Blindgänger - Ole R. Börgdahl - E-Book

Blindgänger E-Book

Ole R. Börgdahl

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Beschreibung

Pressemitteilung der Kriminalpolizei Oldenburg: 23. August: Explosion mit einem Todesopfer: Auf einem verlassenen Hof in der Gemeinde Wardenburg im Landkreis Oldenburg kam es gestern zu einem tödlichen Unfall. Der Kampfmittelräumdienst Niedersachen teilt mit, dass die Explosion vermutlich durch militärische Munition ausgelöst wurde. Dabei gab es einen Toten. Die Identifikation des Opfers dauert noch an. Die Kriminalpolizei Oldenburg hat einen Experten für Weltkriegs-Kampfstoffe in die Aufklärung des Vorfalls eingebunden.

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Seitenzahl: 390

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ole R. Börgdahl

Blindgänger

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Das Buch

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Epilog

Impressum neobooks

Das Buch

Pressemitteilung der Kriminalpolizei Oldenburg: 23. August: Explosion mit einem Todesopfer: Auf einem verlassenen Hof in der Gemeinde Wardenburg im Landkreis Oldenburg kam es gestern zu einem tödlichen Unfall. Der Kampfmittelräumdienst Niedersachen teilt mit, dass die Explosion vermutlich durch militärische Munition ausgelöst wurde. Dabei gab es einen Toten. Die Identifikation des Opfers dauert noch an. Die Kriminalpolizei Oldenburg hat einen Experten für Weltkriegs-Kampfstoffe in die Aufklärung des Vorfalls eingebunden.

Weitere Romane von Ole R. Börgdahl:

Blindgänger (2024) - 978-3-7565-9085-8Dein Tod ist mein Leben (2023) - 978-3-7565-6082-0

Die Falk-Hanson-Reihe (Historische Romane):

Band 1: Unter Musketenfeuer (2019) - 978-3-7485-9758-2

Band 2: Der Kaiser von Elba (2020) - 978-3-7502-3242-6

Band 3: Kanonen für Saint Helena (2022) - 978-3-7502-3242-6

Band 4: Colonel Muiron (2023) - 978-3-7549-9391-0

Die Tillman-Halls-Reihe (Krimireihe):

Alles in Blut - Halls erster Fall (2011) - 978-3-8476-3400-3

Morgentod - Halls zweiter Fall (2012) - 978-3-8476-3727-1

Pyjamamord - Halls dritter Fall (2013) - 978-3-8476-3816-2

Die Schlangentrommel - Halls vierter Fall (2014) - 978-3-8476-1371-8

Leiche an Bord - Halls fünfter Fall (2015) – 978-3-7380-4434-8

Die Fälschung-Trilogie:

Fälschung (2007) - 978-3-8476-2037-2

Ströme meines Ozeans (2008) - 978-3-8476-2105-8

Zwischen meinen Inseln (2010) - 978-3-8476-2104-1

Historische Romane (Sonstiges)

Faro (2011) - 978-3-8476-2103-4

Die Marek-Quint-Trilogie (Krimireihe):

Tod und Schatten - Erster Fall (2016) - 978-3-7380-9059-8

Blut und Scherben - Zweiter Fall (2017) - 978-3-7427-3866-0

Kowalskis Mörder - Dritter Fall (2018) - 978-3-7427-3865-3

Eins

Der Weg entlang der Lethe war vom letzten Regen mit Pfützen überseht. Kurt Kastenmeyer ging ganz links, versuchte seine Schritte immer auf der schmalen Grasnarbe zu halten. Einmal hatte er sich seine grauen Wildlederschuhe bereits verschmutzt. Er bückte sich jetzt, nahm ein Papiertaschentuch und rieb erneut über das raue Leder. Das machte es eher noch schlimmer. Der Hund war stehengeblieben, blickte sich nach seinem Herrchen um. Kurt Kastenmeyer hatte Mühe, sich wieder aufzurichten. Er streckte sich, der Hund trottet zu ihm zurück und scherte sich dabei nicht um die Pfützen.

»Pfui Tobi, mach dich nicht auch noch schmutzig.«

Kurt Kastenmeyer holte eine Kaustange hervor, zerbrach sie in drei Stücke und reichte dem Hund eines davon. Sie setzten ihren Weg fort. Es lagen noch drei Kilometer vor ihnen, bis sie zurück zum Wagen kamen. Kurt Kastenmeyer grübelte. Dienstags kaufte er immer für die ganze Woche ein. Er schrieb sich nie eine Liste, weil er glaubte, damit seinen Kopf fit zu halten. Er ging die Liste aus dem Gedächtnis durch. Hundefutter war noch genug da. Er brauchte drei Liter haltbare Milch, Käse vom Stand, Naturjoghurt, Brot, Eier.

Der Knall kam unvermittelt, selbst der Hund zuckte zusammen und fing kurz an zu jaulen. Kurt Kastenmeyer blickte zum Himmel. Er glaubte im ersten Moment an ein Überschallflugzeug, an einen Kampfjet, der die Schallmauer durchstoßen hatte. Der Himmel war leer, bis auf die Vögel, die der Knall ebenfalls aufgeschreckt hatte. Kurt Kastenmeyer zuckte mit den Schultern. Er ging weiter, suchte noch ein-, zweimal den Horizont ab, sah aber weiterhin nichts.

An der Brücke blieb er stehen. Rechts ging es über die Lethe, links zu einem Feldweg, der ein kurzes Stück durch den Wald verlief und zu dem verlassenen Gehöft führte. Kurt Kastenmeyer zögerte, er dachte an den Knall von vorhin. Dann nahm er doch den Feldweg. Es waren vielleicht fünfhundert Meter, es würde kein großer Umweg sein. Sobald die Überreste einer Scheune hinter den letzten Bäumen auftauchten, begann der Hund an der Leine zu ziehen. Das Dach der Scheune war schon vor Jahren eingestürzt, das Wohnhaus dahinter noch in einem guten Zustand. Kurt Kastenmeyer hatte diesen Weg höchsten drei-, viermal genommen. Hinter dem Hof führte die Straße wieder zur Lethe zurück und zu einer anderen Brücke, über die auch Autos fahren konnten. Die Bundesstraße Richtung Oldenburg war dann nicht mehr weit.

Der Hund fing an zu bellen. Der Wind kam von vorne, trug einen Geruch nach Verbranntem zu ihnen. Kurt Kastenmeyer blieb stehen, sog die Luft ein. Irgendetwas war merkwürdig. Er ging weiter, nahm den Hund aber kürzer an die Leine. Hinter dem Wohnhaus blieben Hund und Herrchen plötzlich abrupt stehen. Ein gepflasterter Weg führte von der Straße auf das Gehöft. Etwa fünfzig Meter vom alten Bauerhaus entfernt stand ein verkohltes Metallgerippe, die Überreste eines Autos. Es stieg sogar noch ein wenig Rauch auf, aber es brannte nicht mehr.

Die Türen fehlten, lagen einige Meter entfernt von dem Wrack. Das Autodach war von den Säulen der Windschutzscheibe abgerissen und nach hinten geklappt. Kurt Kastenmeyer sah sich weiter um. Erst jetzt nahm er das Trümmerfeld wahr. Der Hund zog wieder stärker an der Leine, schnüffelte nach etwas, das nur einen Meter entfernt lag. Kurt Kastenmeyer nahm die Brille ab, beugte sich vor, versuchte zu erkennen, um was es sich da handelte. Im selben Moment zerriss ein gewaltiger Knall die Stille. Am Himmel schoss ein Eurofighter Typhoon über ihnen hinweg. Tobi spielte verrückt.

