gutes Zeichen. Allerdings befand sie sich noch immer im Fluss. Wasser rann ihr über das Gesicht, tropfte aus ihren Haaren und ihre Kleidung war komplett durchnässt. Ihre Laufkleidung deutete darauf hin, dass sie gerade beim Joggen gewesen war oder zumindest auf dem Weg dorthin.

Ellie hatte keine Ahnung, wie sie sich dafür entschuldigen sollte. Was musste ihre Schwester auch solchen Blödsinn veranstalten.

Sie lehnte sich über die Brückenkante und hoffte, dass sie zerknirscht genug aussah. »Geht es Ihnen gut? Es tut mir so leid, das war unsere Schuld.« Ellie schüttelte den Kopf. So stellte man sich dem Dorf gleich mal richtig positiv vor.

Red trat mit hochrotem Kopf neben Ellie. »Es war meine Schuld, ich habe sie geschubst.« Sie streckte eine Hand nach unten aus. »Können wir Ihnen helfen?«

Die Frau schwenkte ihre Arme ein paarmal und watete dann kopfschüttelnd zum Ufer. »Es gibt hier zehn Brücken. Auf den anderen war kein Mensch unterwegs, warum musstet ihr unbedingt die nehmen, über die ich gehe?«

Ellie wäre am liebsten im Erdboden versunken. Genau das war der Grund, warum sie selten vor die Tür ging. Man konnte sie schlicht nicht in die Gesellschaft anderer Menschen lassen. Aber das musste sich ändern, nicht wahr? Also ließ sie ihr Rad liegen und sprintete zu der Stelle, auf die die Frau gerade zuhielt, um ihr von dort aus eine Hand anzubieten.

Die Frau sah auf und starrte sie aus kastanienbraunen Augen finster an, was Ellie ihr nicht verdenken konnte. Sie ignorierte die angebotene Hand und stemmte sich auf das Ufer hoch, wo sie sich zitternd aufrichtete. Der Frühlingsmorgen war zwar nicht eiskalt, das Wasser aber mit Sicherheit schon. Die Brustwarzen der Frau zeichneten sich deutlich sichtbar unter ihrem Oberteil ab und Ellie musste aufpassen, nicht zu starren.

»Es tut mir so, so leid.« Das machte es wahrscheinlich auch nicht besser.

Die Frau wirkte auch kein bisschen erfreuter. »Wenn Sie nicht gelernt haben, wie man ordentlich Fahrrad fährt, steigen Sie halt das nächste Mal ab, bevor Sie über eine Brücke fahren. Wäre für alle Beteiligten sicherer.«

Ellie biss die Zähne zusammen, nickte aber. »Ich kann mich gar nicht genug entschuldigen. Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen, damit Sie sich wieder aufwärmen?«

Das entlockte der Frau immerhin ein Lächeln, das ihr ganzes Gesicht erhellte. In Ellies Magen regte sich ein Gefühl.

»Ist eigentlich nicht der richtige Zeitpunkt, um mich um ein Date zu bitten.« Sie seufzte. »Ich muss mir was Trockenes anziehen. Versuchen Sie einfach, heute niemanden sonst in den Fluss zu befördern, okay?«

Damit ließ sie Ellie einfach stehen und marschierte davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Ellie konnte es ihr nicht verübeln. Sie ging zu Red zurück, die immer noch mit zerknirschten Gesichtsausdruck bei den Fahrrädern stand.

»Du bist so blöd, weißt du das?«

»Ich bin nur leicht zu begeistern. Normalerweise mögen die Leute das an mir.« Red zog den Kopf ein wenig zwischen die Schultern. »Denkst du, dass Schritt eins des Plans gelungen ist, uns gut ins Dorf einzufügen?«

»Hätte nicht besser laufen können.«

Kapitel 3

Natalie steckt die Flasche Yolanda-Gin in eine braune Papiertüte und schenkte der Kundin ein Lächeln. »Lassen Sie ihn sich schmecken. Und denken Sie dran, am leckersten ist er auf Eis mit einer Scheibe rosa Grapefruit.«

Die Frau nickte. »Rosa Grapefruit, ist notiert.« Die Metallglocke über der Tür klingelte, als sie den Laden verließ.

Natalie ließ den Blick durch den Brennereiladen schweifen, über den polierten, dunklen Holzfußboden, die stabilen Holzregale und die Verkostungsecke auf der gegenüberliegenden Seite des Raums. Es war vielleicht nicht jedermanns Sache, aber sie liebte ihr kleines Geschäft so, wie es war. In der letzten Stunde hatte das Geschäft gebrummt und ihr Stellvertreter Guy war gerade beim Zahnarzt. Endlich war der Laden wieder leer und es kehrte nach dem Mittagshoch ein wenig Ruhe ein. Die Gin- und Whiskyregale mussten dringend aufgefüllt werden, also ging Natalie zur Theke und entnahm den rustikalen Unterschränken vier Flaschen.

