Bittere Brunnen - Regina Scheer - E-Book
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Bittere Brunnen E-Book

Regina Scheer

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Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2023
Die Lebensgeschichte einer außergewöhnlichen Frau


Eine Alternative zum Kapitalismus ist möglich, eine Welt ohne Krieg, Armut und Ausbeutung: davon ist die junge Jüdin Hertha Gordon, später Walcher, überzeugt, als sie sich in den 1910er-Jahren den Sozialisten anschließt und in den Kampf stürzt. Hautnah erlebt sie den großen Traum von der Revolution, aber auch das Scheitern und schmerzhafte Ende der Illusionen mit. Die Geschichte ihres Jahrhundertlebens ist das Panorama einer Epoche.

Mitreißend erzählt Regina Scheer von einer außergewöhnlichen Frau in unruhigen Zeitläuften, von existenziellen Auseinandersetzungen unter Gleichgesinnten in der Weimarer Demokratie, vom Widerstand gegen die Nationalsozialisten, von einer dramatischen Flucht über Marseille in die USA, vom Exil in New York und von der Hoffnung auf den Aufbau eines anderen Deutschland nach dem Krieg.

Regina Scheer kannte Hertha Walcher (1894‒1990) seit ihrer Kindheit und führte über viele Jahre Gespräche mit ihr. Sie bietet einen außergewöhnlichen, sehr privaten Blick auf eine beeindruckende Frau, die klandestin nach Moskau reiste, um Dokumente zu überbringen, und dort Lenin und Stalin begegnete; die Spezialistin in der Herstellung von Geheimtinte war, deren Weggefährten Rosa Luxemburg, Clara Zetkin, Wilhelm Pieck, Bertolt Brecht, Willy Brandt hießen. Voller Empathie erzählt Scheer von einem entbehrungsreichen Leben im Dienst einer großen Idee, von unzerstörbarer Hoffnung, von Verbundenheit und Hilfsbereitschaft, aber auch von erbittertem Streit unter Menschen, die doch das gleiche Ziel verfolgen.

»Mit „Bittere Brunnen“ zeichnet Regina Scheer das außergewöhnliche wie exemplarische Leben von Hertha Gordon-Walcher nach und erzählt damit gleichzeitig eine Chronik der sozialistischen und feministischen Bewegungen im 20. Jahrhundert. „Bittere Brunnen“ geht dabei weit über eine gewöhnliche Biographie hinaus: Meisterlich und transparent verwebt die Autorin historische Recherchen mit persönlichen Erinnerungen. Geholfen hat ihr dabei ihr meisterliches Gedächtnis, mit dem sie Stück für Stück eine Sammlung erstellte. Dieses erzählende Sachbuch steht für große Offenheit im Umgang mit Brüchen, Ungereimtheiten und Leerstellen unseres Wissens um Lebensläufe – und ist eine genaue Dokumentation politischer Zusammenhänge, deren Spuren die Gegenwart prägen.« (Begründung der Jury zum Preis der Lepziger Buchmesse 2023)

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Der große Traum von einer gerechteren Welt: die Lebensgeschichte einer außergewöhnlichen Frau

Eine Alternative zum Kapitalismus ist möglich, eine Welt ohne Krieg, Armut und Ausbeutung: Davon ist die junge Jüdin Hertha Gordon, später Walcher, überzeugt, als sie sich in den 1910er-Jahren den Sozialisten anschließt und in den Kampf stürzt. Hautnah erlebt sie den großen Traum von der Revolution, aber auch das Scheitern und schmerzhafte Ende der Illusionen mit. Die Geschichte ihres Jahrhundertlebens ist das Panorama einer Epoche.

Mitreißend erzählt Regina Scheer von einer außergewöhnlichen Frau in unruhigen Zeitläuften, geprägt von existenziellen Auseinandersetzungen unter Gleichgesinnten in der Weimarer Demokratie, von Widerstand, Flucht und Exil sowie der Hoffnung auf den Aufbau eines anderen Deutschland nach dem Krieg.

Regina Scheer, 1950 in Berlin geboren, studierte Theater- und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität. Von 1972 bis 1976 arbeitete sie bei der Wochenzeitschrift Forum. Danach war sie freie Autorin und Mitarbeiterin der Literaturzeitschrift Temperamente. Nach 1990 wirkte sie an Ausstellungen, Filmen und Anthologien mit und veröffentlichte mehrere Bücher zur deutsch-jüdischen Geschichte, unter anderem Im Schatten der Sterne (2004). Ihre ersten beiden Romane Machandel (2014) und Gott wohnt im Wedding (2019) waren große Publikumserfolge.

www.penguin-verlag.de

REGINA SCHEER

BITTERE BRUNNEN

Hertha Gordon-Walcher

und der Traum

von der Revolution

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Copyright © 2023 Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Sabine Kwauka

Coverabbildung: © Christian Krebs; © shutterstock / mexrix

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-28051-2V004

www.penguin-verlag.de

Da ist keiner mich aus meiner Pflicht

zu entlassen

sie sind alle gestorben

sagst du mir es ist lange her

sag ich dir es geschieht

ich wiederhole den Satz den sie lebten

bis zuletzt

In dieser dunklen Welt

findet Halt nur

der einen anderen hält

Steffen Mensching, 1986

Inhalt

Tante Hertha

1. Sehnsucht nach Aufbruch

1894–1915

2. Die kleine Jüdin will den Kaiser stürzen

1915–1918

3. Verzögerte Brautwerbung

1919–1922

4. Sekretärin, Pflegerin, Freundin

1922–1925

5. Der große Strom und der Schlamm

1925–1928

6. Richard Sorges Kleiderschrank

1928–1931

7. Ins Exil

1931–1937

8. Hoffnung, Scheitern, Hoffnung

1933–1938

9. Die Segeltuchtasche im Thymianfeld

1938–1941

10. Und wieder Exil

1941–1947

11. Rückkehr in die Kälte

1947–1949

12. Trotz alledem: Am Tisch unterm Kirschenbaum mit Freunden

1914–1953

13. Dämonen der Vergangenheit

1953–1990

Namensverzeichnis

Zitatnachweise

Verwendete Literatur (Auswahl)

Danksagung

Bildteil

Tante Hertha

Als ich zur Schule kam, 1956, heiratete meine schöne Mutter einen fremden Mann, zu dem ich fortan Papa sagen sollte. Ich fand, er sah dem Präsidenten Wilhelm Pieck ähnlich, dessen Bild in unserem Klassenzimmer hing. Er war über sechzig, meine Mutter noch nicht dreißig. Manchmal sprach er im Fernsehen, jedoch besaßen wir damals noch keinen Fernsehapparat. Ich lernte das Wort Emigration, mein neuer Papa war in der Emigration gewesen, in Paris und New York. Das war etwas Besonderes, die anderen Väter waren im Krieg Soldaten gewesen. Der Mann meiner Mutter fuhr immer noch in der Welt herum, nach Afrika oder Kuba, in den Iran und nach Algerien, aber er erzählte mir nichts über seine Reisen, und ich fragte ihn auch nichts. Zu ihm kamen oft Leute, dann hatte ich in meinem Zimmer zu bleiben. Die Besucher interessierten sich nicht für mich, doch ich beobachtete sie durch die Türritzen und lauschte an der Wohnzimmertür, oft verstand ich ihre Sprache nicht, es war wohl Englisch oder Französisch. Andere redeten deutsch, aber was sie sagten, verstand ich trotzdem nicht, die Gespräche kamen mir langweilig vor. Umso seltsamer war, wie erregt die Gäste und meine Eltern oft durcheinanderredeten, wie sie manchmal laut wurden, als würden sie streiten, und manchmal ganz leise, beinahe flüsternd weitersprachen, als sollte sie niemand hören.

Zwei Ehepaare gab es, die einfach in mein Kinderzimmer kamen und mir Geschenke gaben, die manchmal darauf bestanden, dass ich mit am Tisch saß, mich nach meinen Dingen fragten und aufmerksam zuhörten, als sei ich ihnen wichtig. Das waren der Schriftsteller Wolodja und seine Frau Ida aus Paris. Sie reisten wohl auch viel, denn sie brachten mir im Laufe der Zeit eine russische Matrjoschka mit und ein indisches Tüchlein und einen silbernen Kettenanhänger mit einem siebenarmigen Leuchter, der Menorah, wie sie mir erklärten. Den nahm meine Mutter aber an sich, ich sollte ihn nicht tragen, den Grund erfuhr ich nicht. Die anderen Besucher, die sich mir zuwandten, nannte ich Tante Hertha und Onkel Jacob, sie waren noch älter als der Mann meiner Mutter und wohnten auch in Berlin, in Hohenschönhausen. Dorthin wurde ich manchmal mitgenommen, sie hatten ein Haus mit einem Garten, in dem auch ein Kirschbaum stand. Das Haus war kleiner als das, in dem meine Eltern inzwischen wohnten, aber viel gemütlicher. Wie bei uns gab es viele Bücher, aber auch bunt bemalte Schränke, einen Teppich, der an der Wand hing, und zwei seltsame, klobige Ledersessel, die aussahen, als wären es Autositze. Es waren auch Autositze, hörte ich, der Brecht hatte sie aus seinem alten Steyr ausbauen und in der Werkstatt des Berliner Ensembles die Holzgestelle bauen lassen. Das Berliner Ensemble war mir bekannt. Dort, wo ich vorher gewohnt hatte, zusammen mit meiner Mutter und meinem ersten Vater, dem richtigen, wie ich im Stillen fand, hatte ich das sich drehende Zeichen vom Berliner Ensemble aus dem Küchenfenster sehen können. Den Namen Brecht kannte ich nicht. Tante Hertha gab mir ein Buch mit einem lustigen Gedicht von ihm, das Alfabet. »Steff sitzt lang auf dem Abort / Denn er nimmt ein Buch nach dort. / Ist das Buch dann dick / Kommt er erst am nächsten Tag zurück.« Das konnte ich mir vorstellen, ich las selbst überall, seitdem ich es konnte, und dicke Bücher lieber als dünne. Beim Buchstaben E hieß es: »Eventuell bekommst du Eis / Heißt, dass man es noch nicht weiß. / Eventuell ist überall / Besser als auf keinen Fall.« Darüber dachte ich nach. War ein »vielleicht« wirklich besser als das klare »niemals«? Wenn ich meine Mutter fragte, wann mein richtiger Vater mich besuchen käme oder ob ich ihn in Hamburg, wo er wieder lebte, besuchen dürfte, dann blickte sie erschrocken und sagte etwas wie »Wer weiß …, vielleicht. Eventuell später«, aber in einem Ton, als hätte ich etwas Unmögliches verlangt. Und irgendwann hörte ich auf zu fragen, ich erwähnte ihn gar nicht mehr, niemand erwähnte ihn. Ich verstand es nicht.

