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Gibt es für die erste Liebe eine zweite Chance? Ein lesbischer Liebesroman über die wirklich großen Dinge des Lebens: Liebe, Tod und Torte. Sie waren das Traumpaar der ganzen Universität – bis Maddie ohne ein Wort der Erklärung Justine verlassen hat. Zehn Jahre später treffen sich die beiden auf der Beerdigung eines Freundes wieder. Justine ist über die Trennung nie hinweggekommen und auch Maddie scheint noch viel für Justine zu empfinden. Denn was Justine auch macht, Maggie ist schon da. Ob beim Backkurs oder bei der Immobiliensuche, überall taucht sie auf, herzlich, fürsorglich und wunderschön. Bald muss Justine sich eingestehen, dass sie sich noch immer zu Maddie hingezogen fühlt. Aber warum ist Maddie zurückgekommen? Warum ist sie damals einfach gegangen? Und was noch wichtiger ist: Ist sie an der ganzen Torte interessiert oder nur an einem Stückchen von Justine?
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Seitenzahl: 358
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Inhaltsverzeichnis
Weitere Bücher von Clare Lydon
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Epilog
Ebenfalls im Ylva Verlag erschienen
Über Clare Lydon
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Das Gefühl von Liebe
Bevor du sagst »Ich will«
Kapitel 1
Ich hatte die falschen Schuhe an. Meine neuen, marineblauen Brogues scheuerten bereits, dabei war ich nur bis ans verdammte Auto gelaufen. Heute waren sie jedoch die geringsten meiner Sorgen.
»Wir schaffen das. Wir werden das sowas von schaffen.« Gemma beugte sich herüber und legte ihre frisch manikürte Hand mit den kurzen, akkurat dunkelrot lackierten Nägeln auf meine.
»Du wirst das überstehen. Ich weiß, dass es ein schwieriger Tag ist und Kerry uns gestern Abend auch noch völlig damit überrumpelt hat, dass Du-weißt-schon-wer auch kommt, aber heute geht es nur um James und Kerry, in Ordnung?«
Ich lächelte Gemma verbissen an. Ich fürchtete, dass ich ihr widersprechen würde, falls ich den Mund öffnete.
Draußen hatte der Morgen seinen Höhepunkt erreicht, die Sonne knallte heiß auf das Autodach, obwohl es gerade mal halb zehn morgens war. Was ich sah, erinnerte mich an die endlosen Sommertage, die wir vor langer Zeit alle gemeinsam an der Universität verbracht hatten. Sobald das Semester damals vorbei war, die Klausuren geschrieben und die Sorgen abgelegt, brutzelten wir in der Sonne, vollgeschmiert mit mehreren Lagen Kokosnussöl. Mit meinen hellen Haaren und der blassen Haut gewann die Sonne diesen Kampf stets. Selbst das Gras, auf das ich gerade aus dem Auto sah, erinnerte mich an das Universitätsgelände mit seinen makellosen, der Norm nach getrimmten Rasenflächen. Alles war damals so, wie es sein sollte.
Und deswegen im Grunde das genaue Gegenteil von diesem Morgen. Denn heute begruben wir James. Den ersten aus unserer Freundesgruppe, der gestorben war.
»Ich versuche ja mich abzulenken, aber meine Gedanken jagen ständig von einem Desaster zum nächsten. James, Maddie, James, Maddie.« Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Sollte Maddie mit einer wunderschönen Frau hier auftauchen, würde ich auf der Stelle sterben. »Ich brauche etwas zu trinken und es ist nicht einmal zehn Uhr. Habe ich bereits erwähnt, dass das hier ein dummer Ort für eine Beerdigung ist? Im Krematorium dabei zu sein ist doch morbid.«
Gemma tätschelte mein Knie, während ich die Hände aus meinem Gesicht nahm.
»Nur ungefähr siebenundvierzig Mal allein auf dem Weg hierher.«
Meine beste Freundin warf mir einen Blick zu, bevor sie ihre kurzen, dunklen Haare betastete. Sie hatte sie erst diese Woche geschnitten und musste sich noch an den neuen Haarschnitt gewöhnen. Jeder auf der Arbeit sagte ihr ständig, sie sähe aus wie Halle Berry in dem James-Bond-Film. Gemma sagte darauf, sie müssten ihre Vergleiche mal modernisieren, aber ich riet ihr, sich lieber auf den Aspekt zu konzentrieren, dass sie für ein Bond-Girl gehalten wurde.
»Sprich mir nach: Mein Name ist Justine Thomas, ich bin eine erfolgreiche Unternehmerin und eine umwerfende Frau noch dazu.« Gemma wartete einige Augenblicke. »Du sollst mir nachsprechen.«
»Ich bin keine Fünfjährige.«
»Nein«, stimmte sie mir zu. »Aber du bist im Begriff, die Frau zu treffen, die dein Herz vollständig zerschmettert hat, daher fühlst du dich im Moment eher wie mit vierundzwanzig, nehme ich an. Ich möchte dich nur daran erinnern, dass du in der Zwischenzeit aufgeblüht bist, du hast ein erfolgreiches Unternehmen aufgebaut und hast es dadurch in die nationalen Zeitungen geschafft. Du bist großartig.«
Ich lachte auf. »Maddie ist mittlerweile vermutlich eine Millionärin. Du weißt, wie sie war. Ehrgeizig. Entschlossen. Ein Erfolgsmensch.«
»Und was ist mit dir? Du bist all das und reizend noch dazu.« Sie tippte mit einem Finger an den Spiegel meiner Sonnenblende. »Wirf einen Blick in den Spiegel, sieh selbst.«
Ich seufzte. »Ich weiß, dass ich mich gut geschlagen habe.«
»Du musst einfach mal daran erinnert werden, jetzt da Maddie dir bevorsteht.«
»Sie ist kein Unheil, das mir bevorstehen kann. Und die Sache mit ihr ist schon eine Weile her.«
»Ich weiß, aber es ist dennoch passiert und hat seitdem dein Leben beeinflusst.«
Ich runzelte die Stirn, bevor ich mich Gemma zuwandte, die nicht nur meine beste Freundin, sondern seit fünf Jahren auch meine Geschäftspartnerin war. »Danke, dass du dich sorgst, aber ich kann damit umgehen. Ich bin erwachsen und, mehr noch, verantwortungsbewusst geworden. Maddie und ich, das ist ein Jahrzehnt her. Ich werde heute höflich sein, lächeln. Danach muss ich sie nie wiedersehen. Ich wusste, dass das eines Tages passieren könnte und James hat das nur beschleunigt. Verdammt. Warum musste James auch sterben?« Ich lächelte, obwohl mir jedes Mal das Herz ein wenig mehr brach, wenn ich das aussprach.
