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Seine Bewegungen wurden immer schneller, immer ekstatischer. Er schlug die Trommel wie im Rausch, immer lauter, bis sich der Rhythmus herausgebildet hatte. Und dann folgte der tödliche Hieb. Rache. Das Jahr der Schlange. Eine Jagd auf Leben und Tod. Die Sühne für eine längst vergessene Schuld abseits der Killing Fields. Tillman Halls ungewöhnlichster Fall, bei dem ihn Kriminaloberkommissar Kurt Bruckner von einer ganz anderen Seite kennenlernt.
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Seitenzahl: 607
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Ole R. Börgdahl
Die Schlangentrommel
Halls und Bruckners vierter Fall
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Das Buch
Prolog
Kambodscha 1990
Das Jahr der Schlange 2001
Sonntag, 26. August 2001, 7:00 Uhr
Sonntag, 26. August 2001, 15:11 Uhr
Sonntag, 26. August 2001, 17:21 Uhr
Sonntag, 26. August 2001, 18:51 Uhr
Sonntag, 26. August 2001, 20:07 Uhr
Sonntag, 26. August 2001, 23:12 Uhr
Montag, 27. August 2001, 00:11 Uhr
Montag, 27. August 2001, 00:39 Uhr
Montag, 27. August 2001, 01:24 Uhr
Montag, 27. August 2001, 02:32 Uhr
Montag, 27. August 2001, 05:05 Uhr
Montag, 27. August 2001, 05:46 Uhr
Montag, 27. August 2001, 06:47 Uhr
Montag, 27. August 2001, 09:14 Uhr
Montag, 27. August 2001, 13:53 Uhr
Montag, 27. August 2001, 16:17 Uhr
Epilog
Weitere Romane von Ole R. Börgdahl
Impressum neobooks
Seine Bewegungen wurden immer schneller, immer ekstatischer. Er schlug die Trommel wie im Rausch, immer lauter, bis sich der Rhythmus herausgebildet hatte. Und dann folgte der tödliche Hieb. Rache. Das Jahr der Schlange. Eine Jagd auf Leben und Tod. Die Sühne für eine längst vergessene Schuld abseits der Killing Fields.
Tillman Halls ungewöhnlichster Fall, bei dem ihn Kriminaloberkommissar Kurt Bruckner von einer ganz anderen Seite kennenlernt.
Weitere Romane von Ole R. Börgdahl:
Blindgänger (2024) - 978-3-7565-9085-8Dein Tod ist mein Leben (2023) - 978-3-7565-6082-0
Die Falk-Hanson-Reihe (Historische Romane):
Band 1: Unter Musketenfeuer (2019) - 978-3-7485-9758-2
Band 2: Der Kaiser von Elba (2020) - 978-3-7502-3242-6
Band 3: Kanonen für Saint Helena (2022) - 978-3-7502-3242-6
Band 4: Colonel Muiron (2023) - 978-3-7549-9391-0
Die Tillman-Halls-Reihe (Krimireihe):
Alles in Blut - Halls erster Fall (2011) - 978-3-8476-3400-3
Morgentod - Halls zweiter Fall (2012) - 978-3-8476-3727-1
Pyjamamord - Halls dritter Fall (2013) - 978-3-8476-3816-2
Die Schlangentrommel - Halls vierter Fall (2014) - 978-3-8476-1371-8
Leiche an Bord - Halls fünfter Fall (2015) – 978-3-7380-4434-8
Die Fälschung-Trilogie:
Fälschung (2007) - 978-3-8476-2037-2
Ströme meines Ozeans (2008) - 978-3-8476-2105-8
Zwischen meinen Inseln (2010) - 978-3-8476-2104-1
Historische Romane (Sonstiges)
Faro (2011) - 978-3-8476-2103-4
Die Marek-Quint-Trilogie (Krimireihe):
Tod und Schatten - Erster Fall (2016) - 978-3-7380-9059-8
Blut und Scherben - Zweiter Fall (2017) - 978-3-7427-3866-0
Kowalskis Mörder - Dritter Fall (2018) - 978-3-7427-3865-3
Das Café Brinckshafen hatte eine Top-Lage vor den Toren Hamburgs, und das auch noch mit direktem Blick auf die Elbe. Es war das Lieblingsrestaurant von Gustav Schmidt, seines Zeichens mein Schwiegervater und seines Zeichens mein Arbeitgeber in der Firma Gustav Schmidt Immobilien.
An diesem sonnigen Freitagnachmittag Mitte August hatte ich das Café Brinckshafen als Treffpunkt vorgeschlagen, und zwar genau deswegen, weil Gustav Schmidt an diesem Tag nicht dort sein konnte. Ein lange geplanter Urlaub in Griechenland verhinderte seine Anwesenheit.
Ich parkte den Century direkt vor der breiten Eingangstreppe des Lokals. Mein schwarzer New Beetle machte sich nicht schlecht neben einem silbernen Porsche 911 GT. Ich schaute mich um, konnte auf dem Parkplatz aber kein Fahrzeug bestimmen, das nach Bruckners Dienstwagen aussah. Ich sprintete die Stufen hinauf und wurde in der Eingangshalle gleich vom Concierge begrüßt.
Hier kam wieder Gustav Schmidt ins Spiel. Es war nämlich nicht einfach im Café Brinckshafen einen Tisch zu bekommen, auch nicht an einem Freitagnachmittag im Ferienmonat August. Der Concierge informierte mich darüber, dass ich bereits einen Gast hätte. Ein Page führte mich in den Salon, hin zu dem großen Panoramafenster. Für Gustav Schmidt gab es nur die besten Plätze und auf einem hatte es sich Kriminaloberkommissar Kurt Bruckner bereits gemütlich gemacht.
Ich hatte ihn für heute eingeladen und er war der Einladung bereits gefolgt. Vor ihm stand ein Glas Champagner. Ich konnte dies aus der Entfernung leicht bestimmen, da es im Café Brinckshafen keinen gewöhnlichen Schaumwein zu bestellen gab. Die Getränkewahl war für den Oberkommissar allerdings recht ungewöhnlich, aber das sollte sich schnell aufklären. Als ich an den Tisch trat, eilte ein Kellner herbei und kredenzte mir ebenfalls ein Glas des edlen alkoholischen Genussmittels. Mein fragender Blick wurde sofort beantwortet.
»Wir haben heute eine Hochzeitsgesellschaft im Hause«, erklärte die Servicekraft. »Der Vater der Braut hat sich erlaubt, allen Gästen diesen Begrüßungstrunk servieren zu lassen, mit der höflichen Bitte auf das Wohl des Brautpaares anzustoßen.«
Bruckner bekräftigte den Wunsch des Brautvaters. Er hatte sich erhoben und begrüßte mich mit dem Glas in der Hand. Wir stießen wie es sich gehörte auf Braut und Bräutigam an.
»Aber nur einen Schluck«, sagte ich zu Bruckner. »Ich bin mit dem Auto da und will keinen Ärger mit der Polizei.«
»Das lässt sich verhindern«, antwortete Bruckner lachend.
Wir nahmen dann doch einen zweiten Schluck und setzten uns.
»Wo sind die Leute denn?«, fragte ich den Kellner.
»Geschlossene Gesellschaft im Südflügel«, erklärte er uns. Er zeigte durchs Panoramafenster in den Garten, der das Café Brinckshafen vom Ufer der Elbe trennte. »Aber sie müssten gleich herauskommen, für den Fotografen.«
Ich bedankte mich. Wir hatten bei diesem Spektakel also einen Logenplatz. Bevor der Mann uns wieder verließ, bestellten wir noch eine Kaffeetafel mit Kännchen und Kuchen. Den Champagner behielten wir aber griffbereit.
»Wie hat Ihren Jungs das Spiel gefallen?«, fragte mich Bruckner, da sich im Garten noch nichts tat.
»Welches Spiel?«, gab ich begriffstutzig zurück. Dann fiel es mir aber ein. »HSV gegen Leverkusen. Schade, aber Bayer 04 war einfach zu stark. Die Logenplätze waren allerdings große Klasse. Da habe ich bei meinen Jungs punkten können, vor allem, als es dann zu regnen begann.«
»Ach, Sie haben draußen gesessen?« Bruckner grinste.
»Fußball spielt sich draußen ab«, konterte ich. »Aber wir sind dann ja hineingegangen. Ich muss meinen Schwiegervater mal überreden, sich auch an so einer Loge zu beteiligen.«
»Aber es hat Ihnen wenigstens gefallen«, zog Bruckner das Resümee.
»Uneingeschränkt!«, bestätigte ich. »Und es geht ja schon wieder gut los, im ersten Spiel der neuen Saison gleich ein Unentschieden auf Schalke.«
»Ach, das hat mich eher geärgert«, raunte Bruckner. »Zweimal geführt und dann doch nur ein drei zu drei.« Er schüttelte den Kopf.
»Hey, dafür gibt es gegen Hoffenheim morgen ein Fußballfest in der Imtech Arena«, versuchte ich Bruckner aufzumuntern.
Wie ich heute weiß, sollte ich mit dem Fußballfest am 17. August 2013 recht behalten. Mit einer Eins-zu-fünf-Klatsche hatte ich allerdings nicht gerechnet, aber das ist eine andere Geschichte. Unsere Kaffeetafel wurde serviert und Bruckner wunderte sich, dass es noch frischen Erdbeerkuchen gab. Ich klärte ihn darüber auf, dass das Café Brinckshafen ganzjährig in der Lage war, seinen Gästen frischen Erdbeerkuchen anzubieten und Bruckner nahm es hin.