Zwei

Ingo Rhode parkte seine alte G-Klasse in einer riesigen Pfütze. Es gab so gut wie keine trockene Stelle mehr auf dem Platz vor dem Werkstor. Wenigstens hatte der Regen aufgehört. Er blieb noch im Wagen sitzen, streifte sich die schmutzig-weißen Turnschuhe ab, griff auf der Beifahrerseite nach seinen schwarzen Gummistiefeln und zog sie sich über. So gerüstet sprang er aus dem Wagen. Am Werkstor wartete bereits Henning Baumgart, der Ausgrabungsleiter.

»Wo hast du die alte Karre eigentlich her?«, fragte Hennig, nachdem sie sich die Hände gegeben hatten.

Ingo drehte sich noch einmal zu seinem Wagen um. »Aus einer Versteigerung. Die Bundeswehr räumt ab und zu ihre Bestände auf. Meiner ist Baujahr ’91. Das Verdeck hinten habe ich aber letztes Jahr neu machen lassen. Ich nenne ihn Wolfi.«

Hennig lachte und hielt Ingo das Tor auf. Sie befanden sich nicht an einem der Hauptwerkstore. Auf dem Weg zur nächsten Halle erstreckte sich eine Brache, auf der jetzt zwei Bagger standen. Der Bautrupp wurde gerade vom Vorarbeiter eingewiesen.

»Vielleicht kommen wir ja doch rein«, sagte Ingo, als sie sich der Grube näherten.

»Würde ich dir nicht empfehlen. Die hatten einen Statiker da. Der neue Bunker ist bei Weitem nicht so stabil, wie der, den wir schon unter die Lupe genommen haben.«

»Dafür war der erste Bunker aber auch absolut uninteressant«, stellte Ingo fest. »Dieser hier geht fiel tiefer runter, wenn man dem Bodenradar trauen kann. Das ist hier ja alles sehr lehmhaltig und verdichtet.«

»Mag sein, aber wir kommen noch nicht rein. Die Jungs dort brauchen eine gute Woche.«

Sie sahen zu den Bauarbeitern. Der Vorarbeiter nickte ihnen zu. Henning und Ingo gingen weiter, näherten sich dem Rand der Grube. Ingo prüfte die Festigkeit des Untergrunds, dann sah er einige Bretter, die wie Treppenstufen angeordnet waren. Er betrat vorsichtig das erste. Henning wollte schon protestieren. Ingo prüfte die Standfestigkeit und ging die Stufen weiter hinunter, bis ihm ein Betonklotz den Weg versperrte. Er musste jetzt durch den Matsch, die Gummistiefel versanken ein paar Zentimeter. Ingo erreichte die Kante. Aus dem Beton ragten Stangen aus rostigem Stahl. Er konnte sich daran festhalten und zu der Öffnung ziehen, die jetzt wie ein schwarzes Loch vor ihm lag.

»Aber nicht weiter«, rief Henning von oben.

Ingo schüttelte den Kopf. Er zog eine Taschenlampe aus der Jacke, schaltete sie mit einer Hand ein und hielt den Lichtkegel in das Loch. Der Strahl wurde sofort von einem Hindernis reflektiert. Links gab es einen Spalt, der aber viel zu schmal erschien, um sich dort hindurchzuzwängen. Ein fauliger Geruch schlug Ingo entgegen. Er beugte sich noch einmal weit vor, konnte aber mit dem Taschenlampenstrahl den Spalt nicht richtig ausleuchten. Er ging einen Schritt weiter, dann noch einen. Henning rief etwas, aber Ingo war schon zu sehr auf seinen nächsten Schritt konzentriert.

Er näherte sich dem Spalt. Es war doch wohl erlaubt, einen Blick hineinzuwerfen. Er musste sich mit beiden Händen festhalten, die Taschenlampe behinderte ihn dabei. Er schob sie sich in den Hosengürtel. Jetzt war er mit dem Gesicht direkt vor dem Spalt. Er hielt den Atem an, als der faulige Geruch stärker wurde. Er tastete mit dem linken Fuß nach einem sicheren Stand. Er musste wieder atmen, tat dies durch den Mund, mit aufeinander gepressten Zähnen. Es war nicht viel erträglicher. Endlich konnte er sich ein Stück in den Spalt hineinbeugen. Er zog die Taschenlampe hervor, zwängte sie zwischen seinem Bauch und der Betonwandung, bis der Lichtstrahl etwas tiefer ins Dunkel vordrang.

Es sah gar nicht so schlecht aus, entschied Ingo für sich selbst. Er reckte sich noch weiter nach vorne, setzte auch den rechten Fuß in den Spalt, schob seinen Oberkörper nach und konnte sich tatsächlich durch die Öffnung quetschen. Er kniff kurz die Augen zu, sein Blick folgte dem Strahl der Taschenlampe. Hennings Rufe nahm er schon nicht mehr wahr, sie klangen inzwischen eher dumpf. Ingo hatte den Bunker betreten. Hinter dem Spalt zeigte das Licht der Taschenlampe einen kurzen Gang. Das Weiterkommen war durch eine rostige Stahltür versperrt.

Es rieselte ihm etwas in die Augen, dann traf ein kleiner Betonbrocken seine Schulter. Ingo ignorierte es, löste sich aber von der Wand, an die gelehnt er sich bisher vorwärts geschoben hatte. Er stand frei vor der Stahltür. Drei Riegel, oben, unten und einer in der Mitte. Ingo berührte die Tür, nichts. Er zog an einem der Riegel, die Tür bewegte sich, saß locker in ihrer Zarge. Anscheinend waren die Gummidichtungen verrottet. Er versuchte es am obersten Riegel, griff ganz am Ende zu, um die Hebelwirkung voll auszunutzen.

Er musste dichter vor die Stahltür treten, um mit seinem ganzen Gewicht an dem Riegel ziehen zu können. Er spürte, es sofort, der Widerstand gab nach. Er hielt kurz inne, dann ein beherzter Ruck. Es knirschte, eine Wolke mit feinen Rostpartikeln wirbelte im Strahl der Taschenlampe, die Ingo sich zwischen die Knie geklemmt hatte. Der erste Riegel klappte nach unten, schwang ein-, zweimal nach. Ermutigt durch den Erfolg nahm sich Ingo sofort den unteren Riegel vor. Er musste ziehen und nicht drücken. Er brauchte einige Versuche, um den Verschluss zu lösen. Es gelang schließlich. Durch die Entlastung des stählernen Türblattes hatte sich der mittlere Riegel von selbst gelockert. Ingo konnte ihn nach unten schieben. Nun zog er die Stahltür auf.

Henning schrie jetzt. Er war selbst bis auf das letzte Holztrittbrett nach unten zum Bunker gestiegen. Weiter ging er nicht. Ingo drehte sich um, wollte etwas erwidern, ließ es dann aber. Er richtete vielmehr die Taschenlampe in die dunkle Öffnung, die die Stahltür freigegeben hatte. Der faulige Geruch war verschwunden, konnte also nicht aus dem Inneren des Bunkers kommen. Ingo leuchtete zunächst die Decke ab, die sich hinter der Stahltür erstreckte. Sie fiel schräg ab. Dann der Boden und dahinter Betonstufen. Es ging drei, vier Meter in die Tiefe. Auf den Stufen lag Schutt, Betonstaub und Betonbrocken. Ingo hatte bereits die Risse in der Decke darüber entdeckt.

Er zögerte, aber nur kurz. Schnell hatte er drei Stufen nach unten genommen, richtete die Taschenlampe auf das, was am Ende der Treppe lag. Blanker Beton vorne und links. Rechts ein Gang, den Ingo nur einsehen konnte, wenn er weiter hinabstieg. Er tat es, schluckte vor innerer Aufregung. Er hielt sich rechts, spähte vorsichtig in den unbekannten Gang hinein. Es wurden noch einmal Betonstufen sichtbar, dann tat sich ein rechteckiger Raum auf.

