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Mord! Die Indizien sprechen gegen ihn. Für Kommissar Brehme ist es daher nur noch eine Frage der Zeit, bis Georg Ullmann gesteht. Flucht ist die einzige Möglichkeit, seine Unschuld zu beweisen. Dabei stößt Georg auf die Spur des Mörders, der zwei weitere Opfer ins Visier genommen hat. Georg hat nur eine Chance, er muss die Morde verhindern und sich auf diese Weise rehabilitieren. Beim ersten Opfer gelingt es ihm nicht, er kommt zu spät. Dann aber rettet er einer jungen Anwältin das Leben. Und sie liefert ihm auch gleich das Motiv des Auftragskillers. Jetzt wollen sie den Mörder und die Hintermänner gemeinsam stellen.
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Seitenzahl: 283
Veröffentlichungsjahr: 2023
Ole R. Börgdahl
Dein Tod ist mein Leben
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Das Buch
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechszehn
Siebzehn
Epilog
Impressum neobooks
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Dein Tod ist mein Leben
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Mord! Die Indizien sprechen gegen ihn. Für Kommissar Brehme ist es daher nur noch eine Frage der Zeit, bis Georg Ullmann gesteht. Flucht ist die einzige Möglichkeit, seine Unschuld zu beweisen. Dabei stößt Georg auf die Spur des Mörders, der zwei weitere Opfer ins Visier genommen hat. Georg hat nur eine Chance, er muss die Morde verhindern und sich auf diese Weise rehabilitieren. Beim ersten Opfer gelingt es ihm nicht, er kommt zu spät. Dann aber rettet er einer jungen Anwältin das Leben. Und sie liefert ihm auch gleich das Motiv des Auftragskillers. Jetzt wollen sie den Mörder und die Hintermänner gemeinsam stellen.
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In der Leistengegend verspürte er immer noch einen Schmerz. Es zog sich hinunter bis ins rechte Knie. Er hatte noch nie zuvor Bekanntschaft mit einem Taser gemacht und konnte auch für die Zukunft darauf verzichten. Er griff nach dem Glas Wasser, das vor ihm stand. In der Bewegung hielt er inne.
»Hallo, Hallo Herr Ullmann, sind sie noch bei mir?«
Er hatte den Namen des Kommissars vergessen, wenn es überhaupt ein Kommissar war, obwohl, der Mann trug keine Uniform, wie der andere Polizist. Sie hatten den Kommissar aus Berlin kommen lassen. Brehme, er hieß Brehme, jetzt erinnerte sich Ullmann wieder, Brehme wie der Fußballer. Und der Wachtmeister hieß Lange.
»Ja, trinken Sie erst einmal, Herr Ullmann.«
»Danke!« Er nahm das Glas, trank es in einem Zug leer.
»Soll ich nachschenken?«
Ullmann schüttelte den Kopf. Brehme schenkte trotzdem nach.
»Wenn Sie noch etwas Zeit brauchen, fasse ich inzwischen einmal zusammen.« Kommissar Brehme räusperte sich. »Sie heißen Georg Ullmann, Dr. Georg Ullmann. Sie sind selbständig, IT-Berater, ledig, geboren am 18. Februar 1980 in Berlin. Ihren Jagdschein besitzen Sie seit siebzehn Jahren.« Der Kommissar zog das Dokument aus der Mappe, die vor ihm lag. »Was sagten Sie, wo ist Ihr Personalausweis, denn mit dem hier kommen Sie bei uns nicht weit.«
»Den habe ich wohl zu Hause gelassen«, er überlegte. »Ja, der liegt auf meinem Schreibtisch im Arbeitszimmer.«
»Egal, wir haben Ihre Daten überprüft, allerdings müssen wir Ihren Personalausweis einziehen, solange Sie sich in Gewahrsam der Polizei befinden.« Der Kommissar räusperte sich erneut. »Kommen wir also zu den heutigen Geschehnissen.«
»Was wollen Sie wissen?«
»Alles, wie begann für Sie der heutige Tag?«
»Ich bin etwa um neun, nein, nach halb zehn im Gasthaus Zum Bären in Nauen angekommen. Der Frühschoppen war schon gut besucht. Ich war der Letzte, die anderen haben schon auf mich gewartet.«
»Zum Bären? Hat das was mit dem Berliner Bären zu tun?«, fragte Brehme in Richtung Wachtmeister Lange.
Der zögerte, schüttelte dann den Kopf. »So etwas weiß ich doch nicht.«
»Das Gasthaus ist schon sehr alt«, hatte Ullmann die Erklärung. »Da hat mal vor zweihundert Jahren ein Schwede im Grunewald einen entlaufenen Zirkusbären geschossen. Das Fleisch hat er den Armen gestiftet. Das Festmahl soll wohl in eben diesem Gasthaus stattgefunden haben, seither heißt es Zum Bären. Der Schwede hieß laut einer Tafel im Schankraum Falk Marten Hanson, ein Offizier, der mit der schwedischen Armee gegen Napoléon gekämpft hat.«
»Was Sie nicht alles wissen, ein Schwede. Na, dann haben wir das ja geklärt, hätte ich bloß nicht gefragt.« Brehme räusperte sich. »Zurück zum Thema. Wie viele Leute waren da, also im Gasthaus?«
»Nur unsere Gruppe, acht Kameraden. Ja und der Wirt, eine Kellnerin und noch jemand hinter dem Tresen.«
»Was war der Zweck dieses Frühschoppens?«
»Das ist so üblich vor einer Jagd, auch wenn es nur eine kleine Revierbegehung sein sollte.« Ullmann überlegte. »Die großen Jagden finden meist am Wochenende statt, von Freitagfrüh, bis Sonntagabend. Der Pächter im Bredower Forst hat aber Rückstand, vor allem Schwarzwild …«
»Schwarzwild, was ist das?« Brehme kannte sich tatsächlich nicht aus.