Wir wollten gerade das Thema wechseln, als sich unten im Garten etwas tat. Einige Herren im Frack bildeten die Vorhut. Selbst der Fotograf hatte sich in Schale geworfen, obwohl sein langer Pferdeschwanz darauf schließen ließ, dass er im Alltag eine andere Kleiderordnung bevorzugte. Dann erschien eine folklore Musikgruppe in bunt geschmückten Kostümen. Wir verfolgen das Spektakel. Zunächst kam der Fotograf zu seinem Recht. Das Brautpaar posierte direkt unter unserem Fenster, so konnten wir die beiden nur schlecht sehen. Der Bräutigam war ein blonder Mittdreißiger und die Braut eine schwarzhaarige, eher kleine Frau. Soweit die ersten Zeugenbeobachtungen aus ungünstiger Position. Dann erwählte der Fotograf eine rankenbewachsene Palisade am elbseitigen Ende des Gartens und wir hatten von da an den besten Blick auf die Gesellschaft.
»Eine Philippinin«, ordnete Bruckner die Nationalität der Braut ein.
»Sie sind ethnisch nicht sehr treffsicher«, kommentierte ich.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Bruckner. »Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass die Dame aus China kommt?«
»Das liegt zumindest etwas näher als die Philippinen«, sagte ich und nahm einen Schluck Kaffee. »Aber ich habe gar nicht so sehr auf die Braut gesehen, um zu wissen, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Khmer ist.«
»Eine was?«, fragte Bruckner überrascht.
»Khmer, Cambodia! Entschuldigung, Kambodscha!«, korrigierte ich mich. »Sehen Sie die Musiker?«
»Ja, die sehe ich. Und was ist mit den Musikern, außer das sie trommeln, Flöte spielen und tanzen?« Bruckner klang genervt, aber er kannte doch eigentlich meinen Stil.
»Nichts ist mit ihnen«, sagte ich. »Ich vermute nur, dass die Braut aus Kambodscha kommt, weil auf ihrer Hochzeit mit traditionellen kambodschanischen Musikinstrumenten gespielt wird, das ist alles.«
»Dann sind Sie auch noch Experte für exotische Musikinstrumente«, stellte Bruckner fest.
»Nicht im Allgemeinen, nur im Besonderen«, gab ich ihm zu verstehen.
»Nur im Besonderen!«, zitierte Bruckner mich. »Und das heißt?«
Ich räusperte mich. »Für einen Fall, in dem ich als, sagen wir mal, Berater tätig war, habe ich mich sehr intensiv mit Kambodscha beschäftigt.«
»Moment, Sie haben schon früher einmal für die deutsche Polizei gearbeitet?«, fragte Bruckner überrascht.
»Nein, nein, das war noch zu meiner Zeit beim NYPD«, klärte ich ihn auf. »Ich hatte damals aber schon mit Quantico zu tun, obwohl ich noch nicht zur Akademie gewechselt hatte.«
Er bekam große Augen und beugte sich näher zu mir über den Tisch. »Sie haben mir noch nie so richtig über Ihre frühere Arbeit berichtet, das interessiert mich jetzt aber. Ein FBI-Fall?«
»Nicht ganz, eher militärisch. Aber eigentlich darf ich nicht ...«
Bruckner sah mich erwartungsvoll an. »Ich bitte Sie, ich bin von der deutschen Polizei.«
Ich musste lächeln, wollte gerade etwas erwidern, aber jemand im Salon hatte ein Fenster zum Garten auf kipp gestellt. Die Klänge der Musik draußen drangen zu uns. Wir sahen beide hinaus. Es war sehr rhythmisch, die Melodie wurde von den Saiteninstrumenten und den Flöten bestimmt, die Trommeln gaben den Takt vor, schwollen an, gaben wieder die Melodie frei, um erneut hervorzutreten. Einer der Musiker saß im Schneidersitz vor der Gruppe. Mit den Handflächen schlug er auf eine bauchige, kleine Trommel. Ich deutete auf den Mann.
»Sehen Sie, das könnte eine Schlangentrommel sein«, erklärte ich Bruckner.
»Meinen Sie?«, kommentierte er. »Warum Schlangentrommel, weil damit Schlangen beschworen werden?«
Ich holte mein Smartphone aus der Jackentasche. Im Café Brinckshafen hatte man natürlich einen hervorragenden WLAN-Empfang.
»Ich werde das mal googeln, damit Sie mir auch glauben«, informierte ich Bruckner. Ich tippte den Begriff ein und es kam blitzschnell eine Antwort. »So, hier haben wir es. Ich zitiere: Die vasenförmige, im Mittelteil verjüngt abgerundete skoom kpuo ist ungefähr fünfzig Zentimeter hoch und wird von Hand aus dem Kernholz des Jack-Fruchtbaumes geschnitzt.« Ich deutete auf unseren sitzenden Musiker und fuhr fort. »Das gelbliche Holz besitzt hohe Resonanzfähigkeit. Die Außenseite wird mit vielfältigen Ornamenten verziert, und die Trommelöffnung erhält eine Bespannung aus getrockneter Schlangenhaut.« Ich sah Bruckner an. »Daher der Name Schlangentrommel, verstehen Sie?«
»Der Mann spielt aber auf einer roten Trommel«, entgegnete Bruckner.
Ich zuckte mit den Schultern. »Wollen Sie die Geschichte jetzt hören oder nicht.«
Bruckner nickte heftig.
»Es ist natürlich nichts für Ihren nächsten Stammtisch«, sagte ich beiläufig.
»Das ist doch selbstverständlich.« Bruckner beugte sich wieder vor und stütze die Ellbogen auf die Tischplatte, um mir seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken.
»Was wissen Sie über Kambodscha?«, fragte ich, natürlich rein rhetorisch, ohne eine Antwort von Bruckner zu erwarten. Und dann begann ich von den Verwicklungen zu erzählen, die sich vor zwölf, dreizehn Jahren abgespielt hatten und an denen ich nur beteiligt war, weil das Militär einen Analytiker dabeihaben wollte, der auch noch Deutsch sprach. Es war mein erster Aufenthalt in Quantico.
Das Walkie-Talkie knackte. Arun fuhr mit der Hand unter seinen Sarong und gab Antwort. Er drückte die Taste einmal lang. Das vereinbarte Zeichen. In der Fabrik wurde schon seit dem frühen Morgen gearbeitet. Hinter der Mauer, die das Gelände vollständig umgab, rauchte es aus zwei Schornsteinen. Das Tor auf der gegenüberliegenden Straßenseite war aber noch geschlossen. Seit ein paar Tagen beobachteten sie diesen Ort, und es wurde Zeit, dass sie handelten. Nach dem westlichen Kalender endete das Jahr der Schlange am 26. Januar 1990, und obwohl Arun sich schon lange nicht mehr an die alten Traditionen hielt, wollte er dieses Datum auf keinen Fall verstreichen lassen.
Er löffelte wieder aus dem Napf mit Gemüse und Hühnerfleisch. Er hatte sich unter das Zelt der Garküche gestellt. Entlang der Straße hatten Händler und Bauern ihre Stände aufgebaut. Das Viertel am Stadtrand von Sisophon war belebt. Lastwagen rumpelten über den brüchigen Asphalt, Motorräder schossen aus Seitengassen, die wenigen Autos hupten, Fahrräder schlängelten sich an den Fußgängern vorbei. Die Menschen drängten sich unter den bunten Stoffdächern der Markstände, die ihre Waren auf Schildern in geschwungener Khmer-Schrift anpriesen.
Sisophon war die Hauptstadt der Provinz Bantey Meanchey im Nordwesten Kambodschas nahe dem Grenzgebiet zu Thailand. Es ging auf Mittag zu, die Hitze war erträglich. Im Januar stiegen die Temperaturen selten über die Dreißiggradmarke. Das Militär zog sich dennoch am Mittag für ein paar Stunden zurück. Ein Mannschaftswagen hatte die patrouillierenden Soldaten eingesammelt. Arun sah sich noch einmal um, konnte aber an den Straßenecken keine Uniformen mehr sehen.
Ein Karren war auf der Straße, unmittelbar vor der Garküche, stehen geblieben. Arun trat unter dem Zeltdach hervor und suchte wieder den Blick auf das Tor. In diesem Moment schwangen die Torflügel auf. Zwei Arbeiter öffneten sie bis zum Anschlag. Ein weißer Toyota Hilux schoss aus dem Torbogen. Arun griff sofort zum Walkie-Talkie. Vier kurze Schläge auf die Signaltaste. Das Zeichen, dass sie unterwegs waren. Ein Sprechkontakt war nur für den Notfall vereinbart, doch bis hierhin lief alles wie geplant. Arun stellte den noch halb vollen Napf auf den Boden und ging ruhig die Straße hinauf. In der nächsten Seitengasse stand sein Motorrad. Er stieg auf, trat den Kickstarter durch, der Motor sprang an. Arun fuhr bis an die Einmündung zur Hauptstraße und hielt dort. Er zog seinen blau karierten Krama unter dem Hemd hervor und band sich den Baumwollschal vor Mund und Nase. Er zupfte das Tuch zurecht, reihte sich dann in den Verkehr ein.
Der weiße Hilux hatte keinen großen Vorsprung. Arun hielt den Abstand. Sie verließen Sisophon, folgten dem National Highway. Der Toyota beschleunigte auf dem trockenen Asphalt. Arun hielt seine Geschwindigkeit, ließ sich etwas zurückfallen. Ein Militärjeep überholte, setzte sich zwischen ihn und den Hilux. Der Jeep besaß eine Lafette mit einem Maschinengewehr, das aber unbesetzt war. Arun ließ sich noch ein Stück zurückfallen. Die Patrouille beunruhigte ihn noch nicht, mit dem Walkie-Talkie gab er wieder Signal.
*
»Moment!«, unterbrach mich Bruckner. »Sie erzählen das so, als wenn Sie selbst dabei gewesen seien, also in Kambodscha meine ich.«
»Berichte«, antwortete ich. »Das, was ich Ihnen gerade erzählt habe, weiß ich natürlich aus den Berichten und aus den Verhören, an denen ich später beteiligt war.« Ich lächelte. »Sie müssen mir gestatten, dass ich die Geschichte ein wenig ausschmücke und auch etwas aushole. Nur so werden Sie verstehen, was wirklich hinter diesem Fall steckte.« Ich nahm noch einen Schluck Kaffee. »Also, dann darf ich weiter erzählen?«
Bruckner lehnte sich in seinen Stuhl zurück und nickte.