Der Taschenlampenstrahl glitt über den Boden, streifte mehrere Paar Stiefel. Links und rechts standen paarweise Stiefel, sie standen sich gegenüber. Ingo ließ die Taschenlampe kreisen, dann hatte er genug gesehen. Er ging drei, vier Schritte rückwärts, drehte sich um, stieg vorsichtig die Betontreppe hinauf. Jetzt lösten sich doch noch Betonbrocken von der Decke, es staubte. Ingo blieb ruhig, zwängte sich schließlich wieder durch den Spalt, trat hinaus ins Freie. Henning hatte aufgehört zu rufen, starrte Ingo nur kopfschüttelnd an.

»Du bist doch wohl verrückt«, sagte Henning schließlich. »Sieh dich doch mal an, der ganze Staub auf deiner Jacke. Du wusstest doch gar nicht, ob das da unten nicht einstürzt.« Erneutes Kopfschütteln.

Ingo nickte. »Du hast schon recht, darum bin ich auch umgekehrt und nicht noch weiter gegangen.«

Henning lachte auf. »Wie tief warst du denn?«

Ingo beschrieb die Stahltür und die Betontreppe, die dahinter lag und die rechts in den Raum mit den Stiefeln führte.

»Ich habe erst gedacht, wer hat denn diese Stiefel so merkwürdig aufgereiht. Dann habe ich es erst gesehen.« Er machte eine Pause und schluckte.

»Was hast du gesehen?«

»An den Wänden standen links und rechts je eine lange Bank und auf den Bänken saßen sie, fünf Mann auf jeder Seite, saßen sich gegenüber. In den Stiefeln steckten ihre Füße, ihre Beine, die Hände auf den Knien gefaltet. Ihre Köpfe waren gesenkt, zwei von ihnen waren zur Seite gekippt, ruhten an der Schulter des Nebenmannes. Ich nehme an, sie sind erstickt, plötzlicher Sauerstoffmangel oder eben Kohlenmonoxid. Draußen gehen die Bomben hoch. Explosionen in unmittelbarer Nähe des Bunkers, das ist wie eine chemische Reaktion. Der Umgebungsluft wird im Bruchteil einer Sekunde der Sauerstoff entzogen. Das haben die gar nicht mitbekommen, sind einfach bewusstlos geworden und dann erstickt. Eine Wachmannschaft, die bis zum Ende ausgehalten hat.«

»Eine Wachmannschaft?«, fragte Henning. »Was haben die denn bewacht?«

»Am Ende, gleich hinter den letzten beiden Männern, befindet sich eine weitere Stahltür. Verschlossen. Auf dem Boden, da wo sich die Stiefelpaare gegenüberstehen, ist alles mit Schutt übersäht. Das war mir dann doch zu riskant.« Ingo überlegte. »Eine Woche brauchen die Jungs des Bautrupps?«, fragte er.

Henning nickte. »Die tragen erst einmal weiter die Erde ab und den Schutt. Im Krieg stand auf dem Gelände über diesem Bunker eine Produktionshalle, die im Bombenhagel plattgemacht worden ist.«

»Also eine Woche«, wiederholte Ingo. »Dann muss ich die Zeit mit Literaturrecherche überbrücken. Schade, ich brenne darauf, zu erfahren, für was die Wachmannschaft ihr Leben gelassen hat. Aber vielleicht konnten die gar nicht mehr raus.« Ingo schürzte die Lippen, atmete einmal tief ein und schüttelte dann den Kopf. »Wahnsinn ist das, aber was soll es. Haben die von diesem Laden hier denn wenigsten ihr Archiv schon freigegeben?«

»Ja, das ist der nächste Punkt. Irgendein Entscheider ist wohl gerade im Urlaub. Aber du kannst im Staatsarchiv auf unsere Bestände zugreifen. Wir haben auch eine ganze Menge Material, gerade von der Zeit vor und während des Krieges.«

»Staatsarchiv«, wiederholte Ingo. »Hast du da immer noch dein Büro?«

»Selbstverständlich, ich bin dort angestellt.«

»Ich dachte, du arbeitest für das Archäologische Landesamt?«

»Nein, ich bin offiziell beim Staatsarchiv Bremen beschäftigt. Ich arbeite aber eng mit den Kollegen der Archäologie zusammen.«

»Ach, jedenfalls war ich vor zwei Jahren zuletzt bei euch im Staatsarchiv, hat eine Woche gedauert, bis ich den Staub wieder aus der Lunge hatte. Das war fast schlimmer, als ich jetzt aussehe.«

»Den wahren Historiker erkennt man am Staub, den er sich in den Archiven zugezogen hat. Ist das nicht ein Zitat von Götz Aly?«

»Stimmt, habe ich auch schon mal gelesen«, bestätigte Ingo. »Also, für eine Woche ab zu dir ins Archiv.«

»Ich bin aber nicht da«, erklärte Henning, »ich habe in den nächsten Tagen eine Arbeitskreissitzung mit Kollegen an der Uni. Ich kann dich aber für heute Nachmittag im Staatsarchiv anmelden.«

»Warte mal noch. Ich will erst nach Hause und von dort vorher ein wenig im Internet recherchieren.«

»Wie du meinst, musst mir nur Bescheid geben.«

Sie machten sich auf den Rückweg. Henning brachte Ingo noch zum Tor, schloss es hinter ihm ab, um sich anschließend mit dem Vorarbeiter des Bautrupps zu besprechen. Ingo klopfte sich noch einmal die Kleidung ab und kletterte dann in seine G-Klasse. Mit baumelnden Beinen zog er die Gummistiefel aus und steckte sie anschließend in eine Plastiktüte, die er auf dem Beifahrersitz bereitgelegt hatte.

*

Irgendjemand hatte Mülltüten draußen vor dem Container abgestellt. Ingo registrierte es, aber es kümmerte ihn nicht weiter. Ansonsten waren das Haus und die Wohnung in Ordnung, möbliert und mit einem kleinen Balkon. In der Küche hatte er allerdings nur eine Mikrowelle, aber das reichte ihm. Er ging ohnehin lieber ins Restaurant. Seinen Wagen konnte er direkt vor dem Haus parken, was ebenfalls ein großer Vorteil war. Er wohnte im dritten Stock, das Haus hatte keinen Fahrstuhl, aber auch das störte Ingo nicht. Er wohnte hier ohnehin nur auf Zeit. Er nahm immer zwei Stufen auf einmal. Oben angekommen schloss er die Wohnungstür auf, ging sofort in die Küche und stellte die Senseo an. Die Kaffeemaschine gehörte neben der Mikrowelle zum Inventar und Ingo hatte sich an den Geschmack der Pads gewöhnt.

Mit der Tasse Kaffee ging er ins Wohnzimmer, das gleichzeitig sein Arbeits- und Schlafzimmer war. Er hatte den kleinen Tisch und einen Stuhl aus der Küche hierhergestellt. Er klappte sein MacBook auf, ließ es hochfahren. Er gehörte zu jenen Historikern, die den Gang in die Keller der Archive zwar nicht scheute, aber dennoch zählte er mit seinen dreiunddreißig Jahren eindeutig zur digitalen Generation. Selbst die alteingesessenen Historiker mussten anerkennen, dass das Internet in den letzten zehn Jahren zu einer zuverlässigen Quelle geworden war.

Ingo öffnete eine Seite, auf der er zumeist gute Suchergebnisse fand, eine Seite, von der der Absprung auf die digitalen Tiefen der Archive gelang. Er hatte sich hier schon einmal umgesehen, wollte mehr von dem Unternehmen erfahren, auf dessen Werksgelände man die Bunker aus der Zeit des Dritten Reichs ausgegraben hatte. Ein entferntes Klingeln drang zu ihm. Er hatte sein iPhone im Flur liegen lassen. Er holte es sich an den Arbeitsplatz. Weil er die Nummer kannte, nahm das Gespräch an.

