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Der Münsterländer machte Platz und hechelte mit Blick auf die durchwühlte Grube, aus der ein süßlicher Geruch aufstieg. Es kam vor, dass Dachse ihre Beute tief vergruben und nicht mehr zu ihrem Aas zurückkehrten. Das, worauf der Förster jetzt blickte, war nicht die Beute eines Dachses. Der Verwesungsgeruch wurde schnell unerträglich, nur dem Hund schien es nichts auszumachen. Für die Kommissare Marek Quint und Thomas Leidtner ist es ein neuer Fall, der für beide einen ungewöhnlichen Verlauf nimmt. Während Marek zum Erkennungsdienst des LKA Berlin versetzt wurde und die Spurensicherung am Leichenfundort leitet, wird Thomas als Mordermittler von seinem neuen Chef aus den Er-mittlungen herausgedrängt. Thomas wagt daraufhin einen Allein-gang und wird dabei von Marek und der Gerichtsmedizinerin Kers-tin Sander unterstützt.
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Seitenzahl: 548
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Ole R. Börgdahl
Blut und Scherben
Der zweite Fall für Quint und Leidtner
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Das Buch
Mittwoch - 29. Juli 2015
Donnerstag - 30. Juli 2015
Freitag - 31. Juli 2015
Montag - 3. August 2015
Dienstag - 4. August 2015
Mittwoch - 5. August 2015
Freitag - 7. August 2015
Samstag - 8. August 2015
Dienstag - 11. August 2015
Mittwoch - 12. August 2015
Donnerstag - 13. August 2015
Montag - 17. August 2015
Dienstag - 18. August 2015
Mittwoch - 19. August 2015
Donnerstag - 20. August 2015
Epilog
Leseprobe
Impressum neobooks
Der Münsterländer machte Platz und hechelte mit Blick auf die durchwühlte Grube, aus der ein süßlicher Geruch aufstieg. Es kam vor, dass Dachse ihre Beute tief vergruben und nicht mehr zu ihrem Aas zurückkehrten. Das, worauf der Förster jetzt blickte, war nicht die Beute eines Dachses. Der Verwesungsgeruch wurde schnell unerträglich, nur dem Hund schien es nichts auszumachen.
Für die Kommissare Marek Quint und Thomas Leidtner ist es ein neuer Fall, der für beide einen ungewöhnlichen Verlauf nimmt. Während Marek zum Erkennungsdienst des LKA Berlin versetzt wurde und die Spurensicherung am Leichenfundort leitet, wird Thomas als Mordermittler von seinem neuen Chef aus den Ermittlungen herausgedrängt. Thomas wagt daraufhin einen Alleingang und wird dabei von Marek und der Gerichtsmedizinerin Kerstin Sander unterstützt.
Weitere Romane von Ole R. Börgdahl:
Blindgänger (2024) - 978-3-7565-9085-8Dein Tod ist mein Leben (2023) - 978-3-7565-6082-0
Die Falk-Hanson-Reihe (Historische Romane):
Band 1: Unter Musketenfeuer (2019) - 978-3-7485-9758-2
Band 2: Der Kaiser von Elba (2020) - 978-3-7502-3242-6
Band 3: Kanonen für Saint Helena (2022) - 978-3-7502-3242-6
Band 4: Colonel Muiron (2023) - 978-3-7549-9391-0
Die Tillman-Halls-Reihe (Krimireihe):
Alles in Blut - Halls erster Fall (2011) - 978-3-8476-3400-3
Morgentod - Halls zweiter Fall (2012) - 978-3-8476-3727-1
Pyjamamord - Halls dritter Fall (2013) - 978-3-8476-3816-2
Die Schlangentrommel - Halls vierter Fall (2014) - 978-3-8476-1371-8
Leiche an Bord - Halls fünfter Fall (2015) – 978-3-7380-4434-8
Die Fälschung-Trilogie:
Fälschung (2007) - 978-3-8476-2037-2
Ströme meines Ozeans (2008) - 978-3-8476-2105-8
Zwischen meinen Inseln (2010) - 978-3-8476-2104-1
Historische Romane (Sonstiges)
Faro (2011) - 978-3-8476-2103-4
Die Marek-Quint-Trilogie (Krimireihe):
Tod und Schatten - Erster Fall (2016) - 978-3-7380-9059-8
Blut und Scherben - Zweiter Fall (2017) - 978-3-7427-3866-0
Kowalskis Mörder - Dritter Fall (2018) - 978-3-7427-3865-3
Das Klackern der Farbdose hallte zwischen den Baumstämmen wieder. Der Förster hielt inne und überprüfte noch einmal seine Baumansprechung. Dann setzte er einen fast perfekten gelben Kreis auf die hellbraune Rinde der Fichte. Er sah sich um und nahm gleich den nächsten Baum ins Visier. Der Wald stand in diesem Gebiet besonders dicht. Es waren die Versäumnisse der vergangenen zwanzig Jahre, so dass vornehmlich junge Bäume markiert werden mussten, um Licht zu schaffen, um die Zukunft des Waldes zu sichern. Der Forstertrag konnte dabei in keinem Fall üppig ausfallen. Die Holzfäller mussten zudem vorsichtig arbeiten, einen gezielten Einschlag verrichten und würden für die knapp zweihundert Bäume, die der Förster in den letzten Tagen markiert hatte, gut zwei Wochen benötigen.
Der Förster hatte auch die Schichtplätze bereits markiert. Er arbeitete sich aus dem Dickicht, legte zwei Finger in den Mund und gab einen kurzen Pfiff ab. Der junge Münsterländer hatte sich in den letzten zwei Stunden diszipliniert in der Nähe seines Herrn aufgehalten, doch jetzt brach das Leben im Wald durch. Im Revier gab es mehrere Wildschweinrotten. Das Rotwild trat am späten Nachmittag auf die Lichtungen. Der Hund musste einer Fährte erlegen oder einem Geräusch gefolgt sein. Der Förster gab einen zweiten Pfiff ab. Im dichten Wald war nichts auszumachen. Beim dritten Pfiff meldete sich das Tier endlich. Zunächst ein fernes Bellen, das untypisch für den Hund war. Der Förster sah sich um, konnte keine Richtung ausmachen.
Einen guten Kilometer entfernt stand sein Dienstwagen. Auf dem Weg dorthin würde sich der Münsterländer wieder einfinden. Die grasbewachsene Forsttrasse schlängelte sich durch den Wald. Der Pfad war für motorisierte Fahrzeuge zu eng. Seit einigen Jahren wurden ohnehin wieder Lastpferde eingesetzt, um den Holzschlag zu bergen. An diesem Abend war der Boden an einigen Stellen noch weich. In der Nacht und am Morgen waren Gewitter über die Region gezogen. Der Förster musste sich daher auf den Weg konzentrieren, schritt vorsichtig über einige schlammige Bereiche hinweg. Plötzlich stand der Hund vor ihm, senkte den Kopf und legte etwas zu Boden. Es sah nach einem Stück Aas aus, ein kleiner dunkler Knochen, an dem sich Fleischreste erahnen ließen. Es konnte die Beute eines Fuchses sein oder sogar eines Wolfes. Der Wolf war nach Brandenburg zurückgekehrt, aber im Revier bislang noch nicht gesichtet worden.
Der Hund wandte sich abrupt um und wollte zurück in den Wald springen. Mit einem scharfen Pfiff hielt ihn der Förster zurück. Er zog die Leine aus der Jackentasche, beugte sich nach unten und ließ den Karabinerhaken im Halsband des Münsterländers einrasten. Das Tier zog sofort daran. Der Förster gab ein wenig nach, aber nur um sich das Aas näher anzusehen, das der Hund aufgebracht hatte. Er beugte sich tief nach unten, wollte den Knochen aufnehmen, zögerte aber in der Bewegung. Es dauerte ein paar Sekunden, bis der Förster wusste, was dort vor ihm auf dem Boden lag. Der Hund zerrte wieder an der Leine, zog seinen Herrn mit, der jetzt bereitwillig folgte.
Es ging ins Unterholz, durch ein kurzes Stück Wald und auf eine schmale Lichtung. Hier war die Erde durchwühlt. Der geübte Blick des Försters sah sofort die Suhlstelle einer Rotte. Die Klauenspuren der Tiere, die Abdrücke ihrer Körper und verstreute Kothaufen. Der Münsterländer wollte den direkten Weg gehen, der Förster zwang ihn aber, die Lichtung zu umrunden. Das Ziel war sofort ausgemacht. Eine Vertiefung etwas abseits der großen Suhle. Hier hatten die Tiere ebenfalls gewühlt und ein Stück Stoff ausgerissen und nach oben befördert. Der Förster nahm die Leine kürzer. Der Münsterländer machte Platz und hechelte mit Blick auf die durchwühlte Grube, aus der ein süßlicher Geruch aufstieg. Es kam vor, dass Dachse ihre Beute tief vergruben und nicht mehr zu ihrem Aas zurückkehrten. Das, worauf der Förster jetzt blickte, war nicht die Beute eines Dachses. Der Verwesungsgeruch wurde schnell unerträglich, nur dem Hund schien es nichts auszumachen.
*
Es war der siebte Ballen Steinwolle, den Marek Quint die Treppe hinaufschleppte. Es staubte, als er die Schutzfolie aufschnitt und der Ballen sich ausrollte. Er hatte vergessen, den Mundschutz aufzusetzen, holte es sofort nach, konnte aber einen Hustenanfall nicht mehr vermeiden. Er ging zum offenen Fenster und atmete einmal tief durch. Dann ging es wieder. Im Radio wurde gerade ein Song gespielt, den er nicht mochte. Er bückte sich zu dem Apparat und stellte einen anderen Sender ein. »Don’t Stop Me Now« von Queen fand seine absolute Zustimmung. Er suchte nach dem Zollstock und dem breiten Messer. Er fand beides, auch den Schleifstein, mit dem er dem Messer noch einmal Schärfe gab, bevor er mit der Arbeit begann.