*
Rin Muras Hände zitterten. Er hatte fast zwei Tage nicht geschlafen. Seit einer Woche befand er sich auf der Flucht. Er war vor sieben Monaten nach Kambodscha zurückgekehrt, hatte sich in Pailin den Brüdern wieder angeschlossen. Das Ende der vietnamesischen Besatzung würde dem Bürgerkrieg noch einmal Antrieb geben. Es war eine Chance, die Macht zurückzugewinnen. Sie hatten Pailin und Battambang eingenommen. Rin Mura gehörte zu einer Gruppe, die weitere Invasionen in anderen Landesteilen vorbereitete. Wenige Tage zuvor war seine Kampfgruppe aufgerieben worden. Die Rückkehr nach Battambang war versperrt, südlich von Sisophon standen Regierungstruppen. Rin Mura war in der kleinen Gießerei untergekommen, hatte Kontakt zu seinen Leuten aufgenommen. Vor einer halben Stunde hatte er den Anruf bekommen. Die Flucht nach Thailand war vorbereitet, obwohl auch dort der Feind wartete.
Rin Mura wurde aus seinen Gedanken gerissen. Auf der Rückbank saß sein Leibwächter und lud die Waffen. Er reichte Rin Mura eine Pistole nach vorne, gab dem Fahrer die Zweite. Der Mann war einer der Helfer, ihm gehörte der Toyota. Die Straße führte geradeaus. Links und rechts der Piste befanden sich Reisfelder, die sich bis weit zum gebirgigen Horizont erstreckten. Gruppen von Frauen und Männern arbeiteten auf den grünen Flächen. Immer wieder tauchten Höfe oder kleinere Ansammlungen von Hütten entlang der Straße auf. Bis nach Svay Chék waren es fünfzehn Meilen. Rin Mura klappte die Sonnenblende herunter und richtete den kleinen Spiegel aus. Der Militärjeep gehörte zu ihnen. Die Leute würden nach Verfolgern Ausschau halten.
*
Hinter einer Lagerhalle im Zentrum von Svay Chék wartete Nhean mit dem alten Pritschenwagen. Er saß am Steuer, hielt das Walkie-Talkie in der rechten Hand und sah gebannt auf das rote Signallämpchen. Arun gab Zeichen, dass sie sich näherten. Nhean startet den Motor. Das Chassis des Pritschenwagens vibrierte. Die Aufbauten der Ladefläche waren mit einer Plane überdeckt und verbargen die zehn Männer, die dort auf Holzbänken hockten. Arun und Nhean hatten die Leute vor ein paar Tagen angeworben. Fast alle waren ehemalige Kämpfer irgendeiner Bürgerkriegspartei, bewaffnet mit Sturmgewehren, Pistolen und Messern.
Der weiße Hilux näherte sich, wurde langsamer und bog nach links in eine Seitenstraße ab. Nhean legte den Gang ein, der Pritschenwagen rollte ein Stück vor. Dann sahen sie auch den Militärjeep kommen. Nhean war vorbereitet. Der Jeep wurde langsamer, fuhr dann aber doch an ihnen vorbei, um auf dem Highway Richtung Norden zu bleiben. Nhean trat das Gaspedal ganz durch. Der Pritschenwagen holperte auf die Straße, folgte dem Toyota, der bereits ein gutes Stück voraus war.
Nhean beschleunigte. Die weiße Motorhaube des Pritschenwagens erzitterte. Links und rechts war die Farbe an den Kotflügeln abgeblättert. An einigen Stellen klafften faustgroße Rostlöcher. Die Stoßstange quittierte jedes kleine Schlagloch mit einem klappernden Geräusch. Nhean sah Arun im Rückspiegel. Das Motorrad beschleunigte, blieb aber hinter dem Heck des Pritschenwagens. Das Gelände wurde hügeliger, die Straße begann anzusteigen. Nhean quälte den Pritschenwagen. Sie erreichten das bewaldete Grenzgebiet zu Thailand. In den Kurven verdeckten dichte Nadelbäume die Sicht. Der weiße Hilux wurde langsamer. Der Pritschenwagen schloss auf. Nhean fuhr weiter. Dann bog der Hilux plötzlich auf eine Lichtung neben der Straße und stellte sich quer. Die linke Fondtür wurde aufgestoßen. Ein Mann sprang heraus, lief mit gezogener Pistole zur Straße zurück. Nhean bremste. Zwei Schüsse fielen, die Motorhaube des Pritschenwagens sackte vorne ein Stück ab. Das rechte Vorderrad war zerfetzt.
Arun erreichte in diesem Moment die Lichtung, bremste hinter dem Pritschenwagen. Der Schütze wandte sich um. Arun rief etwas zu den Männern auf der Pritsche. Ein M5-Strumgewehr flog durch die Luft. Arun fing es auf, entsicherte und gab sofort eine Salve ab. Der Mann mit der Pistole hatte bereits auf Arun angelegt, als zwei Kugeln sein linkes Bein trafen. Blut spritzte. Er ließ die Pistole fallen, sackte zu Boden. Weitere Kugeln aus dem Sturmgewehr sprengten die Heckscheibe des Toyotas, der mit durchdrehenden Hinterrädern wieder anfuhr. Der Wagen preschte auf eine Gruppe von Bäumen zu, das Lenkrad wurde eingeschlagen, der Hilux schleuderte zur Seite.
Dann geschah sekundenlang nichts. Der aufgewirbelte Staub begann sich zu legen. Arun lud das Sturmgewehr durch, stieg vom Motorrad und suchte Deckung hinter dem Pritschenwagen. Nhean sprang aus dem Führerhaus, lief auf der gedeckten Seite an der Plane entlang und öffnete die Beschläge. Die Männer sprangen heraus. Sie verschanzten sich mit ihren Waffen hinter der Motorhaube und dem Heck des Pritschenwagens. Nhean ging zurück zum Führerhaus. Arun gab den Feuerbefehl. Die Männer zielten auf die Bäume, jeder gab eine Gewehrsalve ab. Die Kugeln zerfetzten die Äste, rissen die Baumstämme auf. Rindenstücke, Kiefernnadeln und kleine Zweige regneten auf das Dach des Toyotas.
Nachdem die Schüsse verhallt waren, begann der Mann auf der Lichtung, zu schreien, als sei er erneut getroffen worden. Er versuchte zu seinem Wagen zu robben, hielt sich dabei sein Bein. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor. Die Fahrertür des Toyotas öffnete sich langsam. Die Männer am Pritschenwagen luden ihre Sturmgewehre durch. Arun hielt die Hand hoch. Nhean legte an. Der Fahrer des Hilux streckte die Arme aus dem Türspalt. Arun wandte sich um, gab Zeichen an seine Leute. Zwei Männer lösten sich aus der Deckung des Pritschenwagens. Sie rannten über die Lichtung, die Gewehre im Anschlag. Einer blieb bei dem Verletzten stehen. Mit einem Tritt zwang er ihn, sich flach auf den Boden zu legen, durchsuchte ihn. Dann half er ihm auf, fesselte ihm mit einem Strick die Hände auf den Rücken und brachte ihn zum Pritschenwagen.
Der zweite Mann hatte den Toyota erreicht. Er riss die Fahrertür ganz auf, ergriff den Arm des Fahrers und zerrte ihn aus dem Sitz. Er stieß ihn um, drückte ihn mit dem Knie im Rücken auf den Boden, durchsuchte ihn und nahm ihm die Pistole ab, die im Holster des Hosengürtels steckte. Dann wurde der Fahrer wieder auf die Beine gezerrt und ebenfalls gefesselt und zum Pritschenwagen gebracht.
Arun beobachtete die Szene, die keine zwei Minuten gedauert hatte. Er wusste, dass es in dem weißen Toyota einen weiteren Passagier gab. Arun reckte sich etwas, legte die Hände trichterförmig vor den Mund.
»Angka!« Aruns Ruf hallte über die Lichtung.
»Aang-kaa!«, wiederholte er und dehnte dabei die Silben des Namens.
»Khmêr Khrôm! Khmers Rouges!«, schrie er schnell hintereinander. »Oder soll ich dich bei deinem Namen nennen, Rin Mura?«
Sekunden der Stille folgten. Arun holte wieder Luft. »Aang-kaa!«
Es kam ein leichter Ruck durch den Pickup. Die Beifahrertür wurde langsam geöffnet, eine Hand über das Wagendach gestreckt. Rin Mura stieg aus, ging langsam um die Motorhaube herum. Er hatte sein Gesicht noch abgewandt, drehte sich erst zu dem Pritschenwagen und den dort wartenden Männern um, als er den Toyota umrundet hatte. Er trug westliche Kleidung, eine khakifarbene Hose, ein weißes Hemd unter der braunen Jacke. Langsam streckte er die Hände weiter in die Höhe, drehte die Handflächen nach vorne. Arun wartete keine Sekunde mehr. Er griff sich sein Sturmgewehr und trat aus der Deckung. Er schritt schnell über die Lichtung und blieb ein paar Meter vor Rin Mura stehen, der jetzt den Kopf zu Boden gesenkt hatte.
Arun schluckte. »Angka!«, flüsterte er.
Rin Mura zeigte keine Reaktion.
»Ang-kaa!«, wiederholte Arun zischend.
Rin Mura schüttelte langsam den Kopf.