»Henning, sag nicht, dass der Weg doch schon frei ist und ich in den Bunker zurückkann.«

»Nein, nein, die diskutieren sogar gerade, ob sie noch mehr von den Betonwänden freilegen müssen, um von außen alles zu verstärken und abzustützen. Das kann gut länger als eine Woche dauern. Damit dir nicht langweilig wird, schicke ich dir gleich ein paar Artikel, hat mit der Sache auf dem Werksgelände nichts zu tun. Ich brauche nur deine Expertise.«

»Ach, da muss ich wieder einen Bericht schreiben. Da habe ich eigentlich gerade keine Lust zu. Das gibt aber einen weiteren Auftrag mit separater Abrechnung, das sage ich dir.«

»Geht klar, ich habe noch ein Extrabudget für solche Sachen. Außerdem, wie willst du denn sonst die Wartezeit überbrücken?«

»Da fällt mir schon etwas ein.« Ingo lachte. »Vielleicht fahre ich sogar in den Urlaub, zum Beispiel nach Kreta.«

»Um da auch wieder zu arbeiten?«, fragte Henning.

»Diesmal werde ich die Sonne genießen oder nur ein bisschen an meinem Buch über Patrick Leigh Fermor schreiben.«

»Du meinst die Entführung von Generalmajor Kreipe durch die Special Operations Executive des britischen Geheimdienstes?«

»Das sind ja nur ein paar Kapitel. Leigh Fermor hatte ein interessantes Leben, auch noch nach dem Krieg.«

»Das kannst du ja alles gerne machen, aber mein Auftrag würde dir großen Respekt einbringen.«

»Respekt verdiene ich mir anders, aber keine Angst. Schick mir deine Sachen mal, ich werde mich nebenbei damit beschäftigen.«

»Schon unterwegs.«

Henning Baumgart verabschiedete sich. Ingo schaltete den Klingelton seines Handys aus. Er würde auch nicht sofort auf Hennings E-Mail reagieren. Er konzentrierte sich wieder auf seine Recherche, klickte durch die Webseiten und las sich die Artikel durch, die sein Interesse weckten. Zehn Minuten später meldete sich das iPhone erneut. Ingo ignorierte es für ein paar Sekunden, nahm es dann in die Hand und versuchte sich an die Telefonnummer zu erinnern, die auf dem Display angezeigt wurde.

Er hielt sich das Telefon schließlich ans Ohr. »Rhode.«

»Hallo Herr Rhode, mein Name ist Unger, Martin Unger. Sie sind doch in der Expertendatenbank des Bundeskriminalamtes eingetragen. Bin ich da bei Ihnen richtig.«

»Ja, ich habe mich dort registrieren lassen und wurde auch schon ein paar Mal konsultiert.«

»Das ist sehr gut. Wir haben einen neuen Auftrag für Sie. Sie sollen die Kriminalpolizei in Oldenburg unterstützen. Ich hoffe, Sie halten sich gerade in Norddeutschland auf.«

»Ich sitze derzeit in Bremen. Um was geht es denn?«

»Das passt ja. Die Kriminalpolizei in Oldenburg benötigt die Hilfe eines Sprengstoffexperten.«

»Da sind Sie bei mir aber falsch.«

»Ach, entschuldigen Sie, natürlich wird kein Sprengstoffexperte im eigentlichen Sinne benötigt, sondern jemand, der sich mit der Waffentechnologie des Zweiten Weltkriegs auskennt. Die Polizei vermutet, dass irgendetwas aus dem letzten Krieg hochgegangen ist. Es gab ein Opfer.«

»Das ist schon was anderes, da könnte ich tatsächlich …« Ingo überlegte. »Am einfachsten ist es, wenn Sie mir Fotos und eine Beschreibung schicken. Ich würde Ihnen dann in zwei Tagen ein Gutachten schreiben.«

»Nein, nein, die Herren von der Polizei wollen einen Experten vor Ort, und zwar noch heute, eigentlich sofort.«

»Dann müsste ich meine Arbeit hier unterbrechen, ich weiß nicht ...«

»Können Sie uns denn einen Kollegen empfehlen?«

»Da fällt mir jetzt auch niemand ein. Wen haben Sie denn sonst noch in Ihrer Expertendatenbank?«

»Da sieht das ziemlich dünn aus, Sie wären tatsächlich der einzige. Wir müssten uns ansonsten an jemanden von der Bundeswehr wenden. Bombenräumkommando oder so etwas. Kennen Sie da jemanden?«

»Nein, eigentlich nicht. Was meinten Sie, Oldenburg?«

»Ja, etwas außerhalb Oldenburgs. Wie gesagt, die warten gerade, dass ich ihnen jemanden schicke.«

Ingo rieb sich den Nasenrücken und überlegte. »Ich könnte in einer Stunde dort sein. Haben Sie eine Adresse für mein Google-Maps?«

»Ich habe nur eine Wegbeschreibung, wie Sie von Oldenburg kommend fahren müssen und dazu die Telefonnummer des Kommissars, der auf Sie wartet. Ja und der Ort, an dem man Sie erwartet, heißt Lüder-Koop-Hof, nur falls Sie mal nach dem Weg fragen müssen, Lüder-Koop-Hof. Das schreibe ich Ihnen auch in die E-Mail.«

»Dann schicken Sie mir das mal.«

»Sie übernehmen also den Auftrag?«

»Ja, aber ich habe nur heute Zeit, vielleicht auch noch morgen.«

»Perfekt, danke. E-Mail kommt sofort. Stimmt Ihre E-Mail-Adresse noch?«

Unger las den Eintrag vor und Ingo bestätigte die Richtigkeit. Sie beendeten das Gespräch. Drei Minuten später meldete das Mailprogramm eine eingehende Nachricht. Ingo las sie sich durch. Ein Kommissar Zander war als Kontakt genannt.

*

Kriminalhauptkommissar Jürgen Zander beobachtete aus einiger Entfernung, wie dieses Mal die drei Männer der Spurensicherung die Leichenteile einsammelten. Er hatte selbst nur einen kurzen Blick riskiert, würde später aber in der Rechtsmedizin noch einmal mit den Überresten des Opfers konfrontiert werden. Bei Gewaltverbrechen oder ungeklärten Todesfällen gehörte es zwar zu seinen Aufgaben, sich Lage und Zustand des Opfers anzusehen, aber in diesem Fall ging er von einem Unfall aus. Und er konnte sich die vor dem Abräumen gemachten Fotografien der Spurensicherung immer noch zeigen lassen. Und dann widerte es ihn an, zu sehen, was da von einem Menschen übriggeblieben war. Das musste er sich nicht mehr antun.

Ein sich näherndes Motorengeräusch ließ Zander herumfahren. Er fragte sich kurz, warum die Kollegen an der Straßensperre den Wagen durchgelassen hatten. Die alte G-Klasse im matten Bronzegrün hielt an dem Weg, der zum Lüder-Koop-Hof führte, in einigem Abstand zu Zanders Dienstwagen und dem Transporter der Spurensicherung. Bevor der Fahrer der G-Klasse ausstieg, streifte er sich in der offenen Tür noch ein paar schwarze, dreckverschmierte Gummistiefel über. Zander sah hinunter zu seinem Schuhwerk, auf das sich bereits eine Schlammkruste gelegt hatte.

