Blutsfreunde - Gerdi M. Büttner - E-Book

Blutsfreunde E-Book

Gerdi M. Büttner

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Beschreibung

Schottland, anno 1768 . . . Der junge Daniel Kenneth flieht nach einem Streit mit seinem Stiefvater von Burg Kenmore. Auf der Flucht hat er seltsame Träume von einem alten Zirkuswagen, in dem ein Mann gefangen gehalten wird. Kurz darauf entdeckt er genau diesen Wagen und befreit den Mann. Der heisst Nicolas Krolov und ist ein Vampir. Nicolas möchte Daniel als seinen Freund gewinnen. Der willigt ein und zwischen den beiden Männern entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Sie reisen viel und erleben dabei phantastische Abenteuer. Nach einiger Zeit entschließt sich Daniel sein Erbe, Burg Kenmore, einzufordern. Doch sein Stiefvater ist nicht bereit, auf den Besitz zu verzichten und schreckt auch vor Mord nicht zurück. Nur noch Nicolas kann Daniel vor dem sicheren Tod bewahren. Interessantes über mich, Leseproben aller Romane auf meiner Homepage https://www.gerdi-m-buettner.de Besonders interessant sind die Nachrichten unter News.

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Seitenzahl: 478

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Inhaltsverzeichnis

Blutsfreunde

Kapitel 1: Heimkehr

Kapitel 2: Burg Kenmore

Kapitel 3: Auf der Flucht

Kapitel 4: Unterwegs

Kapitel 5: Fahrendes Volk

Kapitel 6: Alpträume

Kapitel 7: Der Fremde

Kapitel 8: Nicolas

Kapitel 9: Gespräch mit dem Vampir

Kapitel 10: Ein neues Zuhause

Kapitel 11: Lehr- und Wanderjahre

Kapitel 12: Besuch auf der Burg

Kapitel 13: In tödlicher Gefahr

Kapitel 14: Nicolas` Geschichte

Kapitel 15: Unterwegs in Frankreich

Kapitel 16: Verwirrte Gefühle

Kapitel 17: Böses Blut

Kapitel 18: Gespräch mit Henry

Kapitel 19: Nicolas` Rückkehr

Kapitel 20: Heimkehr nach Schottland

Kapitel 21: Camerons Plan

Kapitel 22: Überlebenshilfe

Kapitel 23: Marija

Kapitel 24: Familienbande

Kapitel 25: Die Entscheidung

Kapitel 26: Blutgier

Kapitel 27: Schicksalhafte Begegnung

Kapitel 28: Eine Familie für Alex

Kapitel 29: Die Entführung

Kapitel 30: In Gefangenschaft

Kapitel 31: Retter in der Not

Epilog

Impressum

Blutsfreunde

 Teil 1 der Vampirsaga

Kapitel 1: Heimkehr

Der versteckte Mechanismus ließ die Verriegelung des stabilen Holztores mit einem satten Klicken aufspringen. Verlassen lag der Innenhof im bleichen Licht des Herbstmondes. Der Wind fegte verdorrtes Laub über die Steinplatten, aus deren Ritzen das Unkraut wucherte. Große Laubhaufen hatten sich in den Ecken angesammelt. Von dem ehemaligen Obst und Gemüsegarten zeugten nur noch ein paar Apfelbäume, deren Äste dringend beschnitten werden mussten. Alles machte einen verwilderten und vernachlässigten Eindruck.

Die Gebäude jedoch befanden sich in einem guten Zustand, sie zeigten keinerlei Anzeichen von Verfall. Sämtliche Fenster waren durch stabile Holzläden gesichert, und die Haustür war mit davor genagelten groben Balken vor unliebsamen Besuchern geschützt. Auch den Stallungen, die sich gegenüber dem Haupthaus befanden, schien die lange Zeit des Verlassenseins nicht geschadet zu haben.

Daniel Kenneth musterte das Anwesen mit kurzem intensivem Blick und trat dann endgültig durch das Tor. Sein Pferd folgte ihm unaufgefordert, ebenso wie der große fahlgelbe Hund, dessen tiefschwarze Maske ihm ein bedrohliches Aussehen verlieh. Zielstrebig bewegten sie sich auf die Stallungen zu. Kurze Zeit später stand der Rappe abgesattelt und zufrieden kauend vor der Futterkrippe. Sein Herr klopfte ihm zum Abschied den muskulösen Hals, verließ den Stall und wandte sich dem Haupthaus zu. Der Hund folgte ihm auf dem Fuße.