»Sieh mich an, Angka!«, schrie Arun. »Sieh mich an Khmers Rouges! Du bist doch einer der Brüder? Ich kenne ja sogar deinen Namen.« Arun zögerte, schluckte. Er hob seine Hand, die zitterte. »Ja, ich weiß, Ihr hattet keine Namen, Angka. Keine Namen, keine Verantwortung, aber deinen Namen kenne ich, Rin Mura. Du bist doch Rin Mura und du wirst dich verantworten.«
Rin Mura hielt den Kopf weiterhin gesenkt, gab kein Zeichen der Bestätigung.
Arun trat noch näher an ihn heran. »Khmers Rouges!«
Rin Mura schüttelte erneut den Kopf.
»Doch!« Arun riss das Sturmgewehr hoch. Es sah so aus, als wenn er sein Gegenüber mit dem Kolben treffen wollte, aber er hielt in der Bewegung inne.
Rin Mura wich einen Schritt zurück. »Kein Angka«, sagte er leise hielt dabei den Kopf immer noch gesenkt.
Arun trat zur Seite und hieb Rin Mura den Gewehrlauf von hinten in die Beine. Rin Mura knickte ein und landete mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Knien.
Darauf hatte Nhean gewartet. Er schulterte sofort sein Sturmgewehr, kletterte in das Führerhaus des Pritschenwagens und zog einen Baumwollsack hinter dem Fahrersitz hervor. Nhean lief damit über die Lichtung zu Arun und dem knienden Rin Mura. Aruns Gesichtsmuskeln waren angespannt, er zitterte leicht. Nhean hockte sich auf den Boden. Er ging in den Schneidersitz, öffnete den braunen Baumwollsack und holte eine Trommel heraus, die er vor sich hinstellte. Die geschlängelten Verzierungen auf dem gelben Holz glänzten in der Sonne. Das Trommelfell war stramm über die Öffnung gespannt und zeigte in seiner Mitte einen aufgemalten Schlangenkopf mit mandelförmigen Augen, einem weitaufgerissenen Maul mit zwei spitzen Zähnen und einer vorschnellenden, gespaltenen Zunge.
Nhean legte die rechte Hand auf das Trommelfell. Mit den Fingern begann er über die Bespannung zu streicheln. Dann folgte ein kurzer Schlag, der sofort wieder gedämpft wurde. Nhean wiederholte die Handbewegung, dreimal, viermal, fünfmal. Er wurde immer schneller, immer lauter, bis sich der Rhythmus herausgebildet hatte. Arun blickte weiterhin starr auf Rin Mura. Als die ersten heftigeren Trommelschläge zu hören waren, stöhnte Rin Mura auf.
Arun trug ein kurzes Futteral an seinem Gürtel. Wie in Zeitlupe wanderte seine rechte Hand zur Schnalle des Futterals. Er öffnete die Schlaufe, klappte die Lasche zurück. Ein kurzes, silbernes Griffstück ragte aus dem Futteral. Langsam umschloss seine rechte Hand den metallenen Griff, verharrte dort für Sekunden. Nhean begann noch schneller zu trommeln, der Rhythmus wurde wilder.
Arun wollte gerade die Hand aus dem Futteral ziehen, als der Militärjeep mit kreischendem Getriebe die Straße zur Lichtung hinaufraste. Arun fuhr herum. Jetzt stand ein Mann hinter der Lafette und hielt das großkalibrige Maschinengewehr im Anschlag. Der Jeep war immer noch in voller Fahrt. Die ersten Feuerstöße galten den Männern, die am Pritschenwagen standen. Ein Mann wurde in die Brust getroffen, ein Zweiter fasste sich ans Bein, sackte auf die Knie und fiel schreiend zu Boden. Ein weiterer Feuerstoß forderte das dritte Opfer. Der Jeep bremste und blieb mitten auf der Lichtung stehen.
Der Schütze am Maschinengewehr gab eine letzte Salve auf den Pritschenwagen ab, drehte den Lauf dann um neunzig Grad. In diesem Moment spritzte Blut auf der Brust des Mannes. Noch in der Drehbewegung wurde er nach hinten gerissen und prallte gegen das Dachgestänge der Jeepaufbauten. Die beiden Schüsse halten nach. Arun und Nhean standen nebeneinander, ihre Sturmgewehre im Anschlag. Den Bruchteil einer Sekunde später feuerten sie weiter, zerschossen die Windschutzscheibe des Jeeps. Daraufhin verließen auch die noch verbliebenen Männer hinter dem Pritschenwagen die Deckung und belegten den Militärjeep mit Kugeln. Arun senkte seine Waffe. Er gab den Leuten Zeichen, das Feuer einzustellen.
Nhean stieß ihn an. Arun wandte sich um und sah sofort, dass der Hilux mit durchdrehenden Reifen auf die Straße zurückfuhr. Arun legte an, sein Gewehr blockierte. Er lud durch, schoss, verfehlte aber sein Ziel. Er rannte ein Stück hinter dem Wagen her, der bereits einen Vorsprung hatte und sich immer weiter entfernte. Arun legte erneut an, feuerte. Erdklumpen spritzten neben dem Toyota hoch. Arun ging in die Knie, atmete durch, zielte und gab einen dritten Schuss ab. Diesmal traf er das rechte Hinterrad. Der Hilux wurde zur Seite gerissen, kam von der Straße ab, schlitterte zwischen zwei Bäumen hindurch.
*
Rin Mura versuchte gegenzulenken. Er trat das Gaspedal durch. Der Motor heulte auf, die Vorderräder zogen noch, konnten den Wagen aber nicht mehr auf die Straße zurückbringen. Dann senkte sich die Motorhaube, der Toyota rutschte nach links auf die Kante einer abfallenden Böschung zu und glitt über den feuchten Waldboden. Rin Mura stützte sich auf das Lenkrad, um mit dem Kopf nicht gegen die Windschutzscheibe zu prallen. Seine Arme schmerzten, er spürte Blut in seinem Mund. Er hatte sich auf die Unterlippe gebissen. Der weiße Hilux rutschte weiter in die Tiefe. Ein metallisch schabendes Geräusch war zu hören. Die blanke Felge des zerschossenen Reifens riss die Erde auf, begann die Abwärtsfahrt zu bremsen. Rin Mura drückte sich mit aller Kraft in den Fahrersitz. Er starrte durch die Windschutzscheibe.
Erst jetzt nahm er die Umgebung wahr. Sträucher und kleine Bäume wurden umgerissen, Zweige blieben an den Außenspiegeln hängen, Blätter sammelten sich vor den Scheibenwischern. Ein Wischerarm wurde nach oben geklappt und abgeknickt. Der Toyota rutschte weiter, hundertfünfzig, zweihundert Meter die Böschung hinunter. Die Senke wurde durch dichterstehende Bäume und Sträucher begrenzt. Der Wagen rutschte darauf zu. Rin Mura holte tief Luft, presste instinktiv die Zähne aufeinander. Mit einem Ruck streifte die linke Seite des Geländewagens einen großen Baum. Die Karosse prallte nach rechts. Die Dornen eines Busches kratzten am Unterboden.
Der Wagen tauchte bis zum Fond in ein mannshohes Gebüsch, verschwand dort fast vollständig. Der letzte Ruck schleuderte Rin Muras Brust gegen das Lenkrad. Sein linkes Handgelenk wurde eingeklemmt und überdehnt. Der Schmerz zog sich bis zum Ellenbogen hoch. Er konnte die Hand nicht bewegen, drückte sich mit der Rechten ab. Mit der Schulter stützte er sich auf dem Lenkrad. Er musste raus aus dem Wagen. Mit der unverletzten Hand tastete er nach dem Türgriff. Mit zwei Fingern zog er den Hebel und ließ sich gleichzeitig gegen die Fahrertür fallen. Er atmete noch einmal durch, wuchtete seinen Körper nach oben und schaffte es mit einem Fuß auszusteigen.
Mit der rechten Hand zog er sich ganz aus dem Wagen. Das Gebüsch war dicht. Er kämpfte sich vorwärts, drückte das Blattwerk auseinander. Der Boden war immer noch abschüssig. Rin Mura folgte dem Gefälle, schob die rechte Schulter heftig voran, bis das Dickicht nachgab. Er befreite sich schließlich und taumelte auf die Ebene, die sich hinter der Barriere aus Bäumen und Sträuchern ausbreitete. Er verlor das Gleichgewicht, fiel auf die Knie und spürte sofort die Feuchte des Bodens. Seine Hosen wurden durchnässt. Er rappelte sich wieder auf, sah sich um.
Er wusste sofort, wo er war. Die Grasebene und der umgebende Sumpf waren vor einigen Jahren Kampfgebiet. Die Grenze nach Thailand wurde während des Rückzugs zur Todeszone. Rin Mura ging vorsichtig weiter. Nach gut hundert Metern hatte er den Rand erreicht. Er fand sofort, wo nach er suchte. Er hatte recht. Er sah auf, überblickte das Gelände. Das Muster hatte er noch im Kopf. Es war immer das Gleiche, variierte nur leicht und war für jeden, der es nicht kannte, tödlich. Mit den Augen suchte Rin Mura einen Weg. Seine ersten Schritte waren noch vorsichtig, dann hatte er Sicherheit, denn er sah sie und sein Wissen wurde bestätigt. Jetzt beeilte er sich die Grasebene zu überqueren. Er blieb noch einmal stehen, blickte sich nach seinen Verfolgern um. Durch die Bäume hindurch konnte er oben auf der Böschung eine Bewegung wahrnehmen. Es wurde Zeit zu verschwinden.
*
Arun und Nhean hatten ihre Leute zusammengezogen. Eine Wache blieb bei den Gefangenen am Pritschenwagen. Mit den übrigen sechs Männern waren sie bis zur Kante der Böschung gerannt. Die aufgerissene Erde verriet, welchen Weg der Toyota Hilux in den Abgrund genommen hatte. Das Fahrzeug selbst war unten in der Senke nicht mehr zu sehen. Arun gab Befehle. Sie begannen den Abstieg. Nhean hatte den Baumwollsack geschultert, der sich auf seinem Rücken wölbte. Sie gingen neben der Schleifspur. Einige der Männer rutschten aus, schlitterten ein paar Meter, bis sie an Bäumen und Sträuchern Halt fanden.