Ich hatte James wie einen Bruder geliebt. Hinzu kam, dass er tatsächlich viel weniger nervenaufreibend als mein echter Bruder war. Eine Welle der Traurigkeit überkam mich und ich rief mir ins Gedächtnis: Maddie war heute nicht von Bedeutung, sondern James und Kerry.
Immer mehr Autos füllten den Parkplatz und Trauernde in auffälliger Kleidung kamen an uns vorbei. Ein Mann trug einen Anzug in den Farben der Flagge Großbritanniens. Offensichtlich hatte er Kerrys Nachricht, auf Schwarz zu verzichten, erhalten.
Eine meiner besten Freundinnen war im Begriff, den Mann, den sie dreizehn Jahre geliebt hatte, zu begraben. Ich konnte mir nicht ausmalen, wie sie sich fühlen musste.
Ich räusperte mich. »Sollen wir aufbrechen?« Nachdem ich einmal tief ein- und ausgeatmet hatte, sagte ich: »Ich möchte da sein, wenn Kerry mit ihren Eltern ankommt. Sie wird unsere Unterstützung brauchen.«
Gemma nickte. »Natürlich.« Sie nahm ihren Lippenstift aus der Tasche, klappte die Sonnenblende herunter und zog mit einem Blick in den kleinen Spiegel ihre Lippen nach. »Wie sehe ich aus?«
Sie hatte mir eben erzählt, dass die Marke des Lippenstifts »Brave« hieß, Mutig, was mir passend erschien. Im Kontrast zu ihrer weichen, braunen Haut kam die Farbe super zur Geltung. Gemma sah immer großartig aus, egal, was sie trug − und ihr heutiges Outfit war definitiv ein Statement. Ich betrachtete ihre gelbe Hose und das orangefarbene Oberteil, welche sie mit eleganten weißen Schuhen kombiniert hatte. »Wie du aussiehst? Als wärst du das Unterhaltungsprogramm auf einem Kindergeburtstag.«
Sie lachte. »Genau das, was ich im Sinn hatte.«
Ein Klopfen an der Scheibe unterbrach uns. Es war unser Freund Rob, der in seinem tristen schwarzen Anzug und der Krawatte aussah, als ginge er auf eine Beerdigung − und somit genau dem zuwiderlief, was Kerry angewiesen hatte.
Gemma ließ ihr Fenster herunter.
»Na, ihr Zuckerschnecken? Kommt ihr, oder wollt ihr lieber den restlichen Morgen in dieser überhitzten Metallkiste sitzen?« Rob grinste breit. »Ich habe gehört, dass sie drinnen Klimaanlagen haben. An eurer Stelle würde ich mich dafür entscheiden.«
»Sehr lustig«, erwiderte Gemma. »Wir wollten ohnehin gerade aussteigen. Wo ist Jeremy?«
Er verzog sein Gesicht. »Unser Babysitter ist abgesprungen, also konnte Jeremy nicht kommen. Er hat mich gerade in der Stadt abgesetzt. Es tut ihm schrecklich leid, aber er lässt euch grüßen.«
Ich seufzte. Ich liebte Rob und seinen Mann Jeremy, aber seit sie letztes Jahr über eine Leihmutter Zwillinge bekommen hatten, war üblicherweise immer nur einer von ihnen bei etwaigen Anlässen zugegen. Rob war eine Konstante in unserem Leben, da er die Bäckerei gegenüber unserer Backschule in Bristol führte. Wir waren sowohl Unternehmensnachbarn als auch Freunde.
»Und was soll all das Schwarz?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich hatte ein sehr viel kesseres Outfit an, aber die Zwillinge haben sich dreimal darauf übergeben. Jeweils. Schlussendlich war dieser Anzug das einzige saubere Kleidungsstück, das gebügelt war.«
»Rob!«, erklang eine Stimme von irgendwo auf dem Parkplatz.
Rob sah auf und winkte, als jemand, den ich nicht kannte, auf ihn zukam und ihn umarmte. Dies war meine erste Beerdigung, aber mir war jetzt schon klar, dass es wie jedes andere wichtige Ereignis im Leben war, nur ohne den eigentlichen Ehrengast.
Ich warf Gemma einen Blick zu. »Wollen wir los?« Als sie nickte, öffnete ich die Tür und genau in dem Moment, in dem meine Brogues den Asphalt berührten, kam ein brandneuer, roter Mini neben uns zum Stehen. Er hatte abgedunkelte Fenster, Sportfelgen und schrie nach Geld. Wer auch immer dieses Auto fuhr, wollte der Welt mitteilen, wer er oder sie war.
Der Motor des Minis wurde abgestellt, als ich die Beifahrertür von Gemmas Ford Focus zuschlug. Ich hob die Arme über den Kopf und streckte mich. Die Fahrt zum Krematorium hatte nur zwanzig Minuten gedauert, aber ich fühlte mich bereits klebrig vor Hitze. Umso zufriedener war ich, dass ich mich für eine blassblaue Hose, ein kurzärmeliges T-Shirt und gegen eine Jacke entschieden hatte. Ich warf Gemma und Rob über das Autodach hinweg ein Lächeln zu, aber sie sahen mich beide mit einem Ausdruck von Panik im Gesicht an. Was war los?
Eine Autotür knallte hinter mir zu und meine beiden Freunde erstarrten förmlich.
Plötzlich wurde mir klar, wem der Mini gehörte und wer so dringend bemerkt werden wollte. Ich wusste, wer hinter mit stand und der Grund dafür war, dass meine Freunde an einem derart heißen Tag zu Eissäulen erstarrt waren.
Ich schloss die Augen, mein Herz klopfte hart und ich hatte das Gefühl, jedes einzelne Härchen in meinem Nacken würde sich einzeln aufrichten. So oft hatte ich mir über die Jahre diesen Moment ausgemalt und nun stand er kurz bevor.
Ich ballte die Fäuste, die Arme an meinen Seiten, die Angst ein kratzendes Brennen in meiner Kehle. Ich nahm einen tiefen Atemzug, drehte mich um.
Und dort stand Maddie. Die einzige bedeutsame Ex in meinem Leben. Noch immer schlank und großgewachsen, noch immer wunderschön. Noch immer hatte sie gepflegte, volle Augenbrauen. Und wie konnten ihre blonden Haare noch immer in so verdammt glänzenden und perfekten Wellen liegen?
Sofort fühlte ich mich wieder, ganz wie Gemma vorausgesehen hatte, als wäre ich vierundzwanzig Jahre alt. Verloren, verlassen und mit gebrochenem Herzen. Nur war es diesmal so, dass Wut augenblicklich meinen Gemütszustand übernahm.
Ich hatte mich gefragt, wie ich reagieren würde. Nun hatte ich meine Antwort.
Jap, ich hatte vollständig damit abgeschlossen.