Tante Hertha und Onkel Jacob schenkten mir auch Bücher, ich weiß noch, wie ich in den weichen, grünen Lederpolstern aus Brechts Auto hockte und in einem Schachlehrbuch für Kinder las oder in Anna Maria Jokls Die Perlmutterfarbe, während die Erwachsenen in der Veranda Kaffee tranken. Es war schön bei diesem alten Paar. Onkel Jacob sah auch ein bisschen aus wie Wilhelm Pieck auf den Zeitungsbildern, so bauchig und gütig, obwohl er manchmal auf irgendetwas schimpfte und Hertha ihm dann die Hand auf den Arm legte, bis er sich beruhigte. Er sprach viel, sie damals nicht. Sie war klein und dünn, meistens trug sie Hosen und einen Pullover, grau oder braun, keinen Schmuck. Ihr kurz geschnittenes Haar war damals noch dunkel, erst später wurde es grau, immer lag es in schönen Wellen, obwohl sie, wie sie meiner Mutter einmal erzählte, nie zum Friseur ging. Sie ging überhaupt selten irgendwohin, weil sie schwer Luft bekam und am liebsten in ihrem Häuschen blieb, wo sie chinesische Bücher übersetzte. Aber nicht aus dem Chinesischen, sondern aus dem Englischen. Außerdem schrieb sie auf einer Reiseschreibmaschine Jacobs Manuskripte ab. Ich dachte, Jacob sei auch ein Schriftsteller oder Journalist wie der Mann meiner Mutter. Den nannten sie Walter, obwohl er Maximilian hieß; in der Emigration trug er den Namen Walter. Oder war Walter sein richtiger Name und der andere sein falscher? Es war verwirrend. Onkel Jacob schrieb keine Bücher und auch nicht für Zeitungen, er schrieb, wie ich ihn einmal sagen hörte, für die Schublade. Tatsächlich waren die Schubladen und Schränke in dem kleinen Haus voll von beschriebenem Papier, auch auf dem Tisch neben Brechts grünen Sesseln stapelten sich die Blätter. Jacob schrieb über das, was er erlebt hatte, Jahrzehnte vor meiner Geburt. Er schrieb über die Partei und die Jahre in der Emigration, über Leute, die nicht mehr lebten. Darüber redeten sie auch, wenn sie am Kaffeetisch saßen oder bei meinen Eltern zu Besuch waren. Das interessierte mich nicht besonders, aber beeindruckt war ich schon, dass Onkel Jacob und Tante Hertha unseren Präsidenten kannten und Rosa Luxemburg begegnet waren und Clara Zetkin, deren Kopf auf meinen Schulheften abgebildet war, vor allem aber bewunderte ich sie, weil sie LENIN gekannt hatten. LENIN war nicht wie andere Menschen, vielleicht war er so etwas wie ein Gott, ein Name, der über allem schwebte, wie STALIN. Aber mit diesem Stalin war irgendwas, sein Denkmal stand zwar noch in der Nähe vom »Haus des Kindes«, aber Stalins Kopf, der zu Beginn meines ersten Schuljahres auf Plakaten noch in einer Reihe mit den Köpfen von Marx, Engels und Lenin abgebildet war, war aus dieser Reihe der Götter verschwunden. Und irgendwann, als wir am »Haus des Kindes« vorbeifuhren, sah ich, dass auch sein Denkmal nicht mehr da war. Einmal fragte ich Tante Hertha, ob sie Stalin auch gekannt habe, sie lachte und machte eine unbestimmte Handbewegung. »Ja, ich bin ihm begegnet«, sagte sie. »Mit der Clara zusammen, sie war bei ihm zum Essen eingeladen. Sein Sohn Jakow saß mit am Tisch, fünfzehn, sechzehn Jahre alt. Stalin sagte etwas zu ihm, der Sohn antwortete, wir haben die Antwort nicht verstanden, aber Stalin beugte sich über den Tisch und ohrfeigte den Jungen. Der stand auf und ging wortlos, auch seine Stiefmutter, nur sechs Jahre älter als Jakow, sagte kein Wort. Uns war der Appetit vergangen.«

Das war, was sie mir über Stalin erzählte: Er hat seinen Sohn geschlagen.

Aber ich fragte nicht weiter nach, zu weit weg von meinem Leben waren Stalin und Lenin, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin.

Als ich zehn Jahre alt und gerade in die fünfte Klasse gekommen war, starb Wilhelm Pieck, unser Präsident. Sein Bild in der Schule bekam eine schwarze Schärpe, bevor es nach einer Weile ausgetauscht wurde. Onkel Jacob und Tante Hertha hatten ihn gerngehabt, das wusste ich, ohne dass sie es gesagt haben. Jetzt war überall die Rede vom Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht, den kannten sie auch, gut sogar, aber den hatten sie offenbar nicht gern. Inzwischen glaubte ich, dass das alte Ehepaar in Hohenschönhausen alle wichtigen Leute dieser Welt kannte oder ihnen begegnet war. In Paris oder New York, in Moskau oder London.

Ich war gern in dem kleinen Haus, weil es da gut roch, nicht so wie sonst bei alten Leuten, ich hörte gern Jacobs dröhnendes, warmes Lachen, Herthas leise Stimme, die aber auch hart und befehlend werden konnte. Nicht mir gegenüber, mit mir sprach sie beinahe zärtlich, sie mochte es, wenn ich über die Bücher erzählte, die ich gelesen hatte, über meine Freundinnen, sie interessierte sich für meine Schule, für mich, das war ich nicht gewohnt. Jacob gefiel es, wenn ich ihn etwas fragte, er erklärte gern und holte dabei weit aus. Oft hatte ich meine Frage schon vergessen und langweilte mich etwas bei seinen ausführlichen Antworten. Hertha rief mich manchmal bei meinen Eltern an und lud mich ein, sie mit der Straßenbahn und dem Bus zu besuchen. Trotzdem vergingen oft Monate, in denen ich sie nicht sah. Aber die Gewissheit, dort jederzeit willkommen zu sein, gab mir eine schwer zu benennende Sicherheit, das Gefühl der Zugehörigkeit, das ich bei mir zu Hause nicht fand. Ich war in der elften Klasse, als ich das Haus meiner Eltern verließ, ich ging einfach nicht mehr dorthin. Eine Lehrerin wurde mein Vormund, später wohnte ich zur Untermiete bei einer alten Frau in der Anklamer Straße, dann, das war schon zur Zeit des Abiturs, bei einer Freundin in Karlshorst. Als ich achtzehn Jahre alt, also volljährig war, bekam ich eine eigene kleine Dachwohnung, und im Herbst desselben Jahres begann ich ein Studium an der Humboldt-Universität. Hertha und Jacob, obwohl der Mann meiner Mutter ja ihr Freund war, fragten nichts, ich musste nichts erklären, sie schienen mein Weggehen zu verstehen, und dieses stille Verständnis verband mich noch mehr mit ihnen.

Im März 1970, ich war schon Studentin, starb Jacob. Ich erfuhr es aus der Zeitung, lange war ich nicht bei den Walchers gewesen. Dass er krank war, wusste ich, auch dass er immer wieder in Buch in der Robert-Rössle-Klinik lag. Aber auch Hertha musste immer wieder ins Krankenhaus, manchmal besuchte ich sie dort, aber sie liebte es nicht, wenn ich ohne Anmeldung kam, ich sollte vorher anrufen, damit wir Zeit füreinander hätten, wie sie sagte. Denn auch andere besuchten sie, mir schien, sie gaben sich die Klinke in die Hand. Mir war es oft zu umständlich, einen Termin zu vereinbaren, und meine Tage waren so prall gefüllt, da blieb wenig Raum für die beiden vertrauten Alten aus meinen Kinderjahren. Und nun war Jacob tot, »ein verdienter Veteran der Arbeiterklasse«, stand in den Zeitungen.

Ich kann nicht sagen, dass ich besonders traurig war über seinen Tod mit dreiundachtzig Jahren. Dass ein so unfassbar alter Mensch geht, kam mir völlig natürlich vor, ich selbst war noch nicht zwanzig. Als wieder zwanzig Jahre später Hertha starb, mit sechsundneunzig Jahren, war das anders. Ihr Tod hat mich getroffen, und in den Jahren seitdem, inzwischen sind es Jahrzehnte, spürte ich immer wieder einen großen Verlust, der auch der Grund ist, warum ich das hier schreibe.