Weiter unten wurde der Boden noch schlammiger. Sie mussten sich einen anderen Weg suchen, bewegten sich seitlich auf die Stelle zu, an der sie den Geländewagen vermuteten. Und dann sahen sie ihn. Der weiße Lack schimmerte durch das Grün der Blätter. Arun gab Zeichen, die Gruppe teilte sich. Drei Mann stiegen noch ein Stück weiter nach unten, mühten sich durch das Dickicht. Sie sollten das Gelände unten sichern. Arun selbst kämpfte sich zum Heck vor. Er drückte einige Zweige zur Seite.
Nhean war ihm gefolgt und stemmte sich in die Bresche, damit Arun dichter an den Wagen herankam. Arun versuchte durch die zerschossene Heckscheibe etwas im Inneren des Wagens zu erkennen. In diesem Moment riefen die Männer, die weiter nach unten gestiegen waren. Arun hatte es selbst schon gesehen. Die Fahrertür war geöffnet, der Toyota leer. Arun schob sich seitlich bis zur Tür, zwängte sich an einem Baumstamm vorbei. Am Waldboden konnte er Schuhabdrücke erkennen. Die Spur schlängelte sich durch das Gestrüpp. Arun ging ihr hinterher, gefolgt von Nhean, der den Rest des Trupps mit sich zog.
Sie kamen durch die Bäume auf die grasbewachsene Ebene. Sie wurden schon erwartet. Einer der Männer zeigte auf die Schneise durch das Schilf. Auf den ersten Metern eines schmalen Pfades waren Halme heruntergetreten. Die Spur verlor sich, das Gelände war nicht zu überblicken. Vereinzelt standen Bäume auf der Ebene und überall gab es Sträucher.
»Weiter!«, rief Arun.
Er deutete nach links und rechts. Die Männer verteilten sich auf einer Linie, hielten ein paar Meter Abstand zueinander. Arun ging in der Mitte, Nhean blieb ganz außen auf der rechten Flanke. Die Männer suchten wieder nach der Spur. Der Boden wurde sumpfiger. Sie traten in den Schlamm. Arun sah sich um, gab erneut Zeichen. Die Männer sollten sich noch weiter auseinanderziehen.
Sie arbeiteten sich gut hundert Meter durchs Gelände. Auf der linken Seite sackte einer der Männer bis zur Hüfte in ein Schlammloch. Zu dritt mussten sie ihm heraushelfen. Auf der rechten Seite sondierte Nhean den Boden. Der Sumpf engte auch hier den Landstreifen ein, auf dem sie sich vorwärtsbewegten. Die Linie musste sich weiter zusammenziehen. Arun schlug mit dem Gewehrkolben die Halme des hohen Grases nieder, drückte Sträucher zur Seite. Dann blieb er stehen. Alle sahen ihn an. Er schulterte sein Sturmgewehr, legte wieder die Hände trichterförmig vor den Mund.
»Aang-kaa, du hast keine Chance. Stell dich der Gerechtigkeit.«
Er hob sein Sturmgewehr und schoss in die Luft. Sofort flogen Vögel auf. Die Bewegung vor ihnen ließ die Männer kurz zusammenzucken. Arun senkte den Lauf etwas und schoss ein zweites Mal. Der Knall verhallte. Nhean hatte verstanden. Er wartete ein paar Sekunden, dann gab auch er einen Schuss aus seinem Gewehr ab. Anschließend zeigte er auf den Mann am anderen Ende der Linie, dessen Hosen noch vor Schlamm und Nässe glänzten. Er hatte sein Sturmgewehr trocken halten können, legte an und feuerte flach über dem Boden.
Arun schüttelte heftig den Kopf. Die Leute sollten höher halten, nur in die Luft schießen. Die Linie ging wieder ein paar Meter voran. Arun wandte sich nach links und nickte zu seinem direkten Nebenmann, der gleich eine ganze Salve abgab. Dann setzte es sich auf Aruns rechter Seite fort. Die Männer gingen ein paar Meter, schossen abwechselnd und beobachteten dann das vor ihnen liegende Terrain. Nach dem die Vögel aufgeflogen waren, gab es keine Bewegung mehr im Gras, keine plötzliche Flucht, keine erschreckte Reaktion. Sie gingen weiter. Arun voran, die Männer folgten ihm. Nhean blieb stehen, blickte noch einmal zurück.
Im ersten Moment glaubte er das Schlagen einer Peitsche zuhören, doch das Geräusch schwoll im Bruchteil einer Sekunde zu einer pfeifenden Explosion an. Nhean riss den Kopf herum. In einem Feuerstrahl, keine zwanzig Meter von ihm entfernt, sah er Matschklumpen aus der Erde schießen. Ein Mann schien vor der Explosion davon zu laufen. Nhean sah, wie er mit den Armen ruderte, doch dann entfernten sich die Arme vom Körper. Erde und Steine prasselten nieder. Nhean wich einen Schritt zurück, wollte die vorausgehenden Männer warnen, als drei oder vier weitere Explosionen folgten. Es war wie der Beschuss aus einer Kanone. Das Gras der Ebene hatte trotz der Feuchte des Bodens zu brennen begonnen. Nhean suchte nach Arun. Er sah nur noch zwei Männer des Trupps aufrecht stehen. Sie verharrten einen Moment und versuchten dann auf dem Weg, den sie gekommen waren, zurückzugehen. Nhean konnte Arun noch immer nicht finden.
*
Bruckner atmete tief aus. »Was war das denn, so kenne ich Sie ja gar nicht, ziemlich blutig!«
»Kambodschas Erde ist eben mit Blut getränkt«, sagte ich.
»Was ist denn da explodiert?«
»Landminen! An Kambodschas Grenze zu Thailand gab es zahlreiche Minengürtel. Bis heute wurden nicht alle gefunden.«
Bruckner nickte. »In Geschichte habe ich nicht so aufgepasst. Angka, Rote Khmer, was war da noch?«
»Pol Pot sagt Ihnen aber etwas?«
»Kann schon sein.«
»Ein Kommunist, der eigentlich Saloth Sar hieß. Er war zwischen 1975 und 1978 in Kambodscha an der Macht. Agrarkommunismus. Die Städte wurden geleert, alle mussten als einfache Bauern auf dem Land arbeiten oder beim Straßenbau. Das hat sehr vielen Menschen das Leben gekostet.«
»The Killing Fields«, rief Bruckner. »Ich kann mich an den Film erinnern.«
»Das war genau diese Zeit«, bestätigte ich.
»Aber Ihre Story beginnt doch im Jahre 1990«, stellte Bruckner fest.
»Ja, das war nur die Vorgeschichte. 1990 waren die Roten Khmers bereits im Untergrund. Sie wurden von den Vietnamesen vertrieben. In den achtziger Jahren gab es aber noch einen Guerillakrieg um die Vorherrschaft in Kambodscha. Aus dieser Zeit stammen auch die Landminen an der Grenze zu Thailand.« Ich sah Bruckner an. »Darf ich jetzt weiter erzählen?«
»Nur zu, aber Sie haben ja Ihren Kuchen noch gar nicht angerührt.«
»Danke, sehr führsorglich.«
Ich benutzte die Gabel und steckte mir ein ordentliches Stück Erdbeerkuchen in den Mund. Beim Kauen hatte ich Gelegenheit, zu überlegen, wo ich stehen geblieben war. Ich machte einen Zeitsprung.
August 2001, Olofstorp in der Nähe von Göteborg. Rin Mura öffnete das Fenster seines Arbeitszimmers. Warme Luft strömte in den Raum. Es roch nach Gewitter. Am Himmel zogen die Wolken langsam an der Mondsichel vorbei. Rin Mura beugte sich hinaus, blickte nach unten in den Hof der Villa, in dem die beiden kantigen Volvo-Limousinen in der beginnenden Dämmerung warteten. Er sog noch einmal die Luft ein, schloss dann das Fenster. Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück. Die Papiere hatte er bereits aus den schwarzen Aktenordnern genommen und bereitgelegt. Er nahm immer nur wenige Seiten und führte sie in den Schlitz des Schredders ein. Das Gerät zog Rin Mura die Blätter aus der Hand. Die rotierenden Messer lärmten, quälten sich durch das Papier und liefen leer, bis neue Blätter zugeführt wurden. Rin Mura griff nach den Kontoauszügen, besah sich noch einmal die Zahlenreihen und gab auch diese Dokumente in den Schredder.
Das Klopfen überhörte er. Die Tür öffnete sich, Chenda trat ins Zimmer. Sie ging sofort zu ihm, umarmte ihn. Sie küssten sich, sahen sich dann für einen kurzen Moment schweigend an. Rin Mura holte den Umschlag aus seiner Jacketttasche hervor.
»Hier sind deine Tickets und das Geld, Liebes«, erklärte er. »Es sind zehntausend Kronen und noch einmal zweitausend Dollar.«
Chenda nahm den Umschlag, öffnete ihn. Das Geld beachtete sie nicht, sie zog die Tickets hervor, studierte sie.
»Tijuana, Mexiko?«
»Sorry, Liebes, aber ich konnte es dir vorher nicht sagen. Du wirst in Tijuana bereits erwartet, vertrau mir.«
»Schiphol, ist das nicht ein Risiko?«, fragte Chenda.
»Es geht nicht ohne Zwischenstopp«, erklärte Rin Mura, während er ihre Hand nahm und sie streichelte. »Du wirst aber nur zwei Stunden Aufenthalt haben.«
Sie nickte, schob die Tickets wieder in den Umschlag und umarmte ihn ein zweites Mal. Sie gab ihm noch einen Kuss auf die Wange, bevor sie sich von ihm löste und zur Tür ging. Draußen auf dem beleuchteten Flur lief einer der Leibwächter mit Chendas Koffern vorbei, trug sie aus dem Haus zu einem der Wagen.