»Wildschweine«, antwortete Ullmann. »Brieselang und Nauen können ein Lied davon singen.«
»Was meinen Sie damit?«
»Der Bestand muss klein gehalten werden. Wir gehen auf Keiler und Überläufer. Bachen nehmen wir erst wieder im Herbst. Ich war schon dreimal dabei, in diesem Jahr, meine ich. Wir sind meistens zu viert oder zu sechst. Wir gehen in Zweiergruppen …«
»Moment, Moment, so weit sind wir noch nicht«, unterbrach ihn Kommissar Brehme. »Sie haben sich also im Gasthaus Zum Bären in Nauen getroffen. Und das spätere Opfer war ebenfalls unter den Anwesenden.«
»Wachold?« Ullmann nickte. »Herr Wachold war der einzige von Auswärts, er wohnt in Hamburg. Die anderen sind Kameraden aus der Gegend.«
»Dann kannten Sie Herrn Wachold, Herrn Klaus Wachold also schon vorher?«
»Ja!«
Kommissar Brehme schürzte die Lippen und notierte sich etwas in seinem blauen Ledereinband. Er räusperte sich, was wie eine nervöse Angewohnheit schien. »Bevor wir noch genauer dazu kommen, also zu Ihrer Bekanntschaft mit Herrn Wachold, sollten Sie mir den weiteren Ablauf des Tages beschreiben.«
»Der Frühschoppen ging bis zwölf …«
»Stopp! Was war der Sinn des Frühschoppens, einfach nur saufen?« Brehmes Stimme klang provokant.
»Wir trinken keinen Alkohol, nicht zu dieser Tageszeit und nicht vor einer Jagd. Wir haben die Revierzeiten und die Standorte eingeteilt. Sechs Kameraden sollten ab 13:00 Uhr im Brieselanger Wald auf die Pirsch gehen, Wachold und ich waren ab 16:00 Uhr im Bredower Forst eingeteilt.«
»Warum waren Sie mit Herrn Wachold eingeteilt?« Brehme notierte sich noch schnell etwas.
»Wachold wollte die spätere Pirsch und ich selbst hatte noch einen Termin in Potsdam. So sind wir zusammengekommen.«
»Und da passte es ja auch, dass Sie Herrn Wachold bereits kannten.«
»Das hatte damit nichts zu tun«, erwiderte Ullmann.
»Der Termin in Potsdam, haben Sie da einen Namen für mich, wir müssen das natürlich überprüfen.«
»Wenn Sie mir mein Handy zurückgeben, zeige ich es Ihnen, da habe ich alle Daten gespeichert, Namen und den Termin.«
Brehme schüttelte den Kopf. »Ihr Handy ist schon auf dem Weg nach Berlin. Das sind heute alles kleine Computer. Wir sichern die Daten, bevor Sie da etwas löschen können, also nichts für ungut. Bei wem waren Sie in Potsdam?«
Ullmann schluckte. »Sanitätshaus Seeger, Heinrich Seeger, Charlottenstraße 17. Ich war von viertel vor eins bis zehn nach drei bei Herrn Seeger.«
»Und das kann Herr Seeger bezeugen?«, fragte Brehme und notierte sich die Angaben.
»Herr Seeger, sein Sohn und ein mir unbekannter Pizzabote. Da ich am Nachmittag wieder zur Jagd zurück sein wollte, hat uns Herr Seeger Pizza bestellt.«
»Das war Ihr Mittagessen und was haben Sie für Herrn Seeger gearbeitet?«
»Das Sanitätshaus Seeger betreibt sieben Filialen in und um Berlin. Ich habe ihnen ein neues Kassensystem verkauft und individuell konfiguriert. Ich musste noch ein paar Einstellungen anpassen.«
»Individuell konfiguriert, Einstellungen anpassen«, wiederholte Brehme. »Das sind so IT-Begriffe, was?«
»Ja, IT-Begriffe, wenn Sie so wollen.« Ullmann trank noch einen Schluck Wasser.
»Sie waren also bis zehn nach drei in Potsdam, sind dann zurück hierher. Wissen Sie, was Herr Wachold in der Zwischenzeit gemacht hat?«
»Er wollte sich hinlegen. Er war sehr früh aus Hamburg aufgebrochen. Ich glaube er hatte sich im Bären ein Zimmer genommen.«
»Und dann haben Sie ihn vom Gasthaus abgeholt?«, fragte Brehme.
Ullmann schüttelte den Kopf. »Wir hatten uns am Hochsitz verabredet.«
»Das verstehe ich nicht, ich dachte Herr Wachold kannte sich im Revier nicht aus, warum wollte er dann allein gehen? Wäre es nicht einfacher gewesen, ihn abzuholen und gemeinsam …«
Ullmann schüttelte noch einmal den Kopf. »Nein, so war es aber nicht. Wir haben uns am Hochsitz verabredet und ich habe Wachold auch niemals angeboten, ihn abzuholen. Es stimmt, er kannte sich im Revier nicht aus, aber der Weg zum Hochsitz ist einfach zu finden. Ich habe hier geparkt, an der Oberförsterei. Wachold wird bis zum Gestüt gefahren und von Westen in den Bredower Forst gegangen sein. Das sind fünfhundert Meter bis zum Hochsitz. Ich bin aus der anderen Richtung gekommen und dann …«
»Am Gestüt geparkt?«, wiederholte Brehme und wandte sich an Wachtmeister Lange. »Gibt es hier ein Gestüt?«
Der Wachtmeister überlegte. »Ja!«, sagte er dann.