Zwei kräftige Rucke, und die schweren Balken landeten polternd im Hof, wo sie eine kleine Staubwolke hochwirbelten. Einem zufälligen Beobachter wären sicher die übermenschlichen Kräfte aufgefallen, über die der hochgewachsene, dunkelhaarige Mann zu verfügen schien. Er bewältigte den Kraftakt ohne sichtliche Anstrengung. Langsam trat er durch die Tür, die er mit einem großen Schlüssel geöffnet hatte, den er jetzt zurück in seinen weiten Umhang steckte. Auf dem geräumigen Vorplatz blieb er stehen und schaute sich um. Die Luft war hier schal und abgestanden, und es herrschte eine undurchdringliche Finsternis. Dessen ungeachtet durchquerte der Mann sicheren Schrittes den Raum und betrat das angrenzende Zimmer, wo er das große Fenster öffnete. Kühle Nachtluft wehte herein und vertrieb den muffigen Geruch. Der Schrei eines Käuzchens drang ins Zimmer.

Endlich wieder zu Hause. Daniel Kenneth musterte die Einrichtung mit prüfendem Blick. Alles sah noch genauso aus wie damals, als er die Burg verlassen hatte. Zwar waren die Teppiche, Wandbehänge und die Polster der Sessel und Stühle von Motten zerfressen und bedurften der Erneuerung, doch das edle Holz der kostbaren Möbel war unversehrt. Auf der gesamten Einrichtung lag eine zentimeterdicke Staubschicht.

Er riss sich von dem lange entbehrten Anblick los und verließ das große Kaminzimmer um die anderen Räume der unteren Etage zu begutachten. Alles war so weit in Ordnung, stellte er fest. Das eine oder andere Teil des Mobiliars würde ausgetauscht oder repariert werden müssen, aber größere Schäden konnte er nicht ausmachen.

Nachdem er im unteren Teil des Hauses alles soweit in Ordnung fand, begab er sich in die oberen Räume, um auch hier nach dem Rechten zu sehen. Auch hier öffnete er alle Fenster. Obwohl die Herbstluft äußerst kühl hereindrang und er nur ein dünnes Leinenhemd zu seiner Reithose trug, machte ihm die Kälte nichts aus. Und dass es im ganzen Hause stockfinster war, störte ihn ebenso wenig. Er bewegte sich durch die Räume, als wäre es heller Tag, stolperte nicht und warf auch keines der Möbelstücke um, die überall herumstanden.

Am Ende seiner Besichtigungstour stieg der Herr von Burg Kenmore die Stufen des alten trutzigen Turmes hinauf, um in das riesige Turmzimmer zu gelangen. Er blickte durch die Fenster, die dringend geputzt werden mussten, in die sternklare Nacht. Von hier oben konnte man das gesamte Tal überblicken, das einen großen Teil seiner Ländereien ausmachte.

Das Turmzimmer war, solange er denken konnte, sein Zimmer gewesen, und jetzt begutachtete er es mit gemischten Gefühlen.

Auch hier hatte sich natürlich während seiner langen Abwesenheit nichts verändert. Dennoch ruhte Daniels Blick lange Zeit auf jedem Gegenstand, so als sähe er all das zum ersten Mal.

Nach kurzer Zeit knisterte ein Feuer im Kamin. Die Holzscheite waren durch die jahrelange Lagerung trocken und brannten wie Zunder. Der Hund, der ihm während des Rundganges nicht von der Seite gewichen war, lag ausgestreckt auf dem uralten Bärenfell und schnarchte leise. Ab und zu zuckten seine Beine im Schlaf, oder er zog die Lefzen hoch, als wolle er einen unsichtbaren Feind bedrohen.

Daniel saß in dem gemütlichen Ledersessel vor dem Kamin und starrte gedankenverloren in die Flammen. Er hatte die alte Standuhr aufgezogen und die Zeit nach seiner Taschenuhr gestellt. Jetzt schlug die Uhr mit wohltönenden Schlägen, und sein Blick glitt unwillkürlich zu ihr hin. Ein Uhr.

Eigentlich ein guter Zeitpunkt, sein Leben einmal Revue passieren zu lassen, fand er und lehnte sich gemütlich im Sessel zurück. Er schloss die Augen, und seine Gedanken glitten zurück in die Vergangenheit.

Kapitel 2: Burg Kenmore

Seinen ersten Schrei tat Daniel in einer sehr kalten Winternacht, am 7. Dezember 1751 auf der Burg seines Vaters Alexander Kenneth. Dieser war ein englischer Kaufmann und als solcher viel in Schottland unterwegs. Als Sohn einer reichen und angesehenen Kaufmannsfamilie, seit Jahrhunderten in London ansässig, hatte Alexander sein Handwerk von der Pike auf gelernt. Nach einem Streit mit seinen Brüdern um das väterliche Erbe hatte er sich selbständig gemacht. Auf der Suche nach einem geeigneten Haus, in dem er sowohl wohnen als auch seinen Geschäften nachgehen konnte, reiste er durch das Land. Dann hörte er von dem bevorstehenden Verkauf der Burg Kenmore, die in einiger Entfernung des gleichnamigen Ortes am Loch Tay auf einem felsigen Hügel stand. Er beschloss kurzerhand, sich die Burg anzusehen.