Als Jacob starb, war Hertha selbst gerade im Krankenhaus, und nach der Beisetzung musste sie dorthin zurückkehren. Ich meldete mich bei ihr an und traf sie in tiefer Trauer und etwas verwirrt, doch sie freute sich, mich zu sehen, machte mir keine Vorwürfe, fragte nicht, wo ich gewesen sei bei der Beerdigung. Sie erzählte mir, dass die Grabrede ihr alter Freund Walter, mein Stiefvater, halten sollte, Jacob und sie hatten es so gewünscht. Aber Jacobs Tod war keine Privatangelegenheit, er wurde am Pergolenweg in der Gedenkstätte der Sozialisten begraben, irgendeine Protokollabteilung bestimmte den Ablauf der Trauerfeier. Walter war ja nicht in der Partei, also durfte er nicht reden. Den Auftrag bekam Hans Jendretzky, zehn Jahre jünger als Jacob, auch er ein alter Gewerkschaftsfunktionär, ein anständiger Genosse, wie Hertha meinte. Was er gesagt hatte, wusste sie kaum noch, sie war wie betäubt nach Jacobs Tod und den Ereignissen danach, betäubt auch von der Erkenntnis, dass ihr Jacob, den sie fünfzig Jahre lang geliebt hatte, nun anderen zu gehören schien.

Bei meinem nächsten Besuch, sie war wieder aus dem Krankenhaus entlassen, hatte sich ihr Haus verändert. Brechts Autosessel standen noch, wo sie immer gestanden haben, das seidene Tuch von den Weltfestspielen der Jugend aus dem Jahr 1951 verdeckte die Scheibe in der Wohnzimmertür, da hing an der Wand noch immer der zinnerne Teller, den ich erst viele Jahre später als einen Sederteller erkannte, mit Vertiefungen für das Bitterkraut und die anderen Zutaten. Die Papiere stapelten sich wie stets auf den Tischen, aber etwas fehlte. Jacob war immer anwesend gewesen, selbst wenn er im Krankenhaus, im Garten oder im Nebenzimmer war, nun lag seine Abwesenheit über allem, unsichtbar und doch sofort zu spüren, wie ein leicht bitterer Geruch, wie feiner Staub, den man schon auf der Zunge schmeckt, bevor er die Dinge stumpf erscheinen lässt. Ein gerahmtes Foto an der Wand, das vorher nicht da gewesen war, zeigte Jacob, wie ich ihn nicht gekannt habe, als einen jungen Mann mit offenem Lachen. Erst später, als ich dieses Foto nächtelang vor Augen hatte, wenn ich Hertha besuchte und ihren Monologen zuhörte, sah ich, dass Jacob in seiner Jugend ein sehr schöner Mensch gewesen war, stark, entschlossen, dabei doch irgendwie geheimnisvoll und erotisch anziehend.

Ich schaute mich um und fragte mich, was mir so anders vorkam, dann sah ich die leeren Stellen in den Bücherregalen. Da fehlten ganze Reihen. Hertha erzählte mir, immer noch fassungslos, dass Genossen gekommen seien, um Jacobs schriftlichen Nachlass, der Eigentum der Arbeiterklasse sei, sicherzustellen. Gegen ihren Willen hätten die drei Männer ganze Manuskriptstapel eingepackt, Briefe und Notizbücher, auch Broschüren und Bücher. Es sei wie bei einer Hausdurchsuchung gewesen. Vergeblich habe sie gegen die Beschlagnahme protestiert, darauf hingewiesen, dass viele Briefe auch an sie gerichtet waren, dass einige der Bücher ihr gehörten. Die Schriftstücke würden ins Archiv der Partei und die Bücher und Broschüren in das Institut für Marxismus-Leninismus überführt, erklärte man ihr, da gehörten die seltenen Erstausgaben hin, zum Beispiel diese Illustrierte Geschichte der Deutschen Revolution, 1929 im Internationalen Arbeiter-Verlag erschienen. Das Buch sei sonst nirgends mehr vorhanden, es gehöre der Partei.

»Dabei«, sagte Hertha bitter, »ist Jacob 1929, als er an diesem Buch mitarbeitete, schon aus der Partei ausgeschlossen gewesen. Daran war der Hermann Duncker beteiligt, der Albert Schreiner, Clara Zetkin. Die wussten, worüber sie schrieben, es war ja ihre Revolution. Aber sie haben auch über die Fehler und Irrtümer berichtet, das war der Parteiführung damals schon ein Dorn im Auge. Und heute wird das Buch auch im Giftschrank landen.«

»Jacob war aus der Partei ausgeschlossen worden?«, fragte ich verwundert. In den Nachrufen und Geburtstagselogen, die ich in verschiedenen Zeitungen gelesen hatte, war keine Rede davon gewesen. »Ja, nicht nur einmal«, erwiderte Hertha. Sie zeigte mir ein gerettetes Buch, das man ihr nach ihrem Protest zurückgegeben hatte. Es war Clara Zetkins Um Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution.

»Das hat die Clara mir 1922 zu Weihnachten geschenkt. Mit Widmung. Ich habe das Buch gehütet wie meinen Augapfel. Der Hilde Mende verdanke ich, dass ich es wiederbekommen habe, nachdem ich Anfang 1933 nicht mehr in unsere Wohnung gehen konnte.«

Wer war Hilde Mende? Und warum hieß Hertha, die als Gordon geboren wurde, in dieser Widmung Gordon-Osterloh?

Hertha sah plötzlich sehr müde aus, sehr klein und sehr alt.

Das Schlimmste aber sei gewesen, sagte sie mir leise, dass einer der Männer sich ein kleines Büchlein eingesteckt habe, ein Arbeiterliederbuch. »Das hat Jacob vom Robert Siewert geschenkt bekommen, an diesem furchtbaren 65. Geburtstag im Mai 1952, bei dem Brecht und Walter und eben Robert die einzigen Gäste waren. Der Robert hatte das Buch wahrscheinlich in einem Antiquariat gefunden, er kann es ja nicht über die Zeiten gerettet haben, weil er selbst in Buchenwald war und nach dem Krieg mit leeren Händen dastand wie wir alle. Es war ein kleines, schmales Buch, für uns wertvoll und unersetzbar. Diese Lieder hatte Jacob schon am Anfang des Jahrhunderts gesungen, als er in Stuttgart Vorsitzender der Freien Sozialistischen Jugend war. Und ich habe einige dieser Lieder schon in Königsberg gekannt, als nach 1905 die weißrussischen Revolutionäre bei meinen Eltern …«

Sie brach ab, wie sie ihre Erzählungen oft mitten in einem Satz abbrach. Wir tranken Tee an ihrem Tisch in dem jetzt so veränderten Zimmer. Ich fragte nicht viel. Nicht an diesem Tag. Ich wusste, dass sie meine Fragen nicht würde hören wollen, und wenn ich ihrer Empörung zustimmen würde, hätte sie sich vielleicht genötigt gefühlt, die Männer zu verteidigen. Immerhin waren die ja im Auftrag der Partei gekommen. Ihrer Partei. Aber später redete sie wieder davon, machte mir die Ganovengeste vor, die schnelle Bewegung, mit der dieser Kerl, den Genosse zu nennen sich alles in ihr sträubte, das kleine Buch in seine Brusttasche gesteckt hatte, während die anderen beiden ihre Beute in Kartons packten und ihr ein Papier hinhielten, das sie unterschreiben sollte. Ihr sei übel geworden, als sie endlich weg waren, und ihre Haushälterin, die bei allem dabei gewesen sei, habe schon gedacht, dass man sie wieder ins Krankenhaus bringen müsse, aber sie habe sich aufgerafft, Jacob hätte nicht gewollt, dass sie sich wegen dieser Leute so gräme. Da hätten sie schon ganz andere Dinge aushalten müssen, von den Gegnern und von den eigenen Genossen.

Und doch muss diese Geschichte sie besonders aufgewühlt haben, mehrmals kam sie während der nächsten zwanzig Jahre auf diese Beschlagnahmung und das gestohlene kleine Liederbuch zu sprechen.

Ich habe sie nach Jacobs Tod oft besucht, manchmal in großen Abständen, doch in den letzten Jahren ihres Lebens mindestens einmal in der Woche. In dieser Zeit beendete ich mein Studium, heiratete, bekam eine Tochter, ließ mich scheiden. Ich arbeitete bei einer Zeitung, unsere Redaktion wurde »wegen konterrevolutionärer Tendenzen« aufgelöst, mit sechsundzwanzig Jahren beschloss ich, mich fortan freiberuflich durchzuschlagen. Das war eigentlich kaum möglich, man brauchte eine Steuernummer, freie Journalisten sollte es nicht geben, und als Autorin bekam man die Steuernummer nur, wenn man im Schriftstellerverband war. Aber ich hatte als junges Mädchen ein paar Texte für Rockgruppen geschrieben, einige Gedichte von mir waren veröffentlicht worden, so bekam ich diese Steuernummer, schrieb weiter für Zeitungen und den Rundfunk. Tante Hertha, die ich bis zu ihrem Tod so nannte, ließ sich von mir meine Artikel und Texte vorlesen, ihre Augen wurden immer schlechter, am Schluss war sie fast blind. Auch aus Zeitungen las ich ihr vor, aber oft genügten ihr ein paar Sätze, bis sie abwinkte und das Gehörte scharf kommentierte. Doch hinter ihrem Sarkasmus war eine Trauer zu spüren, hinter ihrer offenkundigen Verachtung der Politik spürte ich eine nie versiegende und immer wieder enttäuschte Hoffnung.