Die nächsten drei Maße hatte er im Kopf. Er begann mit dem ersten Schnitt, der so glatt und perfekt war, dass er für die nächsten Schnitte das Radio lauter drehte. Freddie Mercury feuerte ihn an. Er nahm die vorbereitete Bahn und drückte sie zwischen die Balken. Er korrigierte den Sitz noch einmal, dann nahm er die zweite Bahn. Wenn er in diesem Tempo weiterarbeitete, würde er bis zehn Uhr das ganze Zimmer isoliert haben. Er bückte sich und spürte dadurch erst jetzt die Vibration seines Handys, das er in die Gesäßtasche seines Overalls gesteckt hatte. Er richtete sich wieder auf, streifte die Gummihandschuhe ab und fischte das Telefon aus der Tasche. Er sah aufs Display. Es war eine Festnetznummer, die er nicht kannte.
»Hallo?«, sagte er zögerlich.
»Marek? Ich bin es Mia.«
»Mia? Schön, dass du dich meldest. Warte, das Radio.« Er reckte sich zu dem Apparat und drehte die Lautstärke ganz herunter. Adele, die für Freddie Mercury übernommen hatte, verstummte. »So, da bin ich wieder.«
»Was machst du gerade?«, fragte Mia.
»Ich werke ein bisschen am Haus.«
»Störe ich dich?«
»Nein, nein, ist schon in Ordnung«, sagte er schnell.
»Na gut, ich muss dir ein kleines Geständnis machen.« Mia zögerte. »Ich bin in Berlin.«
»Ja, seit wann? Wo bist du?« Marek musste sich bremsen, um nicht zu euphorisch zu klingen. »Du solltest dich doch melden, dann kannst du dir das Hotel sparen. Oder bist du nur für einen Tag da?«
»Ich bin nicht im Hotel. Ich habe eine Wohnung hier.« Mia zögerte erneut. »Ich arbeite bereits seit Anfang des Monats in der Verwaltung beim Landeskriminalamt.«
»Seit Anfang des Monats«, wiederholte Marek. »Aber du hattest doch eine Absage.«
»Das ist ja auch richtig«, erklärte Mia. »Das habe ich ja auch geglaubt, aber dann ist jemand abgesprungen, wenn ich das richtig verstanden habe, und man hat mich noch einmal eingeladen.«
»Wann?«
»Ganz kurzfristig. Ich habe natürlich zugesagt. Es hat alles gepasst. Ich konnte sofort anfangen.«
»Sofort anfangen?« Mareks Stimme klang gedämpft.
»Ja, das ging alles so schnell.« Mia räusperte sich. »Ich war so in Action, die Kündigung in Münster ging auch nicht so glatt. Dann der Umzug nach Berlin ...«
»Aber da hätte ich dir doch helfen können«, unterbrach Marek sie.
»Ja schon, aber ich wollte dich auch nicht belästigen. Es musste wirklich ganz schnell gehen. Ich hatte eine Spedition für den Umzug. Da hättest du mir auch nicht viel helfen können.«
»Aber warum hast du mir denn nichts gesagt?«
»Aber ich sage es dir doch jetzt.« Mia schluckte. »Hallo Marek, ich arbeite jetzt in Berlin.«
»Willkommen in der Stadt«, sagte Marek spöttisch.
»Marek, bitte!«, rief Mia. »Ich entschuldige mich ja auch dafür. Es war nicht richtig, dir nichts zu sagen, aber ich bin einfach darüber hinweggekommen. Glaube mir das doch bitte.«
Sie schwiegen einige Sekunden. »Und nun?«, fragte Marek schließlich.
»Ich will es wieder gut machen. Ich lade dich ein. Du hast mir immerhin den Tipp mit der Stelle gegeben.«
»Heute Abend geht es nicht«, sagte Marek schnell. »Ich habe hier noch zu tun und ...«
»Ich dachte nicht an heute Abend«, sagte sie. »Ich fahre morgen noch einmal nach Münster und bleibe übers Wochenende. Wie sieht es nächste Woche bei dir aus. Was ist mit Mittwoch?«
»Mittwoch? Ich weiß nicht.«
»Marek, bitte sei mir nicht mehr böse. Mittwoch, ich lade dich Mittwochabend ins do Brasil ein.«
»Ins do Brasil?« Marek überlegte. »In der Dudenstraße? Gut, das kenne ich.«
»Ja genau. Wir treffen uns gleich nach der Arbeit um sechs oder halbsieben. Du bist mir doch nicht mehr böse, oder?«
Marek biss sich auf die Unterlippe.
»Hallo Marek, was ist denn?«, fragte Mia flehend.
»Nein, ich bin dir nicht mehr böse, bin ich nie gewesen.«
»Oh, danke.« Mia atmete schwer ins Telefon. »Ich rufe noch einmal an, dann machen wir die genaue Uhrzeit aus, ja?«
»Ja.«, antwortet Marek tonlos.
Mia verabschiedete sich. Sie legte auf. Marek starrte das Telefon an. Er wusste nicht, was er von der Sache halten sollte. Er war immer noch verärgert. Und dann fragte er sich, was er denn überhaupt von Mia erwartete. Mia war also in Berlin. Es war das, wozu er sie während ihrer Beziehung in Münster nie überreden konnte. Es war ein eigenartiges Gefühl. Mittwoch, er würde sie am Mittwoch wiedersehen. Er dachte noch einen Moment darüber nach, dann sah er sich auf seiner Baustelle um. Das kleine Zimmer, in dem er heute isolierte, wäre ein gutes Kinderzimmer mit Blick in den Garten.
Er sah zum Fenster und schüttelte den Kopf. Er hatte den Raum schon längst anders verplant. Er wollte ein Arbeitszimmer einrichten, den Eichenschreibtisch aus dem Wohnzimmer heraufschaffen, selbstgemachte Regale montieren, um dort seine Bücher und Zeitschriften unterzubringen. In der Ecke mit der Dachschräge sollte ein Lesesessel stehen, daneben ein Sideboard mit einer Kaffeemaschine. Marek legte das Telefon auf den Stuhl neben der Tür, drehte das Radio auf, lauter als zuvor, und streifte sich die Gummihandschuhe wieder über.
Mike Rosenberg sang »Let Her Go«. Und während Marek die nächsten Zuschnitte vorbereitete, achtete er genau auf den Text des Songs. Der Sender spielte einen guten Mix. Nach drei weiteren Rock- und Pop-Titel kamen die Neun-Uhr-Nachrichten, die Marek allerdings verpasste, weil er Nachschub brauchte. Die Steinwolle lagerte er in seiner kleinen Garage, die nach dem Umbau zwar abgerissen werden sollte, aber derzeit als Materiallager noch unersetzlich war. Er hatte die ersten Partien Steinwolle verbraucht und musste einen Holzstapel umräumen, um an die restlichen Ballen heranzukommen. Es staubte, als ein Bündel Dachlatten, das er innen an die Garagenwand gelehnt hatte, umfiel. Marek fluchte.
»Soll ich dir helfen?«
Marek zuckte zusammen. Er kam aus der Hocke wieder hoch und drehte sich um. Dr. Kerstin Sander stand vor ihm in der Garage.
»Danke«, sagte er lachend, »aber das ist alleine schon schwer genug.«
»Das ist ja sehr motivierend«, sagte sie und lachte ebenfalls. »Wo hast du den Spruch denn her?«
»Weiß ich nicht mehr, ist mir spontan eingefallen. Aber du kannst mir wirklich helfen. Vielleicht kannst du da reingreifen und den Ballen etwas vorziehen, dann brauche ich das ganze Holz nicht wieder aufstapeln und kann oben weiterarbeiten.«
»Das ist nicht gut«, sagte Kerstin. »Auf einer Baustelle muss Ordnung herrschen.«
»Das sagen aber bestimmt nicht die Bauarbeiter«, warf Marek ein.
»Gerade die sagen das. Ich kenne mich aus. Aber egal, lass mal sehen.«
Sie schob sich an Marek vorbei, ging in die Hocke und kroch sogar zwischen dem Holz und einer Palette mit Mörtelsäcken ein Stück in den hinteren Teil der Garage. Sie bekam den Ballen Steinwolle zufassen und zog ihn soweit vor, dass Marek ihn greifen konnte.
»Danke! Du kannst ja alles«, sagte er.
»Du wirst lachen, das stimmt sogar. Isolierst du den Dachstuhl?«
Marek nickte. »Aber ich glaube, für heute mache ich doch lieber Schluss, auch wenn ich dank deines Einsatzes jetzt wieder Nachschub habe. Soll ich dir das Haus zeigen?«
»Gerne, aber ich wollte dich nicht von der Arbeit abhalten. Ich war gerade auf einem kleinen Spaziergang, da fiel mir ein, dass du ja in dieser Straße hier wohnst. Das sind wirklich nur zehn Minuten von meiner Wohnung.«
»Dann bin ich aber traurig, dass du mich nicht schon früher besucht hast.«
Sie lachten und verließen die Garage. Sie machten einen Rundgang durch den Garten. Das Haus stand von der Straße aus etwas nach hinten versetzt. Der Vorgarten war gepflegt. Eine brusthohe Ligusterhecke, dahinter dichte Flieder- und Yasminbäume in einem unkrautfreien Beet. Haus und Beet waren durch ein kurzes Stück Rasen getrennt. Kerstin staunte anerkennend.
»Hier sieht es jedenfalls nicht nach Baustelle aus«, sagt sie.
Marek schüttelte den Kopf. »Das ist nur Fassade. Hinten herrscht das blanke Chaos.«
Marek führte Kerstin durch einen schmalen Gang an der Garage vorbei. Der Garten öffnete sich vor ihnen. Auf der Rückseite des Hauses gab es eine kleine Terrasse, die über der ausgedehnten Rasenfläche thronte. Das Grundstück wurde hinten durch einen mannshohen Holzzaun begrenzt, der gleichzeitig das Außenlager von Mareks Baustelle umschloss. Neben einer wackeligen Gartenhütte türmte sich ein Schuttberg auf. Daneben lagen Holzstapel, von Planen geschützt, und mehrere Paletten mit Kalksandsteinen. Sie überquerten den Rasen. Marek trat neben die Gestelle, auf denen die alten Fenster gestapelt waren. Kerstin hob eine Plane an und prüfte das Holz.