Die McKenzies, denen die Burg gehörte, waren nach der verheerenden Schlacht um Cullodon, wie so viele andere Burgbesitzer, total verarmt. So war der alte McKenzie überglücklich dem jungen Kenneth nicht nur die Burg zu einem großzügig bemessenen Preis verkaufen zu können, sondern ihm auch noch seine einzige Tochter Anne zur Frau zu geben. Denn Alexander Kenneth und Anne McKenzie hatten sich auf den ersten Blick ineinander verliebt. Annes Vater konnte seinen Lebensabend nicht sehr lange genießen. Die schwere Verwundung, die er in der Schlacht erlitten hatte und von der er sich nie ganz erholte, forderte ihren Tribut. Bald nach der Hochzeit seiner Tochter konnte er das Bett nicht mehr verlassen. Als er starb, raubte das auch seiner Frau den Lebensmut. Sie mussten sie bald neben ihm auf dem Burgfriedhof begraben.

Unter Alexander Kenneths Führung und mit seinem Geld erblühte Burg Kenmore bald in neuem Glanze. Er ließ das alte Gemäuer von Grund auf modernisieren. Dazu gehörte auch, den Bach nahe der Burg umzuleiten. Nun floss er durch einen gemauerten Kanal in einer breiten Rinne durch den Burghof. Dort nährte er eine Zisterne, aus der jedermann mühelos Wasser entnehmen konnte. Das war für die Bediensteten eine große Erleichterung. Früher hatten sie das Wasser mühsam in Eimern in die Burg transportiert, um Menschen und Tiere mit dem kostbaren Nass zu versorgen.

Nun war es sogar möglich, einen Gemüsegarten anzulegen, den Anne mit viel Freude bearbeitete und der die Burgbewohner mit frischem Obst und Gemüse versorgte.

Lange Jahre sah es so aus, als würde die Ehe der Kenneths kinderlos bleiben. Anne grämte sich sehr darüber. Sie war eine hochgewachsene schlanke Frau mit lockigen, schwarzen Haaren, die ihr in Wellen über die Schultern fiel. Sie wirkte gesund und robust; umso unverständlicher war es, dass sie nicht schwanger wurde. Doch als sie schon alle Hoffnung auf ein Kind fahren gelassen hatten, geschah das Wunder. Daniels Geburt machte das Glück des Ehepaares perfekt.

Es war zwar unerhört, doch Alexander Kenneth bestand darauf, die Geburt seines Sohnes mitzuerleben. Auch die bösen Blicke der Hebamme konnten ihn nicht von der Seite seiner Frau vertreiben. Und als Daniels erster protestierender Schrei durch die Gänge der altehrwürdigen Burg hallte, weinte sein Vater vor Glück.

Daniel sollte das einzige Kind bleiben. Anne erlitt noch zwei Fehlgeburten und wurde danach nicht mehr schwanger. So war es nicht verwunderlich, dass der Junge von seinen Eltern und allen Bediensteten verhätschelt und verwöhnt wurde.

Alexander Kenneth befand sich oft monatelang auf Geschäftsreise. Bisher machte ihm die lange Abwesenheit von zu Hause nicht viel aus. Das änderte sich nun, da er ein Kind hatte.

Um so viel Zeit wie möglich mit seinem Sohn verbringen zu können, suchte er sich einen Partner, der ihm einen Teil seiner Reisen abnahm. Er fand ihn in Donald Cameron, einem schweigsamen und eigenbrötlerischen Mann. Er war Witwer und hatte zwei halbwüchsige Söhne, die von einem Kindermädchen betreut wurden. Der kleine Daniel fürchtete sich vor dem Mann und ging ihm möglichst aus dem Wege. Alexander hielt jedoch große Stücke auf Cameron und übertrug ihm bald einen Großteil seiner Geschäfte.

Alexander war vernarrt in seinen Sohn, er verbrachte jede freie Minute mit ihm und las ihm fast jeden Wunsch von den Augen ab. Doch so sehr er ihn auch verwöhnte, so achtete er doch ebenso streng darauf, dass der Junge gute Manieren lernte und sich auch den Bediensteten gegenüber stets respektvoll und freundlich verhielt. Als Daniel älter wurde, engagierte sein Vater einen Privatlehrer für ihn. Daniels Wissensdurst war unerschöpflich, er zeigte stets großes Interesse an allem, was ihm sein Lehrer beibrachte.

Mit den Jahren wuchs er zu einem prächtigen Jungen heran, der im Aussehen seiner Mutter glich. Er hatte ihre rabenschwarzen Haare und die dunklen langen Wimpern geerbt.