»Da muss jemand nach Wacholds Wagen sehen, ob der dort steht.«
Brehme wandte sich wieder an Ullmann. »Wissen Sie, was Herr Wachold für einen Wagen gefahren ist?«
»Er hat einen silbernen Audi RS8.«
»Woher wissen Sie das?«
»Am Gasthaus Zum Bären stand ein solcher Audi mit Hamburger Kennzeichen.«
Brehme nickte. »Also, lassen Sie nach einem silbernen Audi suchen«, sagte er in Langes Richtung. Dann überlegte er. »Gut, Sie haben also hier an der Oberförsterei geparkt. Der schwarze Mercedeskombi, ist das Ihrer, ist das ein AMG?«
»Ja, ein C43, ein kleiner AMG, also mit dem kleineren Motor.«
»Aber immer noch ganz schön flott, was?«
»Ich kann nicht klagen.«
Dies schien das Stichwort für Wachtmeister Lange gewesen zu sein. Er kramte in den Taschen seiner Uniform und legte Ullmanns Autoschlüssel auf den Tisch. An dem Bund befanden sich weitere Schlüssel. Ullmann stierte einige Sekunden auf das Schlüsselbund und die danebenliegende Brieftasche.
Brehme lächelte. »Sie haben geparkt und ihr Jagdgewehr aus dem Kofferraum geholt.«
Brehme erhob sich. Er ging in eine Ecke des Raumes zu einem Sideboard, auf dem Ullmanns Gewehr abgelegt war. Die Waffe steckte vollständig in einem länglichen, durchsichtigen Spurensicherungsbeutel, der sorgfältig beschriftet war. In einer Plastikschale daneben befanden sich vier Patronen und zwei Hülsen, getrennt verpackt in kleineren, ebenfalls beschrifteten Spurensicherungsbeuteln.
»Was ist das für eine Waffe?«
»Das ist eine Repetierbüchse der Firma Blaser aus Isny im Allgäu. Es handelt sich um das Modell R93 mit einem Zeiss Victory Zielfernrohr.« Ullmann zögerte kurz. »Diese Waffe ist sehr verbreitet, ein Verkaufsschlager der Firma Blaser.«
»Ach ja, so genau wollte ich es gar nicht wissen«, sagte Brehme, er überlegte. »Sind Sie eigentlich ein guter Schütze?«
»Ja!«, war Ullmann knappe Antwort.
»Warum hatten Sie nur sechs Patronen bei sich?«
Ullmann griff in die Taschen seines Jagdrocks. »Die hat Ihr Kollege wohl übersehen.« Er legte weitere zwölf Patronen auf den Tisch. »Das reicht für einen Nachmittag, was nicht heiß, dass ich immer alle verwende.«
»Stimmt, verwendet haben Sie ja nur zwei«, sagte Brehme ruhig und kehrte auf seinen Platz zurück.
»Ich habe heute noch nicht einmal geschossen«, rief Ullmann daraufhin.
»Ja, ja, verstehe. Aber wir haben uns ablenken lassen. Sie waren also auf dem Weg zum Hochsitz mit Ihrem Gewehr, Ihrem Zielfernrohr und achtzehn Schuss Munition.«
Ullmann zögerte. Seine Leiste tat ihm wieder weh. Er rutschte auf dem Stuhl ein Stück nach vorne, blähte die Wangen auf und atmete aus.
»Ich hatte den Hochsitz schon im Blick, von Wachold war noch nichts zu sehen. Dann aus und vorbei, Blackout.«
»Blackout?« Brehme lächelte. »Sie wollen gar nichts gesehen haben? Sie müssen doch bemerkt haben, dass da jemand auf sie gelauert hat?«
Ullmann rieb sich die Nasenwurzel. »Ich überlege doch schon die ganze Zeit, versuche mir alles ins Gedächtnis zurückzuholen. Ich war auch in Gedanken. Seeger wollte mir ein weiteres Geschäft vermitteln …«
»Seeger?«
»Egal! Ich kann mich nicht einmal an den Schmerz erinnern. Wenn so ein Taser … das muss doch wehtun, wenn man damit … jetzt habe ich Schmerzen, aber … ich kann mich an nichts erinnern, ich weiß nicht einmal, wie lange ich bewusstlos war.«
»Sie behaupten, dass man Sie mit einem Taser angegriffen hat?«
Ullmann zuckte mit den Schultern. »Ich gehe davon aus. Einen Schlag auf den Schädel habe ich jedenfalls nicht bekommen.« Er griff sich kurz ins Haar, tastete über seinen Kopf. »Sie müssen mich durch einen Arzt untersuchen lassen, ein Arzt wird bestätigen, dass ich mit einem Elektroschock betäubt wurde.«
Brehme zog die Augenbrauen hoch. »Ein Taser ist nicht geeignet, jemanden ausreichend lange zu betäuben. Nach höchstens zwei Minuten wären Sie wieder aufgestanden.«
»Bin ich aber nicht«, rief Ullmann.
»Gut, gut, machen Sie weiter. Sie waren bewusstlos, sind dann aber doch wieder aufgewacht. Was war dann?«
»Ich brauchte eine Zeit, um mich aufzurappeln. Erst danach habe ich gemerkt, dass mein Gewehr fort war. Ich bin zum Hochsitz gegangen, habe mich dort angelehnt. Es hat wirklich lange gedauert, bis ich wieder klar im Kopf war.«
»Und, haben Sie sich nicht gewundert, wo Wachold bleibt, er hätte Ihnen doch helfen können?«
Ullmann rieb sich noch einmal die Nasenwurzel. »Mein Gewehr lag oben auf dem Hochsitz. Ich bin hinaufgestiegen, wollte es gerade wieder an mich nehmen, da habe ich ihn hinten auf dem Weg liegensehen. Danach habe ich nichts mehr angerührt. Ich habe sofort die Polizei angerufen.«
Ullmann drehte sich zu Wachtmeister Lange um. Brehme sah seinen Kollegen ebenfalls an. Dieser zögerte noch ein paar Sekunden.