»Warum hast du die nicht gelassen?«, fragte sie.
»Zu viel Arbeit. Das Haus hat ja meinen Großeltern gehört und als Jugendlicher habe ich mir mit dem Streichen der Fenster mein Taschengeld aufgebessert. Malen ist allerdings nicht so mein Ding.«
»Und was machst du jetzt mit denen?«
»Vielleicht setze ich sie ins Internet. Die Verglasung ist noch in Ordnung.«
Kerstin nickte und sah sich weiter um. »Es wäre klüger gewesen, den Schutt vorne zu sammeln. Du bekommst ja lange Arme, wenn du später mal einen Container an der Straße stehen hast und alles mit der Schubkarre hinbringen musst.«
»Der kommt so schnell nicht weg, fürchte ich. Und der wird auch noch wachsen. Vorne würde mich das nur stören.«
Kerstin nickte und nahm sich einen der Kalksandsteine von den Paletten, die neben dem Schuttberg standen. »Verwendest du nur die oder hast du es auch mal mit Porenbetonsteinen versucht?«
Marek schüttelte den Kopf. »Kommt mir nicht ins Haus.«
Kerstin grinste. »Der Spruch könnte von meinem Vater stammen.« Sie legte den Stein zurück und wandte sich dem Haus zu. »Und jetzt möchte ich mal sehen, was du immer so bastelst.«
Sie gingen zurück, stiegen über die kleine Außentreppe auf die Terrasse und durch die Hintertür ins Haus. Marek führte Kerstin herum. Die Durchbrüche, die aus mehreren kleinen Räumen ein großzügiges Wohnzimmer gemacht hatten, waren bereits verputzt. Der Küchenboden war zwar gefliest, an den Wänden fehlte aber noch der Küchenspiegel. Marek erklärte, dass er sich erst zum Schluss eine nagelneue Küche leisten wollte und bis dahin mit den zusammengewürfelten Möbeln und Geräten gut leben konnte. Kühlschrank und Elektroherd standen einsam an einer Wand. In der Mitte des Raumes gab es einen kleinen Esstisch mit zwei Küchenstühlen und an einer anderen Wand mehrere Sideboards für das Geschirr, aber keine Hängeschränke. Das Gäste-WC mit Dusche war schon komplett fertig. Die größte Baustelle war im Obergeschoss zu finden. Die Raumaufteilung war noch ungünstig, wie Kerstin feststellte, aber Marek hatte schon begonnen die eine oder andere Leichtbauwand einzureißen. Ein Zimmer sollte von seiner Größe her so bleiben, wie es war, und hier hatte Marek auch seine Arbeit unterbrochen. Kerstin sah sich alles genau an, stellte Fragen, die Marek nicht erwartet hätte. Sie kannte sich mit Trockenbau aus, wie sie es selbst bezeichnete, und diskutierte mit ihm über den Vorteil von Alufolie gegenüber Kunststoff als Feuchtigkeitssperre für die Dachisolierung.
»Willst Du etwas trinken?«
Sie hatten das Haus wieder verlassen. Marek rückte die beiden Gartenstühle zurecht, die er auf seiner Terrasse stehen hatte.
»Vielleicht einen Wein?«, fragte er. »Ich habe Weißwein da.«
Kerstin nickte. »Weißwein wäre prima.«
Sie setzte sich, während Marek wieder im Haus verschwand. Er kam aber sofort zurück, stellte zwei Gläser, die Weinflasche und eine Schale mit gewürfeltem Käse auf den Gartentisch. Er schenkte ihnen ein und setzte sich ebenfalls. Kerstin nahm sich ein Stück Käse und nippte dann an ihrem Wein.
»Der ist gut«, sagte sie.
»Das freut mich.« Marek lächelte. »Dann musst du mir jetzt aber auch erzählen, woher du so viel vom Bau verstehst.«
»Hattest du den Eindruck?«, fragte Kerstin. Sie zögerte kurz. »Mein Vater hat in Dortmund eine kleine Baufirma. Drei, vier Angestellte, im Sommer ein paar mehr. Ich bin auf dem Bau großgeworden.«
»Großgeworden?«, wiederholte Marek. »Kannst du auch eine anständige Mauer hochziehen?«
»Was verstehst du unter anständig?«
»Naja, nicht so wie es bei mir hinterher aussehen würde.« Marek deutete zum Haus. »Wie du gesehen hast, habe ich bisher nur gerissen, aber wenn ich neue Innenwände ziehen muss, werde ich wohl vor einer ziemlichen Herausforderung stehen.«
»Ich könnte es dir zeigen«, schlug Kerstin vor. Sie lächelte und holte ihren Autoschlüssel hervor. Sie deutete auf den Schlüsselanhänger. »Den bekommt man nur, wenn man eine anständige Mauer hochziehen kann.« Sie grinste wieder.
Marek beugte sich vor und betrachtete den Anhänger. Es war eine runde Marke mit der Aufschrift »MAURER« und einer Bildgravur auf weißem Hintergrund, die einen Kelle schwingenden Maurer und eine halbfertige Ziegelsteinmauer darstellte.
»Beeindruckend«, sagt Marek schließlich. »Ist das wie ein Gesellenbrief?«
Kerstin lachte und schüttelte den Kopf. »Mein Vater hätte es sich gewünscht, wenn ich nach der Schule erst den Beruf mit Brief und Siegel erlernt hätte, aber ich hatte andere Pläne. Er hat mir zwar alles beigebracht, was ein Maurer wissen muss, aber den Schlüsselanhänger habe ich für den bestandenen Führerschein bekommen.«
»Einen Führerschein habe ich auch«, betonte Marek.
»Aber du kannst keine Mauer hochziehen«, erwiderte Kerstin und stopfte ihren Autoschlüssel wieder in die Hosentasche zurück.
»Dann musst du es mir zeigen. Oder besser, ich engagiere dich.«
Kerstin wollte gerade etwas erwidern, als es aus Mareks Overall vibrierte. Er holte das Telefon hervor und blickte grimmig auf das Display. Dann sah er Kerstin an.
»Verdammt, ich könnte jetzt sagen, dass ich schon zu viel Wein intus habe.« Er schüttelte den Kopf und nahm das Gespräch an.
Kerstin lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und trank noch einen Schluck.
Marek hörte dem Anrufer zunächst zu. »Reicht es denn nicht, wenn zwei Mann vor Ort sind«, sagte er schließlich »Ich weiß ja auch, dass Ulrich nicht da ist.« Marek nickte auf das, was gesprochen wurde. »Was, Tremmel besteht darauf, dass ein Verantwortlicher des Erkennungsdienstes dabei ist. Das ist ja dusselig. Was mischt der sich in unsere Arbeit ein.« Marek hörte wieder zu. »Gut, gut, ich habe auch keine Lust mit Tremmel zu diskutieren. Ich komme.«
Marek legte auf und sah Kerstin resigniert an.
»Was gibt es?«, fragte sie.
»Leichenfund. Ein Grab im Wald. Ich weiß auch nicht wo genau. Ich treffe Torsten und Hans am Tempelhofer Damm und dann fahren wir gemeinsam hin.«
»Ein Grab im Wald?«, wiederholte Kerstin. Sie überlegte. »Pohlmann hat Bereitschaft.«
Marek hatte sich bereits erhoben. »Du kannst doch noch bleiben, trink deinen Wein in Ruhe aus. Sorry, ich hätte gerne noch ...« er unterbrach sich kurz. »Oder willst du mitkommen?«
Kerstin schüttelte den Kopf. »Ich habe heute frei, außerdem Pohlmann ...« Sie schüttelte noch einmal den Kopf. »Wenn ich da aufkreuze, wird es ihm ganz bestimmt nicht gefallen.« Sie erhob sich ebenfalls von ihrem Stuhl. »Ich kann hier noch aufräumen, wenn es dir recht ist.«
Marek lächelte. »Aber mit der Mauer beginnst du erst, wenn ich wieder zurück bin.«
*
Marek hatte die Vorschläge seines Navis ausgiebig studiert und dann mit Torsten Regener und Hans Schauer telefonisch vereinbart, dass sie sich zunächst im Industriepark Ludwigsfelde treffen wollten. Marek brauchte von Frohnau aus fast eine Stunde bis dorthin. Als er schließlich auf einem kleinen Parkplatz neben dem wartenden Einsatzfahrzeug des Tatorterkennungsdienstes zum Stehen kam, gab Torsten sofort Zeichen, direkt weiterzufahren. Marek folgte dem Transporter. Sie verließen das Industriegebiet, fuhren auf der Bundesstraße Richtung Nuthetal und nach wenigen Kilometern auf kleineren Straßen in ein dichtes Waldgebiet hinein. An einer Polizeiabsperrung vor einem Forstweg mussten sie endgültig anhalten.
Sie streiften sich ihre weißen Overalls über, nahmen die Koffer mit ihrer Ausrüstung und folgten zwei uniformierten Kollegen. Nach ein paar Hundert Metern deutete ein rot-weißes Absperrband an, wo sie den Forstweg verlassen mussten. Hans beschwerte sich bereits, aber einer der Uniformierten versicherte, dass sie den Leichenfundort gleich erreicht hätten. Als sie schließlich am Rand der kleinen Lichtung standen, atmete Hans hörbar aus, und ließ seine beiden Koffer auf den feuchten Waldboden fallen. Der Leichenfundort war ebenfalls mit dem rot-weißem Absperrband markiert worden. Marek hatte den Sack mit den Gummistiefeln getragen und verteilte je ein Paar an Torsten und Hans.
»Das wird dann ja wohl eine Schlammschlacht«, sagte Hans, während er sich in seinen rechten Gummistiefel quälte.
Marek wandte sich an einen der Streifenpolizisten, der sie geführt hatte. »Sind die Ermittler schon da?«
Der Mann nickte. »Tremmel und Arnold waren hier, sind dann aber wieder weg. Der Förster, der den Fund gemeldet hat, konnte natürlich nicht so lange warten. Die sind jetzt zu dem hin.«
»Und was ist mit KOK Leidtner?«, fragte Marek.