Von seinem Vater hatte er zweifellos die imposante Statur und die ausgeprägten Gesichtszüge mitbekommen. Für sein Alter war er sehr groß, er überragte Gleichaltrige fast um eine halbe Kopfeslänge. Noch war seine Figur schlaksig, und seine Bewegungen waren linkisch. Doch schon war ein athletischer Körperbau zu erahnen.

Eine seiner hervorstechendsten Eigenschaften war seine ausgeprägte Tierliebe. Deshalb bekam er zu seinem fünften Geburtstag ein eigenes Pony, auf dem er fortan Wald und Flur unsicher machte. Bald wimmelte es im Burghof und in den Ställen von allerlei Getier, das er krank oder verletzt aufgelesen hatte. Er pflegte die Tiere mit Hingabe, wenn auch meist mit wenig Erfolg. Die meisten gingen ein, was ihn stets Sturzbäche von Tränen vergießen ließ.

Diese Tierliebe brachte ihm jedoch noch anderen Verdruss ein. So, wenn der Herbst nahte und damit die Zeit der Schlachtungen kam. Daniel gewann alle Tiere, die das Jahr über in den Stallungen gemästet wurden, lieb, mit manchen verband ihn gar eine innige Freundschaft. Wenn sie geschlachtet wurden, belastete ihn das sehr, oft weinte er tagelang und weigerte sich später hartnäckig, ihr Fleisch zu essen.

Eines seiner Lieblingstiere war ein weißer Hase mit blutroten Augen. Er nannte ihn Brad und versorgte ihn ganz alleine. Natürlich durfte Brad nicht in den Kochtopf wandern. Alle Knechte wussten, wie sehr ihr junger Herr an ihm hing.

Nach einem langen Ausritt auf seinem Pony kehrte Daniel eines Abends auf die Burg zurück. Und sofort fiel sein erschreckter Blick auf das weiße Tier, das kopfunter neben zwei anderen toten Hasen an der Schuppentüre hing. Mit angstvollem Gefühl ging er darauf zu und fand seine Befürchtung bestätigt. Es war sein Hase, der da mit aufgeschlitzter Kehle zum Ausbluten hing. Doug, ein neuer Knecht, kam ahnungslos um die Ecke geschlurft. Eifrig sein Messer an einem Schleifstein wetzend, wollte er sich gerade daran machen, den Hasen die Bäuche aufzuschlitzen, um sie auszunehmen. Er war total überrascht, als Daniel wütend und weinend auf ihn zustürmte und mit seinen kleinen Fäusten auf ihn eindrosch. Es nutzte nichts, dass Doug versicherte, keine Ahnung vom Schlachtverbot gehabt zu haben. Daniel gebärdete sich untröstlich und verlangte schließlich den Körper seines Lieblingstieres heraus, um ihn zu beerdigen. Noch immer weinend hob er eine Grube aus, um den Hasen hineinzulegen. Lange kauerte er reglos davor und starrte erschüttert auf die halbgeschlossenen Augen des Tieres. Ein Grausen durchzog dabei seinen Körper, denn die ehemals roten Augen waren durch den Blutentzug gespenstisch weiß geworden.

In dieser Nacht plagten ihn schreckliche Alpträume. Er sah im Traum tote Menschen mit schrecklichen Wundmalen an den Hälsen. Und alle starrten ihn mit blicklosen weißen Pupillen vorwurfsvoll an. Schreiend wachte er auf und konnte nur mit einem Trank aus der Hausapotheke wieder beruhigt werden. Von da an wurde Daniel vorsorglich zu Verwandten seiner Mutter geschickt, sobald die Zeit der Schlachtungen nahte. Den schrecklichen Traum vergaß er jedoch nie.

Daniel war bei den Pächtern seines Vaters gut bekannt und auch wohlgelitten. Wann immer er Zeit hatte, besuchte er die weit verstreut liegenden Katen und kleinen Bauernhöfe, die unterhalb der Burg angesiedelt waren. Oft traf er sich mit den Pächterskindern zum gemeinsamen Spiel. Sie akzeptierten ihn gerne als einen der ihren, denn er spielte sich nie auf, protzte nicht mit seiner vornehmen Herkunft und war nur selten besser gekleidet als die anderen. Manchmal kam es zu kleinen Raufereien mit anderen Jungen. Und obwohl er größer war, ging er keinesfalls immer als Sieger daraus hervor. Des Öfteren kam er mit blutiger Nase oder blauen Flecken nach Hause.

Die Pächter seines Vaters führten ein eher karges Leben. Ackerbau war in den Highlands ein mühsamer Broterwerb, auf den steinigen Böden gediehen nur Gerste oder Hafer.