Maddie trug eine maßgeschneiderte schwarze Hose, eine schwarze Bluse und schwarze Schnürschuhe. Sie hatte das Memo bezüglich des Dresscodes scheinbar nicht erhalten. Der Gedanke besänftigte mich etwas. Das zeigte überdeutlich, dass sie kein Teil unserer Gruppe mehr war. Das war wichtig. Sie hatte dieses Anrecht vor langer Zeit verloren.
Maddie Kind. Einst die Frau meiner Träume, wurde sie anschließend die Urheberin meiner Albträume.
»Hi, Justine.« Sie fixierte mich mit einem Blick aus ihren durchdringenden grauen Augen und mein Atem stockte. »Schön, dich zu sehen.«
Ich konnte nicht dasselbe behaupten.
Kapitel 2
Wir alle hatten uns an der Universität kennengelernt und es kaum erwarten können, unser Studium zu beginnen; raus aus dem Elternhaus und in das Wohnheim, als lebten wir in einer aufregenden Fernsehserie. Zumindest fühlten sich unsere ersten Eindrücke von Freiheit so an. Wir fühlten uns unbesiegbar, als wäre alles möglich. Denn wenn man achtzehn Jahre alt ist, fühlt sich das Leben nun mal so an: beängstigend, holprig, aber unglaublich.
Das alles erschien mir so lange her. Ich wich Maddies intensivem Blick aus und versuchte, Selbstsicherheit und Ruhe auszustrahlen. Innerlich war ich alles andere als das. Sie wiederzusehen hatte viele Erinnerungen wachgerüttelt, die meisten davon schlecht und aus der Zeit danach. Ich wollte Antworten, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür.
Außerdem musste ich meine Blase dringend leeren. Ich deutete mit meinem Kopf in Richtung des Eingangs, als Gemma an meine Seite trat, Rob an die andere.
Die Verstärkung konnte ich gebrauchen.
»Ich muss mal auf die Toilette.« Nicht das, was ich mir als ersten Satz an meine Ex vorgestellt hatte, aber wann entsprach das Leben jemals dem, was sich in unserem Kopf abspielte?
Ich ging an einer Gruppe Männer in schwarzen Anzügen vorbei, die sich schon jetzt den Schweiß von ihrem Nacken wischten. James war Anfang des Sommers gestorben. Heute war einer dieser Tage, an denen wir uns normalerweise in dem Pub am Fluss getroffen und gemeinsam gegessen und getrunken hätten. Geschichten aus unserem früheren Leben hafteten der Luft an wie geschmolzener Honig. James’ dröhnendes Gelächter. Er war immer der Lauteste gewesen, derjenige von uns, der Aufsehen erregte. Auf eine gewisse Art tat er das noch heute.
Die Toilettenschilder waren aus poliertem Messing und zeigten die schwarze Silhouette einer Frau in einem lächerlich uniformen A-Linien-Rock. Er ähnelte den Röcken, die wir im Nähkurs an der Schule fertigen sollten. Ich hatte orangefarbenen Stoff für meinen gewählt, die Farbe von verbrannten Sonnenuntergängen. Meine Lehrerin, eine freundliche australische Frau, die vermutlich damals so alt war wie ich heute, hatte mir Mut zugesprochen, während sie sich wahrscheinlich insgeheim fragte, wo zur Hölle ich so etwas tragen würde. Zugegeben, es war eine berechtigte Frage. Wo dieser Rock wohl abgeblieben war?
Sobald ich die Toilette betreten hatte, atmete ich einige Male tief durch. Heute würde ein langer Tag werden. Ich würde möglicherweise sogar weinen. Für diesen Fall hatte ich Taschentücher eingepackt. Kerry hatte uns gesagt, dass sie Tränenfluten, Lachsalven und Schnodderbäche den Gang des Krematoriums entlang erwartete. Hatten Krematorien Gänge? Ich war mir nicht sicher.
Das Problem war, dass ich seit Maddie keine einzige Träne vergossen hatte. Damals hatte ich für Wochen ohne Unterlass geweint. Aber seitdem? Ein Jahrzehnt ohne eine einzige Träne. Vielleicht war James’ Beerdigung der Anlass, der das ändern würde.
Nichtsdestotrotz wusste ich, dass ich die Toilette wieder verlassen musste. James hätte gesagt, dass Maddies Gegenwart heute nichts daran änderte, was ich in der Zwischenzeit erreicht hatte. Ich war noch immer eine starke Frau. Ich leitete noch immer eine erfolgreiche Backschule. James würde mir sagen, dass ich da rausgehen und stark sein müsse. Es war gerade mal fünf Minuten her, seit Maddie wieder in mein Leben getreten war, und bereits jetzt kribbelte meine Haut vor lauter Nervosität und ich konnte förmlich dabei zusehen, wie mein Selbstvertrauen zur Tür raus verschwand.
Ich würde nicht zulassen, dass Maddie mich überrannte. Ich konnte das schaffen. Wie viele Stunden hatte ich damit verbracht, mir auszumalen, welche Worte ich wählen würde, um Maddie zu sagen, was ich von ihr hielt? Unzählige Zugreisen, hunderte Busfahrten, tausende Schritte auf endlosen Gehwegen hatte ich damit zugebracht. Aber nun war meine Chance gekommen, es ihr zu sagen, auch wenn sich alles durch die zehnjährige Verspätung etwas … abgestanden anfühlte, etwas zu nachträglich.
Maddie zu sehen, in dem Wissen, was alles zwischen uns vorgefallen war, hatte in meinem Körper die üblichen Reaktionen ausgelöst. Aber ich vertraute meinem Körper nicht mehr: Er war schließlich nur eine Ansammlung von Muskeln und Sehnen.
Vielmehr war es mein Verstand, in den ich mein Vertrauen setzte, den ich kontrollieren konnte. Und mein Verstand wies meinen Körper an, sich verdammt noch mal zu beruhigen, wieder da rauszugehen und zu tun, was James von mir gewollt hätte.
»Verhalte dich wie eine Frau, Justine!« Das war James’ üblicher Spruch gewesen. Wenn es darum ging, als Feminist Farbe zu bekennen, war James der Anführer der Gruppe, was es nur noch bitterer machte, dass es James war, der als Erster gestorben war.
Zurück im gleißenden Sonnenschein draußen, bemerkte ich, dass Gemma mir zuwinkte. Maddie stand abseits und sprach mit Daniel, der zu Unizeiten auf unserem Flur wohnte. Er hatte damals immer eine Flasche Southern Comfort Whiskey in seinem Zimmer, für den Fall, dass er zu einer spontanen Party eingeladen wurde. Niemand hatte Daniel gemocht und dennoch war er hier, auf James’ Beerdigung. Ich hätte wetten können, dass er eine Flasche Southern Comfort in seinem grauen Rucksack hatte. Wer brachte auch einen Rucksack mit auf eine Beerdigung? Wollte er danach wandern gehen?