»Kenne ich nicht, ist der auch bei Tremmel?«
Marek nickte. Seit zwei Monaten war die Einheit Kowalski, wie Ulrich Roose sie immer bezeichnete, vorübergehend aufgelöst. Marek hatte man eine sogenannte Karriereversetzung angeboten. Er sollte unter Ulrich Rooses Führung die Methoden und Arbeitspraktiken des Tatorterkennungsdienstes aus nächster Nähe kennenlernen, und zwar als Ulrich Rooses Stellvertreter. Es sollte eine befristete berufliche Neuorientierung sein, so hatte sich zumindest einer der Referenten des Polizeipräsidenten ausgedrückt. Wie lange diese Befristung andauern würde, ließ der Referent allerdings offen. Marek hatte es nicht schlecht getroffen. Er war zu Beginn noch skeptisch, aber dann hatte sich Ulrich Roose als guter Chef erwiesen und Marek fand Gefallen an der neuen Arbeit und der neuen Sichtweise auf die Kriminalfälle an denen der Tatorterkennungsdienst beteiligt war.
Für Thomas Leidtner sollte sich nach dem Ende ihrer gemeinsamen Zusammenarbeit eigentlich nicht so viel ändern, denn er wurde innerhalb des LKA 1, Abteilung Gewalt am Menschen, lediglich in eine andere Operative Einheit versetzt. Die Ermittlergruppe von Kriminalhauptkommissar Werner Tremmel war Mitte des Jahres durch gleich zwei Pensionierungen dezimiert worden, so dass Thomas’ Versetzung zum richtigen Zeitpunkt kam. Marek hatte von Thomas allerdings gehört, dass KHK Tremmel zwar den Zeitpunkt, aber nicht den ihm zugewiesenen Ermittler als richtig empfand, was die Zusammenarbeit nicht vereinfachte. Noch schien Thomas daran zu glauben, dass sich das Verhältnis zwischen ihm und Werner Tremmel bessern könnte, zumal sich Thomas mit seinem Kollegen Patrick Arnold recht gut verstand.
Das Funkgerät des Streifenpolizisten knackte. Der Kollege am improvisierten Parkplatz kündigte einen weiteren Besucher an. Die Gerichtsmedizin war eingetroffen. Marek hörte, dass sich Dr. Pohlmann zu ihnen auf den Weg machte. Unter Mareks Gummistiefeln hatte sich eine kleine Pfütze gebildet. Mit einem schmatzenden Geräusch setzte er sich in Bewegung und folgte Torsten und Hans an den Rand des Leichenfundortes. Dr. Pohlmann würde noch warten müssen, bis sie die Spurenlage am Fundort gesichert hatten.
Hans verzog das Gesicht. Marek nahm ebenfalls den Verwesungsgeruch wahr, der Torsten nichts auszumachen schien. Er hatte bereits seinen Fotoapparat zur Hand und begann die ersten Bilder vom Fundort aufzunehmen.
Hans stellte sich auf seine Position. »Würde sagen, wir suchen einen inneren Radius von drei Metern ab.«
Er hatte eine kleine Hacke, mit der er über die Grasreste strich und vorsichtig den Boden bearbeitete. Er vermied es näher an den Mittelpunkt der Vertiefung heran zu gehen, den Torsten weiter abfotografierte. Er bückte sich, um einige der Wildspuren aus unmittelbarer Nähe aufzunehmen. Zum Schluss widmete sich Torsten noch dem Arm und der Hand, die aus dem Schlamm ragten.
»Dem fehlen drei Finger«, stellte er fest.
»Der Hund«, rief ihnen der Streifenpolizist vom Rande der Lichtung zu. »Wir haben auf dem Feldweg noch ein Objekt markiert. Der Hund des Försters hat dort einen Mittelfinger oder so abgelegt.«
»Mittelfinger? Woher wissen Sie das«, entgegnete Hans.
»Das sieht man doch«, rief der Streifenpolizist.
»Jedenfalls fehlen kleiner Finger, Ringfinger und Mittelfinger.« Torsten hatte sich über den schlammigen Handstumpf gebeugt. »Und zwar am rechten Arm«, ergänzte er.
»Sag ich doch, Mittelfinger.« Der Streifenpolizist räusperte sich.
Marek trat neben Torsten und beugte sich ebenfalls herunter. »Ist denn der Körper noch dran?«
Torsten kannte keine Scheu. Er hängte sich den Fotoapparat über den Rücken, griff den Arm unterhalb des Handgelenks und zog vorsichtig. »Da hängt noch jemand dran, eindeutig.«
Marek erhob sich wieder und musste zur Seite Luft holen. Der Leichengeruch stieg ihm bereits in den Kopf. Am Rande der Lichtung erschien ein weißer Overall. Dr. Pohlmann blickte sich um. Obwohl er bereits Gummistiefel trug, suchte er nach einem sicheren Weg zum Ort des Geschehens. Er achtete umständlich auf jeden Schritt und kam langsam auf die drei Erkennungsdienstler zu.
»Guten Abend«, grüßte er erst jetzt.
Es klang etwas schroff, aber Marek ignorierte Dr. Pohlmanns offenbar schlechte Laune und begann sofort mit dem Briefing.
»Wir sind auch eben erst eingetroffen und konnten daher noch nicht viel ausrichten, aber diesmal ist es wohl egal, weil sie beim Bergen der Leiche schon Hand anlegen können.«
»Ist das nicht nur ein Arm?«, fragte Dr. Pohlmann und sah an Marek vorbei in die Vertiefung.
Torsten wiederholte seine Zugprobe. Dr. Pohlmann nickte, trat einen Schritt näher und stellte ebenfalls das Fehlen der drei Finger fest.
»Einer wurde noch gefunden«, erklärte Marek und deutete hinter sich. »Der soll auf dem Feldweg liegen. Vielleicht schauen Sie sich den als erstes an. Inzwischen kann der Kollege Regener ein bisschen vorarbeiten.«
»Hätten Sie das nicht gleich sagen können.« Dr. Pohlmann schüttelte den Kopf. »Jetzt kann ich mich wieder durchs Gestrüpp quälen.«
Marek zuckte mit den Schultern und wandte sich zum Gehen um. Dr. Pohlmann folgte ihm widerwillig. Torsten und Hans sahen sich kurz an, nahmen dann aber wieder ihre Arbeit auf. Torsten verstaute den Fotoapparat in seinem Koffer und holte sich dafür einen kleinen Spaten.
Marek und Dr. Pohlmann mussten etwa fünfzig Meter über den Feldweg gehen, um die Stelle zu erreichen, an der ein Beamter das Objekt bewachte, das mit einem Fähnchen aus dem rot-weißen Absperrband markiert war. Sie gingen in die Hocke. Der Mittelfinger war eindeutig menschlich. Der Fingernagel hatte sich dunkel verfärbt, die Haut am Finger war etwas heller, sah aber schwammig aus. Am Fingerstumpf schaute der Knochen hervor, flankiert von unregelmäßig geformten Haut- und Fleischfasern.
»Den soll der Hund des Försters hier abgelegt haben«, kommentierte Marek.
Dr. Pohlmann nickte. »Man kann die Zahnabdrücke sehen.« Er deutete auf das Objekt. »Glauben Sie, dass der Hund die Leiche ausgegraben hat?«
Marek zuckte mit den Schultern. »Kollege Regener hat Fotos von der Fundstelle gemacht. So wie es aussieht ist da alles Mögliche durchgelaufen, vor allem die Wildschweine.«
»Welche Wildschweine?«, fragte Dr. Pohlmann. Er hatte einen Plastikbeutel hervorgeholt und tütete den Mittelfinger ein. Dann wandte er sich dem Beamten zu. »Können Sie das zu meinem Wagen bringen und in eine der Kühlboxen legen?«
Der Uniformierte nickte und nahm den Plastikbeutel zögernd entgegen. Dr. Pohlmann erhob sich und sah Marek wieder an.
»Also, welche Wildschweine?«
»Die Suhle. Auf der Lichtung befindet sich eine Wildschweinsuhle«, erklärte Marek. »Es liegt also nahe, dass die Wildschweine an der Leiche dran waren.«
»Machen Wildschweine so etwas?« Dr. Pohlmann runzelte die Stirn.
»Ich bin kein Biologe, aber vielleicht kann uns der Förster das erklären.«
Dr. Pohlmann schüttelte den Kopf. »Den Förster brauche ich dazu nicht. Ich lasse die Bissspuren bei der Obduktion untersuchen.«
»Na dann«, sagte Marek und wandte sich zum Gehen.
Sie kehrten zur Lichtung zurück. Torsten hatte bereits einiges der Erde abgetragen, ohne zu dicht an den im Schlamm steckenden Körper heranzugehen. Hans hatte die Erde durchsiebt, aber keine Objekte gefunden, die für die Spurenlage von Interesse waren. Die Hauptarbeit lag noch vor ihnen.
*
Kriminalhauptkommissar Werner Tremmel schnaubte verächtlich. »Was ist das denn hier für ein Volksauflauf?«
Etwa zwanzig mit orangen Warnwesten bekleidete Bereitschaftspolizisten durchstreifen den Wald links und rechts vom Feldweg.
»Das hat der Kollege Quint vom Erkennungsdienst angeordnet«, berichtete Kriminaloberkommissar Patrick Arnold seinem Chef.
»Quint? Ich will Roose sprechen. Die sollen sich um die Leiche kümmern.« Werner Tremmel fingerte nach einer Zigarette aus der halbvollen Marlboropackung und zündete sie sich an.
»Der Kollege Roose hat Urlaub«, erklärte Patrick Arnold. »Quint leitet heute den Einsatz des Erkennungsdienstes und Dr. Pohlmann untersucht die Leiche.«
»Pohlmann, das ist gut«, sagte Werner Tremmel.