»Äh, ja, Kollege Kaiser hat den Anruf entgegengenommen. Wir haben entschieden, dass ich allein fahre, weil … ich bin zur Oberförsterei und noch zweihundert Meter weiter. Das hat ganz schön gestaubt und wir hatten doch den Bulli erst gewaschen. Ich bin ausgestiegen und den Rest zu Fuß. Herr Ullmann stand unten am Hochsitz.«
»Stopp«, sagte Brehme. »Herr Ullmann, sind Sie zur Leiche gegangen?«
»Nein, ich bin vom Hochsitz gestiegen und habe mich nicht mehr gerührt. Mein Gewehr und alles andere habe ich oben liegen lassen, ich habe nichts berührt, das habe ich auch dem Wachtmeister gesagt.«
Lange nickte. »So war es. Ich musste dann ja zur Leiche, habe nur kurz geschaut und dann Alarm gemacht. Als Kaiser mich am Tatort abgelöst hat, habe ich den Herrn Dr. Ullmann hierhergebracht.«
Brehme nickte, wandte sich wieder an Ullmann. »Die Sache mit dem Taser, das ist meiner Ansicht nach nicht sehr glaubhaft, Herr Ullmann. Kann es nicht anders gewesen sein? Sie sind am Hochsitz angekommen, hinaufgestiegen und da bot sich Ihnen die Gelegenheit, eine alte Rechnung zu begleichen.«
»Was meinen Sie damit?«
Ullmann überlegte, konnte es sein, dass der Kommissar die Sache bereits ausgegraben hatte, und dass nach so kurzer Zeit. Wie viel Zeit war eigentlich vergangen. Die Uhr hatten sie ihm gelassen. Er schaute jetzt und das erste Mal auf das Ziffernblatt, es war 19:10 Uhr.
»Das wissen Sie nicht?« Brehme machte sein Spiel.
»Doch ich weiß es, ich weiß, von welcher Rechnung Sie sprechen, aber Sie haben keine Kenntnis, dass die Angelegenheit längst bereinigt ist.«
»Bereinigt? Sie haben vor einem Jahr den Prozess verloren, obwohl jeder wusste, dass Wachold Sie und andere reingelegt hat. Er ist damit durchgekommen und das haben Sie ihm nicht verziehen.«
»Ich habe mein Geld zurückbekommen, Sie sprechen noch von anderen Geschädigten, vielleicht haben die ja etwas mit der Sache zu tun.«
»Nein, nein, Herr Ullmann, es gibt keine anderen, nicht in diesem Sinne. Ich meinte nur, dass Wachold, dass Herr Wachold für seine dubiosen Geschäfte bekannt war.«
»Ihnen war das bekannt?«, fragte Ullmann provokativ.
»Mir? Mir nicht direkt, aber ich habe Hinweise erhalten. Das muss sich natürlich noch erhärten, aber so wie die Sache aussieht, hatten Sie ein Motiv. Sie haben doch den Prozess verloren, wie viel Geld hat es Sie gekostet, hunderttausend?«
»Zweihundertdreiundsiebzigtausend, die Grundstücke waren aber nur sechzigtausend wert, weil die Information falsch war, dass es in den nächsten zwei Jahren Bauland werden sollte. Ich musste für sechzigtausend verkaufen und bin wegen des Rests vor Gericht gezogen. Es stimmt, ich habe vor Gericht verloren, aber …«
»Kein Aber«, rief Brehme, »wir haben heute keine Zeit mehr. Wir führen das Gespräch morgen oder übermorgen weiter …«
Es klopfte, ein Mann im weißen Overall betrat den Raum, er blieb aber unschlüssig in der Tür stehen. Brehme nickte ihm zu. Der Mann im Overall trat ein, sah kurz zu Ullmann und wandte sich dann wieder an den Kommissar.
»Der Arzt ist fertig, die Leiche wird gerade nach Berlin gebracht. Wir sind auch so weit durch. Ich würde jetzt gerne die Waffe und die Munition mitnehmen.«
»Die Tatwaffe«, sagte Brehme und blickte kurz zu Ullmann, »liegt dort. Haben Sie schon etwas für mich, aber bitte keine Spekulationen?«
»Es sieht so aus, als wenn vom Hochsitz aus geschossen wurde, die Vermessungen müssen wir aber noch auswerten und warten, was bei der Obduktion herauskommt. Das Opfer wurde aber nur von einem Projektil getroffen. Der Arzt hat keine Austrittswunde gefunden. Das zweite Projektil müssten wir noch suchen, es sei denn …« Der Overallträger sah wieder zu Ullmann. »Es sei denn, der zweite Schuss war der erste und wurde gar nicht am Tatort abgefeuert.«
Brehme horchte auf. »Herr Ullmann, können Sie meinem Kollegen die Frage beantworten. Haben Sie zuvor schon einen Schuss abgegeben, vielleicht auf dem Weg zum Hochsitz?«
»Ich habe heute nicht mit meinem Gewehr geschossen, ich nicht, wie oft muss ich das denn noch sagen.« Ullmanns Stimme klang leise. Er hob die Hände. »Wenn Sie schon nach Spuren suchen, dann nehmen Sie bitte auch welche von meinen Händen.«
»Das können wir alles noch morgen machen, das läuft uns nicht weg«, antwortete der Overallträger. »Obwohl sich ein Jäger bei Schmauchspuren an den Händen und wo er sie sich geholt hat ja immer eine Erklärung abgeben kann. Das taugt als Beweis kaum. Und was das zweite Projektil betrifft, da suchen wir einfach morgen noch ein bisschen. Für heute machen wir jedenfalls Schluss.«
»Stopp, Stopp, was ist mit Fußspuren?«, fragte Brehme.