Als Haustiere wurden meist Ziegen und Schafe gehalten. Ab und zu hielt auch einer eine Milchkuh, und auf jedem Hof gab es Schweine, Hühner und Enten. In schlechten Jahren erließ Alexander Kenneth seinen Pächtern einen Teil der Pacht. Sie schätzten ihn für seine Großzügigkeit und waren ihm treu ergeben. Daniel nahm sich vor, später ein ebenso gutes Einvernehmen mit seinen Pächtern zu unterhalten.

Zu seinem fünfzehnten Geburtstag bekam Daniel von seinem Vater zwei junge Bullmastiffs geschenkt. Eine gestromte Hündin und einen gelben Rüden. Beide zierte je eine dunkle Maske, die über den Augen begann und sich bis zu den breiten, mit dicken Lefzen behangenen Schnauzen zog. Bei den Hunden handelte es sich um eine neue Züchtung aus England, und Daniel war sofort hellauf begeistert von den Tieren. Er nannte sie Sina und Bojan. Noch waren die Welpen verspielt und knuddelig, doch konnte man schon sehen, welch überaus kräftige und massige Tiere sie bald werden würden. Er gedachte, sie zu den Stammeltern einer Zucht zu machen. Die Tiere waren bald die Lieblinge aller Burgbewohner und durften sich ebenso in den Wohnräumen aufhalten wie in den Ställen oder im Burghof. Einer ihrer Lieblingsplätze war das Bärenfell vor dem Kamin. Doch noch lieber hielten sie sich im Turmzimmer ihres jungen Herrn auf. Daniel und seine Eltern führten ein harmonisches und zufriedenes Familienleben. Nie hätte er gedacht, dass sich das ändern könnte.

Der Bote traf mitten in der Nacht ein und überbrachte die schreckliche Nachricht. Stockend zuerst, dann flüssiger berichtete er, was sich zugetragen hatte:

Alexander Kenneth, der sich gemeinsam mit Donald Cameron auf der Rückreise von einer wochenlangen Geschäftsreise befand, war nur wenige Stunden von der Burg entfernt von Wegelagerern überfallen worden.

Die Kaufleute hatten gute Abschlüsse getätigt und konnten es kaum noch erwarten, endlich nach Hause zu kommen. Deshalb beschlossen sie, die Nacht durchzureiten, anstatt noch einmal Zwischenstation in einem Gasthaus zu machen. Die Gehilfen, die sie begleitet hatten, waren ausbezahlt und weggeschickt worden. Kenneth und Cameron ritten alleine die letzte Wegstrecke, jeder in seine eigenen Gedanken versunken.

Plötzlich drang eine Horde Strauchdiebe aus den Büschen und forderte Geld und Wertsachen. Natürlich waren sie beide nicht bereit, ihr sauer verdientes Geld so einfach herauszugeben. Verbissen wehrten sie sich, doch die Gegner waren in der Überzahl. Während Cameron nur einen Schlag auf den Kopf bekam, der ihn zu Boden streckte, traf Alexander Kenneth eine Kugel in die Brust. Er fiel aus dem Sattel und war tot, ehe sein Körper den Boden berührte. Einer der Mörder griff nach den Zügeln seines prachtvollen Rappen, doch das Pferd geriet in Panik.

Es riss sich los und stob in wilder Flucht davon.

Cameron - so erzählte er später - kam nach einer Weile zu sich und konnte nur noch den Tod seines Partners feststellen. Er legte den Leichnam auf den Rücken seines eigenen Pferdes und machte sich mit dem toten Partner auf den Weg zu seinem kleinen Gehöft. Von dort aus schickte er den Boten auf die Burg, um die schlechte Nachricht zu überbringen.

Es war eine traurige Prozession, die Alexander Kenneths Leichnam nach Hause überführte. Daniel hatte es sich nicht nehmen lassen mitzukommen. Auf dem Weg zu Camerons Hof betete er die ganze Zeit inbrünstig, sein Vater möge nur verwundet und nicht tot sein. Seine Gebete wurden jedoch nicht erhört, und als er den toten Körper blutbesudelt auf den kalten Steinfliesen liegen sah, brach er weinend darüber zusammen.

Cameron stand bleich und mit zusammengebissenen Zähnen in einer Ecke und starrte mit seltsamem Blick auf Daniel hinunter. Kein Wort des Trostes oder des Bedauerns kam über seine Lippen. An der Stirn hatte er eine bläulich verfärbte Beule und einen kleinen Riss.

Auf dem Nachhauseweg griffen sie den völlig verstörten Hengst auf. Das Pferd war anscheinend auf dem Weg in den heimatlichen Stall und froh, vertraute Menschen zu treffen. Daniel nahm ihn am Zügel und sprach beruhigend auf das nervöse Tier ein. Das beruhigte ihn auch selber etwas. In seinem Inneren hatte sich eine große Leere breitgemacht. Noch immer konnte er das Unfassbare nicht begreifen. Alles kam ihm wie ein böser Traum vor.