Der Gin-Boom war für Yolanda und ihre Brennerei gerade zur rechten Zeit gekommen. Natalie machte sich eine Notiz, Yolanda dran zu erinnern, ihr schnellstmöglich die neuen Geschmacksrichtungen zu liefern, die sie ihr versprochen hatte. Und dass sie zusammen mit Max in der kommenden Woche zum Abendessen vorbeikam. Natalie hatten ein neues Curry-Rezept gefunden, das ihnen sicher schmecken würde.

Ihr Blick fiel auf die mit Alkohol gefüllten Schokoladenkostproben. Yolanda hatte recht gehabt, die Schokolade war zu bitter. Das hatte Natalie heute schon einen unangenehmen Anruf beim Lieferanten abverlangt, um ihm mitzuteilen, dass sie nicht bei ihm bestellen würde. Die Firma hatte ihren Sitz in Cheltenham, wodurch sie den Mitarbeitern immerhin nicht hier im Dorf über den Weg laufen würde.

Also alles wieder auf Anfang. Immerhin verkauften sich die Kerzen, die Souvenir-Geschirrtücher und Untersetzer sehr gut. Natalie konnte die Sache mit den Geschirrtüchern nicht so richtig nachvollziehen, aber die Touristen liebten die Dinger und die Gewinnspanne war exzellent.

Durch das Schaufenster des Ladens sah man den Marktplatz des Dorfs, der Eingang befand sich jedoch in einer kopfsteingepflasterten, schmalen Nebengasse. Im Geschäft gegenüber hatte früher Mr Clarke seine Schneiderei betrieben, aber seit er vor drei Monaten in Ruhestand gegangen war, stand es leer. Natalie hatte mitbekommen, dass Jodie von der Immobilienvermittlung Cotswolds Estates jemanden herumgeführt hatte, aber wofür die Räume zukünftig genutzt werden sollten, war noch nicht bekannt. Es gab Gerüchte über die Eröffnung eines Cafés oder einer Eisdiele. Im Prinzip war es ihr auch egal, solange bald jemand dort einzog. Leerstände direkt am Marktplatz gaben kein gutes Bild ab. Außerdem würde ein gut laufender Laden auch ihrem eigenen Zulauf verschaffen.

Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Sie schnappte sich den altmodischen, etwas unhandlichen Hörer und hob ihn ans Ohr.

»Yolanda’s Distillery Shop, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Natalie? Hier ist Eugenie. Ich rufe wegen der Herzblatt-Veranstaltung an. Ich weiß nicht, ob du’s schon gehört hast, aber letzte Woche war ein voller Erfolg. Es waren noch nie so viele Leute da. Da kam mir die Idee, dass ich auch eine Veranstaltung für Lesben machen könnte, weil wir ja jetzt welche im Dorf haben.« Eugenie kannte andere Lesben außer Natalie? »Yolanda meinte, dass du dabei wärst. Passt dir nächste Woche?«

Aus der Nummer kam sie wohl wirklich nicht mehr heraus. Seit sie sich von Ethan getrennt hatte, wartete das ganze Dorf, dass sie wieder mit jemandem zusammenkam. Vielleicht würde sie bei so was irgendwen kennenlernen. Vielleicht wartete die Frau ihrer Träume just an diesem Abend im Pub auf sie. Sollte ja vorkommen.

»Wann genau?«

»Wie wäre es am Mittwoch? Das gibt dir eine Woche Zeit, dir über dein Outfit Gedanken zu machen und dir ein paar Fragen zu überlegen?«

»Okay. Ich ruf dich am Wochenende an, dann können wir die Einzelheiten klären.«

Sie verabschiedeten sich und Natalie starrte geschlagene zehn Sekunden lang ins Leere. Hatte sie einen riesigen Fehler gemacht? Das würde sie wohl unweigerlich herausfinden.

In diesem Moment bog ein schwarzer Land Rover in die Gasse ein und hielt direkt vor ihrer Eingangstür, womit er sie prompt versperrte. Jemand stieg aus, eine Autotür wurde zugeschlagen. Vielleicht gab derjenige nur etwas ab. Natalie wartete ein paar Minuten, aber es tat sich nichts. Was sollte das denn? Schließlich war das kein Parkplatz.

Die Glocke über der Tür bimmelte wie immer, als Natalie auf die Straße hinaustrat. Sie quetschte sich an dem Auto vorbei und versuchte, die Ruhe zu bewahren, obwohl sich Anspannung in ihrem Körper ausbreitete. War das ihr neuer Geschäftsnachbar? Wenn ja, war das kein gutes Omen. Sie atmete noch einmal tief durch, als sie die Ladentür erreichte und entdeckte eine Frau im Inneren.