Sie verließen den Feldweg und kamen nach wenigen Metern auf die Lichtung. Werner Tremmel nahm noch ein paar hastige Züge von seiner Zigarette, löschte dann die Glut und verstaute den Filter in eine kleine Metallbox, die er immer bei sich trug. Marek wurde auf die Neuankömmlinge aufmerksam. Werner Tremmel hielt sich nicht lange mit der Begrüßung auf.
»Wer kann mir was sagen«, begann er sofort und schob Torsten Regener zur Seite, um einen Blick auf die jetzt ausgehobene Grube zu werfen. Er verzog kurz das Gesicht und wandte sich gleich an Dr. Pohlmann.
»Männlicher Toter, zirka dreißig bis vierzig Jahre alt. Über die Todesursache kann ich noch keine Angaben machen. Es liegt allerdings eine Fraktur der Halswirbelsäule vor. Ob und wie dabei die Nervenbahnen ebenfalls betroffen sind, kann ich erst bei der Obduktion abklären. Grobe äußere Verletzungen, wie Schusswunden oder Messerstiche konnte ich bei dieser ersten Beschau noch nicht feststellen.«
»Ihm wurde also das Genick gebrochen«, unterbrach Werner Tremmel Dr. Pohlmann, der sofort die Hand hob.
»Da bitte ich die Obduktion abzuwarten. Wie gesagt, voraussichtlich keine Schusswunden oder Messerstiche, aber der Leiche fehlen drei Finger an der rechten Hand. Der Mittelfinger konnte sichergestellt werden. Kleiner Finger und Ringfinger wurden in unmittelbarer Umgebung des Leichenfundortes nicht aufgefunden. Ich vermute Wildfraß.«
Marek wusste, dass der Begriff Wildfraß etwas ganz anderes bedeutete, aber es schien Werner Tremmel nicht aufgefallen zu sein.
»Sie sprechen von Raubtieren?«, fragte Tremmel stattdessen. »In Brandenburg soll es ja neuerdings wieder Wölfe geben.«
»Oder es waren die Wildscheine.« Dr. Pohlmann deutete hinter sich auf die Lichtung.
»Schrecklicher Gedanke.« Werner Tremmel schüttelte sich demonstrativ. Er überlegte kurz, blickte dabei noch einmal auf den Körper, der mittlerweile auf einer blauen Plane neben der ausgehobenen Grube lag. »Und was können Sie mir zum Todeszeitpunkt sagen?«
»Das ist natürlich im Moment sehr schwer einzuschätzen.« Dr. Pohlmann atmete hörbar aus. »Der Körper liegt jedenfalls nicht länger als zwei Jahre in der Erde. Es kommt natürlich auch auf die Beschaffenheit des Bodens an. Da spielen bei der Verwesung mehrere Faktoren eine Rolle.«
»Zwei Jahre«, wiederholte Werner Tremmel.
»Höchstens«, betonte Dr. Pohlmann. »Ich werde mich natürlich mit Experten in unserem Institut beraten, um genauere Angaben machen zu können.«
Marek dachte sofort an Kerstin, die große Erfahrungen mit exhumierten Leichen hatte. Er sprach es allerdings nicht aus, weil ihn etwas anderes an Dr. Pohlmanns Bericht wunderte. Der Tote hatte einen Ausweis bei sich und Dr. Pohlmann kannte bereits das Geburtsdatum. KHK Werner Tremmel schien zumindest mit Dr. Pohlmanns Aussagen zufrieden zu sein und daher wandte er sich jetzt an Hans Schauer, der nach Ulrich Roose der älteste im Tatorterkennungsteam war.
»Was können uns denn die Kollegen von der Spurensicherung zum Leichenfund mitteilen?«
»Sicherlich eine ganze Menge«, antwortete Hans und deutete auf Marek.
Werner Tremmel hatte verstanden und wandte sich zu Marek um. »Wann kommt denn Kollege Roose wieder aus seinem wohlverdienten Urlaub zurück?«
»Übermorgen. Wenn sie solange warten wollen«, erwiderte Marek.
»So ein Quatsch«, zischte Werner Tremmel. »Also, KK Quint lassen Sie schon hören.«
»Sehr gerne. Das Wichtigste, der Tote hatte Papiere bei sich, Personalausweis und Führerschein. Sein Name ist Ken Börder, 36 Jahre alt, wohnhaft in Berlin.«
»Na da lagen Sie ja richtig, Herr Dr. Pohlmann«, unterbrach Werner Tremmel Mareks Ausführungen.
Dr. Pohlmann nickte nur, gab aber keine Erklärung ab. Marek wartete noch ein, zwei Sekunden und fuhr dann fort.
»Neben den Papieren haben wir in der Brieftasche des Toten noch eine erhebliche Menge Bargeld gefunden. Die Scheine sind soweit unversehrt. Es handelt sich um zweitausendeinhundertzweiunddreißig Euro und siebenundvierzig Cent.«
»Hoppla, das ist ja ein kleines Vermögen.« Werner Tremmel ließ einen Pfiff hören. »Und das Geld befand sich in der Brieftasche und nicht am Körper versteckt?«
»Alles in der Brieftasche«, bestätigte Marek. »Zwei Fünfhundert-Euro-Scheine, zehn Hunderter, zwei Fünfziger, ein Zwanziger und zwölf Euro siebenundvierzig in Münzen. Wir haben Kleidung und Körper abgesucht, aber kein weiteres Bargeld gefunden. Dafür aber einen Schlüsselanhänger in Form eines Boxhandschuhs, an dem aber nur ein einziger Schlüssel hing. Der Schlüssel könnte zu einem Haus oder einer Wohnung passen, Marke des Schlüssels ABUS ohne weitere Markierungen oder einem Adressschild.«
Werner Tremmel nickte. »So einfach macht man uns die Ermittlungen nicht, aber wir haben ja Namen und Adresse des Toten. Was haben Sie noch?«
»Der Tote trug eine Armbanduhr am linken Handgelenk. Einfaches Lederarmband, Marke der Uhr ist noch unbekannt.«
»Keine Rolex?«, fragte Werner Tremmel und lachte. »Würde ja zur Menge der Kohle passen.«
»Soweit ich es beurteilen kann, handelt es sich nicht um eine Rolex«, bestätigte Marek. »Wir haben bis jetzt überhaupt keinen Markennamen auf dem Uhrenkörper gefunden. Außerdem ist die Uhr stark verschmutzt. Wir werden sie im Labor noch einmal untersuchen.«
»Wie steht es mit der Kleidung?« Werner Tremmel warf erneut einen Blick auf die Leiche.
»Blaue Jeans, schwarze Lederjacke der Marke Kendo, dunkelblaues Baumwollhemd kariert der Marke McEarl, ehemals weiße Turnschuhe von Puma, schwarze Sportsocken ebenfalls von Puma. Unterhemd weiß und Unterhose schwarz beide von Canda.«
»Canda?«, fragte Werner Tremmel.
»Das ist eine Eigenmarke des Bekleidungsunternehmens C&A Mode GmbH & Co. KG«, meldete sich Patrick Arnold.
»Ach, Brenninkmeijer«, stellte Werner Tremmel fest.
Marek ging nicht darauf ein. Er fuhr fort. »Die Kleidung, die Brieftasche, das Geld, der Ausweis, der Führerschein und die Uhr gehen zur Kriminaltechnik. Für die DNA-Analyse bekommt Dr. Pohlmann die Sachen dann aber später noch einmal zurück.«
»Was ist mit einer Kreditkarte, mit Bankkarten, Rabattkarten, war außer dem Bargeld noch etwas anderes in der Brieftasche des Toten?«
»Nein, nichts von dem, was sie aufgezählt haben«, erklärte Marek.
»Dann bedanke ich mich recht herzlich«, sagte Werner Tremmel, aber es klang nicht so, als wenn er es auch so meinte.
Marek nickte.
Dann hatte Werner Tremmel aber doch noch eine Frage. »Was ist mit dem Suchtrupp? Haben die schon etwas gefunden, vielleicht die fehlenden Finger?«
»Die Leute sind auch eben erst eingetroffen«, antwortete Marek. »Das Gebiet ist groß und die Bereitschaftspolizei konnte mir heute Abend nur zwanzig Mann zur Verfügung stellen. Außerdem wird es gleich dunkel, so dass wir die Suche morgen weiterführen müssen. Wir werden auch die Suhle und die Grube, in der die Leiche lag, noch einmal durchsieben. Sie werden natürlich über alles informiert, was wir noch finden.«
»Ich erwarte nichts anderes.« Werner Tremmel lächelte.
Dann erschienen die Sargträger am Rande der Lichtung. Marek sah Werner Tremmel an, der die Erlaubnis geben musste, die Leiche abzutransportieren. Werner Tremmel nickte schließlich und gab den Männern Zeichen. Torsten Regener und Hans Schauer packten ihre Ausrüstungen zusammen, machten den Sargträgern Platz. Werner Tremmel war Dr. Pohlmann zurück auf den Feldweg gefolgt. Patrick Arnold blieb noch auf der Lichtung, bis die Leiche eingesargt war. Marek nutzte die Gelegenheit.
»Und, hat Thomas heute dienstfrei, oder warum seid ihr nur zu zweit hier aufgekreuzt?«
Patrick zuckte mit den Schultern. »Einer muss ja die Stellung halten. Thomas macht Innendienst, könnte man so sagen.«
»Wollte der Alte ihn nicht mitnehmen?«, fragte Marek ganz direkt.
Patrick zuckte erneut mit den Schultern. »Kannst ihn ja mal fragen.«
»Die findest du nicht im PlayStore«, erklärte Patrick Arnold kopfschüttelnd. »Und auch sonst nirgends im Netz.«
»Darknet?«, fragte Thomas überrascht.
»So ähnlich. Ich habe sie von einem Kollegen aus dem Betrugsdezernat. Gib mir mal dein Handy.«
Thomas reichte es ihm und Patrick stöpselte das Smartphone an seinen Rechner und wartete, bis das Telefon erkannt wurde.