Der Kommissar zückte sein Handy und öffnete die E-Mail, die ihm Martin Unger vor einer knappen Stunde gesendet hatte. Der Mann, der jetzt aus der G-Klasse sprang, musste ein gewisser Ingo Rhode sein, der angeforderte Experte für Waffentechnik aus den beiden Weltkriegen. Zander blickte wieder auf. Ingo war stehen geblieben, schaute sich um, sah kurz zu Boden und setzte seinen Weg fort. Als er Zander erreicht hatte, standen sich die beiden Männer ein, zwei Sekunden wortlos gegenüber.

»Wer ist hier verantwortlich?«, fragte Ingo.

»Wer will das wissen?«, entgegnete Zander.

Ingo reichte ihm die Hand und nannte seinen Namen. »Sie benötigen ein Gutachten? Hier soll Munition hochgegangen sein.«

»So kann man das wohl sagen. Zander mein Name, vom LKA Oldenburg. Es gab einen Toten. Wir vermuten, dass ein Blindgänger oder eine Tretmine explodiert sind. Und genau das müssen Sie für mich feststellen.«

Ingo sah an Zander vorbei den Feldweg entlang. »Der sieht ja recht mitgenommen aus.«

Zander drehte sich um. »Das war mal ein blauer VW Golf. Ein Mietwagen, dem Kennzeichen zu folge. Da muss etwas unter dem Fahrzeug explodiert sein. Das sieht man ja sonst nur in den Nachrichten von irgendwelchen Kriegsschauplätzen.«

Ingo nickte. »Kann sein. Wissen Sie, ob auf dem Gelände schon einmal etwas gefunden wurde?«

»Was soll hier gefunden worden sein?« Zander krauste die Stirn.

»Munitionsreste. Vielleicht auch nur leere Patronenhülsen. Es gibt sicherlich viele gefährliche Müllplätze in der Gegend und in ganz Deutschland.«

»Keine Ahnung, das wissen wir noch nicht. Die Spurensicherung hat sich zwar schon umgesehen, aber erst einmal die Überreste… also, es gab ja einen Toten oder eine Tote.«

»Das geht so nicht«, sagte Ingo mit fester Stimme.

»Was geht so nicht?«, wiederholte Zander.

»Sie können hier die Leute nicht herumrennen lassen, nicht nach so einem Vorfall.«

»Wieso?« Zander war überrascht.

»Sie wissen doch gar nicht, ob da unten nicht noch mehr liegt.«

»Ja schon, aber dann müsste das Gebiet dafür doch bekannt sein.« Zander schüttelte den Kopf. »Wir wissen, dass hier zuvor noch nie etwas passiert ist.«

»Das wissen Sie nicht«, rief Ingo. »Es kann erst jetzt losgehen.« Er überlegte, wie er es erklären sollte. »Munition oder Blindgänger liegen Jahrzehnte lang in der Erde, ohne dass etwas passiert. Das Material kann sich aber nach oben arbeiten. Oder die Zünder sind so weit korrodiert, dass sie beim kleinsten Mucks auslösen. Wenn eine hochgegangen ist, folgen oft auch die anderen.«

»Die anderen? Glauben Sie, da liegt noch mehr?« Zander sah sich um.

Ingo zuckte mit den Schultern. »Sie sollten erst einmal folgendes tun. Die Leute müssen hier runter. Sie müssen weitläufig absperren. Dann muss unbedingt der Kampfmittelräumdienst kommen. Die können das Gelände detektieren. Wenn noch etwas in der Erde steckt, werden die es beseitigen. Erst dann kann Ihre Spurensicherung wieder anrücken.«

»Der Kampfmittelräumdienst?«, wiederholte Zander. »Wo bekomme ich den denn so schnell her?«

»Na, Sie sind doch die Polizei. Sie werden doch in ihrem Präsidium jemanden haben, der das weiß, der weiß, an wen sich die Stadt Oldenburg oder das Land Niedersachsen in so einem Fall wendet. Es gibt ja auch private Unternehmen, die so etwas ausführen.«

»Sie wissen ja gut Bescheid«, stellte Zander fest. »Können Sie nicht …«

Ingo atmete tief ein, suchte in der Jackentasche nach seinem Handy und wandte sich ab. Nach zwei Minuten hielt er sich das Telefon ans Ohr. Zander sah ihm die ganze Zeit zu.

»Hallo, mein Name ist Rhode, ich rufe im Auftrag der Kriminalpolizei Oldenburg …«

Ingo sah verdutzt auf sein Telefon. Das Gerät hatte sich abgeschaltet. Er probierte es neu zu starten, aber es funktionierte nicht. Zander hielt ihm schließlich sein Handy hin. Ingo musste sich die Nummer noch einmal heraussuchen, probierte es dann erneut.

»Rhode hier, haben wir eben gesprochen? … ja, gut, also, ich rufe im Auftrag der Kriminalpolizei Oldenburg an. Wir haben den Verdacht von gefährlichen Kampfmitteln auf einem Gelände außerhalb Oldenburgs … entschuldigen Sie, warten Sie bitte mal eben.« Ingo wandte sich an Zander. »Was sagten Sie, wie heißt das hier?«

»Lüder-Koop-Hof«, sagte Zander. »Man muss von Wardenburg Richtung Garrel fahren.«

Ingo nickte Zander zu und sprach dann wieder ins Telefon. »Der Ort heißt Lüder-Koop-Hof. Das liegt zwischen Wardenburg und Garrel. Wir benötigen einen Detektier- und gegebenenfalls Räumdienst. Hierbei ist Gefahr in Verzug, da auch öffentlicher Grund betroffen ist … bitte? Ja, ich bleibe in der Leitung.«

Ingo behielt das Telefon am Ohr, wandte sich aber an den Kommissar. »Wenn Sie hier gleich abfahren, seien Sie vorsichtig mit Ihren Fahrzeugen.«

Zander nickte. »Dann sage ich den Leuten mal Bescheid.«

Zander deutete auf die Männer der Spurensicherung und entfernte sich, tat dabei aber jeden Schritt mit bedacht. Ingo hörte eine Stimme aus dem Telefon, das er etwas vom Ohr entfernt gehalten hatte. Der Mitarbeiter vom Kampfmittelbeseitigungsdienst des Landes Niedersachsen meldete sich wieder. Ingo musste noch einige Fragen beantworten, beendete das Gespräch dann und nahm sich noch mal sein eigenes Handy vor. Er probierte es erneut zu starten, aber es funktionierte weiterhin nicht.

Ingo hatte in seinem Wagen noch ein zweites Telefon, von dem alten musste er sich jetzt endgültig verabschieden. Es war nicht das erste Mal, dass der festverbaute Akku aufgab. Er sah zu Zander, der seine Anweisungen gab. Die Leute begannen einzupacken. Der Kommissar brauchte sein eigenes Telefon zurück, um auch noch die Sperrung des Geländes zu organisieren. Das würde er wohl allein hinbekommen. Da erhielt Zander einen Anruf. Ingo starrte auf das Display. Es war aber nicht etwa ein Rückruf des Kampfmittelbeseitigungsdienstes. Eine Dame namens Katja versuchte Kommissar Zander zu erreichen. Auf dem kleinen Icon war nicht viel zu erkennen. Sie war blond, hatte mittellanges Haar und ein schönes Lächeln. Ingo glaubte zumindest, dass sie auf dem Bild lächelte. Er zögerte kurz, dann nahm er das Gespräch an.

»Kriminalpolizei Oldenburg, Sie sprechen mit Anwärter Rohde.« Ingo konnte sich den Spruch nicht verkneifen. In der Leitung blieb es stumm. »Hallo, ist da wer?«, fragte Ingo.