»Alles gesichert, das haben wir zuerst gemacht. Auf den Zuwegen war eine Menge los, viele unbrauchbare Spuren. Im Wald ist es schwer, da liegt jede Menge Laub, noch vom Vorjahr. Wir haben uns dann auf Fasern konzentriert, die jemand an den Bäumen hinterlassen haben könnte, da war ebenfalls Fehlanzeige. Meine Leute gehen aber noch einmal alles durch, das machen wir morgen.« Der Overallträger erhob den Zeigefinger. »Das war hier jetzt aber nur der erste Eindruck, noch kein abschließender Bericht, das möchte ich betonen, Herr Kommissar.«
»Selbstverständlich, Herr Kollege, dann bedienen Sie sich doch bitte.«
Brehme wies zum Sideboard. Der Overallträger sammelte alles ein, das Jagdgewehr, die Munition und die beiden Patronenhülsen. Der Mann verließ den Raum.
Brehme lächelte in Ullmanns Richtung. »Es ist natürlich unseriös, sich jetzt schon festzulegen, dass Herr Wachold mit Ihrer Flinte erschossen wurde, dennoch sollten Sie sich in der Zwischenzeit darauf einstellen, dass wir genau das herausfinden werden.«
»Büchse«, Ullmann schüttelte den Kopf, »die R93 ist eine Büchse. Mit einer Flinte verschießt man Schrot.«
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Den Auftritt des Beamten der Spurensicherung hatte Kommissar Brehme offenbar inszeniert, davon war Ullmann überzeugt. Die Polizei wollte Druck auf ihn ausüben, ihm etwas zu Denken geben. Und so verabschiedete sich der Kommissar auch wenig später. Ullmann blieb mit Wachtmeister Lange allein in der Oberförsterei zurück. Lange ging zum Telefonieren hinaus, er wollte seinem Kollegen Kaiser Bescheid geben, dass dieser mit dem Bulli vorfuhr. Sie wollten Ullmann noch am Abend nach Berlin bringen, in eine Zelle einsperren, damit sich Kommissar Brehme am nächsten Tag erneut mit ihm beschäftigen konnte.
Ullmann starrte Richtung Fenster. Es würde sich alles aufklären, wenn nur seine Leiste nicht so schmerzte. Er versuchte sich noch einmal zu erinnern. Er hatte tatsächlich niemanden gehört oder gesehen. Der Angriff kam unvermittelt. Der Angriff? Es war kein Angriff, bei einem Angriff konnte man sich verteidigen, es wenigstens versuchen. Es war wie ein Blitzschlag, im Bruchteil einer Sekunde oder noch schneller, war das Licht aus, war alles weg. Und danach, wie ging es danach weiter? Wie lange war er bewusstlos? Waren es wirklich nur Minuten, wie der Kommissar behauptet hatte, zwei, drei Minuten oder weniger?
Und dann? Ullmann versuchte sich zu erinnern. Er hatte sich aufgerappelt, er hatte versucht, wieder Kraft in seine Beine zu bekommen. Auf das Fehlen seiner Waffe hatte er da noch nicht geachtet. Was hatte er als erstes gedacht, was ihm passiert sei? Er konnte sich nicht erinnern, absolut nicht. Oder doch? Er hatte an einen Herzanfall gedacht. Er hatte oft gelesen, dass man von einer auf die andere Sekunde umfällt, wenn etwas mit dem Herzen nicht stimmt. Nein, sein Herz war in Ordnung. Was kam dann? Natürlich hatte es nicht lange gedauert, bis er den Verlust seiner Büchse bemerkte. Als Jäger musste man seine Waffe immer im Blick behalten, trug Verantwortung.
Hatte er nach dem Gewehr gesucht? War er ein Stück in den Wald gegangen, hatte er links und rechts vom Weg geschaut? Nein! Er war sofort zum Hochsitz gegangen, getaumelt. Ja, er war getaumelt, er konnte im ersten Moment keinen klaren Gedanken fassen. Ja, genau das war es, so war es abgelaufen. Es hatte Minuten gedauert, dann der Blick hoch zur Plattform und da hatte er den Lauf seines Gewehres gesehen. Ullmann rieb sich die Augen. Konnte es sein, dass er vorher doch schon zum Hochsitz gegangen war, dort angesessen hatte, geschossen hatte, auf Wachold geschossen hatte? Lag der Kommissar richtig? War er es, der diesen Vorfall verdrängt hatte? War er doch ein Mörder?
Ullmann musste jetzt etwas trinken. Das Glas auf dem Tisch war leer. Er stand vom Stuhl auf, sie hatten ihm keine Handschellen angelegt und er hatte auch nicht gehört, dass Lange den Raum hinter sich abgeschlossen hatte. Ullmann machte einen Schritt auf die Tür zu. Mit dem Fuß trat er auf etwas, das am Boden lag. Er bückte sich danach. In einer Klarsichthülle steckten ein roter Polizeidienstausweis und eine ovale Dienstmarke der Kriminalpolizei Berlin. Kommissar Brehme lief jetzt ohne seinen Dienstausweis und die Messingdienstmarke herum.