»Jetzt muss man nur noch den Schutz umgehen und die App direkt auf die Speicherkarte laden.« Patrick verschob mit einigen Klicks eine Programmdatei auf Thomas’ Handy. »Das Gute ist nun, dass die App auf dem Gegenstück nicht installiert sein muss.«
»Auf dem Gegenstück?«, fragte Thomas.
»Ja, zum Beispiel auf meinem Telefon. Ich habe die App natürlich wieder deinstalliert.«
»Natürlich«, sagt Thomas betont.
Patrick nickte grinsend, verließ den Raum, ging in das Nebenbüro, in dem gerade niemand saß, drehte dort das Radio auf und legte sein eigenes Smartphone daneben. Dann kehrte er in ihr gemeinsames Büro zurück.
»So, erst einmal habe ich mein Telefon ausgeschaltet, das kann die App nämlich auch, also Kontakt zu einem stummen Handy aufnehmen.«
Patrick nahm Thomas’ Smartphone, öffnete die App und zeigte ihm das Display. »Hier die Nummer eintippen und auf OPERATE drücken.«
Die App brauchte ein paar Sekunden, dann blinkte Patricks Handynummer im Display auf.
»Und jetzt hier nur noch das Lautsprechersymbol drücken.«
Patrick tat es und im selben Moment waren die 16:00 Uhr Nachrichten des rbb zu hören.
»Das Beste ist aber, dass man auf meinem Handy im Nebenraum jetzt gar nichts sehen kann.«
Patrick und Thomas verließen das Büro und gingen in den Nebenraum. Thomas nahm Patricks Telefon vom Tisch und konnte tatsächlich nicht erkennen, ob es aus- oder doch eingeschaltet war. Patrick schaltete die App auf Thomas’ Handy aus, da bereits eine Rückkopplung der noch laufenden Radiosendung nachhalte.
»Und was jetzt passiert, ist auch nicht schlecht«, erklärte Patrick weiter. »Mit Beenden der App wird auch mein Handy ausgeschaltet, wenn die App es vorher einschalten musste. Und während des Abhörens nimmt die App bei Bedarf natürlich alles auf.«
»Darknet sagtest du.« Thomas nickte anerkennend.
»So etwas Ähnliches wie Darknet. Die App ist jedenfalls illegal, aber das hindert ja niemanden daran, sie sich zu installieren.«
»Und was kann man dagegen tun?«, fragte Thomas.
»Es gibt ein Gegengift.«
Sie gingen zurück in ihr Büro. Patrick stöpselte diesmal sein Smartphone an den Rechner an und installierte ein Programm. Dann schaltete Thomas auf seinem Handy die Abhör-App erneut ein. Sie sahen gebannt auf Patricks Telefon, das ausgeschaltet vor ihnen lag.
»Jetzt müsste sich mein Handy ja eigentlich einschalten«, kommentierte Patrick.
»Sehen kann man jedenfalls nichts«, stellte Thomas fest.
Es dauerte ein paar Sekunden. Plötzlich erhellte sich das Display und ein Warnton schrillte durch den Raum.
»Volle Lautstärke«, sagte Thomas.
»Das hat die Gegen-App eingestellt. Du weißt jetzt, dass sich jemand aufschalten wollte, Betonung liegt auf wollte. Die Gegen-App kann aber noch mehr.« Patrick deutete auf das Display, auf dem Thomas’ Handynummer erschien. »Sie zeigt auch den vermeintlichen Feind gleich mit an.«
Thomas nickte. »Erst haben alle die Abhör-App, dann verbreitet sich die Gegen-App und der Vorteil ist dahin.«
»Aber dann gibt es irgendwann eine verbesserte Abhör-App«, skizzierte Patrick, »die natürlich eine verbesserte Gegen-App nach sich zieht, und so geht das immer weiter.«
»Muss ich die Abhör-App jetzt löschen?«, fragte Thomas.
»Selbstverständlich«, antwortete Patrick grinsend und stöpselte Thomas’ Handy erneut an den Computer an. »Jetzt gibt es aber erst einmal die Gegen-App, die ist höchst legal. Was du dann mit der Abhör-App machst, ist wahrscheinlich nicht legal, mir aber völlig egal, so lange du die Klappe hältst.«
»Das kann ich am besten.«
In diesem Moment klingelte Thomas’ Handy. Es war nicht die schrille Warnung der Gegen-App, sondern die Glocken und die ersten Takte des Songs »Hells Bells« von AC/DC, Thomas’ Klingelton. Er sah aufs Display und hob den Finger.
»Das ist mein Kontakt beim Personenerkennungsdienst.«
Thomas setzte sich an seinen Schreibtisch, Patrick zog sich einen Stuhl heran. Dann nahm Thomas das Gespräch an.
»Hallo Lars, ich stelle dich mal auf laut, der Kollege Arnold soll mithören.«
»Tag zusammen«, meldete sich Lars Meier. »Sitzt ihr am Rechner, ich schicke euch gerade eine Mail.«
Thomas berührte die Computermaus, der Bildschirm erwachte und zeigte wenige Sekunden später einen Maileingang an.
»Ja, ist angekommen«, bestätigte er.
»Also das ist nur die Zusammenfassung zum Nachlesen, aber du kannst das Dokument mal öffnen, während ich euch die Fakten über diesen Ken Börder mitteile.«
»Gut, habe es schon geöffnet. Du kannst loslegen.«
»Dann gleiche ich zuerst die persönlichen Daten ab. Geboren am 3. Mai 1979 in Würzburg, unverheiratet, keine lebenden Angehörigen ersten Grades, zuletzt wohnhaft in Berlin-Charlottenburg, in der Bunger Allee 17.«
»Stimmt, das ist unser Mann«, bestätigte Patrick.
»Ken Börder, genannt Kenny«, fuhr Lars fort. »Zwischen 1993 und 1996 einige polizeiliche Aktenvermerke, die allerdings wieder gelöscht wurden. Da hat es ein Jugendrichter gut gemeint.«
»Und woher weißt du das, wenn es wieder gelöscht wurde?«, fragte Thomas.
»Löschen ist nicht gleich löschen. Natürlich dürfen solche gelöschten Aktenvermerke in einem Gerichtsverfahren nicht verwendet werden, bleiben aber in unserer digitalen Welt erhalten. Für unseren Mann war das auch ganz gut so, also das mit dem Löschen. Nach einer Ausbildung zum Speditionshelfer hat er sich ja in den Jahren 1997 bis 2001 bei der Bundeswehr verpflichtet. Nach seinem Ausscheiden hat er aber anscheinend seinen Halt verloren und alte Muster kamen wieder durch. Jedenfalls ist Ken Börder seit 2003 endgültig vorbestraft, ohne dass noch einmal ein Richter eingegriffen hat. Danach gab es bis zum Jahr 2014 mehrere Anzeigen und Verurteilungen.«
»Was waren das für Delikte?«, fragte Thomas.
»Ich habe da eine ganze Liste unterschiedlicher Straftaten. Anfangs waren es vor allem Drogen. Schmuggel von Holland nach Deutschland hier ging es vor allem um Cannabis, in einigen Fällen aber auch um Kokain. Hieraus resultierten auch mehrere Anzeigen wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz.«
»War Ken Börder selbst drogenabhängig?«, fragte Patrick. »Oder hatte er Alkoholprobleme?«
»Aus den Unterlagen geht nicht hervor, ob Ken Börder die geschmuggelten Drogen selbst konsumiert hat. Die Anzeigen gegen ihn beziehen sich eher auf den illegalen Verkauf. Vielleicht könnte bei den anderen Delikten Alkohol eine Rolle gespielt haben.«
»Wir hören!«, sagte Thomas.
»Ken Börder war in Berlin auch als Türsteher und Schuldeneintreiber bekannt. Er war mehrmals in Schlägereien verwickelt. Es gab Anzeigen wegen zum Teil schwerer Körperverletzung. Da hat Alkohol sicher eine Rolle gespielt, weil Ken Börder nämlich niemals zu einer Gefängnis-, sondern immer nur zu Geldstrafen verurteilt wurde. Das hat sich erst im Jahre 2009 geändert, da hat unser Mann nämlich ein mittelschweres Ding gedreht.«
»Was heißt mittelschwer?«, fragte Patrick.
»Einbruchsversuch, allerdings wurde die Tat als schwerer Einbruch gewertet, weswegen es auch zu einer Haftstrafe gekommen ist.«
»Wo hat er eingesessen?«, fragte Thomas.
»In der JVA Tegel, hat Glück gehabt, Gefangene ohne familiäre Bindungen nach Berlin werden ja oft in anderen Bundesländern inhaftiert. Nach der Haftentlassung hat sich Ken Börder aber nicht gebessert. Sein Name tauchte immer wieder im Zusammenhang mit Straftaten auf. Wieder im Spiel Körperverletzung und Drogen. Es kam aber erst 2012 erneut zu einer Verurteilung mit anschließender sechsmonatiger Haft. Ken Börder hat diese zweite Haftstrafe ebenfalls in Tegel abgesessen. Diesmal ging es um Hehlerei von Diebesgut aus Wohnungseinbrüchen. Ihm konnte zwar eine Tatbeteiligung nicht nachgewiesen werden, aber dem Richter reichte wohl die Tatsache, dass Ken Börder schon länger im Geschäft und vor allem durchweg auffällig war. Das Urteil des Richters wurde bestätigt, weil Ken Börders Name auch 2013 und 2014 nicht aus den Akten verschwand, wobei der Mann erneut Glück gehabt hat, weil es zu keiner Anklage gekommen ist. Nach 2014 ist dann allerdings die kriminelle Energie verloschen.«
»Wie Ken Börder selbst auch«, stellte Patrick fest.
»So könnte man es sagen«, bestätige Lars.
»Was ist über Komplizen von Ken Börder bekannt, oder war er Einzeltäter?«, fragte Thomas.
»Ganz und gar nicht«, sagte Lars. »Es gibt eine ganze Liste von Komplizen.«
»Hast du Namen?«
»Selbstverständlich! Söhnke Robrak, 43 Jahre alt, Thomas Abichner, 39 Jahre alt, Winfried Stollenbach, 57 Jahre alt, Ingo Bayer, 26 Jahre alt und Rainer Eckermann, 36 Jahre alt.«
»Und, sind das nur Namen oder hast du auch Hintergründe?«, fragte Thomas.