»Zander hier, ich möchte meinen Vater sprechen.«

»Katja, sind Sie das?«

Erneut ein Zögern. »Kennen wir uns?«

»Nein, aber das lässt sich ändern.«

»Wie? Hören Sie mal, Herr Anwärter, ich möchte jetzt gerne meinen Vater sprechen.«

»Da muss ich erst einmal hingehen und aufpassen, dass ich nicht auch in die Luft fliege.«

»Was?«

Ingo hatte Zander erreicht und deutete auf das Handy. »Ihre Frau Tochter möchte Sie gerne sprechen. Die Leute vom Kampfmittelbeseitigungsdienst kommen übrigens in zwei Stunden. Bis dahin sollten Sie das Gelände abgesperrt haben. Ich fahre jetzt zurück nach Bremen.«

Zander wollte protestieren, aber Ingo übergab ihm das Handy und marschierte in seinen Gummistiefeln davon.

*

Das Polizeipräsidium in Oldenburg war ein Bau aus den Siebzigern, viel Beton, viel Glas. Es gab anfangs Großraumbüros, die aber vor zwanzig Jahren in Zweier- und Dreierbüros umgebaut wurden. Kommissar Zander hatte einen großzügigen Raum für sich allein, einen Schreibtisch in der einen, den Besprechungstisch mit vier Stühlen in der anderen Ecke. Und Teppichboden, der Zanders schlurfende Schritte dämpfte. Wenn er wollte, trat er kraftvoll auf, doch hier in seinem eigenen Reich ließ er etwas von seiner Körperspannung fallen.

Er setzte sich in den Bürostuhl, drehte sich zum Fenster und blätterte die mitgebrachte Mappe durch. Es war bislang nicht viel zusammengekommen, ein kurzer Bericht der Spurensicherung, die ihre Arbeit noch nicht beendet hatte, eine Karte des Grundstücks und der näheren Umgebung. Die Tatortfotos fehlten noch. War es überhaupt ein Tatort? Zander griff zum Telefon. Die Nummer hatte er im Kopf. Ein kurzes Gespräch, die ersten Fotos des Tatortes sollte er am Nachmittag erhalten. Zander stellte sich erneut die Frage, handelte es sich tatsächlich um einen Tatort? Sollte sich die Mordkommission überhaupt mit dem Fall beschäftigen?

Diese Entscheidung lag nicht bei Zander. In den letzten Wochen hatte er keine wichtigen Fälle mehr bekommen, wollte sich auch nicht mehr mit anstrengender oder komplizierter Ermittlungsarbeit beschäftigen. Er dachte jetzt darüber nach. Es war nicht typisch für ihn, er war in all den Jahren immer an vorderster Front zu finden gewesen, hatte sich mit Mordfällen und Tötungsdelikten befasst, hatte den Austausch mit Kollegen anderer Landeskriminalämter gesucht, hatte sich für die Arbeit des Profilers interessiert, als dieses Fachgebiet noch nicht so bekannt und etabliert war.

Jetzt blickte Zander in eine andere Zukunft. Es waren noch fast genau drei Monate, nein weniger, denn er musste auch noch zehn Urlaubstage und etliche Überstunden abrechnen, obwohl er mit dem Abbau seiner Überstunden bereits vor mehr als einem Jahr begonnen hatte. Seine andere Zukunft. Er hatte ehemalige Kollegen gefragt, wie es sei, von heute auf morgen nicht mehr zum Dienst gehen zu müssen. Er hatte unterschiedliche Antworten erhalten. Jeder Kollege war anders. Einer hatte ein Segelboot, ein anderer eine riesige Liste, nach der er sein Haus zu renovieren beabsichtigte. Zander war nicht fürs Wasser geboren und rief bei größeren Reparaturen einen Handwerker.

Sicherlich, kleinere Arbeiten erledigte er selbst. Und den Garten konnte er in Schuss halten, aber sein Garten war immer in Schuss, da würde in ein paar Wochen nicht mehr zu tun sein als sonst auch. Helga und er hatten sich letzte Woche diese neumodernen E-Bikes angesehen und eine Probefahrt unternommen. Helga war nicht so begeistert, die Fahrt war ihr zu schnell, die Technik ihr suspekt. Zander selbst hatte alles aus dem E-Bike herausgeholt und es hatte ihm großen Spaß gemacht. Er hatte gleich begonnen, Touren zu planen. Mit dem Auto nach Bremen oder Hamburg, die Fahrräder huckepack, um vor Ort die Städte und Gegenden zu erkunden, ohne große Anstrengung weite Strecken zurücklegen zu können.

Was gab es noch? Die Enkel. Er konnte sich mehr Zeit für seine fünf Enkelkinder nehmen. Er dachte darüber nach. Birgit hatte drei Jungen und Miriam zwei Mädchen. Mit den Jungen unternahm er immer schon recht viel, war Chauffeur zum Sporttraining oder zusammen mit Helga als Babysitter eingesetzt. Miriam dagegen, machte Helga und ihm gerade Sorgen. Zander wischte den Gedanken fort. Wenn er heute Abend nach Hause kam, würde es ohnehin wieder Thema Nummer eins sein, weil es gerade Helga sehr zu bedrücken schien, glaubte Zander.

Er lehnte sich noch ein Stück weiter in seinem Bürostuhl zurück, bis das Möbel ächzte. Es würde genauso wie er in drei Monaten seinen Dienst quittieren. Er dachte an früher, an den einfachen Schreibtisch, den er sich mit zwei Kollegen geteilt hatte. Drehstühle gab es da noch nicht und wenn doch, waren die nur für die Leute der höheren Laufbahn bestimmt. Zander war aber mit seiner Karriere zufrieden. Er war nur ein Jahr Streife gegangen, ein gutes Jahr, in dem er als junger Polizist viel gelernt hatte.

Den Schritt in den gehobenen Dienst hatte er auf Empfehlung geschafft. Er war immer wieder älteren Kollegen begegnet, die ihn gefördert hatten. Irgendwann hatte er dies zurückgezahlt, in dem er junge Polizisten, die er für geeignet hielt, ebenfalls förderte. Es war nie eine Frau darunter gewesen, obwohl es immer schon Frauen im Dienst gegeben hatte. Zander dachte kurz darüber nach, es hatte sich bei ihm nicht ergeben.

Dann fiel ihm ein Fall vor zwei Jahren ein. Aus Bremen hatte man eine Kriminalkommissarin geschickt, die ihm im Rang gleichgestellt war. Jutta Paumann, KHK Jutta Paumann, dreißig, blond, sportlich. Sie erinnerte ihn an seine Tochter Katja, obwohl Jutta Paumann ein ganz anderer Typ war, sich nicht scheute, auch einmal eine Gefahr oder ein Risiko einzugehen. Es ging um die Sprengung von Geldautomaten. Eine Bande von drei Tätern hatte in Bremen beim Versuch einen Automaten zu plündern einen Unbeteiligten schwer verletzt. Die Spur der Bande führte nach Oldenburg. Die Bremer Kollegen hatten um Amtshilfe gebeten. Zander und Paumann waren für ein paar Tage ein Team.

Sie hatte die Bande schließlich mit zwei anderen Bremer Kollegen ausgehoben. Zander und seine Leute hatten sie lediglich abgesichert. Es hatte Spaß gemacht, der gemeinsame Erfolg hatte Spaß gemacht. Zander musste lächeln. Jutta Paumann hatte ihm später einen kleinen Präsentkorb mit typischen Bremer Süßigkeiten nach Oldenburg geschickt. Pfefferminzstangen, die Bremer Babbeler, Bremer Kluten, Rote-Grütze-Bonschen und mehrere Tüten Schnoorkuller, eine leckere Nougatpraline. Zander hatte sich später auf dem Bremer Weihnachtsmarkt oder bei anderen Besuchen in der Hansestadt immer wieder mit dieser Spezialität eingedeckt.