Aber es war nicht irgendeine Frau. Es war die Radfahrerin vom Vortag. Die, wegen der sie zum ersten Mal in ihrem Leben im Fluss gelandet war. Fi war betrunken schon unzählige Male reingefallen, das gehörte für sie praktisch zu einem Partyabend dazu. Für Natalie war das dagegen eine Premiere gewesen. Eine, auf deren Wiederholung sie gerne verzichten konnte, denn trotz der frühlingshaften Temperaturen war das Wasser verdammt kalt gewesen.

Als die Frau im Geschäft Natalie vor der Tür bemerkte, huschte eine ganze Reihe von Emotionen über ihr Gesicht, bevor sie ein unsicheres Lächeln aufsetzte. Sie zögerte kurz, öffnete dann aber die Tür. »O hallo!«

Offenbar hatte sie sich für fröhlich und herzlich entschieden. Interessante Wahl.

Sie musterte Natalie von oben bis unten. »Sie sind trockener als bei unserer letzten Begegnung.« Ein verlegenes Lächeln. »Noch mal Entschuldigung deswegen.«

Natalie verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich hab es überlebt, wie Sie sehen.«

»Das tue ich.« Die Stimme der Frau war angenehmer und sie klang selbstsicherer als am Vortag. Ihr Akzent ließ auf Geld und Bildung in Privatschulen schließen. Anders als bei Natalie. Außerdem wirkte sie, nun da sie nicht mehr auf dem Fahrrad saß, um einiges eleganter. Sie war ziemlich groß – aber das waren die meisten Menschen im Vergleich zu Natalie. Zu ihren gut sitzenden Jeans trug sie Schuhe, die sicher noch nie Dreck gesehen hatten. Großstadtschuhe. Die dunklen Haare waren zu einem perfekten Bob frisiert und ihre hellblauen Augen schauten überall hin, nur nicht zu Natalie.

Das überraschte nicht besonders. Natalie streckte eine Hand aus.

Die Frau wich einen Schritt zurück, bevor sie Natalies Blick suchte. Dann schüttelte sie ihr die Hand.

»Ich bin Natalie. Mir gehört der Brennereiladen gegenüber.« Wärme breitete sich in Natalie aus, als ihre Hände sich berührten, doch sie ignorierte es. Stattdessen deutete sie mit dem Kopf in Richtung ihres Geschäfts. »Aber im Moment kann da niemand rein, weil Sie mit Ihrem Auto den Eingang versperren. Ich wollte nur eben Hallo sagen und Sie bitten es umzuparken.«

Das Problem schien der Frau erst jetzt aufzugehen und es war ihr sichtlich peinlich. Sie ließ Natalies Hand los. »O Gott, das tut mir so leid. Ich habe nicht darauf geachtet, wo ihre Tür ist. Ich bin zum ersten Mal mit dem Auto hier, hab gerade erst die Ladenschlüssel abgeholt.« Sie drehe sich um und deutete auf den Schlüsselbund, der auf dem Verkaufstresen lag. »Ich wollte auf dem Marktplatz parken, hatte aber klein Kleingeld für die Parkuhr dabei. In London kann man überall mit Karte zahlen, hier aber nicht.« Sie verstummte. »Ich hinterlasse keinen besonders guten ersten Eindruck bei Ihnen, oder?«

Natalie nickte knapp. »Ich hatte schon Bessere.« Wie viele Londoner Großstadtklischees konnte man denn noch erfüllen? Wer hatte denn kein Bargeld dabei? »Sie brauchen nichts fürs Parken zu bezahlen, wenn Sie einen Parkausweis haben. Rufen Sie einfach nachher bei der Stadtverwaltung an.«

»Alles klar, das mache ich.« Die Frau versuchte sich erneut an einem Lächeln, aber es war nicht sehr überzeugend. »Ist es in Ordnung, wenn ich noch ein paar Fotos mache, bevor ich wegfahre?«

Natalie sah ihr weiterhin fest in die Augen. »Wenn Sie nur noch ein paar Minuten brauchen, kein Problem.« Am liebsten hätte sie die Augen verdreht. »Verraten Sie mir Ihren Namen?«

Die Frau schüttelte den Kopf und dieses Mal zeigte sich ein ehrliches Lächeln auf ihrem Gesicht. »Sie müssen mich für furchtbar unhöflich halten. Tut mir leid, ich bin nur ein bisschen überfordert. Ich habe den Laden erst vor zwei Wochen gekauft und jetzt bin ich tatsächlich hier. Mein Name ist Ellie. Ellie Knap.«