»Ein paar Hintergründe, aber nichts Detailliertes«, erklärte Lars. »Dazu müsstet ihr mir mehr Zeit geben.«
»Gut, lass trotzdem hören was du über die anderen Jungs weißt.«
»Kein Problem. Söhnke Robrak ist zwischen 2003 und 2009 mehrfach zusammen mit Ken Börder polizeilich aufgefallen. Er wurde mit unserem Kenny für den versuchten schweren Einbruch verurteilt. Ihm wurde allerdings eine zwölfmonatige Haftstrafe aufgebrummt, weil er eindeutig der Haupttäter war. Der Mann ist allerdings nach 2009, nach Verbüßen der Haftstrafe nicht mehr aktenkundig geworden.«
»Was macht dieser Robrak heute?«, fragte Patrick.
»Keine Ahnung«, musste Lars einräumen. »Ich habe nur die polizeilichen Unterlagen gesichtet und da herrschte bei Söhnke Robrak nach 2009 Funkstille.«
»2009«, wiederholte Thomas. »Dann scheidet der Mann für unseren aktuellen Fall wohl eher aus. Wer kommt dann?«
»Thomas Abichner«, fuhr Lars fort. »Abichner verbüßt derzeit eine achtzehnmonatige Haftstrafe wegen Einbruchs in eine Apotheke. Er wird allerdings bereits nächsten Monat entlassen.«
»Und hat die letzten siebzehn Monate im Gefängnis gesessen?«, fragte Patrick.
»Richtig, und zwar in der JVA Cottbus-Dissenchen«, bestätigte Lars und zögerte kurz. »Der nächste ist Winfried Stollenbach, der allerdings im Jahre 2011 an einem Herzinfarkt verstorben ist.«
»Einer ist nicht mehr kriminell, einer hat zum voraussichtlichen Todeszeitpunkt von Ken Börder im Gefängnis gesessen und der Dritte weilt schon seit Jahren selbst nicht mehr unter den Lebenden.«
»Aber wir haben ja noch zwei Leutchen«, sagte Lars. »Ingo Bayer wurde bei zwei Delikten aus den Jahren 2014 zusammen mit Ken Börder verhaftet, man konnte ihm aber keine Tatbeteiligung nachweisen. Er kam wieder auf freien Fuß. Der letzte Name ist da schon interessanter. Rainer Eckermann. Er war besonders dicht an Ken Börder dran. Es ging um eine Kneipenschlägerei im Oktober 2014. Hier ist auch noch einmal Ingo Bayers Name gefallen ...«
»Moment, Oktober 2014«, sagte Patrick. »Dann hat Ken Börder im Oktober letzten Jahres noch gelebt.«
»Gut, neun Monate sind zwar kein ganzes Jahr«, stellte Thomas fest, »aber dann hat Dr. Pohlmann den Todeszeitpunkt doch schon recht gut eingegrenzt.«
»Es war der 3. Oktober 2014, Tag der deutschen Einheit, ein Freitag«, bestätigte Lars. »Rainer Eckermann wurde an diesem Abend beschuldigt, die Theke und das Mobiliar der Kneipe beschädigt zu haben. Der Name der Kneipe lautet Zum Kalows und taucht in den Akten häufiger auf. Angeblich hat dieses Etablissement einmal Ken Börder gehört.«
»Zum Kalows? Wo liegt das?«, fragte Thomas.
»In der Gert-Kalow-Straße in Charlottenburg. Das ist ganz in der Nähe der Bunger Allee.«
»Rainer Eckermann«, wiederholte Patrick. »Das könnte ein Treffer sein.«
»Oder Ingo Bayer.« Thomas kritzelte nachdenklich auf seinem Block.
Patrick schüttelte den Kopf. »Eckermann und Börder sind im gleichen Alter, können also Kumpels gewesen sein. Wie alt ist dieser Ingo Bayer?«
»Sechsundzwanzig«, antwortete Lars sofort.
»Also zehn Jahre jünger als die anderen beiden. Rainer Eckermann, ich tippe auf Rainer Eckermann.«
»Soll ich weitere Informationen zu dem Mann recherchieren?«, fragte Lars.
»Das ist noch nicht notwendig«, sagte Patrick. »Wir müssen die Fakten zunächst mit unserem Chef durchsprechen.«
»Kein Problem. Dann meldet ihr euch wieder?«
»Ja, machen wir. Lars, danke erst einmal«, rief Thomas ins Telefon.
»Danke!«, schloss sich Patrick an.
Thomas legte auf. Patrick hatte gleich sein eigenes Telefon zur Hand und wählte.
*
Thomas las noch einmal Lars Meiers Bericht. Er konnte sich allerdings nicht auf den Inhalt konzentrieren. Patrick Arnold hatte am Telefon das Wir betont, aber KHK Werner Tremmel ließ nicht davon ab. Es gab in diesen Minuten eine Besprechung, an der Thomas nicht teilnehmen sollte. Ein Zeichen oder nur Ressourcenschonung. Thomas verstand es mehr als Zeichen. Er war der ungeliebte Sohn. Es war nicht das erste Mal, dass Werner Tremmel Thomas bei einer Ermittlungsarbeit ausgegrenzt hatte. Handlangertätigkeiten waren in Ordnung. Thomas durfte Patrick zuarbeiten, den Dreck aufräumen. An Patrick lag es nicht, aber Patrick wollte offensichtlich auch nichts riskieren, wollte Werner Tremmel nicht verärgern. Dieser sture tremmelsche Charakter. Jürgen Kowalski war da anders, und Thomas wusste auch noch, dass sich Kowalski und Tremmel nicht riechen konnten. Thomas war nicht Kowalski, aber da machte Werner Tremmel anscheinend keinen Unterschied. Es gab Gerüchte, dass Werner Tremmel Thomas’ Versetzung zunächst abgelehnt hatte. Tremmel wollte keinen von Kowalskis Leuten, auch wenn Arbeit genug da war.
Thomas atmete tief durch, als plötzlich die Bürotür aufflog. Patrick stürmte in den Raum, griff sich Jacke und war schon fast wieder zur Tür hinaus. Er stoppte.
»Ich habe ihm gesagt, dass du die Infos rangeholt hast.«
»Und?«
Patrick zuckte mit den Schultern. »Du kannst jetzt wenigstens in Ruhe Mittag machen. Wir fahren in die Bunger Allee. Der Alte will sich ein Bild machen, Zeugen finden und verhören.«
»Na dann viel Erfolg.«
Patrick nickte, zögerte noch kurz, verließ dann aber das Büro. Er schloss die Tür leise hinter sich. Die ersten Schritte ging er noch langsam den Flur entlang, dann begann er zu laufen, die Treppe hinunter und nach hinten hinaus auf Parkplatz des Präsidiums. Werner Tremmel stand mit dem Dienstwagen bereits an der Torausfahrt. Patrick öffnete die Beifahrertür und ließ sich in den Sitz fallen. Werner Tremmel gab sofort Gas. Die Fahrt nach Charlottenburg in die Bunger Allee 17 dauerte nur zwanzig Minuten. Werner Tremmel parkte auf dem Gelände einer Tankstelle gegenüber dem Appartementgebäude. Sie gingen über die belebte Straße und standen vor den Klingelschildern.
»Wie viele sind das?«, fragte Werner Tremmel. »Hundert, zweihundert?«
Patrick zuckte mit den Schultern, beugte sich vor und versuchte die Namen auf den Klingelschildern zu entziffern. Werner Tremmel überlegte nicht lange und drückte einen Knopf in der obersten Reihe.
»Der Hausmeister heißt Böhmer oder so, ist ein bisschen schlecht zu lesen.« Werner Tremmel drückte die Klingel gleich ein zweites Mal.
Der Hausmeister hieß Werner Blöhmer, hatte aber ansonsten nichts mit Werner Tremmel gemein. Er war zehn Zentimeter kleiner und bestimmt zwanzig Kilogramm schwerer, dafür aber etwa im selben Alter.
»Börder, natürlich habe ich den gekannt«, begann Werner Blöhmer. »Ich kenne nicht alle Kameraden hier, aber der Börder war so ein Typ, mit dem es immer wieder mal Ärger gab.« Werner Blöhmer zögerte. »Das darf man wohl nicht sagen, wenn einer tot ist, oder.«
»Sie brauchen sich vor uns nicht zurückzunehmen«, sagte Werner Tremmel. »Was heißt Ärger? Warum hat Herr Börder Ärger gemacht?«
Werner Blöhmer zuckte mit den Schultern. »Der Börder hat sich oft mit den anderen Mietern aus dem Haus angelegt. Es gab Beschwerden wegen Lärmbelästigung oder wenn der Börder mal wieder das Treppenhaus zugemüllt hat. Natürlich war Börder nicht der einzige, der aufgefallen ist, aber er hatte so eine Art, konnte sich nicht anpassen.«
»Was ist das hier für eine Gemeinschaft?«
»Gemeinschaft, tolle Umschreibung. Eine Gemeinschaft ist das hier bestimmt nicht. Wir haben im Haus keine Familien, da bleibt das soziale auf der Strecke. Ich habe schon in Häusern gearbeitet, da gab es Familien, da gab es zwar auch mal Streit, aber die Leutchen haben sich besser wieder vertragen. Hier wohnen ja fast nur Männer. Sozialwohnungen. Hier zahlt niemand die Miete selbst. Dafür sind die Wohnungen auch sehr klein, fünfunddreißig Quadratmeter, Küchenecke, separate Nasszelle. Vor zehn Jahren war das hier ein Studentenwohnheim.«
»Wie viele Mieter haben Sie?« Werner Tremmel sah kurz zu Patrick, der aber längst Stift und Block zur Hand hatte und eifrig notierte.
Werner Blöhmer folgte Tremmels Blick, sah dann aber wieder den Kriminalhauptkommissar an. »Zweihundertzehn Einheiten, alles belegt.«
»Nur die Wohnung von Herrn Börder steht leer?«, fragte Werner Tremmel.