Ich ging zu Gemma herüber. Rob kam dazu und legte einen Arm um sie. Gemma lehnte sich an ihn.
»Was für ein verdammter Tag! Ich kann nicht glauben, dass ich einen Anzug trage. James hätte gewollt, dass wir alle Shorts tragen, oder nicht?« Rob zupfte an seiner schwarzen Krawatte.
Erst als ich diese näher betrachtete, fiel mir auf, dass sie mit winzigen Rentieren bedruckt war. Ich nahm sie in die Hand und hob eine Augenbraue.
Er schlug meine Hand weg und strich die Krawatte wieder glatt. »Das ist mein Beitrag zum Motto der Feier.« Er rieb mit der Hand über seinen Nacken und ließ den Blick über die Menge schweifen, die sich seit unserer Ankunft merklich vergrößert hatte.
»Hast du schon mit ihr gesprochen?« Rob deutete in Maddies Richtung.
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Aber wenn ich es tue, wird es bestimmt gut laufen.« Lügen, alles Lügen.
Ich blickte zu Maddie herüber, die Daniel gerade aufmerksam zunickte. Dann warf ich einen Blick auf ihre linke Hand. Keine Ringe. Und dann gab ich mir selbst eine mentale Ohrfeige.
Um Himmels willen, Justine, es ist vollkommen irrelevant, ob sie einen Ring trägt oder nicht.
Meine Gedanken wurden unterbrochen, als der Trauerzug langsam den tadellosen Asphalt entlangkam. Er hielt vor den dicken, hölzernen Eingangstüren des Krematoriums, die nun offen standen. Eine polierte Mahagonibox war durch die Fensterscheiben des Bestattungswagens sichtbar, aber nichts davon wirkte real.
Ich erwartete noch immer, dass James über den Parkplatz geschlendert kam und sagte, dass alles ein großer Witz war. Dass er uns beschwören würde, runter zum Pub zu gehen, wo er ein richtiges Bier bestellen würde und nicht etwa dieses teure Möchtegernzeug.
Maddies Lachen erschallte genau in dem Moment, als Kerry aus dem Auto stieg. Jeder in der Nähe wandte sich zu ihr um und funkelte sie an. Maddies Wangen liefen knallrot an.
Ich schaute in Richtung des Sargs und zu Kerry. Ihr Gesichtsausdruck war nachdenklich, ihr Kleid zitronengelb und helle, lockige Haare umrahmten ihr Gesicht. Auf den ersten Blick schien sie gefasst.
Emotionen sprudelten in mir hoch. Vielleicht würde ich heute doch weinen. Wenn irgendjemand es wert war, dann James.
Kapitel 3
Die Trauerfeier fand in einem Rugbyclub in der Nähe statt. Gemma lenkte ihren Wagen schwungvoll auf den überfüllten Parkplatz und musste das Lenkrad herumreißen, um zwei anderen Trauergästen auszuweichen, die sie nur um eine Haaresbreite verfehlte. Als sie den Motor ausstellte, stieß sie so geräuschvoll den Atem aus, dass ich wusste, wie knapp das gerade gewesen war.
»Scheiße. Es wäre wirklich etwas schwierig zu erklären gewesen, wenn ich zwei der Trauergäste umgebracht hätte.«
Der Raum im Rugbyclub erinnerte mich an die vielen Sportbars, die wir besucht hatten, als wir an der Uni Hockey spielten. Abgenutzte Teppiche und viel zu viel Kiefernholz, was aber die Lichtflut, welche durch die großen Fenster in Richtung des Spielfelds fiel, wieder wettmachte. Noch dazu befand sich draußen eine Veranda, deren Türen einladend geöffnet waren und auf der verstreut Klapptische standen. Dicht vor der Bar war das Buffet aus Sandwiches, Schweinefleischpasteten, Kuchen und Chips bereits angerichtet. Beerdigungen und Kohlenhydrat-Komas gingen Hand in Hand.
Ein Arm umfasste meine Schultern mit festem Druck und als ich mich umdrehte, sah ich Gemma und Maddie gleich hinter mir. Maddie war allein zu der Beerdigung gekommen, was mutig war. So mutig wie Gemmas Lippenstift.
Sie wiederzusehen löste ein kleines Beben in meinem Herzen aus. Ich war nicht mehr daran gewöhnt, dass sie mir derart nahe war.
»Drink?« Es war eine rhetorische Frage. Ich wandte mich um, lief zu der überlaufenen Bar und bestellte ein großes Glas Weißwein, ohne Luft zu holen. Es war mir sogar egal, dass es ein Stowells war. In der Not kann man nicht wählerisch sein. Als ich mich erneut umdrehte, um Gemmas Bestellung zu erfragen, war ich dankbar, dass Maddie uns nicht gefolgt war. »Ich wünschte, ich könnte mich auf James konzentrieren statt auf sie.« Leichter gesagt als getan. »Du möchtest Cider?«
Gemma nickte und strich über meinen unteren Rücken. »Ja bitte.« Sie hielt inne. »Und du kannst dich auf James konzentrieren − du musst dich nur dafür entscheiden. Außerdem wirkt Maddie nicht so, als wäre sie hier, um Probleme zu machen.«
»Das tut sie aber auch nie, oder?«
Rob trat neben mich. »Ein Pint Peroni für mich bitte, liebste Freundin.« Seine Krawatte hatte er bereits abgelegt und sein Jackett fehlte.
»Wo warst du? Wir haben gewartet und dann erfahren, dass du schon eine andere Mitfahrgelegenheit gefunden hattest.«
Rob zuckte leicht zusammen, als er mir in die Augen sah. »Schrei mich bitte nicht an, aber ich bin mit Maddie mitgefahren. Sie wusste nicht, wo der Rugbyclub ist, also habe ich es ihr angeboten. Wir können sie auch nicht den ganzen Tag ignorieren, oder?«
Ich runzelte die Stirn. »Ich werde es versuchen.«
»Wie war die Fahrt?« Gemma nahm ihren Cider von der Bar entgegen.
Rob zögerte, bevor er antwortete. »Es war okay. Erleuchtend.«
Darauf würde ich wetten. »Inwiefern?«
Er griff nach seinem Pint und wir folgten ihm zu einem Tisch nahe der Verandatüren, bevor er weitersprach. »Sie wirkte liebenswürdig und aufrichtig zerknirscht über das, was in der Vergangenheit passiert ist. Außerdem hat sie es gerade wegen Familienproblemen nicht leicht.« Er hob seine Hand. »Und ja, bevor du anfängst von ihrem Karma zu reden, das sie eingeholt und ihr in den Hintern gebissen hat, ich weiß, dass sie es verdient.« Er legte den Kopf schief. »Aber na ja, es ist so lange her, oder? Schnee von gestern und so.«
»Nicht für mich.« Maddie könnte von mir aus ein Behandlungszentrum für Brustkrebs leiten. Sie könnte für ihre Wohltätigkeit berühmt sein. Sie könnte eine der größten Philanthropen sein. Es änderte in keiner Weise, was passiert war und was ich fühlte.