Er hatte von Jutta Paumann jetzt schon länger nichts mehr gehört. Er würde ihr aber noch einmal schreiben oder sogar mit ihr telefonieren, bevor er an seinem letzten Tag endgültig das Präsidium und den Dienst verließ. Jetzt fiel ihm ein, dass man von ihm bestimmt eine Abschiedsparty erwartete. Natürlich keine richtige Party, sondern ein Buffet, ein großes Frühstück oder einen Imbiss, zu dem jeder kommen konnte, der wollte. Das hatten andere Kollegen auch so gemacht. Günter Saß hatte zwei weitere Kollegen und ihn sogar zum Essen in ein Restaurant eingeladen, samt Anhang, wie es auf der Einladung gestanden hatte.

Günter Saß, das war auch so einer, den Zander schon sehr lange kannte und mit dem er fünf Jahre direkt zusammengearbeitet hatte. Das war jetzt auch schon fast zwanzig Jahre her. Bei einer Mordserie waren sie beide sehr gefordert. Es war einer der Fälle, die Zander wohl nie in seinem Leben vergessen würde, was auch daran lag, dass es damals sein Privatleben berührt hatte. Die Morde waren so brutal, dass er Helga nichts erzählen mochte, obwohl seine Frau sich immer für seine Arbeit interessiert hatte, immer auch Details wissen wollte.

Das war Zander normalerweise wichtig, weil er so alles reflektieren und verarbeiten konnte. Helga war immer die richtige Frau für seinen Beruf. Sie liefen nie Gefahr, dass sein Beruf ihre Ehe gefährdete. Aber bei einem Kindermörder hörte es auf, wo ja auch ihre eigenen Kinder im Alter der Mordopfer waren. Zander biss sich auf die Unterlippe. Eigentlich wollte er nie mehr über den Fall und über die Opfer nachdenken. Das Einzige, was ihn versöhnte, war die Tatsache, dass Saß und er den Mörder stellen konnten. Sie hatten die Mordserie damit unterbrochen, ja mehr noch, sie hatten wohl auch Leben gerettet.

Der Prozess war noch einmal schwierig und emotional gewesen, der Mörder wurde verurteilt, war sieben Jahre später im Gefängnis an einer Krebserkrankung gestorben. Als Saß und Zander davon hörten, sprachen sie noch ein letztes Mal über den Fall. Lebenslange Haft bedeutete nicht, bis zum Lebensende im Gefängnis zu bleiben. Nach fünfzehn Jahren schloss sich in besonders schweren Fällen eine Unterbringung in Sicherungsverwahrung an, aber es gab genug Beispiele, dass Mörder auch aus dieser Art der Haft irgendwann entlassen wurden.

Zander stand es nicht zu, darüber zu urteilen. Er musste einen mutmaßlichen Täter nur ermitteln und festnehmen, was danach geschah, war nicht mehr seine Angelegenheit. Natürlich führten die Beweise, die er zusammengetragen hatte, zu Schuldsprüchen, aber nicht immer. Es war ein leidiges Thema, Recht und Gerechtigkeit. Zander wischte die Gedanken bei Seite.

Was gab es noch in all den Jahren, an das er sich erinnerte, gern erinnerte? Mitleid mit einem Täter? Das gab es tatsächlich auch. Zander erinnerte sich an den Fall Wilhelm Ostermann. Der Mann hatte über eine Kontaktanzeige eine Frau kennengelernt hatte sich schwer verliebt und war nach Strich und Faden um sein Geld gebracht worden. Nach einem heftigen Streit hatte Wilhelm Ostermann die Frau schließlich die Kellertreppe hinuntergestoßen, Genickbruch. Ostermann wurde nur wegen Totschlags und nicht wegen heimtückischen Mordes verurteilt. Es hatte sich ergeben, dass die Tat eindeutig im Affekt verübt wurde.

Bestimmt waren siebzig Prozent der Mordfälle, die Zander bearbeitet hatte, Beziehungstaten. Der Mörder gehörte zur Familie des Opfers. Ehepartner, Sohn, Enkel, aber auch ein verstoßener Liebhaber. Und es stimmte, dass bei Beziehungstaten zumeist Männer mordeten. Es gab nur wenige Ausnahmen. Einmal hatte eine Frau ihren Mann nach fünfundvierzig Jahren Ehe mit dem Auto überfahren. Sie hatte sofort gestanden, aber vor Gericht niemals ein Motiv genannt. Zander hatte auch nie herausfinden können, wie es in der Ehe gestanden hatte, obwohl er bei Nachbarn, Freunden und der Familie recherchiert hatte.

Und jetzt war Schluss damit. Zanders letzter Fall war eigentlich kein Fall, der in die Zuständigkeit des Morddezernats gehörte. Ein Unfall, ein tragisches Unglück. Er würde die Akte in wenigen Tagen schließen können. Was würden sie ihm noch geben, bis sein letzter Tag erreicht war. Wahrscheinlich nichts, wahrscheinlich wurde er um Rat gebeten, ohne noch einmal selbst in einem Mordfall zu ermitteln oder näher eingebunden zu werden. Zander schloss kurz die Augen.

Er konnte jetzt seinen Ruhestand planen, womit er natürlich schon längst begonnen hatte. Mit Schwung erhob er sich aus seinem Stuhl und strebte der Kaffeemaschine zu. Das Telefon klingelte, er zögerte, ging zum Schreibtisch zurück und griff nach dem Apparat. Die Nummer auf dem Display erkannte er sofort. Helga rief nur selten im Präsidium an, in den letzten Tagen jedoch häufiger. Der Grund waren Miriams Eheprobleme. Schon seit einigen Tagen drohte seine Tochter damit, ihren Mann zu verlassen, die gemeinsame Wohnung zu verlassen. Vielleicht zog Miriam mit ihren beiden Mädchen gerade wieder bei ihren Eltern ein.

Drei

Ingo Rhode parkte seinen Wagen ein ganzes Stück von dem alten Hof entfernt. Er ging zu Fuß, kam an der halbverfallenen Scheune vorbei und stieß auf die Absperrung des Kampfmittelräumdienstes. Ein junger Mann in einer nicht definierbaren Uniform hielt ihn auf. Ingo nannte seinen Namen, der junge Mann bemühte sein Walkie-Talkie. Es dauerte einige Minuten, bis jemand kam, um Ingo in Empfang zu nehmen.

»Jutta Winter«, stellte sich die schon leicht ergraute Dame vor. »Sie haben uns angefordert«, stellte sie fest.

Ingo nickte. »Ich glaube, wir kennen uns sogar.«

Jutta Winter überlegte. Ingo half ihr.

»Bremen, vor etwa vier Wochen. Die Bunkeranlage. Sie und Ihre Leute haben das Gelände gesichert, nach Munitionsresten gesucht.«

»Stimmt, stimmt«, Jutta Winters Mine hellte sich auf. »Sie sind doch der mit der uralten G-Klasse. Ich hatte meinem Mann davon erzählt, er wollte sich nämlich auch so ein Gefährt zulegen und daran basteln.«

»In zwei Jahren kann er meinen bekommen, dann bringe ich ihn bestimmt nicht mehr über den TÜV.«

»Was Sie nicht sagen, aber ich werde einen Teufel tun, meinem Mann das zu erzählen.« Sie lachte. »Wir gehen nämlich in drei Jahren zeitgleich in Rente und da will ich, dass er sich um mich kümmert und nicht um ein altes Auto.«

»Dann schweigen Sie doch«, schlug Ingo vor.