Die Beerdigung fand am nächsten Tag auf dem kleinen Burgfriedhof statt. Daniel und seine Mutter überstanden sie wie in Trance. Sie hatten bisher kaum miteinander geredet, jeder war in seinen eigenen traurigen Gedanken gefangen und unfähig, sich dem anderen mitzuteilen. Danach war nichts mehr so wie früher. Daniel widmete sich noch mehr seinen Tieren, bei ihnen fand er etwas Trost. Seine Mutter verbarg sich in ihrem Zimmer und kam oftmals nicht einmal zu den Mahlzeiten heraus. Erst nach ein paar Monaten kehrte eine gewisse Normalität in ihr Leben zurück. Zuerst zaghaft begannen sie, miteinander zu reden. Gemeinsam versuchten sie, den gewaltsamen Tod des geliebten Vaters und Ehemannes zu bewältigen. Es dauerte jedoch noch viele Wochen, bis ihre alte Vertrautheit wieder hergestellt war.

Dann drängte sich Donald Cameron in ihre neu gewonnene Gemeinsamkeit.

Cameron war des jahrelangen Witwenstandes überdrüssig, und er begann, zuerst zaghaft, dann intensiver, um Anne Kenneth zu werben. Und zu Daniels Leidwesen schien seine Mutter nicht abgeneigt, den Expartner ihres Mannes nach Ablauf des Trauerjahres zu heiraten.

So kam es, dass kaum ein Jahr nach Alexander Kenneths Tod Donald Cameron mit seinen Söhnen George und Ken auf der Burg Einzug hielt.

Kapitel 3: Auf der Flucht

Seit der Hochzeit seiner Mutter mit Donald Cameron fühlte sich Daniel nicht mehr so recht wohl auf Burg Kenmore. Das lag hauptsächlich an der Anwesenheit seines Stiefvaters und seiner beiden Stiefbrüder. Er konnte mit den Camerons einfach keine Gemeinsamkeiten entwickeln, und seine Mutter schalt ihn, es gar nicht ernsthaft versucht zu haben.

Damit hatte sie nicht einmal Unrecht. Seit er von ihren Heiratsabsichten erfahren hatte, ließ er nichts unversucht, sie umzustimmen.

Leider vergeblich. Sie war von Camerons lauteren Absichten überzeugt und war es bald überdrüssig, den ständigen Vorhaltungen ihres Sohnes zuzuhören. Deshalb kam es immer öfter zum Streit zwischen ihnen.

»Du hast dich nicht in mein Leben einzumischen«, warf sie ihm zum wiederholten Male vor. »Dein Vater hat Donald vertraut und ihm jahrelang seine Geschäfte anvertraut. Es wäre sicher auch in seinem Interesse, dass der Mann sich jetzt um uns kümmert«.

»Aber er will sich doch gar nicht um uns kümmern, seht Ihr das nicht, Mutter« widersprach Daniel heftig. »Er will sich die Burg aneignen, so wie er sich schon das Geschäft angeeignet hat.«

Er konnte es einfach nicht glauben wie blind sie dieser für ihn so offensichtlichen Tatsache gegenüberstand. Für ihn gab es keinen Zweifel, dass Cameron sich nur ins gemachte Nest setzen wollte. Doch seine Mutter wollte davon nichts hören. Ärgerlich sah sie ihren Sohn an, als der hitzig fortfuhr.

»Ihr solltet Euch mehr Bedenkzeit ausbitten. Vater ist kaum ein Jahr tot. Er hätte nicht gewollt, dass Ihr so schnell Ersatz für ihn sucht.«

Seine Mutter zeigte sich jedoch nicht geneigt, seine Vorwürfe anzuhören. Gereizt erwiderte sie:

»Dein Vater hätte sehr wohl Verständnis für unsere Lage gehabt. Er ist immer ein besonnener Mann gewesen. Ich kann die Burg und die Pacht nicht alleine verwalten, und du bist noch zu jung, um selbst schon schwerwiegende Entscheidungen treffen zu können. Donald hat mir großzügiger weise seine Hilfe angeboten. Er ist ein netter Mann und er hat große Erfahrung in allen geschäftlichen Belangen. Warum also sollen wir uns nicht zusammentun?«

»Aber Ihr liebt ihn doch gar nicht. Und er liebt Euch ebenso wenig«, wagte Daniel einzuwenden. »Es wird zwischen Euch und ihm nie so sein wie zwischen Euch und Vater.«

»Ja, das ist wohl wahr, Daniel«, sagte seine Mutter, und es klang traurig. »Aber dein Vater ist tot, und keine Liebe der Welt kann ihn mir zurückbringen.«

Es klang endgültig, als sie fortfuhr.