»Nein, das gibt es bei uns nicht. Wenn ein Mieter raus ist, haben wir bestimmt zehn Neue, die längst Schlange stehen.«
»Das verstehe ich nicht. Warum haben Sie Herrn Börders Wohnung neuvermietet. Hat er zuletzt nicht mehr hier gewohnt?«
»Doch schon, aber dann soll er ja ins Ausland gegangen sein. Ich dachte erst, der macht Urlaub, aber nach fünf Wochen kam das Schreiben der Sozialbehörde. Die Wohnung wurde gekündigt.«
»Gekündigt?«, wiederholte Werner Tremmel. »Wer hat die Wohnung von Herrn Börder gekündigt, wissen Sie das, hat Ihnen das die Behörde mitgeteilt?«
»Nein, so etwas erfährt man von dort nicht, aber ich habe es anders herausgefunden. Hier gibt es ja den Treppenhausfunk.«
»Und, haben Sie einen Namen?«
»Und ob!«
»Dann schießen Sie mal los«, forderte Werner Tremmel.
»Das ist aber eine längere Geschichte.«
»Kein Problem.«
»Also, ich will da niemanden beschuldigen«, druckste Werner Blöhmer herum.
»Sie können frei heraus reden. Die Beschuldigungen übernehmen wir, wenn wir es für angemessen halten.«
»Das werden Sie, das werden Sie.« Werner Blöhmer atmete durch. »Der Typ heißt Rainer Eckermann. Börder hatte zwar noch zwei, drei andere Kumpels, aber dieser Eckermann war am häufigsten da. Den habe ich ständig zusammen mit Börder im Treppenhaus getroffen. Die haben nachts gefeiert, hatten laute Musik an, haben sich gestritten. Die meisten hier im Haus stört das ja nicht, dennoch hat sich immer jemand über Börder und seinen Kumpel Eckermann beschwert.«
»Sie sprechen von Streitereien?«, fragte Werner Tremmel. »Was meinen Sie genau damit?«
»Da gab es mehrere Vorfälle, aber an einen erinnere ich mich besonders gut.« Werner Blöhmer überlegte. »Das war im Februar, ja im Februar. Ich erinnere mich daran, weil ich an diesem Abend noch zum Schneeschippen raus musste. Ich war gerade so richtig am Schwitzen, da fliegt die Haustür auf. Börder stürzt heraus. Der war natürlich besoffen. Gleich hinterher ist ihm Eckermann auf den Fersen. Dann sind die Fäuste geflogen. Ich wollte natürlich dazwischen, als Börder am Boden lag, und da ist Eckermann auch auf mich losgegangen. Zum Glück hatte ich die Schippe, aber er hat mich beschimpft und bedroht, ja, bedroht hat der mich. Leider gab es keine Zeugen, außer Börder selbst. Der hatte sich inzwischen aber wieder aufgerappelt und bei Eckermann auf Kumpel gemacht. Die wollten plötzlich beide auf mich los, das können Sie mir glauben. Zum Glück mussten die sich gegenseitig stützen, so betrunken waren die. Die sind dann wieder rein ins Haus und dort verschwunden. Eine Stunde später habe ich sie aber noch weggehen sehen, da war von Streit nicht mehr viel zu merken. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Kennen Sie das?«
»Schon mal gehört.« Werner Tremmel überlegte. »Und das war in diesem Februar?«
Werner Blöhmer nickte.
»Wir hatten doch letztes Jahr im Oktober einmal diesen heftigen Schneefall«, wandte Patrick ein. »Da gab es in und um Berlin ein Wahnsinns Verkehrschaos.«
Werner Blöhmer zögerte, schüttelte dann langsam den Kopf. »Nee, nee, das mit Börder und Eckermann war im Februar oder sollte ich mich so irren? Jedenfalls habe ich danach nicht mehr viel von Börder gesehen, bis mir dann vier oder fünf Wochen später die Wohnungskündigung mitgeteilt wurde. In der Woche habe ich auch diesen Eckermann wiedergesehen. Der hat nämlich die Wohnung aufgelöst. Es gab noch Ärger wegen des Wohnungsschlüssels. Den soll Börder nämlich angeblich per Post geschickt haben, ist aber nie angekommen. Obwohl der Zweitschlüssel in der Wohnung lag, gab das eine ordentliche Rechnung, weil der Schlüssel auch für die Haustür hier unten passt. Das ging alles von der Kaution ab und die durfte natürlich die Sozialbehörde zahlen, nehme ich an.«
»Dieser Eckermann, Rainer Eckermann, hat also die Wohnung von Herrn Börder ausgeräumt?«, fragte Werner Tremmel. »Wann war das?«
»Am 30. April, die Wohnung war zum Ende des Monats gekündigt.«
»Und wer hat Ihnen das mit dem Wohnungsschlüssel erzählt?«, fragte Patrick Arnold. »Also, dass Herr Börder den per Post geschickt hat und dass er verloren ging?«
»Das hat Eckermann mir erzählt, weil ich ihm doch die Wohnung aufschließen musste. Das sah da vielleicht aus. Ich wusste ja, dass die da zuletzt gezecht hatten. Da war sogar noch dreckiges Geschirr. Dann hat mich Eckermann herausgedrängt und ich habe ihn machen lassen. Die hatten unten an der Straße einen kleinen LKW stehen, da kamen die Möbel und der Müll rein. Ich habe mir das natürlich angesehen und war hinterher auch in der leeren Wohnung. Die hatten natürlich nichts gemacht, nicht gestrichen und der Teppich war auch hin. Das habe ich selbstverständlich gemeldet. Da haben wir komplett renovieren müssen und der Kammerjäger war auch drin. Das wird dann wohl auch von der Kaution abgegangen sein.«
»Steht die ehemalige Wohnung von Herrn Börder noch leer?«
Werner Blöhmer schüttelte den Kopf. »Ich sagte doch, die Leute stehen Schlange. Da war die Farbe noch nicht trocken, da haben die mir schon einen Nachmieter geschickt. Mit dem gab es zum Glück bisher keine Probleme.«
Patrick notierte eifrig. Werner Tremmel nickte. »Sie sagen, Rainer Eckermann war bei der Wohnungsauflösung nicht alleine. Kannten Sie die anderen Männer, es waren doch Männer?«
»Ja, auch so Typen wie der Eckermann, aber die kannte ich nicht, habe sie nie vorher gesehen.«
»Hat Ihnen Herr Eckermann auch erzählt, warum Ken Börder seine Wohnung nicht selbst auflöst?«
Werner Blöhmer verzog das Gesicht. »Ja, das hat er wohl, aber nicht mir persönlich. Ich habe das erst ein paar Tage später erfahren, von ein paar Leuten aus dem Haus hier, mit denen Eckermann gesprochen hat. Börder musste sich angeblich ins Ausland absetzen, aber so weit ist er wohl nicht gekommen.«
»Was meinen Sie damit, dass Herr Börder nicht so weit gekommen ist?«, fragte Werner Tremmel.
»Naja, Sie haben doch gesagt, dass man ihn tot im Wald gefunden hat.«
»Stimmt, das haben wir gesagt.« Werner Tremmel nickte.
*
Hausmeister Blöhmer sah den beiden Kriminalern nach. Patrick Arnold und Werner Tremmel gingen zu ihrem Dienstwagen. Tremmel setzte sich ans Steuer. Sie fuhren in die nächste Seitenstraße und parkten dort sofort wieder, direkt neben einem riesigen Rhododendron, der jetzt Ende Juli in einem tiefen Violette blühte.
Werner Tremmel stellte den Motor ab. »Rainer Eckermann, der stand doch auch auf deiner Liste.«
Patrick nickte. »Der Kollege Leidtner hat das Umfeld unseres Opfers abklopfen lassen. In dem Bericht wurden dieser Rainer Eckermann und ein paar andere genannt. Eckermann haben wir gleich ganz oben auf die Liste gesetzt.«
»Treffer!«, sagte Werner Tremmel und lächelte. »Gute Arbeit, Patrick. Dann haben wir also unseren Tatverdächtigen. Passt doch alles zusammen. Der Streit im Februar, das fast zeitgleiche Verschwinden von Ken Börder, Rainer Eckermanns Rolle bei der Wohnungsauflösung, die Lüge, als er behauptet, dass Ken Börder sich ins Ausland abgesetzt hat. Da kommt einiges zusammen.«
»Soll ich Thomas anrufen, der hat bestimmt schon die Adresse und alles recherchiert?«
Werner Tremmel schüttelte den Kopf. »Das kannst du doch selbst ganz fix herausfinden. Ich will in diesem Fall ohne Umwege Nägel mit Köpfen machen.«
»Und das heißt?«, fragte Patrick.
»Der Chef soll beim Staatsanwalt einen Haftbefehl beantragen. Das muss jetzt schnell gehen. Du kannst dich inzwischen um die Daten von Rainer Eckermann kümmern.«
Werner Tremmel zückte sein Handy, öffnete die Fahrertür und verließ den Wagen. Er stellte sich hinter den Rhododendron und begann sein Telefonat. Patrick zögerte, dann rief er Thomas im Präsidium in der Keithstraße an und berichtete ihm von dem Gespräch mit Hausmeister Blöhmer.
»Fazit, es gibt eine Spur zu einer der Personen aus Ken Börders Umfeld«, sagte Patrick schließlich.
»Rainer Eckermann«, wiederholte Thomas. »Ich war nicht ganz untätig, obwohl Tremmel mich ja verhungern lässt ...«
»Komm, schieb das doch beiseite«, versuchte Patrick Thomas zu beschwichtigen. »Das wird sich irgendwann noch wieder ändern. Werner braucht immer etwas länger, um mit einem neuen Kollegen warm zu werden.«
»Ich will gar nicht mit ihm warm werden, ich will meine Arbeit machen.« Thomas holte Luft. »Ich habe jedenfalls weiter recherchiert. Was brauchst du?«
»Wo finden wir diesen Rainer Eckermann, oder hast du schon Kontakt aufgenommen?«