Obwohl ich keineswegs die einzige Besucherin war, schien mir, dass ihr die Stunden mit mir wichtig waren. Über das, was ich ihr aus meinem Leben erzählte, dachte sie oft tagelang nach, rief mich manchmal spät am Abend an, um die Gespräche fortzusetzen. Wir redeten über die Vorgänge in meiner »konterrevolutionären« Redaktion. Über meine Erfahrungen in anderen Redaktionen sprachen wir, über die kleinen und großen Skandale im Kulturbetrieb, über verbotene Bücher, Filme. Sie nahm dies alles viel gelassener als ich, wie etwas Unvermeidliches. Meine zunehmenden Zweifel versuchte sie zu zerstreuen, meine Ratlosigkeit zu beschwichtigen, da war eine grundsätzliche Verbundenheit mit der Partei, die ich immer weniger verstand, je mehr ich über Herthas und Jacobs Leben erfuhr. Aber auch über ganz alltägliche Dinge sprachen wir, meine Liebesgeschichten interessierten sie, und den Mann, mit dem ich zusammenlebte, wollte sie kennenlernen und den danach auch, obwohl sie ihr fremd blieben. Meine Tochter aber hatte sie gern, wie sie mich als Kind gerngehabt hatte, ab und zu bat sie mich, das kluge Mädchen mitzubringen. Als ich mit vierunddreißig meine zweite Tochter zur Welt brachte, war Hertha schon neunundachtzig Jahre alt, ihre Kraft reichte nicht mehr, sich diesem kleinen Kind zu widmen, aber sie schenkte mir zur Geburt tausend Mark, sie wollte, dass es uns gut ging.

Auch anderen half sie. In ihrem Auftrag habe ich manchmal Überweisungen vorgenommen an mir unbekannte Menschen, auch an diese Hilde Mende, die Herthas Buch mit Clara Zetkins Widmung gerettet hatte. Die lebte nun im Vogtland, ihr und ihrem Mann war großes Unrecht geschehen in der frühen DDR, erzählte Hertha mir. Sie konnte sich die Unterstützung der alten Freundin leisten, denn sie bekam eine Rente als »Kämpfer gegen den Faschismus« und dazu die Witwenrente und außerdem, darauf legte sie Wert, ihre eigene Rente, die sie sich mit ihren Übersetzungen und Schreibarbeiten verdient hatte. Sie konnte ihre Haushälterin und andere Hilfen bezahlen, aber sie war auch sparsam und murrte, wenn ich einen benutzten Teebeutel wegwerfen wollte, man könnte ihn doch ein zweites Mal verwenden. Oft erzählte sie mir von den Entbehrungen in ihrer Kindheit, von den dünnen Suppen im Pariser Exil, von den frühen fünfziger Jahren, in denen Jacob und sie plötzlich ohne Einkommen dastanden. Kein Geld zu haben, war über viele Jahrzehnte ihres Lebens der normale Zustand gewesen.

Manchmal ließ sie mich Briefe und Postkarten vorlesen, die aus fernen Ländern bei ihr ankamen, oft erzählte sie mir dann bruchstückhaft, wer diese Menschen waren, was sie mit ihnen verband. Das waren immer Fragmente von Geschichten, über die ich mehr wissen wollte, aber wenn ich fragte, verstummte sie, als habe sie schon zu viel gesagt. Manche Namen kannte ich, andere hatte ich nie gehört.

Auch Wolodja und Ida, der Schriftsteller und die Schauspielerin aus Paris, schrieben ihr ab und zu. Zufällig waren sie in Berlin gewesen, als ich meine erste Tochter bekam, und zufällig auch zwölf Jahre später, als ich mein zweites Kind zur Welt brachte. Beide Male kam Ida ins Krankenhaus, die schöne, elegante Französin erregte dort Aufsehen.

Ich hatte zwar kaum noch Kontakt zu meinem Elternhaus, aber zu den Menschen, die mich seit meiner Kindheit begleiteten, gehörten bis zum Ende ihres Lebens auch Ida und Wolodja. Tante Hertha kannte die beiden aus Paris und auch aus New York, wohin sie nach dem Einmarsch der Deutschen als Juden und Kommunisten geflohen waren, mit Notvisa von Eleanor Roosevelt. Auch darüber erzählte sie nicht viel und schon gar nicht, wenn ich fragte, meine Fragen unterbrachen ihren Erinnerungsfluss und schienen ihr deutlich zu machen, wie wenig ich wusste, und sie fiel in Schweigen.

Manchmal diktierte sie mir Briefe oder kurze Botschaften an ihre Freunde, dadurch wusste ich, dass sie auch in Berlin mit vielen verbunden war, obwohl sie immer seltener ihr Haus verlassen konnte und die meisten ihrer Freunde ebenso alt waren. Elisabeth Hauptmann, Brechts Mitarbeiterin, war 1973 gestorben, mit ihr hatte sie fast täglich telefoniert. Ihre gemeinsame Freundin Tutti Heartfield, bei der sie manchmal in Waldsieversdorf gewesen waren, lebte noch bis Ende 1983, da machte Hertha sowieso keine Ausflüge mehr. Eine andere längst gestorbene Freundin war Grete Weiskopf, die ihre Bücher unter dem Namen Alex Wedding geschrieben hatte. Ede und Unku und Das eiserne Büffelchen hatte Hertha mir geschenkt, als ich noch ein Kind war. Die Toten gehörten zu Herthas Leben, sie sprach über sie, als wären sie noch da. Brechts Ehefrau Helene Weigel lebte nun auch nicht mehr, so alt wie das Jahrhundert war sie gewesen und nicht einmal einundsiebzig Jahre alt geworden. Von ihr kamen die Meißener Porzellantassen, aus denen wir unseren dünnen Tee tranken, und all das andere kostbare Geschirr, das Hertha in den Keller gestellt hatte, weil sie so viel Zeug nicht brauchte. Auch den alten, wertvollen Bücherschrank im Wohnzimmer hatte Helli gefunden und in das Haus der Walchers bringen lassen. Die Helli, bemerkte Hertha einmal, hatte ihr gegenüber wohl auch ein schlechtes Gewissen. Wegen Brechts Testament, an das sie sich nicht gehalten habe. Als ich nachfragte, wehrte sie ab. Das sei nun lange her und ohne Bedeutung. Und im Juli 1956, einen Monat vor Brechts Tod, habe Jacob sein Mitgliedsbuch von der Partei wiederbekommen und einen Honorarvertrag mit dem Institut für Marxismus-Leninismus. Sie hätten keine Unterstützung mehr nötig gehabt.

All diese Geschichten, die ich von Hertha erfuhr, hatten scheinbar nichts mit meinem Leben zu tun, ich kannte diese Namen nur aus Zeitungen und aus der Literatur, oft nicht einmal das. Manchmal begegnete mir jemand bei Hertha, der gerade im Gehen war, wenn ich zur verabredeten Zeit kam, oder ich traf bei meinen Krankenbesuchen an ihrem Bett die Dozentin für Schauspielregie Isot Kilian, die die letzte Geliebte Brechts gewesen war, oder die Schauspielerin Käthe Reichel, die das auch von sich sagte. Aber eigentlich achtete Hertha darauf, dass ihre Besucher einander nicht über den Weg liefen. Und sie merkte sich Telefonnummern lieber, als sie aufzuschreiben. Einmal sagte sie mir, dass es ein Fluch sei, mit all den Adressen und Telefonnummern von Toten zu leben, aber die habe sie nun mal im Kopf, aus ihrem Adressbuch könne sie einen Namen streichen, nicht aber aus dem Gedächtnis.

Sie telefonierte viel. Auch mit meinem Stiefvater, bis er mit zweiundachtzig Jahren starb. In seinen letzten Lebensjahren hatten wir uns gut verstanden, wir entdeckten, dass wir vieles gemeinsam hatten; da er sich für meine Arbeit interessierte, interessierte er sich nun auch für mich und bedauerte, dass es früher anders gewesen war. Weil auch er sein Haus nicht mehr verlassen konnte, wurde ich manchmal zwischen ihm und der zwei Jahre älteren Hertha zur Botin, überbrachte Bücher, Zeitungsausschnitte und Briefe, die ich ihr dann vorlas.

Sie behauptete, ihre Augen seien so schlecht, weil sie jahrelang mit dieser unsichtbaren Tinte Briefe schreiben musste, ganz kleine Buchstaben hatte sie zwischen die Zeilen eines harmlosen Textes setzen müssen, die konnte man nur lesen, wenn man das Papier erwärmte. Die Tinte habe sie selbst hergestellt und immer Angst gehabt, dass einer der Briefe mal vor der Zeit und bei den falschen Leuten in der Nähe eines Ofens landen könnte, diese Angst habe ihre Nerven angegriffen. Und in ihrer Erinnerung habe sie bei dieser Arbeit immer gefroren. Eigentlich habe sie Handarbeiten gehasst, aber für diese Arbeit habe sie sich Handschuhe gestrickt, die die Finger frei ließen.

Was waren das für Briefe? An wen gingen sie? Was stand darin? Ich habe sie nicht gefragt, weil ich längst wusste, dass sie auf solche Fragen nicht antwortete. Wenn ich Glück hatte, kam sie irgendwann von allein darauf zurück. Aber ich fragte, wo sie die Herstellung unsichtbarer Tinte gelernt hätte, und sie antwortete kurz: »In Moskau.«

»Als du bei Lenin warst, 1918?« Das war eine ihrer Geschichten, die sie gern erzählte, vom Sommer bis zum Dezember 1918 hatte sie im Kreml gearbeitet, nachdem sie mit einem Brief von Clara Zetkin zu Lenin gekommen war.