»Donald ist willens, sich um uns und die Geschäfte zu kümmern, und ich will, dass du meine Entscheidung respektierst. Du bist noch nicht einmal achtzehn Jahre alt, also wirst du dich mir noch einige Jahre fügen müssen. Erst wenn du einundzwanzig bist, kannst du über deine und die Geschicke der Burg entscheiden. Das war der letzte Wille deines Vaters, und bis es soweit ist, musst du auf meine Entscheidungen vertrauen.«

Daniel hatte es vermieden, der Hochzeit beizuwohnen, und sich lieber im Stall verkrochen. Dort stand Devil, der Rappe seines Vaters. Um sich abzulenken, begann er, das Pferd zu striegeln. Devil war ein sehr junger Hengst, gerade erst eingeritten und scheu fremden Menschen gegenüber. Sein Fell glänzte blauschwarz, ohne das geringste weiße Abzeichen. Alexander Kenneth hatte das Pferd erst kurz vor seinem Tod einem Wanderzirkus abgekauft, der - in Not geraten - seine Tiere nicht mehr ernähren konnte. Devil gehörte der Rasse der Andalusier an, die in Schottland so gut wie unbekannt war. Er war hochbeinig und feingliedrig, mit sehr langer Mähne und dichtem, leicht gewelltem Schweif. Und er war ein sehr temperamentvolles Tier. Seit dem Tode seines Herrn hatte er außer Daniel niemanden an sich herangelassen. Nur von ihm ließ er sich anfassen oder reiten.

Während Daniel das Pferd sorgfältig putzte, erzählte er ihm leise seinen ganzen Kummer. Der Hengst hörte ihm aufmerksam zu und stupste ihn ab und zu mit seiner samtschwarzen Nase an, so als verstünde er die Sorgen seines neuen Herrn.

Bald nach der Hochzeit stellte sich heraus, dass Daniels Ahnungen in Bezug auf seinen Stiefvater richtig gewesen waren.

Donald Cameron hatte es tatsächlich nur auf die Burg abgesehen, als er um Anne Kenneth warb. Doch es war ihm ein großer Fehler in seinen Recherchen unterlaufen, den er erst am Tage der Hochzeit bemerkte. Da er wusste, dass die Burg schon immer im Besitz von Annes Familie - den McKenzies - gewesen war, kam er nie auf die Idee, Kenneth könne sie gekauft haben. Donald hatte Anne in dem Glauben geheiratet, sie wäre die alleinige Erbin von Burg Kenmore, und er wollte durch die Heirat in den Besitz von Burg, Ländereien und Pachten kommen. Denn nach geltendem schottischem Recht wären ihm, als neuem Ehemann, sämtliche Güter seiner Frau zugefallen. Camerons Plan war es, sich alles unter den Nagel zu reißen und Daniel mit einem kleinen Almosen abzuspeisen.

Erst nach dem Unterzeichnen der Hochzeitspapiere erfuhr er von seinem Irrtum, doch da war es zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Denn Alexander Kenneth hatte seiner Frau nur ein Wohnrecht bis zu ihrem Tode auf der Burg zugesprochen und seinen Besitz ansonsten seinem Sohn vermacht. Doch noch war Daniel nicht der Besitzer, erst an seinem einundzwanzigsten Geburtstag würde ihm alles gehören. Bis dahin war Anne treuhänderisch für sein Erbe verantwortlich.

Als Cameron das erfuhr, war es vorbei mit seiner falschen Freundlichkeit. Er strafte seine Frau fortan mit eisiger Verachtung und ließ seinen Zorn an Daniel aus, sobald er seiner ansichtig wurde. Immer öfter verschwand er tage- und nächtelang, trieb sich wie früher in Bordellen und Spielhöllen herum. Wenn er sich auf der Burg aufhielt, schaute er finster drein und schrie alle an, die seinen Weg kreuzten. Und er grübelte darüber nach, wie er doch noch in den Besitz von Burg und Ländereien kommen konnte.

Daniel hatte zuerst gehofft, Cameron würde aus Enttäuschung die Ehe annullieren lassen, doch leider war dem nicht so. Der Kerl hockte auf der Burg wie eine Spinne im Netz. Und wenn sein düster brütender Blick auf Daniel fiel, kam der sich manchmal vor wie eine fette Beute, die sich früher oder später unweigerlich im Spinnennetz verfangen würde.

Daniels Hauptsorge galt jedoch seiner Mutter. Sie konnte nicht verwinden, sich so in dem Mann getäuscht zu haben, und war todunglücklich. Nichts heiterte sie mehr auf, und wie nach dem Tod ihres Ehemannes verbrachte sie jetzt die meiste Zeit auf ihrem Zimmer. Dort starrte sie aus dem Fenster oder in den Kamin und wollte mit niemandem sprechen.