Es konnte gut sein, dass der Kommissar unmittelbar zurückkehrte, wenn er seinen Verlust bereits bemerkt hatte. Ullmann musste sich beeilen. Unbewusst steckte er seinen Fund ein und ging zur Tür. Er zögerte, drehte sich um und strebte dem Fenster zu. Er schob die Gardine bei Seite. An diesem Montag, an diesem 22. Mai gegen halb acht war es noch recht hell draußen. Dennoch warf der nahe Wald bereits tiefe Schatten. Ullmann entriegelte das Fenster. Er zögerte erneut, ließ dann doch vom Fenster ab, ging schnellen Schrittes zur Tür und öffnete sie vorsichtig.
Der lange Flur lag vor ihm. Die angrenzenden Büros der Oberförsterei waren längst verwaist, die Forstbeamten im Feierabend. Aus diesem Grunde waren sie mit ihm auch nicht aufs Revier nach Nauen gefahren, sondern hatten sich ihn gleich hier an Ort und Stelle vorgenommen. Ullmann horchte in die Stille. Wo hielt sich Wachtmeister Lange auf? Ein paar Schritte bis zur nächsten Tür, noch immer war nichts zu hören. Ullmann lief weiter, hatte fast den Eingangsbereich des Gebäudes erreicht. An der Garderobe hing ein einsamer, grauer Popeline Mantel. Ullmanns grüne Jagdkleidung war für eine Flucht zu auffällig. Er nahm sich den Mantel, der ihm recht gut passte.
Im nächsten Moment hatte er die Försterei verlassen. Jemand rauchte in der Nähe, aber es war niemand zu sehen. Ullmann lief zum Parkplatz, auf dem nur noch sein Mercedes stand. Den Wagen konnte er nicht nehmen, er war abgeschlossen, die Schlüssel hatte der Kommissar. Oder hatte der Wachtmeister sie wieder an sich genommen? Ullmann duckte sich hinter der Motorhaube, weil er eine Bewegung wahrgenommen hatte. Es tauchte aber niemand auf, dafür sah er den Qualm. Wachtmeister Lange war Raucher, hatte sich auch am Hochsitz eine Zigarette angezündet, als sie auf seinen Kollegen warteten.
Ullmann blieb geduckt, bewegte sich zu einer Hecke, die ihm mehr Sichtschutz gab. Gleich dahinter lag der Weg und dahinter begann der Wald. Er hatte keine Schwierigkeiten sich zu orientieren. Er hatte sich auch schon für das Ziel seiner Flucht entschieden. Er wollte nach Berlin, er musste nach Berlin, in seine Wohnung oder zu Freunden. Während er sich durch den Wald kämpfte, schossen ihm diese Gedanken durch den Kopf. Er konnte nicht in seine Wohnung, nein, dort würden sie ihn zuallererst suchen. Wem konnte er vertrauen, wen konnte er mit seiner Anwesenheit belasten, in die Sache hineinziehen? Sarah würde ihn auslachen. Aber die Polizei würde sie nicht rufen, sie würde von ihm verlangen, sich selbst zu stellen. Was sie verlangte, bekam sie auch. So war es die ganze Zeit, bis er Schluss gemacht hatte.
Sarah, Sarah, er hatte sie geliebt, aber jetzt war er darüber hinweg, obwohl er es ja war, der sich getrennt hatte. Sieben Monate war das jetzt schon her. Sarah hatte schnell wieder jemanden anderes gefunden, er selbst brauchte erst einmal seine Zeit. Es waren merkwürdige Gedanken, jetzt und unter diesen Umständen. Ullmann verließ den Wald, überquerte eine Straße. Ein VW-Transporter kam aus Richtung Nauen, es war nicht der Polizei-Bulli.
Auf der anderen Straßenseite begann die Gemeinde Brieselang, freistehende Einfamilienhäuser mit großzügigen Grundstücken, dazwischen auch Reihenhäuser, drei, vier Einheiten, entstanden, als einige der großen Grundstücke geteilt wurden. Ullmann ging Richtung Ortsmitte. Er drehte sich immer wieder um, bei Gefahr hätte er in einen der Gärten flüchten können, hätte sich in Hecken oder unter Obstbäumen verstecken können. Er setzte seinen Weg jedoch unbehelligt fort, seine Schritte beruhigten sich. Eine Frau mit einem Kinderwagen kam ihm entgegen, sie grüßte, er grüßte zurück, alles war ganz normal, er fiel nicht weiter auf.
Am Ende der Straße ging es rechts zur Haltestelle der Regionalbahn. Nach zweihundertfünfzig Metern erreichte er die Gleise, die Wände der Unterführung und die Begrenzungsmauer des Bahnsteigs waren mit Graffiti verschmiert. Er war der einzige Fahrgast, als dreißig Sekunden nach seiner Ankunft die Bahn angefahren kam. Er wartete, die Wagons kamen zum Stehen, die Türen öffneten sich, zehn, zwölf Fahrgäste stiegen aus, Ullmann stieg ein. Er blieb im Bereich der Tür stehen, blickte noch einmal nach draußen. Der Bahnsteig leerte sich, niemand rannte, um ihn noch aus dem Zug zu holen. Ein Ruck, die Regionalbahn Richtung Berlin fuhr an, nahm schnell Fahrt auf.
Es ging mitten durch den Bredower Forst, keine vier Kilometer bis zur nächsten Haltestelle, Finkenkrug. Plötzlich schoss es Ullmann durch den Kopf, dass er gar kein Geld besaß. Bei einer Kontrolle würden sie ihn aus dem Zug werfen, ihn verhaften, ihn wieder der Polizei übergeben. Er griff instinktiv in die Taschen des gestohlenen Mantels, nichts. Dann war seine Jacke dran, erst außen, danach die Innentaschen. Plötzlich hielt er einen zusammengerollten Zwanzigeuroschein zwischen den Fingern.