»Nein, viel später, da lebte Lenin nicht mehr. Und noch später, nach dem Reichstagsbrand, habe ich das anderen beigebracht, auch dem Herbert Frahm, der ein ganz junger Bursche war, neunzehn oder zwanzig.«

»Herbert Frahm? Willy Brandt? Den kanntest du auch?«

»Ja, sehr gut.«

Als wir über ihn sprachen, hatte Willy Brandt schon den Friedensnobelpreis bekommen. Sie sagte: »Wir haben seit 1948 nichts mehr mit ihm zu tun gehabt. Jacob war sehr enttäuscht von ihm.«

Jacob, nicht sie selbst. Ich hatte gelernt, auf solche Feinheiten zu achten. Dann sprachen wir doch noch über Brandts Ostpolitik, die Hertha vernünftig fand. »Wenigstens ist er kein Kommunistenhasser geworden«, meinte sie zufrieden. »Er hat wohl doch kapiert, dass es ohne die Sowjetunion nicht geht. Die war ja unsere große Hoffnung, trotz allem. Und sie ist es noch immer. Wenn es Veränderungen geben wird, dann von dort.«

Ich war ein paarmal in der Sowjetunion gewesen und konnte mir nicht vorstellen, dass von der Mumie Breschnew, die ich natürlich nur aus dem Fernsehen kannte, je irgendeine Bewegung ausgehen könnte. Und von dem ihm 1982 folgenden Andropow schon gar nicht, und auch nicht nach 1984 von Tschernenko, der ein betagter, erstarrter Säufer zu sein schien wie seine Vorgänger.

Aber dann traf ich bei irgendeiner Veranstaltung den alten Schriftsteller Kurt Stern. Er und seine Frau Jeanne waren Freunde der Walchers, Hertha hatte mir manchmal Briefe an sie diktiert, und ich hatte ihr Grüße der beiden vorgelesen. Sie kannten sich aus Paris, vielleicht sogar schon aus Berlin von vor 1933, aber Kurt Stern war dreizehn Jahre jünger als Hertha und Reichsleiter der kommunistischen Studentenfraktion gewesen, als sie und Jacob schon von der Kommunistischen Partei ausgeschlossen waren. Doch Gesinnungsgenossen waren sie wohl immer gewesen. Kurt Stern, eine markante Erscheinung, hochgewachsen, mit einer großen Nase und wehendem weißem Haar, war für mich eine Autorität, ebenso seine zierliche Frau, die Französin Jeanne, eine Freundin von Anna Seghers. Ich traf das Ehepaar in der Volksbühne, es war wohl meine Nähe zu Hertha, die zwischen uns eine gewisse Vertrautheit schuf. Vielleicht auch redeten sie immer so offen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Wir sprachen über den Schriftsteller Jurek Becker, der jetzt im Westen lebte und dessen Stimme bei unseren Auseinandersetzungen schmerzhaft fehlte, über ein Buch von ihm, das, obwohl angekündigt, noch nicht bei uns erschienen war, über die bleierne Stagnation sprachen wir, die das Leben zu ersticken drohte.

Doch ich muss auf die Sterns einen allzu resignierten Eindruck gemacht haben, denn plötzlich wechselte er den Ton und erinnerte mich an die von dem Dichter Stephan Hermlin mit Honeckers Billigung einberufene Berliner Begegnung im Dezember 1981, an der über hundert Schriftsteller und Intellektuelle aus Ost- und Westdeutschland und den Nachbarländern teilgenommen hatten, um über die Bewahrung des Friedens zu reden. Während in Polen das Kriegsrecht ausgerufen wurde, bewiesen die Schriftsteller: Es geht. Man kann reden miteinander, man muss es. Kurt Stern meinte, solche Zeiten des scheinbaren Stillstands habe es immer wieder gegeben, aber die Veränderungen würden kommen, man könne sie schon spüren, das kleine Wunder der Berliner Begegnung habe es gezeigt. Gewiss sei von unserem Funktionärsapparat nichts zu erwarten, aber die Veränderungen würden von der Sowjetunion ausgehen. Daran glaube er fest.

Das war es ja, worauf auch Hertha hoffte.

Sie war schon über neunzig Jahre alt, als Gorbatschow der Nachfolger des sowjetischen Oberhaupts Tschernenko wurde. Und tatsächlich schien plötzlich ein anderer Wind aus dem Osten zu wehen, der alles aufwirbelte, die Starre löste. Das Festgefügte schien zu bröckeln.

Zu dieser Zeit gehörten meine wöchentlichen Besuche bei Tante Hertha schon fest zu meinem Leben, wenn ich einmal absagen musste, zeigte sie am Telefon ihre Enttäuschung, behauptete, sie fühle sich schlecht, und wenn ich nicht schnell käme, am besten noch heute oder spätestens morgen, dann würde ich sie wohl nicht mehr sehen. Wenn ich dann kam, ging es ihr gut, sie bewegte sich in ihrer Wohnung noch immer geschickt und sicher, bückte sich mühelos, wenn etwas herunterfiel, und man konnte sich gar nicht vorstellen, dass derselben Frau außerhalb ihrer Wohnung kaum ein paar Schritte möglich waren. Manchmal schien mir, sie könne sogar besser sehen, als ich dachte. Jedenfalls sah sie genau, wenn ich einen frischen Beutel in mein Teeglas gab oder wenn ich etwas notieren wollte. Denn mitschreiben sollte ich nicht, wenn sie mir etwas erzählte. Unsere Gespräche waren jetzt oft Monologe, stundenlang sprach sie über ihre Erinnerungen, oft kannte ich die Geschichten schon, manchmal fiel es mir schwer zuzuhören, weil ich müde war, weil mir die Namen und Orte unbekannt waren oder weil sie mitten in einem Satz die Zeiten wechselte und ich oft nicht wusste, wovon sie gerade redete. Dabei war ihre Sprache sehr schön, klar und bildhaft. Als ich ihr vorschlug, ein Tonbandgerät mitzubringen, um ihre Erzählungen aufzunehmen, wehrte sie erschrocken ab. »Kind, dir vertrau ich. Aber nicht solchen Dingern. Man weiß nie, wem das in die Hände fällt.« Und auch protokollieren sollte ich nichts. Dabei hatte sie schon zu mir gesagt, als ich fünfzehn, sechzehn Jahre alt war und meine ersten Gedichte in Anthologien veröffentlicht wurden: »Du wirst einmal schreiben. Da bin ich sicher, du wirst Journalistin oder Schriftstellerin.« Erst heute, Jahrzehnte nach unseren Begegnungen, frage ich mich, warum jemand, der nicht will, dass über seine Erinnerungen geschrieben wird, sie mit einer sechsundfünfzig Jahre jüngeren Person teilt, von der er glaubt, dass deren Beruf das Schreiben wird. Vielleicht wollte sie doch nicht, dass das alles, dass ihr Leben vergessen wird?

Meist kam ich nach diesen Besuchen erst mitten in der Nacht nach Hause, wo meine beiden Kinder und mein Mann schon schliefen. Hertha brauchte nur noch wenig Schlaf, sie ließ mich ungern gehen. Wenn ich mich verabschieden wollte, um den letzten Bus noch zu erreichen, bat sie mich, noch ein bisschen zu bleiben und später ein Taxi zu nehmen. Sie drückte mir dann oft fünf Mark in die Hand, und ich habe ihr nie gesagt, dass die Fahrt zu mir mehr als das Doppelte kostete. Ohnehin war es erstaunlich, dass sie diese Geldverschwendung billigte, sie selbst war erst als alte Frau gelegentlich Taxi gefahren.

Zu Hause oder schon im Taxi schrieb ich dann manchmal auf, was sie mir erzählt hatte, Namen, Daten und einzelne Sätze, solange mir ihre schönen Formulierungen noch im Ohr waren. Im Laufe der Zeit sammelten sich diese datierten Zettel, ich legte sie in eine Mappe, in der sie Jahrzehnte überdauerten.

Der neue Generalsekretär Michail Sergejewitsch Gorbatschow machte als Erstes durch seine Kampagne gegen den Alkoholismus von sich reden. Das stand auch in unseren Zeitungen, erstaunt nahmen wir es zur Kenntnis. Hertha verabscheute die Trunksucht. Sie hatte, sagte sie, allzu viele wunderbare Menschen daran zugrunde gehen sehen. Jacob, der Schwabe, hatte gern mal ein Glas Wein getrunken, auch mal etwas Härteres, wenn ein Gast es mitbrachte. Aber sie hatte das immer genau beobachtet und ihr Missfallen gezeigt, wenn es mehr als ein, zwei Gläser waren. Sie erzählte mir, dass im Februar 1958 Hans Bunge, der Archivar vom Berliner Ensemble, mit Jacob Tonbandgespräche über sein Leben, vor allem über seine Beziehung zu Brecht geführt hatte. Dieses Vorhaben habe sie mit Argwohn gesehen, Jacob sei ihrer Meinung nach sowieso zu offenherzig gewesen, und oft genug habe ihn das in Schwierigkeiten gebracht. Und als Bunge eine Flasche Cognac – oder war es Whisky? – auf den Tisch stellte, hätte sie das Unternehmen am liebsten abgebrochen. Bunge wollte Jacob »an der Zunge ziehen«, fürchtete sie, aber Jacob setzte sich über ihren Einspruch hinweg. Das sei damals Grund für eine Verstimmung zwischen den Eheleuten gewesen.