Rob verstummte.
Gemma legte mir eine Hand auf den Arm. »Wir sind auf deiner Seite, weißt du noch? Team Justine für immer«, sagte sie und stieß die Faust in die Luft, als wäre sie in einem John-Hughes-Film.
»Wir sind nicht mehr auf der Uni«, hielt ich dagegen, genoss ihre Demonstration von Solidarität aber dennoch.
»Wir sind wie auf der Uni«, erwiderte sie.
Rob nickte und hielt sein Pint in die Höhe. »Dito, Team Justine für immer.«
Ich lächelte. Ich konnte mich immer auf meine ältesten und liebsten Freunde verlassen. »Danke. Es braucht seine Zeit, bis ich mich daran gewöhne, dass sie wieder da ist. Der heutige Tag läuft einfach nicht wie erwartet.«
Rob zuckte mit den Schultern. »Wir sind auf James’ Beerdigung. Manchmal ist das Leben nicht das, was man erwartet.«
In dem Moment wurde ein Stuhl an unserem Tisch zurückgezogen und ließ uns alle aufsehen.
Und da war meine Vergangenheit. Sie stand vor mir in all ihren ein Meter neunundsiebzig. Ihr Kinn war noch immer stark, Nachrichtensprecher-würdig. Sie hatte noch immer dieselbe goldene Haut, die die Weite ihres Körpers umspannte, endlos wie die Sahara. Und ihre Augen leuchteten noch immer in diesem seltsamen, sanften Grau, mit goldenen Flecken.
Nein, manchmal war das Leben wirklich nicht das, was man erwartete.
»Darf ich mich setzen?« Maddies Blick wanderte zögernd zwischen mir und Gemma hin und her, während sie Rob ein Lächeln zuwarf.
Rob war in ihren Augen bereits ihr Verbündeter. So ein Verräter!
Gemma streckte eine Hand aus und wies auf den Stuhl. »Natürlich.«
Himmel, sie auch?
Und dann stand plötzlich Kerry neben uns. »Gem, kommst du bitte mit und hilfst mir mit dem Kuchen? James hat diesbezüglich sehr spezifische Anweisungen hinterlassen und wenn du als Bäckerin dabei bist, ist es sehr viel weniger wahrscheinlich, dass ich ihn fallen lasse. Sie hielt kurz inne. »Wenn ich es mir recht überlege, würdest du mitkommen, Rob? Nur für den Fall, dass wir neben Verstand auch Muskeln brauchen.«
Ich wollte am liebsten schreien: »Nicht jetzt, Kerry!«, aber es war die Beerdigung ihres Ehemanns, also war das nicht möglich. Stattdessen warf mir Gemma einen entschuldigenden Blick zu und Rob folgte ihr.
Und dann waren es nur noch Maddie und ich. Sie hatte etwas mehr Falten, aber kein einziges graues Haar. Sie war wunderschön gealtert, denn so bestritt Maddie nun mal das Leben.
~ ~ ~
»Wie geht es dir?« Maddie zog ihre Schultern zurück und ihr Blick huschte über mein Gesicht, ohne meinen Augen zu begegnen. Dafür war sie wohl noch nicht mutig genug. Stattdessen ließ sie ihren Finger an ihrer Flasche San Miguel hoch und runter gleiten und lächelte zwei älteren Frauen zu, die an unserem Tisch vorbeigingen. Eine von ihnen stieß mit ihrer Hüfte gegen das Holz.
Wie es mir ging? Ich versuchte das Tempo meines Herzschlags und das Blut, das mir gegenwärtig in die Wangen schoss, zu ignorieren. »Mir geht’s gut.« Ich zwang mich, ihrem Blick zu begegnen. Dann hielt ich ihn fest. »Es ist lange her.« Das war die Untertreibung des Jahres.
»Das stimmt.« Ein Nicken begleitete ihre Aussage und sie saugte an ihrer Oberlippe, eine Angewohnheit, die ich von früher kannte.
Und so einfach hatte ich einen Flashback von unserem letzten Jahr an der Uni in Bath, als Maddie ihre gesamten Abschlussprüfungen hindurch den gleichen konzentrierten Gesichtsausdruck hatte. Sie war sich sicher, sie würde es vermasseln. Das hatte sie aber nicht; sie war eine der Besten gewesen.
»James hat mir erzählt, dass du heutzutage eine bekannte Größe in der Bäckerszene bist, was, wenn ich ehrlich bin, eine Überraschung war.«
Wann hatte James bitte Zeit, mit Maddie über mich zu reden? »Aus dem Jenseits?«
Sie lächelte. So vieles hatte sich nicht verändert: Ihr Lächeln war noch immer elektrisierend. Man könnte damit ein ganzes Zimmer mit Strom versorgen und trotzdem noch überschüssige Funken fliegen sehen.
Ich unterdrückte ein Zittern und spannte meinen Körper an. Bei Maddie brauchte ich eine starke Mitte.
»Wir haben uns ein paar Mal zum Mittagessen getroffen. Manchmal auch auf ein Bier nach der Arbeit. Er hat mich bei allem auf dem Laufenden gehalten.«
Das war mir neu. »Er hat nie was gesagt.«
Maddie schenkte mir ein trauriges Lächeln. »Du kennst ja James.«
Offensichtlich nicht.
Maddies Blick traf meinen erneut, dann sah sie abrupt weg.
Ich tat dasselbe. Draußen lachte eine Frau in einem gelben Oberteil über etwas, das ihr Freund gesagt hatte. Mit Maddie hier zu sitzen hatte meine Fähigkeit zu lachen verschwinden lassen.
Ich sah mich um.
Kerry und Gemma werkelten hastig am Buffet, um einen Platz für James’ gigantische Torte in Form einer Rakete zu schaffen. Es war sein letzter Wunsch, also ist Kerry dem nachgekommen und Gemma hatte sie gebacken. James hatte angemerkt, dass es zwar eine besondere Torte für die Hochzeit gäbe, aber keine bei der Beerdigung. Die beiden sahen nicht so aus, als würden sie bald zu mir zurückeilen und mich retten.
Auf der Suche nach passenden Worten, presste ich die Zähne fest aufeinander, aber mein Kopf war wie leergefegt.
»Wohnst du noch in der Nähe von Bath?«, fragte Maddie.