Er wusste nicht, ob er sich im Zug ein Ticket kaufen konnte. Gab es noch Schaffner? Nächster Halt Falkensee. Auf dem Bahnsteig rollte der Zug vor einem Fahrkartenautomaten aus. Die Türen gingen auf und gleich wieder zu. Nächster Halt Seegefeld, danach kam Albrechtshof. Die längste Strecke dann bis Berlin-Spandau, weiter bis Jungfernheide. Ullmann stieg schließlich am Berliner Hauptbahnhof aus. Den Zwanzigeuroschein steckte er wieder ein.
Er nahm die Rolltreppen hinauf in die gläserne Bahnhofshalle. Es war kurz vor neun, aber immer noch herrschte sehr viel Betrieb. Während der Zugfahrt hatte er nicht die Ruhe nachzudenken. Jetzt brauchte er eine Pause, einen Rückzugsort. Ein Imbiss, recht gut besucht, bot ihm Schutz in der Masse und einen freien Tisch in der hintersten Ecke. Selbstbedienung, er holte sich einen Kaffee und zwei belegte Brötchen und einen bröseligen Amerikaner. Der Zwanzigeuroschein schrumpfte auf neun Euro und achtzig Cent. Ullmann nippte an seinem Kaffee und begann zu grübeln.
Herr Klaus Wachold, Hotelbesitzer aus Hamburg-Rotherbaum. Die beiden Hotels betrieb er aber in Hamburg-St. Pauli. Und dann waren da noch Mietwohnungen, diverse Häuser und sicherlich zahlreiche Dinge, über die niemand so richtig Bescheid wusste. Und bei diesen Dingen hatte Ullmann seinerzeit investiert. Wachold behauptete später, ihn auf das Risiko aufmerksam gemacht zu haben, aber warum hatte Wachold dann selbst nichts von den Grundstücken behalten? Dies war damals auch Gegenstand der Gerichtsverhandlung. Der Anwalt hatte Ullmann gewarnt, denn Wachold soll sich abgesichert haben, war nur schwer angreifbar. Und so hatte es auch das Gericht gesehen. Aus, das Geld war weg, nicht ganz, aber ein erheblicher Teil, den sich Wachold verdient hatte.
Ullmann überlegte. Gab es je einen Zeitpunkt, an dem er Wachold hätte töten wollen? Das Geld schmerzte, aber der Schmerz über die eigene Dummheit war größer. Es hatte zwei Monate gedauert, bis die Angelegenheit erledigt war. Und in dieser Zeit hatte Ullmann nicht einmal daran gedacht, etwas gegen Wachold zu unternehmen, keine Mordgedanken, niemals. Ullmann hatte auch keine Zeit dazu, wie er sich jetzt einredete. Er musste arbeiten, das verlorene Geld auf diese Weise wieder reinholen.
Und dann sprach ihn Sebastian Fischer an, ein selbstständiger Investmentbanker, mit einem großen Büro, mit Angestellten und vielen Computern, die Tag und Nacht liefen. Ullmann hatte zwei Jahre zuvor noch rechtzeitig eingegriffen und Fischer vor einem Hackerangriff bewahrt. Es war wirklich in letzter Sekunde gewesen, so sah es Fischer, auch wenn Ullmann es nicht so dramatisch fand, sein Handeln aber als äußerst notwendig ansah. Und dann sprach ihn Sebastian Fischer auf Wachold an. Ullmann beklagte sich nicht, Fischer sah das anders. Es dauerte drei Tage, bis Ullmann sein Geld zurückhatte, inklusive Zinsen und einer fiktiven Wertsteigerung der Grundstücke, die in dieser Zeit niemals im Wert gestiegen waren.
Es gab sogar ein Entschuldigungsschreiben von Wachold, in dem er beteuerte, dass sich alles um einen Irrtum, um ein Missverständnis gehandelt hatte. Ullmann wusste nicht, was Sebastian Fischer unternommen hatte, aber es hatte die Sache aus der Welt gebracht. Stillschweigen war das Einzige, was Fischer verlangte. Stillschweigen! Ullmanns Gedanken rasten. Er wurde eines Mordes beschuldigt, galt in diesem Fall immer noch das auferlegte Stillschweigen? Ullmann hatte Wacholds Brief vernichtet. Stillschweigen! Aber er besaß das Dokument noch in elektronischer Form, sicher verwahrt. Stillschweigen! Und dann gab es noch den Rückkaufvertrag der Grundstücke, alles war notariell abgelaufen.
Waren das die Beweise dafür, dass Ullmann keine Differenzen mehr mit Wachold hatte, ließ dies das Mordmotiv platzen? Und Wachold selbst, wie war das heute Morgen, wie hatte sich Wachold ihm gegenüber verhalten? Sie hatten sich seit der Gerichtsverhandlung nicht mehr gesehen. Es gab nur den Brief, der die Versöhnung besiegelte. Nein, Wachold hatte ihn sofort erkannt, ihn begrüßt, hatte sich nichts anmerken lassen. Sie waren unter Jägern, sie waren am heutigen Morgen Jagdkameraden. Sie sprachen nicht über Geschäfte, sie sprachen ausschließlich von der Jagd, sie und die anderen Kameraden. In Summe hatten sie gar nicht so viel miteinander gesprochen. Nur zum Schluss, da hatten sie sich verabredet, nicht an der Oberförsterei, sondern erst am Hochsitz. Ein anderer Kamerad hatte Wachold noch erklärt, wie er von Nauen aus zum Gestüt fahren musste und wie er den Pfad in den Wald fand.