Ein anderer Mann stand im Flur, wartete, bis Chenda das Arbeitszimmer verlassen hatte. Rin Mura nickte, Louk Bourey trat ein, kam zu ihm an den Schreibtisch und verbeugte sich.
Rin Mura legte Louk Bourey die Hand auf die Schulter. »Ist alles vorbereitet?«
»Ja, es ist alles vorbereitet, Herr«, bestätigte Louk Bourey und deutete wieder eine Verbeugung an.
Rin Mura lächelte. »Dann brauche ich jetzt Ihren Pass.«
Louk Bourey nickte. Er hatte das bordeauxrote Ausweisheft bereits in der Hand, reichte es Rin Mura, der es sofort aufblätterte und sich die Fotografie ansah.
»Als ich das Bild eingereicht habe, gab es keine Probleme«, erklärte Bourey. »Niemand hat danach gefragt und ich habe den Reisepass seit der Ausstellung vor zwei Monaten nicht benutzt. Ich habe ja noch meine alte ID-kort.«
»Brauche ich die auch?«, fragte Rin Mura.
Bourey schüttelte den Kopf. »Die habe ich jetzt sicher verwahrt. Sie verwenden nur meinen Reisepass.«
»In Ordnung!« Rin Mura steckte den schwedischen Ausweis in seine Jacketttasche. Dann wandte er sich um, nahm den bereitgelegten Papiere vom Schreibtisch. »Ich gebe Ihnen also meinen koreanischen Pass. Das Foto ist wirklich so schlecht, dass es niemandem auffallen wird.«
Rin Mura klappte den Ausweis auf. Die Fotografie wurde tatsächlich beiden Männern gerecht. Er reichte ihn Louk Bourey, der den Ausweis sofort in die Innentasche seiner Jacke steckte.
»Wenn wir uns das nächste Mal treffen, wird alles hinter uns liegen und wir nehmen mit Stolz wieder unsere richtigen Identitäten an«, sagte Rin Mura beinahe feierlich. Er lächelte.
»Danke, es ist eine große Ehre für mich, Herr.«
Louk Bourey nickte und machte dann aus der Kopfbewegung eine Verbeugung. Er ging zwei Schritte rückwärts, drehte sich um und verließ das Arbeitszimmer. Er schloss die Tür hinter sich. Rin Mura blieb allein. Er hatte noch Arbeit vor sich. Zunächst ging er aber zum Fenster. Der Motor einer der Limousinen wurde gestartet. Die Scheinwerfer erhellten den Hof der Villa. Chenda saß bereits im Fond des Wagens. Louk Bourey kam über den Kiesweg. Einer der Leibwächter hielt ihm die Wagentür geöffnet. Bourey setzte sich neben Chenda. Seine Reisetasche wurde in den Kofferraum gelegt. Der Leibwächter stieg vorne beim Fahrer ein. Der Wagen fuhr an, rollte durch die Torausfahrt und fuhr in den Wald, der sich dem Villengrundstück anschloss. Einmal noch sah Rin Mura die Autoscheinwerfer durch die Bäume flackern, dann waren sie verschwunden. Für die knapp dreißig Kilometer bis zum Vedderland Airport von Göteborg würde der Wagen eine halbe Stunde brauchen. Rin Mura sah auf die Uhr.
*
Zwei Stunden später, Eastern Daylight Time, getarnter, abhörsicherer Einsatzraum.
»Was ist das?«
»Ein Kalender, Sir. Ein chinesischer Kalender.«
Tillman Halls hatte sich erhoben, als die beiden Offiziere den Raum betraten. Der Colonel blieb vor der Leinwand des Videobeamers stehen und starrte auf die Zahlen und Symbole.
»Wir haben das Jahr der Schlange«, erklärte der Commander, der den Colonel in den Raum geführt hatte. Der Commander deutete auf die Grafik. »Metall-Schlange, um exakt zu sein, aber Mr. Halls wird es ihnen genauer erklären.«
»Jawohl, Sir!« Tillman Halls wartete, bis sich die Offiziere gesetzt hatten, dann nahm er selbst wieder Platz. Er zog sich das weiße iBook heran, fuhr mit dem Finger über das Touchpad und folgte mit den Augen dem Mauspfeil auf der Leinwand.
»Es sind fünf Elemente und zwölf Tierzeichen. Es ist ein Sechzig-Jahre-Zyklus. Jede Kombination aus einem Element und einem Tierzeichen kommt also nur alle sechzig Jahre vor.« Tillman Halls sah den Colonel kurz an. »Die Schlange ist das sechste Tier. Sie steht für Schlauheit.«
»Was soll das mit der Schlange?«, unterbrach der Colonel Tillman Halls.
Halls räusperte sich. »Wir nehmen an, dass die Schlange eine Bedeutung für die Ereignisse der vergangenen Monate hat. Unser erster Toter wurde am 29. Januar gefunden. Laut Obduktion war der Mann nicht länger als achtundvierzig Stunden tot. Das Jahr der Schlange hat am 24. Januar 2001 begonnen und endet im nächsten Jahr am 11. Februar.«
»Sie sagten chinesischer Kalender. Was hat das mit Kambodscha zu tun?«
»Buddhismus, Sir. Wir glauben, dass es sich um ein Ritual handelt.«
»Religiöse Morde?«
»Nein, das glauben wir allerdings nicht. Die Symbole der Religion spielen zwar eine Rolle, aber es gibt noch eine andere Theorie, die sich aus der Gemeinsamkeit aller sechs Opfer ableitet.«
»Moment!«, warf der Colonel ein. »Ich habe die Information, dass es sich nur um zwei Opfer handelt.«
Tillman Halls schüttelte den Kopf. »Nein, es sind mittlerweile sechs, wir haben bis jetzt sechs Leichen. Die Zweite im Februar, eine im März, zwei im Mai und die Letzte am 23. Juli, also vor knapp drei Wochen.«
»Sechs!« Der Colonel wandte sich jetzt an den Commander, sah ihn fragend an.
»Ja, das ist richtig, Sir. Es sind sechs Opfer. Wir haben den Zusammenhang erst nach dem Fund der letzten Leiche eindeutig klären können.« Der Commander zog eine Akte heran, die auf dem Tisch lag, und schlug sie auf.
Der Colonel beugte sich über das Papier und nickte. »Ja, richtig, die beiden Namen ganz oben, das sind unsere Leute.«
»Und was ist mit den anderen?«, fragte der Commander.
Der Colonel überlegte, schüttelte den Kopf. »Ich kenne nicht alle Namen, auch nicht die Decknamen.« Er blickte auf. »Aber sie haben das ganz sicher überprüft?«
»Ja, das haben wir, Sir. Es sind ebenfalls ihre Leute.«
»Und, was machen wir jetzt?« Der Colonel tippte mit dem Finger auf das Papier. »Wenn sie tot sind, sind sie tot. Was wollen sie jetzt noch und warum haben Sie es so dringend gemacht, Sie wissen, wie spät es ist? Ich bin um halb sieben zum Essen verabredet.«
»Das verstehen wir natürlich«, antwortete der Commander ruhig. »Wir werden sie nicht lange aufhalten. Es geht uns nur um Schadensbegrenzung.«
Der Colonel verschränkte die Arme vor der Brust, erwiderte aber nichts. Der Commander ließ ein paar Sekunden verstreichen, bis er fortfuhr.
»Sie müssen uns ein wenig erzählen, von damals, damit wir einschätzen können, ob weiterhin Gefahr besteht.«
»Gefahr?« Der Colonel reckte das Kinn ein Stück vor.
»Sie entschuldigen Sir, aber Sie wissen genau, wovon ich spreche. Die Zeiten haben sich geändert. Wenn wir nicht aufpassen, wird der vietnamesische Tong cuc Fragen stellen. Fragen, die ganz nach oben gehen, und dort wird man sich an Sie halten, schätze ich. Wollen Sie diese Fragen dann beantworten müssen?«
Der Colonel zuckte mit den Schultern. »Verdammter Charlie!« Er schüttelte den Kopf. »Aber was soll’s. Nun gut, was wollen Sie hören?«
Der Commander lächelte und sah dann Tillman Halls an, bevor er sich wieder an den Colonel wandte. »Wir sind nicht so gut in Geschichte. Wie ging das 1979 los und warum?«
Der Colonel spitzte die Lippen, bevor er begann. »Nun gut, Pol Pot war eigentlich ein Sauhund, aber seine sogenannten Brüder und er selbst waren sehr gerissen. Die Roten Khmer hatten keine Gesichter, nach außen gab es keine Verantwortlichen. Es gab nur die Angka. Das war ihre Partei, ihre Organisation, eine Masse, hinter der sie sich versteckten. Offiziell waren sie vor 1975 und nach 1979 eine maoistisch-nationalistische Guerillabewegung. Für mich waren sie einfach nur Kommunisten, und zwar mit einer haarsträubenden Doktrin. Während ihrer Herrschaft über Kambodscha wurden die Leute aus den Städten geholt. Alle sollten zu willenlosen Landarbeitern umerzogen werden. Das Geld wurde abgeschafft, Bücher wurden verbrannt. Intellektuelle wurden hingerichtet. Es reichte aus, Brillenträger zu sein. Es war schon ein ganz schöner Mist, aber das war egal, denn es gab da etwas. Die Roten Khmer haben gegen die Vietnamesen gekämpft, waren sich spinnefeind. Und das machte sie für uns auf einmal gesellschaftsfähig. Die vietnamesische Armee hat die Roten Khmer gestürzt und die Volksrepublik Kampuchea ausgerufen. Wir und andere westliche Staaten haben das nicht akzeptiert. Pol Pot und seine Leute mussten in den Untergrund gehen, aber wir haben sie weiterhin unterstützt und die neuen Verhältnisse in Kambodscha lange nicht anerkannt.«
Der Commander nickte. »Sie haben den Bürgerkrieg in Kambodscha angeheizt, mehr als ein ganzes Jahrzehnt lang.«
»Ich habe gar nichts«, wehrte der Colonel ab. »Ich habe auch nur Befehle ausgeführt. Wir hatten unsere Position in dieser Angelegenheit und haben getan, was notwendig war. Alles andere ist Politik, für die ich nicht verantwortlich bin.«
»Sie haben den Roten Khmer also Militärhilfe zukommen lassen?«
»Was fragen Sie? Das wissen Sie doch ganz genau. Wir haben unsere Position allerdings Anfang der neunziger Jahre überdacht, also nicht wir, sondern die Politik. Wir haben uns mit den Russen geeinigt. Kambodscha sollte eine Zukunft ohne die Roten Khmer bekommen, dem wurde von unserer Regierung zugestimmt.«
»Aber die alte Verbundenheit wurde nicht aufgegeben«, stellte der Commander fest.