Ich nahm einen weiteren Schluck Wein. »Etwas außerhalb. Ich habe ein kleines Haus in einem der Dörfer.«
»Dann leben wir jetzt gar nicht so weit auseinander«, sagte sie. »Ich bin dabei, eine Wohnung in der Innenstadt zu renovieren.«
Diese Information traf mich wie ein Messerstich in meine Eingeweide. »Du wohnst in Bath?« Mein letzter Stand war, dass Maddie in London lebte. Mit London konnte ich umgehen. London war weit genug weg. Aber Bath? Das war mein Revier. Aber was hatte ich erwartet? Dass Maddie sich an eine Reiseverbotszone hielt?
Sie nickte. »So in etwa. Ich bin vor circa sechs Monaten zurückgezogen. Ich bin Bauträgerin und hier gibt es viele Möglichkeiten. Ich habe für eine Weile in London und Spanien gelebt, aber ich hatte schon etwas für Bath übrig, als wir zu Unizeiten hier lebten, daher dachte ich, warum nicht? Hauptsächlich wohne ich im alten Haus meiner Mutter in Bristol, aber schlafe in Bath, wann immer ich muss.«
Und ich dachte, ich wäre sicher, aber nein. Bath war keine große Stadt und im nur ein paar Meilen entfernten Bristol arbeitete ich. Wir würden früher oder später zwangsweise aufeinandertreffen.
Sie richtete sich auf. »Ich tue das nicht, um es unangenehm für dich zu machen. Das ist das Letzte, was ich möchte.«
Verdammter James. Durfte man so etwas von jemandem auf seiner Beerdigung denken? Ich war mir nicht sicher, aber ich konnte nicht anders. In all der Zeit war James mit Maddie in Kontakt gewesen. Hatte Kerry auch darüber Bescheid gewusst? Hatten sie sich alle mit Maddie getroffen? Waren sie zusammen in den Urlaub gefahren oder hatten Partys ohne mich veranstaltet?
»Du weißt also, dass ich in Box lebe?« Hatte James alles verraten? Ihr meine Straße und Hausnummer verraten?
Sie schüttelte den Kopf. »Bis zu diesem Augenblick nicht. Das Objekt, das wir renovieren − und wo ich gelegentlich übernachte −, liegt im Royal Crescent.«
»Natürlich tut es das.« Das kam genauso bissig rüber, wie ich es beabsichtigte. Die angesehenste Adresse in Bath und Maddie hatte dort eine Wohnung.
»Es ist nicht so glamourös, wie du denkst. Wenn ich da bin, lebe ich umgeben von Staub. Meine Luftmatratze ist weit von einem exklusiven Lebensstil entfernt. Der Weg zur Arbeit ist natürlich ein Plus. Die Kehrseite ist allerdings, dass die Planung ewig dauert, da das Gebäude unter Denkmalschutz steht und wir daher nicht mal drinnen niesen dürfen, ohne vorher beim Stiftungsrat anzufragen.«
Ich hatte kein Interesse an Small Talk mit Maddie, daher exte ich den Rest meines Weins und stand auf. »Okay, das war wirklich wundervoll, aber ich brauche noch etwas zu trinken.«
Ich wirbelte herum und stürzte an die Bar, um mir ein zweites Glas Wein zu holen und damit hoffentlich das Zittern meiner Glieder und das Rauschen meines Blutes zu unterbinden.
Ein Raunen ging durch den Raum und als ich mich umwandte, sah ich Kerry und Gemma langsam über den Teppich laufen. Sie trugen eine Torte, die fast so groß war wie sie selbst, eine leuchtend violette Rakete, die mehr als nur ansatzweise etwas Phallisches an sich hatte. War das James’ Nachricht aus dem Jenseits, die uns mitteilte, dass er eigentlich schon immer schwul war? Der Gedanke zauberte ein Lächeln auf mein Gesicht.
Nichts würde mich heute überraschen.
Ich lief zu meinen beiden Freunden hinüber. Sie stellten die Torte ab und traten etwas zurück, um sie bewundern zu können. Aus der Nähe betrachtet konnte ich das komplexe Design erkennen: kleine Planeten, die die Rakete umgaben, Flammen, die aus dem Ende herausschossen, und ein Bild von James, der aus dem Cockpit winkte.
Das haute mich tatsächlich um und ich legte eine Hand auf Gemmas Arm. Ich hatte die Torte in ihren früheren Stadien gesehen, aber Gemma hatte sie noch zu sich nach Hause geholt und vollendet. »Das ist unglaublich, Gem. Hast du geweint, während du die Torte gemacht hast?«
Dumme Frage, sie weinte selbst jetzt, wohingegen meine Tränendrüsen noch immer ungenutzt und knochentrocken waren.
»Was denkst du?«, fragte sie.
Ich drückte ihren Arm. »James wäre sehr dankbar und stolz.« Ich dachte einen Moment nach. »Entweder das oder er hätte sie bereits angeschnitten, bevor wir die Gelegenheit hatten, sie zu fotografieren.« Ich nahm sofort mein Handy heraus. Unser Instagram-Feed verdiente dieses Foto und ich fotografierte die Torte, bevor sie irgendwie beschädigt wurde.
»Danke, Gem, ich weiß, er hätte sie geliebt.« Kerry wischte sich die Tränen mit einem Taschentuch ab, ehe sie sich ein Glas Wein vom Buffettisch schnappte und es erhob. »Ihr alle!«, rief sie und hatte augenblicklich die Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Sie legte sich eine Hand an die Brust, bevor sie weitersprach. »Nur um es euch wissen zu lassen, diese Torte war James’ letzter Wunsch. Vielleicht ein seltsamer letzter Wunsch, aber so war James − einzigartig bis zum Schluss.« Sie hob ihren Blick zur Decke. »Wo immer du bist, Schatz, ich hoffe, du liebst deine Torte, so wie ich dich immer lieben werde.«
Meine Beine gaben fast nach, als sie das sagte, aber stattdessen umschloss ich mein Weinglas fester. Ich hörte ein Schniefen und sah Maddie ihre Augen betupfen. Wut loderte in mir auf. Ich hatte noch nicht geweint, und es war alles wegen ihr.
Kapitel 4
Nachdem wir im Dorf Chinesisch gegessen hatten, gingen wir zu Kerrys Haus zurück. Meine Brogues baumelten von einer Hand. Sie waren den gesamten Tag eine Schmerzquelle gewesen und ich hatte entschieden, etwas dagegen zu unternehmen.
Es war dunkel, als wir in Kerrys Bristoler Wohnsiedlung einbogen, aber noch warm genug für kurze Ärmel. Ordentliche Häuserreihen, weiße Palisadenzäune, Wege, die zu frisch lackierten Eingangstüren führten, perfekt geneigte Dächer. Als ich jung war, hatte ich immer über solche Orte gelacht, aber jetzt entwickelte ich eine Schwäche für sie. Alles hatte seinen Platz in so einer Umgebung und als ich letzte Nacht angekommen war, hatte ich es als tröstlich empfunden, wie immer, wenn ich Kerry und James besuchte.