Natalie entspannte sich etwas und entschied sich, nachsichtig mit Ellie zu sein. Solange die Frau sie nicht noch mal in den Fluss beförderte oder ihr Riesengefährt hier parkte, würden sie vielleicht ganz gut miteinander auskommen. Das mussten sie ja, schließlich wurden sie Nachbarn. »Schön, Sie kennenzulernen, Ellie Knap. Noch mal.« Natalie schwieg kurz. »Ich sollte wohl mal lieber zurückgehen.« Sie wandte sich zum Gehen, hielt aber noch einmal inne. »Eine Frage. Was eröffnen Sie hier?«

»Eine Eisdiele.« Ellie strahlte übers ganze Gesicht und das stand ihr deutlich besser. Wenn sie lächelte, ging die Sonne auf. »Also, inklusive eines Cafés, aber mein Hauptgeschäft wird Eis.«

»Jeder mag doch Eis.« Das wäre, als würde man sagen, dass man keinen Gin mochte, und Natalie kannte niemanden, der das wagte. »Ich freue mich darauf. Wahrscheinlich werden wir uns ab jetzt oft über den Weg laufen.«

Ellie nickte und zückte ihr Handy. »Bestimmt. Ich beeile mich mit den Fotos und mache dann sofort den Weg frei. Beim nächsten Mal mache ich Ihnen keinen Ärger, versprochen.«

Kapitel 4

Ellie umfasste das Lenkrad kopfschüttelnd ein wenig fester, als sie das Auto aus der Gasse steuerte. Toll, Ellie. Ganz toll.

Man konnte wahrlich einen besseren ersten Eindruck bei seiner Nachbarin hinterlassen. Aber mal im Ernst, die Parksituation hier war ein Witz, und wer hatte bitte immer Kleingeld bei sich? Sie war es aus London gewöhnt, sich an problematischen Stellen einfach irgendwohin zu quetschen und die Warnblinkanlage anzumachen. Aber diese Regel schien hier nicht zu existieren.

Sie machte sich einen gedanklichen Vermerk, Red nach dem richtigen Umgang mit kleinen Läden und ihren Besitzerinnen zu fragen. Das war offenbar etwas ganz anderes als die Zusammenarbeit mit gesichtslosen Konzernen. Den Menschen hier schaute man direkt in die Augen. Und Natalies braune Augen hatten sich in Ellies Gedächtnis eingebrannt, als sie sie mit diesem direkten Blick fixiert hatte. Die Frau wirkte nett und praktisch veranlagt – Eigenschaften, die Ellie sich nach der viel zu langen Zeit in der Großstadt erst wieder aneignen musste.

Sie war sich sicher, dass ihre früheren Mitarbeiter sie nicht als nett bezeichnet hätten. Was hatte Mandy doch gleich wieder gesagt, als Ellie gekündigt hatte? »Du kannst exzellent mit Dingen wie Tabellen umgehen. Aber das mit den lebenden Menschen solltest du vielleicht noch mal üben, denn damit tust du dich wirklich schwer.«

Das hatte wehgetan, vor allem, weil Ellie gedacht hatte, dass sie und Mandy ein gutes Verhältnis zueinander pflegten. Wenn ihre Freunde schon so etwas zu ihr sagten, was tratschte dann wohl der Rest der Belegschaft hinter Ellies Rücken? Der Umzug aufs Land war ein Schritt gewesen, um sich selbst neu zu erfinden, doch der Prozess war noch nicht abgeschlossen.

Sie bremste an der Ecke zum Marktplatz, um zwei Fußgänger die Straße überqueren zu lassen. Sie transportierten gemeinsam ein sperriges, gepolstertes Bettkopfteil, das aussah, als könnte es einen problemlos im Schlaf erschlagen. Und sie bewegten sich damit im Schneckentempo vorwärts.

Das war auch etwas, das ihr am Landleben bereits aufgefallen war: Die Leute machten alles langsamer. Sie fuhren langsamer, sie brachten einem Getränke langsamer, aber dafür lächelten sie mehr. In den Cotswolds nahmen sich die Menschen die Zeit, um andere zu fragen, wie es ihnen ging.

Ellie beobachtete das Paar auf seinem Weg, als die Frau ihr Ende auf einmal mitten auf der Straße abstellte und winkte. Verwirrt schaute Ellie sich um, doch die Frau winkte offensichtlich ihr zu. Sie runzelte die Stirn. Kannten sie sich?

Die Frau schien das Kopfteil komplett vergessen zu haben, was ihren Tragepartner jedoch nicht zu verärgern schien, der immer noch sein Ende in den Händen hielt. Wenn das Ellies Bett wäre, das da mitten auf der Straße herumstand, hätte sie nicht so geduldig darauf reagiert. Aber hier wurde offenbar erwartet, dass man den Verkehr aufhielt, um andere zu grüßen. Denn genau das tat die Frau gerade. Sie rief Ellie einen Gruß zu und kam zur Fahrerseite.