»Verbundenheit!«, wiederholte der Colonel. »Ich würde es eher als Zweckbündnis bezeichnen. Diese Angelegenheit wäre ziemlich peinlich geworden. Wir mussten uns schützen ...«
»Und darum haben Sie auch gleich die höheren Chargen der Roten Khmer mit geschützt«, unterbrach der Commander den Colonel.
»Ja und? Natürlich haben wir das getan.«
»Ich frage mich jetzt nur, wer sie zum Schweigen gebracht hat«, meinte der Commander.
»Wollen Sie damit sagen, dass ...«
Der Commander nickte provokativ. »Entschuldigen Sie Sir, aber es würde Ihnen doch passen, die einfachste Lösung.«
Der Colonel richtete sich in seinem Stuhl auf, erwiderte aber nichts. Der Commander sah wieder zu Tillman Halls, der daraufhin eine Datei auf dem iBook öffnete. Der Beamer flackerte, eine Portrait-Fotografie erschien auf der Leinwand. Der Mann hatte feine asiatische Gesichtszüge, einen herrischen Mund und stolze Augen.
»Diesen Herrn haben wir vor etwa einer Stunde auf dem Landvetter Airport bei Göteborg festgenommen, und zwar um 22:37 Uhr Ortszeit. Sein Name ist Rin Mura, Jahrgang 1941. Er hat einen südkoreanischen Pass, lebt aber seit 1997 in Schweden, in einem Ort namens Olofstorp. Er wollte nach London fliegen. Seinen Namen hatten wir schon seit einigen Wochen auf unserer Liste. Jetzt hat er sich aus seinem Versteck gewagt und wir haben zugeschlagen. Sie können es Schutzhaft nennen.« Der Commander machte eine kurze Pause. »Können Sie Rin Mura auf dieser Fotografie identifizieren?«
»Es stimmt, dass wir Rin Mura kennen. Sie haben seine Vita korrekt wiedergegeben. Ich bin ihm sogar schon einmal persönlich begegnet, aber das ist sehr lange her.« Der Colonel zögerte. »Der Mann auf dem Foto, das könnte er sein, ja ich denke, er ist es. Haben Sie seine Fingerabdrücke verglichen?«
»Wir haben leider keine Referenz«, sagte der Commander. »Aber vielleicht können Sie uns da aushelfen.«
Der Colonel nickte. »Das ließe sich machen, aber das kann dauern, bis die Daten freigegeben werden, sie verstehen?«
»Was können Sie uns über Rin Mura sagen. Wir haben zwar einige Informationen über ihn, aber es wäre doch interessant, gewissermaßen etwas aus ersten Hand zu erfahren.«
Der Colonel strich sich über das Kinn. »In der Tat könnte ich das. Ich habe sogar Rin Muras Dossier verfasst, Code Bruder Nr. X. Bei dem X sind wir uns nicht sicher, ob es ein oder zweistellig ist. Ich meine die Nähe zu Pol Pot, sie verstehen? Die Nummer zwei bis fünf war er jedenfalls nicht, aber wir glauben, dass er schon dicht dran war. In den achtziger Jahren war er aktiver als zwischen 1975 und 1979. Er soll vom Handlanger zum Strategen aufgestiegen sein. Es gab auch Gerüchte, dass er etwas mit Pol Pots Tod zu tun hatte, aber mehr als Drahtzieher, denn 1998 hatten wir Rin Mura bereits in Schweden platziert. Ich kenne sogar den Namen seiner, sagen wir Lebensgefährtin, einer Frau namens Chenda Rieng. Sie ist Schwedin, ihre Eltern stammen aber aus Laos. War Chenda Rieng bei Rin Mura?«
Der Commander zuckte mit den Schultern und wandte sich an Tillman Halls. »Überprüfen Sie das, Chenda ...«
»Chenda Rieng«, wiederholte der Colonel. »Eine junge Frau, sie dürfte nicht viel älter als dreißig sein.«
Halls zog das Beamerkabel von seinem iBook und begann auf der Tastatur zu hämmern. Der Commander hatte sich hinter ihn gestellt.
»Nichts, Sir«, sagte Halls. »Im Einsatzprotokoll steht nichts davon, dass der Festgenommene in Begleitung einer Frau war. Er war allein.«
»Auch keine Leibwächter?«, fragte der Colonel, der noch immer in seinem Stuhl zurückgelehnt saß.
Tillman Halls sah den Colonel an und schüttelte den Kopf. »Der Mann wurde nach dem Check-in abgegriffen, er war auf dem Weg zu seinem Terminal und er war alleine, kein Hinweis auf Begleitung.«
»Vielleicht ist sie zu Hause geblieben«, vermutete der Colonel. »Ich könnte herausfinden, unter welcher Adresse sie gemeldet ist.«
»Wir haben Rin Muras Adresse«, erwiderte der Commander.
»Da könnte sie natürlich auch sein, aber es ist sehr abgelegen und ich erinnere mich, dass sie auch eine Göteborger Stadtadresse hatte, eine Wohnung.« Der Colonel überlegte. »Hatte Rin Mura großes Gepäck dabei? Gibt es einen Hinweis, dass er vielleicht über London noch zu einem anderen Ziel wollte?«
Tillman Halls las im Einsatzprotokoll und schüttelte dann erneut den Kopf. »Eine Reisetasche, Kleidung für ein paar Tage, Unterwäsche, Ersatzhose, Hemden, sonst nichts.«
»Hatte er Dokumente bei sich?« Der Colonel ließ die Frage belanglos klingen.
»Sein Ticket und ein Buch«, antwortete Tillman Halls.
»Ein Buch, welches?«
Halls scrollte durch die Seite auf seinem iBook. »Kim von Rudyard Kipling.«
»Kim? Kenne ich nicht. Ist das ein koreanischer Name?«
»Kipling hat über Indien geschrieben«, informierte der Commander. »Kennen Sie das Dschungelbuch nicht?«
»Ach, natürlich!«, sagte der Colonel. »Und haben Sie das Buch gefilzt, gab es da irgendetwas?«
Der Commander schüttelte den Kopf. »Wir haben zwar ein Team in Göteborg, aber die Spezialisten müssen wir noch einfliegen und dann werden wir Rin Mura verhören.«
»Wo halten Sie ihn jetzt fest?«
»Wir haben ihn erst einmal den schwedischen Behörden übergeben müssen. Sie werden ihn in der Nacht ins Untersuchungsgefängnis nach Göteborg verlegen. Wir können in einem fremden Land nicht einfach so agieren, wie wir gerne möchten. Wir haben der Polizei Gründe geliefert, Rin Mura mindestens zweiundsiebzig Stunden festzuhalten. Bis dahin haben wir ihn schon lange wieder herausgeholt und in unsere Obhut genommen.« Der Commander überlegte. »Aber Sie meinen, wir sollten uns auch um diese Chenda Rieng kümmern?«
Der Colonel zuckte mit den Schultern. Der Commander wandte sich an Tillman Halls. »Wie lautet die Adresse von Rin Mura in Göteborg?«
»Er wohnt außerhalb«, klärte Halls auf und las die Adresse vom Monitor ab. »Villa Hög, Buskarvägen 1-3, 424 91 Olofstorp.«
»Auch egal. Rufen sie über Satellit an. Ich will dort ein Team haben.«
*
»Na endlich kommen Sie ins Spiel«, sagte Bruckner. »Da haben Sie ja mit hohen Herren zu tun gehabt, Commander, Colonel.«
»Sie müssen verzeihen, dass ich keine Namen nenne«, erklärte ich. »Und die, die ich nenne, sind natürlich, wie sagt man, geändert, stehen aber so in den Berichten.«
»Der Commander, das war Ihr Chef?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich war nur ausgeliehen, eine Art Berater. Ich stand damals zwischen dem NYPD und dem FBI, das in Quantico auch Ermittlungsabteilungen hatte. Sie werden mich jetzt wahrscheinlich verachten, aber der Commander war von einer Institution, die man hier in Deutschland mittlerweile auch besser kennt, als ihnen lieb sein kann.«
»Nein!«, sagte Bruckner erstaunt. »Sie meinen doch nicht etwa die NSA, die sammelt doch nur Daten?«
»Doch, doch, ich meine sehr wohl die National Security Agency, kurz die Agency und das ist nichts anderes als der Auslandsgeheimdienst der Vereinigten Staaten.«
»Aber dieser Colonel, der war von einem anderen Verein?«, fragte Bruckner.
Ich nickte. »Das kann man so sagen. Seit Reagan sind diverse US-Nachrichtendienste zur United States Intelligence Community zusammengefasst worden. Aus einem dieser Institutionen entstammte der Colonel, aber fragen Sie nicht, aus welchem.
»Na, Ihre Geschichte schlägt ja Kreise«, stellte Bruckner anerkennend fest.