Von nun an nur noch Kerry. Daran würde ich mich erst gewöhnen müssen.
Gemma hatte ihren Arm mit meinem verschränkt und erzählte mir in einem fort, wie sehr sie mich und unser Unternehmen liebte. Wir hatten den Sprung gewagt und unsere eigene Backschule, das Cake Heaven, vor fünf Jahren eröffnet. Nach zwei holprigen Anfangsjahren, in denen wir uns abmühten, unsere Finanzen in den Griff zu bekommen, überlegten wir inzwischen, in größere Räumlichkeiten umzuziehen, da die Nachfrage nach unseren Kursen mit jedem Monat anstieg.
»Ich wünschte, jemand Umwerfendes würde in einen unserer Kurse kommen − eine Frau für dich, und wen auch immer für mich. Die Leute denken, Bisexuelle hätten die freie Wahl, aber sie könnten damit nicht weiter danebenliegen. Ich möchte einfach nur jemanden, mit dem ich klarkomme. Wie schwer kann das verdammt noch mal sein?«
Ich gab Gemma einen Kuss auf die Wange. Gemma könnte nicht weiter von diesem Stereotyp entfernt sein, dass Bisexuelle unersättlich und untreu waren. Sie war umwerfend und jeder hätte unglaubliches Glück, mit ihr zusammen zu sein, unabhängig vom Geschlecht.
»Aber das ist das Gesetz des Lebens, nicht wahr?« Ich wandte mich Gemma zu. »Der erste Baustein in deinem Leben ist dein Haus. Der zweite deine Beziehung. Der dritte deine Karriere. Und das Gesetz besagt, dass du nicht alle drei gleichzeitig haben kannst, wo bliebe sonst auch das Drama?«
»Das ist ein dummes Gesetz.«
»Sowas von, aber es ist universell anerkannt. Bei uns beiden läuft es mit der Karriere und dem Haus gut, dafür aber nicht so mit der Liebe.« Ich hielt inne, während ich Kerrys Schlüssel herauskramte, den sie mir im Restaurant gegeben hatte. Gemma und ich waren die ersten, die zurück waren, der Rest hatte es noch nicht zu Kerrys Straße geschafft.
»Sieh dir Kerry an, sie bestätigt das. Ihr und James ging es gut genug. Sie haben ein Traumhaus.« Ich drückte die rote Eingangstür auf und ging ins Wohnzimmer. »Eine abgestimmte Einrichtung, gute Jobs, und sie liebten einander. Das Universum ignorierte sie für eine Weile, ließ sie ihren Spaß haben. Und dann, bäm!« Ich schnipste mit den Fingern. »Das Universum machte eine Bestandsaufnahme, beriet darüber und gab James Krebs.«
Ich schaltete das Licht an. Die Küche sah genauso aus, wie wir sie letzte Nacht zurückgelassen hatten, als wir hier übernachtet hatten, um Kerry beizustehen. Die mitgebrachten Weinflaschen waren in einer Reihe auf der Anrichte aufgestellt. »Jetzt hat sie ein abbezahltes Haus, einen Job, den sie gern macht, aber keinen Ehemann. Man kann nicht alles haben.«
»Du bist heute eine richtige Schwarzmalerin, das weißt du, oder?«
»Ich nenne die Dinge nur beim Namen.« Ich nahm den Korkenzieher heraus und öffnete eine Flasche Shiraz, bevor ich auch noch eine Flasche Pinot Grigio aus Kerrys Kühlschrank holte.
Ihr Kater Herkules verließ seinen Lieblingsplatz am Küchenfenster und strich maunzend um meine Beine. Ich bückte mich, um ihn zu streicheln, aber als ich das tat, rannte er davon. Katzen.
»Außerdem, wenn du am Tag einer Beerdigung keine Schwarzmalerin sein kannst, wann dann?«
»Du willst mir also allen Ernstes sagen, dass ich nicht alle drei haben kann?« Gemma runzelte die Stirn und zupfte ihre Haare zurecht. Sie hatte dermaßen viel Haarspray drauf, dass ich hätte schwören können, dass die Frisur sich den gesamten Tag nicht bewegt hatte. »Das ist Unsinn. Ich kenne genug Leute, bei denen das sehr wohl der Fall ist.«
»Vielleicht meinst du nur, dass sie alles haben. Tun sie aber wahrscheinlich nicht.«
»Aber deine Eltern zum Beispiel. Sie lieben einander.«
»Aber keiner von beiden mag seinen Beruf.«
»Deine Mutter schon.«
Meine Mutter arbeitete bei Marks & Spencer. Sie liebte ihre Kollegen, aber sie hasste ihr Management und beschrieb sie alle als »einen Haufen Idioten«. Sie neigte dazu, in ihren natürlichen irischen Dialekt zurückzufallen, wenn es um diese Leute ging. Mein Vater hatte ihr gesagt, dass sie aufhören könne zu arbeiten, sofern sie das wolle, aber sie mochte es, gebraucht zu werden. Und jetzt, wo ihre beiden Kinder ausgezogen waren, war das nur noch auf der Arbeit der Fall, deshalb blieb sie dabei.
Der wahre Grund, weshalb sie diese Stelle behielt, war allerdings, den ganzen Tag mit jemandem quatschen zu können − Kunden oder Mitarbeiter, sie war nicht wählerisch. Auch liebte sie das ermäßigte Essen, das die Angestellten erhielten. Jedes Mal, wenn ich nach Hause ging, führte sie mir stolz ihr neuestes Schnäppchen vor. »Schau nur mal, Justine«, sagte sie dann. »Zwei Hühnerbrüste in einer Sahne-Senf-Sauce für 99 Pence. Und sie waren vorher bei 3,75 Pfund. So spart man!« Meine Mutter lebte für diese Momente.
»Sie mag manche Aspekte ihrer Arbeit; mein Vater hasst seine. Aber er würde sie niemals aufgeben, weil er das Universalgesetz versteht. Er würde lieber eine Frau und ein Dach über dem Kopf haben als einen befriedigenden Job.« Mein Vater war ein Klempner und wie er mir immer gesagt hatte, wollte niemand wirklich seinen Lebensunterhalt damit verdienen, seine Hände in die Toiletten anderer Leute zu stecken. Er tat es, weil er die Freiheit mochte, die es ihm ermöglichte. Außerdem mochte er, dass ihm die Leute sehr viel dafür zahlten, dass er seine Hände in ihre Toiletten steckte.
Gemma starrte mich mit ihrem ungläubigen Blick an, während sie darüber nachdachte. »Das erfüllt mich nicht gerade mit Hoffnung für den Rest meines Lebens, wenn ich daran denke, dass ich meine Arbeit und meine Wohnung liebe.«
»Vielleicht sollten wir dieses Jahr versuchen darauf zu pfeifen. Wir beide lieben unsere Jobs, wir beide sind zufrieden damit, wo wir leben. Mal sehen, ob wir dieses Gesetz also überlisten können.«
»Denkst du, wir könnten das?« Gemmas Gesichtsausdruck sagte mir, dass sie daran zweifelte.