Jahre später habe ich das Interview von Hans Bunge mit Jacob Walcher gelesen, es ist in Teilen veröffentlicht, und Kopien liegen in Archiven. Zum Glück hatte Jacob im Februar 1958 nicht auf Hertha gehört. Aber ich kannte aus dieser Schilderung und anderen Bemerkungen ihre Abneigung gegen Alkohol und fürchtete, sie verachte Alkoholiker. Deshalb habe ich ihr nicht erzählt, dass mein Lebensgefährte, der Vater meiner jüngeren Tochter, der vor unserer gemeinsamen Zeit anderthalb Jahre im Staatssicherheitsgefängnis Gera gesessen hatte, periodisch in Alkoholexzesse flüchtete, wenn er von Panik und Angst überwältigt wurde. Und sie wusste nicht, glaubte ich, dass die Folgen bereits seine Gesundheit untergruben und unser Leben beschwerten.

Dass dieser Gorbatschow nun den Kampf gegen den Alkoholismus in der Sowjetunion aufnahm, hielt Hertha zwar, wie sie seufzend sagte, für ein vergebliches Unterfangen, aber es machte uns den Mann sympathisch. Er war schon ein paar Monate an der Macht, als ich irgendwo las, dass nicht nur der Vater seines Vaters 1934 als Volksschädling ins Lager kam, sondern auch der zweite geliebte Großvater, der Vater von Gorbatschows ukrainischer Mutter. Der war ein Kolchosvorsitzender im Nordkaukasus, der kleine Michail lebte bei ihm, als er 1937 wegen Trotzkismus verhaftet wurde. Als ich es Hertha erzählte, hörte sie aufmerksam zu. »1937… Da haben sie viele als Trotzkisten verhaftet. Stalin war wütend, dass sein Widersacher ihm entkommen war, wie es schien. 1937 emigrierte er über Norwegen nach Mexiko, wo Stalins Leute ihn 1940 dann doch mit einem Eispickel erschlugen. Der kleine Junge war im Nebenzimmer.«

»Welcher kleine Junge?«

Hertha antwortete nicht, blieb in offenbar schmerzvolle Gedanken versunken. Schließlich meinte sie: »Nicht jeder, der Trotzkist genannt wurde, war einer. Jacob wurde noch 1952 als Trotzkist angeprangert. Im August 33 haben Trotzki und er sich ein paarmal in Barbizon bei Paris getroffen, Trotzki war gerade aus dem türkischen Exil gekommen. Sie haben auch Briefe ausgetauscht, beide suchten Verbündete, doch das Trennende überwog. Jacob war nie Trotzkist. Ich auch nicht, obwohl sie es mir ebenso unterstellt haben. Aber wir waren auch keine Stalinisten und keine Thälmann-Anhänger, wir waren Internationalisten.«

In keiner unserer Zeitungen und in keinem Buch hatte ich je von Trotzkis Tod gelesen. Erschlagen mit dem Eispickel – Abgründe taten sich auf. »Was für ein kleiner Junge war im Nebenzimmer?«, fragte ich noch einmal, aber sie antwortete nicht. Erst viel später erfuhr ich, dass er Sjewa hieß.

Der neue Mann im Kreml holte seine Soldaten aus Afghanistan zurück. Und er veröffentlichte das geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, Hertha hatte davon im Radio gehört, rief mich an und bat mich, schon an einem früheren Tag zu kommen als verabredet. Das war jetzt öfter so, unsere Treffen einmal in der Woche schienen ihr nicht zu genügen.

Wir redeten bei meinem nächsten Besuch über den Nichtangriffspakt, der sie damals, im August 1939, so erschüttert hatte, dass sie sofort einen Fieberschub bekam. Das Zusatzprotokoll kannten sie nicht, aber sie wussten, was der Pakt bedeutete. Und dass auch sie und die anderen Exilanten in Frankreich nicht mehr sicher waren, dass sie ihr Büro auflösen, sich ein neues Exil suchen mussten.

Ein halbes Jahrhundert war das her, und für Hertha hatte es mit dem zu tun, was wir nun erlebten.

Trotz der Arroganz der Macht oder gerade ihretwegen brodelte es im Land, die alte Frau in ihrem abgeschiedenen Häuschen bekam davon mehr mit als viele, die sich 1989 überrascht und überwältigt zeigten. Ihre große Hoffnung war mit Sorge gemischt. Gleichzeitig wurde sie nun doch immer hinfälliger, und die Krankenhausaufenthalte häuften sich.

Als ich sie einmal dort besuchte, stand sie in ihrem Zimmer nackt am Waschbecken. Ich wollte mich zurückziehen, aber sie bat mich herein. Ich half ihr, das Nachthemd wieder anzuziehen, dabei zeigte sie mir ihre runzligen Arme, dünn wie Kinderarme. Verzweifelt und belustigt gleichzeitig meinte sie: »Das sind doch nicht meine Arme. Die sind nun an mir dran, also sind es doch meine, aber ich habe nie so faltige, dünne Arme gehabt, ich sah doch immer ganz anders aus. Wie ist es nur so weit gekommen?«

Ich musste oft an diesen Ausbruch von Empörung gegen das Unausweichliche denken, es rührte mich, dass der uralten Hertha in diesem Moment das Vergängliche ihres Körpers, das Endliche ihres Daseins bewusst wurde, dem sie doch sonst mit Gelassenheit begegnete.

Fast jedes Mal, wenn ich bei ihr war, sah ich Trauerkarten, immer mehr ihrer Freunde und Weggefährten gingen unter die Toten, wie schon so viele andere, die vor ihnen Herthas Leben begleitet hatten. Dabei hatte sie sich auch immer gern mit Jüngeren umgeben, die nun auch nicht mehr jung waren. Schon im März 1986 war Isot Kilian an den Folgen eines Selbstmordversuchs gestorben. Hertha war traurig, aber auch ein bisschen zornig. »Sie hatte keinen Grund, ihr Leben wegzuwerfen«, befand sie. »Und die Zeit mit Brecht hat an ihr gehangen wie ein Gewicht. Sie wollte es nicht loslassen.«

»Hast du nie daran gedacht, dich umzubringen?«, fragte ich sie.

»O doch. Aber ich habe es nicht getan.«

1987 zeigte sie mir betrübt die Traueranzeige von Rosi Wolfstein-Frölich. Die Gefährtin vergangener Tage, der Rosa Luxemburgs Erben deren Nachlass anvertraut hatten, war in Frankfurt am Main gestorben, kurz vor ihrem hundertsten Geburtstag. Hertha kannte sie seit den zwanziger Jahren, Jacob war ihr noch früher im Spartakusbund begegnet und an der von Rosa Luxemburg geleiteten Parteischule. In Berlin hatten sie zu einem Freundeskreis gehört, auch im Malik-Verlag hatte Hertha mit Rosi zusammengearbeitet, sie wurden gleichzeitig aus der KPD ausgeschlossen, gingen gemeinsam in die Kommunistische Opposition, dann in die SAPD, von der sie glaubten, sie könnte die Kraft werden, die Sozialdemokraten und Kommunisten eint, die den Faschismus aufhält. Zu spät. Im Exil waren die Walchers und das Paar Rosi Wolfstein und Paul Frölich nahe beieinander, aber schon in Paris gab es Meinungsverschiedenheiten, vor allem zwischen den Männern, und in New York kam es 1942 zum endgültigen Bruch. Es gab danach keinen persönlichen Kontakt mehr. Das erzählte mir Hertha, während sie die Karte mit der Todesanzeige studierte, als könne sie sie doch lesen und als stünde da eine Antwort auf unausgesprochene Fragen.

Paul Frölich und Rosi Wolfstein waren 1951 aus New York nach Frankfurt am Main gegangen, traten dort in die SPD ein. Paul, etwas älter als Jacob, starb bereits 1953. Nach Jacobs Tod 1970 meldete die betagte Rosi sich bei Hertha, die auf das Angebot nicht einging. Zu viel stand zwischen ihnen, sagte sie nur, als ich nach den Gründen fragte. Aber Rosis Tod war ihr doch nicht gleichgültig. Die Todesanzeige lag auch bei meinem nächsten Besuch noch auf dem Tisch neben dem Lesegerät. Hertha hatte, vielleicht aus dem Radio, erfahren, dass Willy Brandt zu der Trauerfeier für Rosi Wolfstein-Frölich gekommen war. Er wurde als ein enger Freund der Verstorbenen bezeichnet, das ärgerte sie. »Die Rosi hat ihm als jungem Mann Steine in den Weg gelegt, wo sie konnte. Auf der Kattowitzer Konferenz hat sie verhindert, dass er in die Leitung gewählt wurde. Sie war neidisch auf seine Jugend, sagte, mit dreiundzwanzig sei man zu jung für solche Funktionen. Aber der Willy hatte da schon große politische Erfahrungen, er war ein besonderes Talent, solche gibt es nicht oft, das muss man schon zugeben.«

»Es spricht doch für Brandt, dass er ihr das nicht nachtrug«, antwortete ich und fragte, was das für eine Kattowitzer Konferenz gewesen sei, aber sie antwortete nicht, und ich erfuhr damals auch nicht die Gründe für ihre Unversöhnlichkeit.

Unversöhnlichkeit und eine gewisse Härte, auch sich selbst gegenüber, spürte ich oft bei Hertha, trotz ihrer geradezu weisen Gelassenheit und menschlichen Güte.