»Wenn ich fortfahren dürfte, dann lernen Sie noch weitere Beteiligte kennen.«
»Nur zu, jetzt bin ich aber gespannt.«
*
Sie hatten eine Pension in Berlin-Reinickendorf belegt, es gab keine anderen Gäste. Der Portier an der Rezeption war um zehn Uhr gegangen. Sie waren alleine in dem Haus, dass in einem Nebengebäude über drei Garagenplätze verfügte. Martin Grenholm hatte zwei seiner Männer in dem kleinen Frühstücksraum im Erdgeschoss versammelt. Sie hatten mehrere der kleinen Tische zusammengestellt. Grenholm entfaltete einen Berliner Stadtplan, der auch die Anschlussgebiete zu Brandenburg enthielt. Er breitete die Karte auf der Tischfläche aus und strich die Ränder glatt. Mit einem schwarzen Edding zeichnete er ihren Standort ein. Dann überlegte er.
»Wo ist der Hauptbahnhof?«
Alex, ein blonder Hüne, beugte sich vor und tippte mit dem Finger auf die Karte. »Der Hauptbahnhof befindet sich in Berlin-Mitte, hier am Spreebogen. Das deutsche Bundeskanzleramt ist gleich nebenan und das Reichstagsgebäude ist hier.« Alex’ Finger kreiste über der Karte.
»Ist das neue Kanzleramt schon fertig?« Grenholm sah Alex an.
»Seit Mai bezogen. Da gibt’s jetzt eine Menge Polizei und Grenzschutz.«
»Aber das spielt sich doch wohl mehr auf der anderen Spreeseite ab?«, fragte Grenholm, während er mit dem Edding einen Kreis um das Bahnhofsgelände zeichnete.
»Der Norden ist frei«, kommentierte Alex.
»Gut, nächstes Ziel. Wo ist Reinickendorf?«
Alex war gut vorbereitet. Er tippte wieder auf die Karte. »Hier oben, die Startbahnen des Flughafens sind sogar eingezeichnet. Die Terminals erreicht man über die große Zufahrt aus Richtung Süden.«
Grenholm setzte erneut den Edding ein. »Standorte sind geklärt. Was ist mit den Tickets, Will?«
Der Angesprochene legte eine dünne Mappe auf den Tisch, klappte sie auf und zog einige Papiere hervor. »Ich habe für drei Ziele je zwei Flugtickets besorgt.«
»Welche Alternativrouten?«, fragte Grenholm sofort.
Will schob die Flugtickets auseinander. »Brüssel und Mailand.«
»Was ist mit den Abflugzeiten?«
»Alle morgen früh, außerdem kann man kurzfristig noch auf die Nachmittagsmaschinen umbuchen.«
Grenholm überlegte, zupfte sich dabei am Kinn. »In Ordnung, obwohl ich so ein Gefühl habe, dass wir ihn nicht ins Flugzeug setzen können.«
»Dann haben wir ja noch den Zug«, warf Will ein. Er nahm weitere Papiere aus der Mappe. »Ich habe hier eine ganze Reihe von Bahnverbindungen zusammengestellt. Alles dabei, Abfahrtszeiten und Ankunftszeiten für jeden Halt, Risikoeinschätzung der Routen.«
»Was ist mit Fluchtwegen, falls wir den Zug verlassen müssen?«
»Wir können von überall schnell verschwinden, Voraussetzung, wir schaffen einen Wagen heran«, erklärte Will.
»Gut, das wird die Hauptaufgabe unseres Teams sein, sofern das mit dem Fliegen tatsächlich nicht klappt«, erklärte Grenholm.
»Was ist, wenn er von vornherein mit dem Auto weiterfährt?«, fragte Alex.
Grenholm schüttelte den Kopf. »Nein, das geht nicht. Er ist ja bereits mit dem Auto unterwegs. Das Risiko ist dann zu groß, dass jemand an ihm dranhängt und vor allem dranbleibt.«
»Und was ist, wenn wir die Fahrzeuge mehrmals wechseln?«
»Nein, ich bin grundsätzlich dagegen«, sagte Grenholm entschieden. »Das Auto ist für den zweiten Teil der Operation ohnehin unser Notfallplan, wir hätten dann keine Option mehr, oder soll er am Ende zu Fuß gehen?«
Will lachte kurz auf, Alex stieß ihn an und zuckte dann mit den Schultern. »Ich habe kein Problem, Verfolger abzuschütteln.«
»Ich weiß, aber darum geht es nicht«, erklärte Grenholm. »Wenn wir die Operation mit nur einem Team durchführen würden, dann hätte ich das Auto vom Start- bis zum Zielpunkt genommen, um möglichst autark zu sein. Das Ganze wurde aber anders geplant und das hat seinen Grund. Mehr braucht ihr vorerst nicht zu erfahren.«
Die beiden Männer nickten. Grenholm lächelte. Dann wandte er sich wieder der Karte zu. Er studierte die Autobahnen und Bundesstraßen, die aus allen Himmelsrichtungen in die Stadt mündeten.
»Ist das der Berliner-Ring?«
»Das ist der Innenstadtring«, erklärte Alex. »Der ist für uns aber nicht so wichtig. Wir müssen einen größeren Kreis um die Stadt schlagen.« Er deutete an, was er meinte. »Die Autobahn 10 führt um Berlin herum und geht im Norden in die A24 über. Richtung Westen geht die A2, Richtung Osten die A12 und Richtung Süden die A9. Die A13 wäre für die südliche Route eine Alternative, weil wir hier auch wieder nach Süddeutschland einschwenken könnten.«
»Gut, aber wie gesagt von Berlin aus soll es nicht mit dem Wagen weitergehen.« Grenholm überlegte. »Wo werden wir ihn morgen in Empfang nehmen?«
Alex beugte sich vor, suchte kurz und legte seinen Finger auf eine Stelle der Karte.
Grenholm setzte die Kappe auf den Edding, bis es klickte. »Das werde ich jetzt nicht einzeichnen«, kommentierte er und studierte die Karte, nachdem Alex seine Hand zurückgezogen hatte. »Und wo ist die Wohnung?«
»In Zehlendorf.« Alex suchte kurz, zeigte wieder mit dem Finger auf eine Stelle der Karte. »Hier etwa.« Er beugte sich dicht über den Tisch. »In dieser Straße, Hausnummer 29. Es ist ein Mietshaus.«
»Wir werden die Wohnung erst ganz zum Schluss sichern, kurz bevor wir mit ihm ankommen«, stellte Grenholm fest. »Und wir haben den Schlüssel zur Wohnung?«
»Ja«, sagte Will, griff in seine Hosentasche und förderte ein Schlüsselbund hervor. »Ich war gestern einmal dort.«
*
Rin Mura brauchte kein Gepäck. Er trug einen schwarzen Anzug mit offenem Hemdkragen und darüber einen leichten Sommermantel. Er sah sich noch einmal in seinem Arbeitszimmer um. Der Aktenvernichter war schon wieder in den Schrank geräumt. Rin Mura bückte sich nach einem hauchdünnen Papierschnipsel, das auf dem Teppichboden liegen geblieben war. Er rollte es zu einer winzigen Kugel zusammen und schnippte es in eine Ecke des Raumes. Hier würde niemand etwas finden, keinen Hinweis auf seine Vergangenheit und auch keinen Hinweis auf seinen Verbleib. Rin Mura wandte sich zum Gehen, als es klopfte und die Tür aufgerissen wurde. Einer der Leibwächter stand im Türrahmen.
»Fahrzeuge kommen durch den Wald«, brachte er atemlos hervor. »Unbeleuchtet! Wir müssen den anderen Wagen nehmen.«
»Warum, schaffen wir es nicht mehr vorne heraus?«
»Nein, wir müssen ein Stück zu Fuß gehen«, erklärte der Leibwächter. »Der Ersatzwagen steht einen Kilometer von hier entfernt in einer Scheune. Ziehen Sie bitte dies hier über ihren Mantel.«
Der Leibwächter reichte Rin Mura einen der beiden schwarzen Umhänge, die er dabeihatte. Er half ihm beim Anziehen.
»Sie müssen die Kapuze über den Kopf legen und das Band festzurren.«
Der Leibwächter führte es vor, wandte sich dabei schon zum Gehen und zog Rin Mura mit sich aus dem Zimmer. Sie gingen zum hinteren Teil der Villa. Es gab dort eine Wirtschaftstür, die zum ehemaligen Gemüsegarten führte. Der Leibwächter zog Rin Mura noch immer mit sich.
»Wie heißen sie?«, fragte Rin Mura.
»Gunnar, mein Herr. Können sie schneller gehen?«
Rin Mura nickte. Sie erreichten eine offene Gartentür und tauchten in den Wald ein. Gunnar hatte keine Taschenlampe, kannte den Pfad aber sehr genau. Sie mussten ein Stück bergab gehen. Der Mond erleuchtete die Baumstämme. Rin Mura stieß sich von einem ab. Er begann zu keuchen, Gunnar verlangsamte das Tempo etwas, beschleunigte dann aber wieder unmerklich. Der Kilometer wurde immer länger. Rin Mura schwitzte, stolperte einmal, Gunnar hielt sich dicht bei ihm. Dann blieben sie vor einem Feldweg stehen. Gunnar ließ Rin Mura im Schutz der Bäume zurück, erkundete den Feldweg. Er versuchte etwas zu hören, Motorengeräusche oder jemanden, der ihnen durch den Wald gefolgt war. Es blieb still.
Gunnar überlegte. »Die Scheune ist gleich dort drüben.«
Er zeigte in eine Richtung entlang des Feldweges. Rin Mura streckte sich, konnte aber nichts erkennen.
»Ich werde vorangehen«, erklärte Gunnar. »Sie bleiben hier und wir kommen Sie mit dem Wagen abholen.«
»Nein!«, antwortete Rin Mura entschieden.