»Es geht nur in Erfüllung, wenn du wirklich daran glaubst.«
»Wie beim Weihnachtsmann?«
Ich lachte. Ich wusste, dass Gemma noch im Mai Weihnachtsfilme anschaute. »Ja, genau wie beim Weihnachtsmann.« Ich stockte. »Die Sache ist, ich hätte gern eine Freundin und du auch. Falls eine von uns morgen sterben würde, würden Freunde und Familie kommen, aber wir hätten keine Partner. Jemanden, der in der ersten Reihe sitzen und sich die Augen aus dem Kopf weinen würde. Jemanden, der beweisen würde, dass wir wahrhaftig geliebt wurden.«
Gemma dachte für einen Moment nach. »Maddie würde bei deiner Beerdigung auftauchen und traurig sein.«
Ich gab ihr einen Klaps auf den Arm. »Toll, eine Ex von vor zehn Jahren. Ich bin überrascht, dass meine Innereien noch nicht vertrocknet sind.«
»Maisy würde kommen.«
»Und ihre neue Frau und das Baby mitbringen?« Maisy war meine letzte Ex, wir hatten uns vor drei Jahren getrennt. »Das ist verdammt deprimierend. Falls ich sterben würde, würde das auf niemandes Leben gravierende Auswirkungen haben. Niemandes tägliche Routine würde sich ändern.«
Gemma tippte sich mit dem Zeigefinger an die Brust. »Äh, hallo? Wir arbeiten täglich zusammen. Ich nehme an, meine Routine könnte etwas verändert werden.«
»Du weißt, was ich meine. Ich habe keine Geliebte, keine Haupt-Trauernde. Jemanden, der an vorderster Stelle im Krematorium sitzt und nicht mein Vater, meine Mutter oder mein nerviger Bruder ist.«
»Falls du stirbst, verspreche ich, in der ersten Reihe zu sitzen und eimerweise zu heulen. Kannst du dasselbe sagen, Miss Tränenlos?« Gemma hob eine Augenbraue und betrachtete mich skeptisch.
Ich stellte mir vor, ich säße in der ersten Reihe, und verzog mein Gesicht. Gemma war tot und ich war auf ihrer Beerdigung. »Ich würde sowas von für dich weinen.«
»Du bist so eine schlechte Lügnerin.«
Sie kannte mich einfach zu gut. »Aber wir müssen noch immer die Sache mit dem Universum lösen. Wir müssen dafür sorgen, dass es uns liebt, und das Gesetz brechen.«
»Normalerweise halte ich mich an Gesetze, aber dieses breche ich mit Freuden.« Gemma zögerte. »Nur damit ich das richtig verstehe. Wir werden unsere Augen mehr nach Liebe offen halten, sodass wir, falls wir sterben, Haupt-Trauernde haben?«
»Ich habe schon von schlechteren Gründen für Beziehungen gehört.«
Ein Hämmern an der Vordertür unterbrach unser Gespräch.
»Gott sei Dank dafür. Diese Unterhaltung begann seltsam zu werden.« Gemma verließ das Zimmer und kam Augenblicke später mit dem Rest der Gruppe, inklusive James’ Schulfreunden, deren Namen ich noch immer nicht kannte, zurück. Einer von ihnen sah wie ein »Dave« aus, aber ich wollte ihn nicht unangemessen taufen. Gewöhnlich gab es aber immer einen Dave. Das war ein weiteres Gesetz der Natur.
Die Energie im Raum stieg mit der Anzahl der Personen, die in die Küche strömten, die Luft füllte sich mit Geschwätz und dem Knarzen der Küchenschranktüren.
»Hast du irgendwelchen pinken Wein besorgt, Kerry?« Eine Frau in Pink fragte das. Julie? Jenny? Janet? Sie trug ein pinkes Kleid, pinke Ohrringe und pinke Schuhe. Und sie wollte pinken Wein. Ich wette, wenn sie ihr Handy herausnehmen würde, wäre die Hülle pink. Ihr Vibrator war es wahrscheinlich auch.
Kerry fischte einen Rosé aus ihrem Weinkühlschrank und Pink Lady schenkte ihr ein breites Grinsen. Das Zischen einer sich in meiner Nähe öffnenden Bierdose verriet mir, dass Rob seinen Stella-Artois-Vorrat gefunden hatte. Maddie stand betreten in der Küchentür, den maunzenden Herkules zu ihren Füßen.
»Etwas zu trinken?«, fragte Rob, seine Dose hochhaltend.
Maddie nickte. »Das wäre super.« Unsere Blicke begegneten sich kurz, dann sah sie weg. Was war das nur, wenn sie in der Nähe war? Sie zog mich gleichzeitig an und stieß mich ab, wie eine verkorkste Art von Magnet. Es war mehr als nur ein bisschen verwirrend. Ich wollte weglaufen, und doch wollte ich sie auch anstarren.
Ich nahm mein Glas Pinot Grigio in die Hand und lief Richtung Hintertür. Dann trat ich in den Garten hinaus, beleuchtet vom Strahlen des Küchenlichtes. Er sah ein wenig überwuchert aus, ein Anzeichen dafür, wie krank James gewesen war. Als er noch am Leben war, war er ein leidenschaftlicher Gärtner gewesen.
Ich nahm einen tiefen Atemzug und legte meinen Kopf in den Nacken, mein Gesicht dem tintenschwarzen Himmel zugewandt. Ich konnte einige Sterne ausmachen, aber das war alles. Selbst auf dem Land in Somerset machte die Lichtverschmutzung einem einen Strich durch die Rechnung.
Die Hintertür wurde quietschend geöffnet und ich sah auf zu Maddie, die eine Zigarette in der Hand hielt. Sie verzog das Gesicht, als sie auf die Veranda trat. »Macht es dir etwas aus?« Sie hob die Zigarette an. Ohne meine Antwort abzuwarten, stellte sie ihre Bierdose ab und nahm die Zigarette zwischen die Lippen.
»Ja, das tut es verdammt noch mal«, wollte ich sagen, tat es aber nicht.
Stattdessen, britisch wie ich bin, lächelte und nickte ich. Offensichtlich würde sie bei mir hier draußen sein und ihre Kippe anzünden, ob es mir etwas ausmachte oder nicht.
~ ~ ~
»Kannst du den Oriongürtel sehen?« Maddie stand neben mir, eine berauschende Mischung aus moschushaltigem Parfüm und ihrem eigenen Geruch. Sie roch noch immer gleich und es erinnerte mich an die Zeit, als wir miteinander ausgingen. Dasselbe passierte, wann immer Justin Timberlakes Sexy Back