Im Mai 1989 hatte es Wahlen gegeben, eine Farce. Wahlen in der DDR waren zum verlogenen Ritual erstarrt, das Ergebnis stand vorher fest. Diesmal aber regte sich Protest von Bürgern, die ihre Angst überwinden und sich diese Entmündigung nicht mehr gefallen lassen wollten. Auch ich war zur abendlichen Auszählung in mein Pankower Wahllokal gegangen, schrieb mir die Anzahl der Nein-Stimmen auf, es waren nicht viele, zehn oder elf, aber dass es sie überhaupt gab, war bedeutsam. Da ich in Pankow oft umgezogen war, kannte ich die Parteisekretäre mehrerer Wohngruppen, die in ihrem jeweiligen Wahllokal die Auszählung geleitet hatten. Ich rief einige an und fragte nach den Ergebnissen, die ja am Wahlabend in den Lokalen öffentlich verkündet wurden und daher kein Geheimnis sein sollten. Die Befragten zögerten, aber nannten mir schließlich die Anzahl ihrer Nein-Stimmen, es gab sie überall. Schon die Summe dieser Nein-Stimmen aus wenigen Lokalen war um ein Mehrfaches höher als die, die für alle Pankower Wahllokale in der Zeitung Neues Deutschland gestanden hatte. Der Betrug war offensichtlich.

Ich beschloss, eine Eingabe an Egon Krenz, den Vorsitzenden der Wahlkommission, zu richten. Dabei nahm ich bewusst keinen Kontakt zu einer der Bürgergruppen auf, die das auch taten, ich fürchtete den Vorwurf der feindlichen Gruppenbildung und schrieb nur in meinem eigenen Namen.

Als ich Hertha davon erzählte, wurde sie wütend. »Warum hast du das getan, was hast du dir dabei gedacht? Bist du so naiv, an bürgerliche Wahlen zu glauben? Die wären einen Dreck wert, überhaupt sind diese Wahlen nicht wichtig. Man muss an ganz anderen Stellen anfangen, wenn man das Ruder noch herumreißen will. Ich hätte dich für klüger gehalten.«

Ich entgegnete, dass es die so offenkundige Lüge sei, die man nicht länger hinnehmen könne. Ich hätte es satt, Propaganda als Wahrheit vorgesetzt zu bekommen.

Wir stritten ein wenig, Hertha beruhigte sich schließlich und meinte nüchtern: »Na ja, viel werden sie dir dafür nicht geben. Wohl nur Bewährung. Oder höchstens ein Jahr. Wie kann man aber auch so dumm sein. Du hättest auch mal an deine Kinder denken können. Wenn es sich wenigstens gelohnt hätte, aber wegen einer solchen Albernheit … Jetzt bist du wohl noch stolz, du Revoluzzerin.«

Ich war verblüfft. Sie hielt es also für möglich, dass man mich einsperren würde, und fand das völlig normal.

Man hat mich nicht eingesperrt, und auch die Proteste der Bürgergruppen wurden hingenommen, es waren schon zu viele. In diesem Jahr 1989 waren die Fundamente der DDR ins Rutschen gekommen, es war wie bei einem Erdbeben. Im Juni geschah das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, das von der Parteiführung begrüßt wurde. Im Sommer konnten wir zusehen, wie Hunderte, Tausende junger Menschen in westlichen Botschaften Zuflucht suchten, wie sie in Ungarn Grenzzäune überwanden, wie der Regierung das Volk weglief. Etwas ging zu Ende, das musste jedem klar sein.

Im August las ich Hertha eine Postkarte von Hilde Eisler vor, die ihr lange nicht begegnet war.

»Ich denke viel an Dich und Jacob und die alten Zeiten«, stand da. Mehr nicht, und es genügte.

Für Herthas Freund Kurt Stern war das Ende seines Lebens im September 1989 gekommen. Er hat zwar den herbeigesehnten, von Gorbatschow angestoßenen Aufbruch in der Sowjetunion erlebt, aber nicht mehr erfahren, wie er auch unser Land ergriff, wie die Verhältnisse auch bei uns zum Tanzen kamen. Wobei man oft schwer unterscheiden konnte, ob es sich um einen Freudentanz oder um einen taumelnden, zuckenden Veitstanz handelte.

In diesen Wochen kamen wir auf die Idee, Hertha mit unserem Auto, das wir seit Kurzem besaßen, in der Stadt herumzufahren, ihr unsere Wohnung zu zeigen, in der sie noch nie gewesen war. Sie war neugierig und freute sich auf den Ausflug. Ins Auto hoben wir sie ganz vorsichtig, sie war noch kleiner und leichter geworden, aber sie kam mir auch unsicherer vor außerhalb ihrer schützenden Räume. Wir fuhren durch die Friedrichstraße, Unter den Linden entlang, ich zeigte ihr die neuen Hochhäuser in der Leipziger Straße, die gläsernen Fassaden vom Palast der Republik, Hotels mit schwingenden Türen, den Gendarmenmarkt mit dem wiederaufgebauten Französischen Dom, das Schauspielhaus. Dass sie kaum sprach, fiel mir zwar auf, aber ich glaubte, sie sei beeindruckt von dieser Pracht. Entfernte Dinge konnte sie ja ganz deutlich erkennen. Diese Straßen und Plätze kannte sie gut, war aber jahrelang nicht hierhergekommen. In meiner Pankower Wohnung, einem Altbau mit hohen Decken, Stuck und Flügeltüren, schaute sie sich wie verloren um, beinahe erschrocken. Sie habe sich in solchen Bürgerwohnungen nie wohlgefühlt, bekannte sie schließlich. Die Reformwohnungen der zwanziger Jahre waren, was ihr gefiel. Kleine, klare Räume, praktisch und pflegeleicht. Erstaunt blickte sie auf ein paar alte Möbel, die ich schon als Studentin bei Haushaltsauflösungen billig gekauft hatte. »Das hätte der Helli gefallen«, meinte sie nur. In ihre erste eigene Wohnung mit Jacob, erinnerte sie sich, sei sie 1930 gezogen, zwei Zimmer an der Aroser Allee in Reinickendorf, in der Weißen Stadt. Ein Genosse, der schreinern konnte, habe ihnen ein Bett und einen Tisch gebaut, eine runde Küchenbank und Regale. Die habe sie selbst blau und gelb und leuchtend rot gestrichen, es sei dort sehr schön gewesen. Die Weiskopfs, Carl und Grete, hätten ganz in der Nähe gewohnt, auch Fritz und Hilde Mende und Hanna Dörfel, die einen Sohn von Münzenberg hatte. Sie seien alle ganz ähnlich eingerichtet gewesen, ohne Schnörkel. Sie seufzte und wollte nach Hause. Bei meinem nächsten Besuch sagte sie, sie habe nicht geahnt, wie die Stadt jetzt aussehe. Unter sozialistischer Architektur stelle sie sich etwas anderes vor, eher dem Bauhaus ähnlich. Alles komme ihr so bürgerlich vor, so protzig. Und langweilig. Solche Bauten habe es in Amerika schon vor fünfzig Jahren gegeben. Diese Hotels an der Friedrichstraße, da würden doch sicher keine Arbeiter wohnen.

Ich glaube, dieser Ausflug zeigte der damals Fünfundneunzigjährigen, dass die Welt nicht mehr die war, die sie kannte. Nur in der schützenden Hülle ihres Häuschens und in den wechselnden Krankenzimmern in der Scharnhorststraße war sie noch zu Hause. Und in den Erinnerungen. Trotzdem wollte sie wissen, was in der ihr fremd gewordenen Welt vor sich ging.

Am 4. November 1989 gingen mein Lebensgefährte und ich zu der großen Demonstration auf den Alexanderplatz, meine ältere Tochter, siebzehn Jahre alt, war auch irgendwo dort unterwegs, die jüngere, noch nicht sechs, hatte ich zu einer Freundin gebracht, die wegen ihres Babys zu Hause bleiben wollte. Danach fuhr ich zu Hertha und erzählte ihr von der Demonstration, von den Plakaten, den Reden. Das erfüllte sie mit Freude, die Hoffnung auf die Revolution lebte wieder auf.

Doch in diesem November 1989 hängte sich im Vogtland Hilde Mende auf, ihre Genossin aus einer anderen Zeit. Hertha hatte ihr regelmäßig eine Unterstützung zukommen lassen, sie aber lange nicht gesehen. Hilde war zweiundachtzig Jahre alt, krank und seit Langem taub. Sie wollte ihrer Tochter nicht mehr zur Last fallen. Ihr Tod hatte sicher nichts mit dem sich abzeichnenden Ende der DDR zu tun. Oder doch? Waren all die Entbehrungen, Demütigungen, die Jahre, die Fritz Mende in der frühen DDR im Zuchthaus verbracht hatte, ihr nun erst recht sinnlos erschienen? Hertha nahm aus einer ihrer Schubladen einen braunen Packpapierumschlag, Briefe der Mendes. »Vielleicht kannst du irgendwann über sie schreiben«, meinte sie. Ich hatte das auch vor, aber legte den Umschlag schließlich zu der Mappe mit den Zetteln, auf die ich immer noch nach den Besuchen bei Hertha notierte, was sie mir erzählt hatte.

Auch im Jahr 1990 besuchte ich sie regelmäßig, las ihr vor, schrieb Briefe, hörte ihr zu, selbst wenn mir oft vor Müdigkeit die Augen zufielen. Immer noch ließ sie sich kaum mit Fragen unterbrechen, aber viele ihrer Geschichten kannte ich schon, manche erzählte sie immer wieder. Einmal, als sie mir von einer illegalen Reise mit Clara Zetkin nach Mailand erzählte und die Stadt mit Livorno verwechselte, berichtigte ich sie, und es fiel ihr nicht auf. Aber als sie beim nächsten Mal wieder diese Reise schilderte, sagte ich, es war schon nach 22 Uhr: »Tante Hertha, das hast du mir schon erzählt.« Sie stutzte, glaubte es nicht. »Darüber habe ich noch nie mit jemandem gesprochen. Du bist die Erste.« Es tut mir heute leid, aber ich nahm den Faden auf, setzte ihren Bericht fort mit allen Einzelheiten, die ich ja oft genug gehört hatte. Sie schwieg.