Das war alles. Ullmann hatte nicht weiter über die Jagd oder über die Differenzen nachgedacht, die er einmal mit Wachold hatte. Es war ja alles ausgeräumt und das musste er jetzt auch der Polizei erklären. Ullmann redete sich ein, dass er nur aus diesem Grund geflüchtet war, um die Beweise einzusammeln. Er würde keine Chance haben, seine Flucht fortzusetzen, warum auch, er war unschuldig. Die Beweise, Wacholds Brief und der Rückkaufvertrag. Er hatte alles in der Cloud gespeichert. Er griff instinktiv in die Taschen seines Mantels, dann klopfte er die Jacke ab, die er darunter trug. Es dauerte einige Sekunden, bis ihm wieder einfiel, dass Kommissar Brehme das Handy nach Berlin geschickt hatte, zur Spurensicherung.
Ullmann ärgerte sich sofort, vor nicht einmal zwei Stunden hätte er die Beweise herunterladen können, hätte sie dem Kommissar vorlegen können. Er hätte seine Brieftasche, seine Autoschlüssel und sein Handy zurückbekommen. Sie hätten sich bei ihm entschuldigt. Ullmann ärgerte sich. Aber er konnte alles wieder gut machen, nur würde er sich nicht ohne etwas in der Hand zu haben der Polizei stellen. Er schaute aus dem Fenster in die Bahnhofshalle. Gegenüber dem Imbiss brannte die Reklame eines kleinen Handy-Shops. Es war halb zehn, noch hatte der Laden geöffnet.
*
Auf dem Weg durch die Bahnhofshalle machte er seinen Plan. Es war im Grunde ganz einfach, obwohl er kein Geld in der Tasche hatte, obwohl er sich nicht ausweisen konnte. Drei Kunden schauten sich die neusten Modelle von Samsung und Apple an. Der Verkäufer saß wie unbeteiligt hinter dem Tresen und schrieb eine SMS oder etwas auf Whats-App.
»Was haben Sie denn an Galaxys da?«
»Suchen Sie das S23 oder ein Vorgängermodell? Bei den Vorgängern habe ich gerade …«
»Das S23 Ultra, Farbe egal.«
»Kein Problem.«
»Kann ich es mir vorher genau ansehen?«
»Kein Problem, wir haben ein Vorführgerät in Schwarz.«
»Dann lassen Sie mal sehen.«
Der Verkäufer lächelt, offensichtlich glaubte er in Ullmanns Augen die Kaufbereitschaft gesehen zu haben. »Ich habe es hinten, da können Sie auch in Ruhe alles checken.«
Hinten bedeutete ein kleiner Raum. Es gab nur den Ausgang durch den Laden, direkt am Tresen vorbei und dort hatte der Verkäufer volle Kontrolle. Er gab Ullmann das Handy, das noch mit einer Sicherungsleine verbunden war.
»Danke, kann etwas dauern, ich kaufe nicht gerne die Katze im Sack.«
»Kein Problem, ich muss allerdings in siebenundzwanzig Minuten schließen, aber …«
»So lange wird es auch wieder nicht dauern«, versicherte Ullmann.
Der Verkäufer nickte, Ullmann legte los. Es gab ein sehr gutes W-LAN in dem Geschäft, das würde die Sache beschleunigen. Zunächst machte er das S23 platt. Das ging recht schnell, da das Vorführgerät erst ein paar grundlegende Einstellungen erhalten hatte. Hier reichte es wirklich, auf Werkseinstellungen zurückzugehen. In drei Minuten war alles erledigt, alles frisch, wie Ullmann es immer bezeichnete. Er klickte sich durch die Begrüßungsbildschirme, stellte nur das Notwendigste ein. Dann war es so weit. Er hatte seine Passwörter im Kopf, der Zugriff auf seine Cloud dauerte etwas länger, Sicherheit geht vor. Er war drin, hatte Zugriff auf seine Apps. Jetzt machte er das neue Handy zu seinem eigenen.
Er ließ einiges aus, konnte es später noch komplettieren. Das Wichtigste aber war seine Banking-App. Neun Euro achtzig war alles, was er im Augenblick an Mitteln zur Verfügung hatte. Mit dem letzten Klick war er wieder flüssig.
»Hallo!«, rief er.
Es war sieben Minuten vor zehn, der Laden hatte sich gelehrt. Der Verkäufer schaute in das kleine Büro.
»Ich nehme es«, sagte Ullmann mit einem Lächeln.
»Dann hole ich Ihnen eins aus dem Schrank. Schwarz?«
»Nein, ich nehme das hier.«
Der Verkäufer zögerte. »Das ist mein Vorführgerät, ich weiß nicht, wollen Sie nicht lieber ein Originalverpacktes?«
»Sorry, ich habe etwas herumgespielt, ein paar Apps geladen. Ich musste doch probieren, ob die auch auf Android laufen. Mein altes Handy war ein Apple, aber jetzt will ich es mal mit Samsung probieren, besseres Preis-Leistungs-Verhältnis.«
»Ja, aber ich kann Ihnen keinen Nachlass geben, Sie müssen schon den Preis eines originalverpackten Geräts bezahlen. Ich muss schließlich ein anderes Handy auspacken, wollen ja noch andere Kunden was in die Hand nehmen können, bevor sie sich entscheiden.«
»Das geht in Ordnung«, sagte er lächelnd. »Wo ist das Zubehör? Und hätten Sie vielleicht eine alte SIM-Karte, die Sie noch nicht geschreddert haben? Letzter Test, ob der Kartenschacht nicht verbogen ist, soll ja eine Samsung-Krankheit sein«, log Ullmann.