Jutta Winter schüttelte den Kopf. »Das Leben findet seinen Weg, wie man so schön sagt. Mein Mann wird irgendwo so ein Auto auftreiben, das lässt sich nicht mehr verhindern, fürchte ich.« Sie lachte erneut, lächelte Ingo dann an. »Kommen wir zum Geschäft.«

»Das wäre gut. Sie wissen, dass hier ein Mensch ums Leben gekommen ist?«

Jutta Winter nickte. Sie drehte sich zu dem völlig zerstörten Fahrzeugwrack um. »Das sieht man auch nicht alle Tage. Das sieht fast gar nicht mehr nach einem Auto aus.«

»Und weil ein Mensch gestorben ist, wurde die Kriminalpolizei aus Oldenburg eingeschaltet.« Ingo überlegte. »Sie haben doch bestimmt alles vermessen. Was glauben Sie, ist hier tatsächlich eine Bodenmine hochgegangen oder ist das Fahrzeug von selbst explodiert, zum Beispiel der Tank oder der Motor?«

»Da muss ich Sie noch um etwas Geduld bitten. Wir sind auch erst seit knapp einer Stunde hier. Bevor wir uns um das Autowrack kümmern, sichern wir natürlich zunächst das Gelände ab. Vor allem, wenn der Verdacht besteht, dass hier noch mehr liegt. Meine Männer sind da vorne schon fertig und jetzt in der unmittelbaren Umgebung unterwegs. Das kann noch etwas dauern, bis wir uns den Wagen näher ansehen.« Sie drehte sich noch einmal zu dem Wrack um. »Sie denken, da könnte auch etwas in dem Fahrzeug explodiert sein? Aber Tank und Motor sind ja hinten und vorne und nicht in der Fahrgastzelle.«

»Ich habe mir das Wrack noch nicht genau angesehen. Die Polizei sprach von einer Explosion möglicherweise durch einen Blindgänger.«

Jutta Winter schürzte die Lippen. »Wenn Sie mir helfen, könnten wir das für eine erste Untersuchung gemeinsam ansehen.«

»Gerne«, sagte Ingo.

Jutta Winter deutete auf einen dunkelblauen Transporter, der das Logo des Kampfmittelräumdienstes trug. Sie gingen zu dem Fahrzeug. Aus einer Holzkiste auf der hinteren Ladefläche entnahmen sie eine Schaufel, einen Schutteimer, ein überdimensionales Maßband und eine längliche, schwere Stofftasche, die Ingo sich gleich über die Schulter hängte. So ausgerüstet gingen sie Richtung Autowrack. Jutta Winter blieb aber neben einem Stück Metall stehen, das im Gras lag. Im Umkreis befanden sich weitere Teile der Karosserie des Golfs, die in einiger Entfernung konzentrisch um das zerstörte Fahrzeug angeordnet waren.

Es waren Teile der Fahrertür und des linken Kotflügels, der kurz hinter dem Radlauf abgerissen war. Dann auch einige Kunststoffteile aus der Tür und vom Armaturenbrett und Fetzen von Dämmmaterial. Ingo zog aus der Stofftasche das erste Fähnchen, das die Nummer sieben trug. Die Reihenfolge der Nummern war nicht wichtig, wie Jutta Winter ihm gleich erklärte. Es mussten auch nicht alle herumliegenden Teile nummeriert werden. Es reichte, wenn sich der Kreis um das Wrack einmal schloss. Dann begannen sie damit, die Trümmerteile abzugehen. Jutta Winter bestimmte, welches Ingo jeweils markieren sollte.

»Suchen Sie im Beutel mal nach einem Stab mit einer blauen Fahne, auf der keine Nummer steht.«

Ingo sah nach, zog das Gewünschte aus dem Beutel und übergab es Jutta Winter. Sie ging jetzt zu den Überresten des Golfs, blieb unmittelbar davor stehen und beugte sich dann vorsichtig in das Innere des Wagens.

Ingo war ihr gefolgt, ging auf die Knie und schaute unter den Wagen. »Da ist tatsächlich ein Krater«, stellte er fest.

Jutta Winter ging neben Ingo in die Hocke und schaute ebenfalls unter das Wrack.

»Merkwürdig, warum befindet sich der Krater nicht in Höhe der Vorderachse?«

»Vielleicht wurde der Wagen bei der Explosion angehoben.«

Jutta Winter richtete sich wieder auf, sah einmal in die Runde. »Ich weiß nicht, ein bisschen kenne ich mich ja aus, aber in den Trümmern ringsherum habe ich keine Teile der Achse oder des Motors oder Reifenteile gesehen.«

Ingo folgte ihrem Blick. »Und wenn die Zündung der Mine verzögert erfolgte, der Wagen noch ein Stück weitergerollt ist, bevor die Explosion kam?«

Jutta Winter zuckte mit den Schultern. »Das muss Ihre Spurensicherung herausfinden.«

»Die Spurensicherung der Kriminalpolizei Oldenburg, ich bin ja nur ein unabhängiger Gutachter, der auf ungeklärte Fragen hinweist.«

»Dann wollen wir mal Ihrer Frage nachgehen, ob das Fahrzeug überhaupt durch eine Mine oder einen Blindgänger zerstört wurde.«

Ingo ging um das Wrack herum, so dass sie sich jetzt gegenüberstanden. Sie beugten sich fast gleichzeitig über die Karosseriereste des Golfs. Jutta Winter hatte sich Handschuhe übergezogen und tastete die scharfkantigen Metallteile ab.

»Und?«, fragte Ingo.

»Wie Sie selbst sehen, sind die Abrisskanten sowohl nach innen als auch zum Boden hin gebogen.« Jutta Winter zeigte auf einige Stellen.

Ingo überlegte. »Wenn die Explosion unter dem Wagen stattgefunden hat, müssten die Verbiegungen in den Innenraum ragen, aber das Abrissbild zeigt an den meisten Stellen nach unten, was auf eine Explosion innerhalb der Fahrgastzelle hindeutet.«

Jutta Winter schüttelte den Kopf. »Druckwellen haben immer komplexe Verläufe, es sei denn sie finden im Freien statt. Die Mine oder der Blindgänger ist unter dem Wagen explodiert. Die Druckwelle wurde durch die Karosserie mehrfach gebrochen, durchschlägt den Boden, wird zum Teil vom Metall des Daches zurückgeworfen, bevor dieses abreißt, und das passiert in Bruchteilen von Sekunden ein Vielfaches.« Sie überlegte. »Man könnte schon meinen, die Explosion habe in der Fahrgastzelle stattgefunden, dann müsste das Opfer allerdings mit einer recht großen Bombe auf seinem Schoß gespielt haben.«

Ingo nickte. »Aber vielleicht hat das Opfer den Blindgänger hier gefunden und wollte ihn mit nach Hause nehmen.«

»Kann natürlich auch sein. Oder ein selbstgebastelter Sprengkörper, den das Opfer hier auf dem Gelände mal ausprobieren wollte. Dann sollten wir die Wurfweite der Trümmer mal messen, damit ich wenigstens abschätzen kann, wie viel Stoff hier hochgegangen ist.«

Sie sahen sich nach den Fähnchen um, die sie kurz zuvor gesetzt hatten. Mit dem bloßen Auge ließ sich bereits erkennen, dass alle Trümmerteile rundherum nahezu im gleichen Abstand zum Mittelpunkt des Autowracks lagen.

»Wir vermessen das jetzt, um es auch schriftlich zu haben«, kommentierte Jutta Winter. »Außerdem brauche ich das Gewicht von einigen der Teile.«

Ingo nickte und deutete auf die Hängewaage, die in dem Schutteimer lag. Sie gingen einige der nummerierten Fähnchen ab und nahmen mehrere Gewichtsproben. Ingo stand schließlich vor einem weiteren Metallteil, an dem noch der Griff der Fahrertür hing. Er bückte sich danach, um es auf die Waage zu legen.

»Das noch, aber dann reicht es«, sagte Jutta Winter.