Am nächsten Morgen rief sie mich früh an, sie habe in der Nacht nicht schlafen können, erschrocken über sich selbst. Es sei gefährlich, die Kontrolle über das zu verlieren, was man anderen mitteile. Ihr sei das noch nie geschehen, und wenn ich es noch einmal bemerke, solle ich sie sofort darauf aufmerksam machen.

Ich habe es nicht wieder getan und hingenommen, wenn ich manches wieder und wieder erzählt bekam. Oft fielen dabei Namen, die mir nichts sagten.

In diesem Jahr 1990 drang das, was um uns herum geschah, immer mehr auch in Herthas Häuschen, in unsere Gespräche. Noch am Ende des Jahres 1989 hatte Gorbatschow nach einem Treffen mit dem amerikanischen Präsidenten erklärt, der Kalte Krieg sei nun vorbei. Vorbei war auch die Euphorie der Bürgerbewegung, die einen kurzen Moment lang geglaubt hatte, ein anderer, ein demokratischer Sozialismus würde aufgebaut werden, und sie seien dabei die Akteure. Nun steuerte alles auf eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten zu. Und in der Sowjetunion strebten die baltischen Länder nach Unabhängigkeit, auch in Aserbaidschan kam es zu einer Art Putsch, Gorbatschow setzte die Armee gegen die Aufständischen ein, es gab 130 Tote. Später sagte er, dies sei der größte Fehler in seiner Amtszeit gewesen, aber dieser Fehler entzauberte die Lichtfigur, auch Hertha wurde skeptisch. »Vielleicht ist es zu spät?«, mutmaßte sie. »Er wollte einen anderen Kurs, aber das schlingernde Schiff geht schon auf Grund.« Obwohl sie die Gesichter der Delegierten nicht sehen konnte, verfolgte sie die Volkskammersitzungen am Fernsehapparat, sie verstand ja, was gesagt wurde, und begriff, dass diese Revolution nicht die war, von der sie schon als Mädchen geträumt hatte.

Aber es war auch nicht die Revolution, von der die Bürgerrechtler geträumt hatten. Vielleicht war es gar keine Revolution, sondern einfach der Weg zur nationalstaatlichen Wiedervereinigung, den vor allem die wollten, die bis dahin stillgehalten und sich wie Untertanen verhalten hatten.

Zu Pessach sollte ich Hertha wie schon in den letzten Jahren Mazzot besorgen, nicht aus religiösen Gründen, aber sie liebte das ungesäuerte Brot, es schmeckte ihr und erinnerte sie an ihre Kindheit, über die sie jetzt immer öfter sprach. Manchmal sang sie mit erstaunlich schöner Stimme die eine oder andere Strophe aus Liedern, die ihre Mutter gesungen hatte. Das Jiddische und die Melodien waren ihr noch immer vertraut, aber von den Texten konnte sie nur noch Bruchstücke. »Was für ein reicher Wortschatz für so einfache Sachen«, sagte sie einmal. Ein andermal kam ich dazu, als sie wieder eine politische Debatte vor dem Fernsehapparat verfolgte. »Jeder ejzl hat lib tzu hern, wi er alejn hirzhet«, sagte sie spöttisch und übersetzte für mich. »Jeder Esel hört sich selbst am liebsten schreien. Das hat meine Mutter schon gesagt.«

Sie sprach jetzt oft vom Tod, fragte mich, wo Arnold Zweig begraben sei. Der Schriftsteller liegt auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, wie meine Eltern. Hertha erinnerte sich, in einem Erholungsheim von seiner Frau Beatrice gehört zu haben, dass sie und Arnold Zweig gern auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee begraben werden wollten. »Vielleicht haben sie es sich anders überlegt. Auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof liegen ja viele Künstler. Vielleicht auch konnten sie es sich nicht aussuchen. Mich hat ja auch keiner gefragt, wo Jacob liegen sollte. An den Pergolenweg auf den Friedhof der Sozialisten zu kommen, war eine Ehre, es gab da auch Hindernisse, Ulbricht war ja noch im Amt. Zum Pergolenweg werde ich dann wohl auch kommen. Das ist ja auch richtig, ich gehöre zu Jacob, aber diese Herta Geffke liegt da ebenfalls.«

Erst viel später erfuhr ich, wer Herta Geffke war und welche Rolle sie im Leben der Walchers und vieler ihrer Freunde gespielt hatte. Aber Hertha kam noch mehrmals auf den Jüdischen Friedhof zu sprechen, der ja nicht weit von ihrer Wohnung lag. Ob sie doch mit dem Gedanken spielte, dass dieser Gute Ort ihr letzter sein könnte? Sie wollte ihn sich ansehen und schlug vor, dass wir sie, wenn es ihr besser ginge, dorthin fahren könnten. Wir könnten ja einen Rollstuhl für sie besorgen.

Es ging ihr aber nicht besser.

Am 3. Oktober fand die Wiedervereinigung statt. Der Staat, für den Hertha sich nach dem Exil entschieden hatte, dem sie anhing, obwohl sie viele der Mächtigen verachtete, hatte sich aufgelöst.

Acht Wochen später starb der Vater meiner jüngeren Tochter, die am Tag darauf sieben Jahre alt wurde.

Hertha erfuhr es von mir, und nun sagte ich ihr auch, was ich ihr jahrelang verschwiegen hatte, erzählte von seinen Depressionen, seinen Ängsten und der Alkoholsucht. Das alles hatte sie gewusst. »Ich lebe doch lange genug. Ich sehe doch, was mit einem Menschen los ist. Aber ich habe ihn gerngehabt.«

In den folgenden Wochen telefonierten wir täglich, aber ich habe nur noch ein- oder zweimal Zeit gefunden, sie zu besuchen. Meine ältere Tochter ging statt meiner zu ihr. Hertha hatte auch andere Besucher, allein war sie nicht. Oder nicht mehr als sonst. Der Tod meines Lebensgefährten ging ihr nahe und stürzte sie in Sorgen um mich, um meine Töchter. Ich dachte nur an die nächsten Tage, tat, was getan werden musste, während die Zeitungen, der Rundfunksender, für die ich gearbeitet hatte, verschwanden. Freunde schlugen mir vor, mit ihnen und ihren Kindern über Weihnachten in das vogtländische Dorf Rützengrün zu fahren, dort gebe es ein Ferienheim des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, das zwar schon abgewickelt sei, zu dem aber Verwandte einen Schlüssel hätten. Wir könnten dort zusammen Weihnachten und Silvester feiern. Hertha redete mir zu, das zu tun, ihr bedeutete das Weihnachtsfest nichts, wir hatten es nie zusammen gefeiert. Da ich mir nicht vorstellen konnte, die Feiertage mit meinen Kindern allein in unserer Wohnung zu verbringen, beschloss ich, mich den Freunden anzuschließen. Wir waren drei, vier Familien. Erst viel später habe ich erfahren, dass sie unseretwegen alles so geplant haben.

Am Sonnabend, dem 22. Dezember, wollten wir fahren. Hertha wollte ich am Freitag besuchen. Als ich kam, hatte es etwas geschneit. Um ihr Haus herum lag eine feine, unberührte Schneedecke, schön sah das aus. Das Haus war leer, sie lag schon mit einem Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus. In der Nacht zum Freitag war sie in den Keller gestiegen, wo nicht nur Hellis Zwiebelmusterteller, sondern auch Papiere und Aufzeichnungen lagen, die ihr den Schlaf raubten. Hertha wollte, dass Werner Mittenzwei, der Brecht-Biograf, sie bekäme.

Das sagte sie mir noch in unserem letzten Gespräch, und sie sagte, dass ich unbedingt mit den Töchtern ins Vogtland fahren solle, sie werde noch da sein, wenn ich wiederkäme.

Dieses Versprechen konnte sie nicht halten. Am 27. Dezember 1990 ist sie gestorben, in ihrem siebenundneunzigsten Jahr.

Der Putsch gegen Gorbatschow, vor dem sein Außenminister Schewardnadse bei seinem Rücktritt gewarnt hatte, fand ein paar Monate später statt, aber das war schon in einer anderen Zeit.

Begraben wurde Hertha im kalten Februar, am Pergolenweg, bei Jacob. An diese Beerdigung habe ich nur undeutliche Erinnerungen. Ihr waren ja nicht mehr allzu viele Freunde geblieben, und die meisten, die es noch gab, waren sehr alt. An Theo Pinkus erinnere ich mich, den Gründer der Studienbibliothek zur Geschichte der Arbeiterbewegung, der aus Zürich gekommen war. Drei Monate später verschickte seine Frau Amalie auch seine Todesanzeige. Werner Mittenzwei, der die Gedenkrede hielt, sprach davon, dass wir von Hertha lernen konnten, wie Niederlagen zu ertragen sind. Das Scheitern war wohl für viele, die da im Februar 1991 an ihrem Grab standen, eine nicht neue, aber nun überwältigende Erfahrung.

Ich habe nicht wirklich um sie getrauert, ich war sogar ein wenig erleichtert, dass sie mich jetzt nicht mehr brauchte. Ich hätte ohnehin weder genügend Zeit noch Kraft gehabt. Aber an sie gedacht habe ich immer, den Verlust gespürt, innerhalb weniger Wochen waren die beiden erwachsenen Menschen gestorben, die mir am nächsten standen. Aber ich hatte die Kinder, musste mir bezahlte Arbeit suchen, funktionieren.