Ein besonderes Ärgernis stellten Camerons Söhne Ken und George für Daniel dar. Sie waren mit ihrem Vater auf der Burg eingezogen und lungerten nun hier herum. Von Arbeit hielten sie nicht viel, dafür umso mehr von Ränkespielen und Raufereien. Und zu ihrer Lieblingsbeschäftigung zählte es, Daniel das Leben schwerzumachen. Ken war zwanzig und George zweiundzwanzig Jahre alt, beide waren untersetzt und bullig. Und sie ließen Daniel ständig ihre körperliche Überlegenheit spüren. Zum Glück schliefen sie meist bis mittags und gingen häufig auf die Jagd oder ins Wirtshaus, so dass er sie nicht allzu oft traf. Wenn es ihm möglich war, ging Daniel ihnen aus dem Weg. Doch es war ein Hobby der beiden, ihm aufzulauern. So kam es immer wieder vor, dass er ihnen unvermutet in die Arme lief. Dann schubsten sie ihn herum, und manchmal verprügelten sie ihn sogar. Obwohl er fast einen Kopf größer als sie war, verfügte er doch nicht über ihre rohe Kraft und schon gar nicht über ihre primitive Gemeinheit.

Also gewöhnte er sich an, immer einen oder auch beide Hunde mitzunehmen. Die Tiere waren inzwischen zu ihrer vollen Größe herangewachsen und durchaus ernstzunehmende Beschützer. Schon ihre pure Anwesenheit wirkte sich besänftigend auf seine Stiefbrüder aus.

Der Tag, der Daniels Leben für immer verändern sollte, begann mit einem freudigen Ereignis. Sina brachte ihren zweiten Wurf zur Welt. Natürlich war Bojan der stolze Vater. Wie das bei Hunden so üblich ist, zog sich die Geburt über Stunden hin. Daniel kniete im Stall neben der hechelnden Hündin, beruhigte sie, war bereit, ihr beizustehen, sollte ein Welpe quer liegen oder sie sonst wie Hilfe brauchen. Er hatte mittlerweile großes Geschick in solchen Dingen. Doch alles verlief so, wie es sollte.

Bojan war mit im Stall, immer wieder schaute er neugierig in die Wurfkiste, um seinen Nachwuchs zu beschnüffeln. Doch Bojans Anwesenheit nervte Sina zunehmend. Kam er ihr zu nahe, hob sie warnend die Lefzen und knurrte gereizt. Bojan zeigte sich nicht im Geringsten beeindruckt, sondern schnüffelte interessiert an der ausgestoßenen Nachgeburt, um sie dann hurtig aufzufressen.

Um Sina zu beruhigen, packte Daniel den Rüden am Nacken und beförderte ihn in die leere Nachbarbox. Damit er auch dort blieb, band Daniel ihn mit einem Kälberstrick fest. Beleidigt legte sich der große Hund ins Stroh und sah seinen Herrn vorwurfsvoll an. Seinen mächtigen Kopf bettete er dabei auf die riesige Ratte, die er vor einiger Zeit gefangen und totgeschüttelt hatte.

Sinas zuvor stark gewölbter Leib wirkte nun merkwürdig eingefallen, Daniel tastete ihn vorsichtig ab. Kein Welpe befand sich mehr darin. Dafür lagen nun acht mehr als rattengroße Fellknäuel dicht an die Hündin geschmiegt im Stroh. Jeder Welpe hatte eine Zitze gefunden, leise, schmatzende Geräusche drangen durch den Stall.

Daniel fühlte sich etwas erschöpft, die stundenlange Anspannung machte sich bemerkbar. Nochmals überflogen seine Augen die junge Familie in der Box. Er hatte das blutige Stroh durch sauberes ersetzt und Sina Wasser und Futter gegeben. Mehr konnte er im Moment nicht tun, deshalb schickte er sich nun an, den Stall zu verlassen. Er war in Gedanken bei seinem wohlverdienten Mittagsmahl, deshalb vergaß er Bojan abzubinden.

Er verließ den dämmrigen Stall, drehte sich um und verschloss sorgsam die Türe. Als er sich erneut umdrehte, schrak er zusammen. Ken stand vor ihm und grinste ihn höhnisch an. »Na, Brüderchen, bist du heute mal ohne deine Köter unterwegs?« fragte er mit trügerischer Freundlichkeit.

Daniel schluckte und starrte seinen Stiefbruder unsicher an. Ken strahlte eine wilde ungebärdige Kraft aus, die Daniel Angst einjagte.

Daniels Figur war noch jungenhaft hager, seine Größe ließ ihn schlaksig und etwas ungelenk erscheinen. Er hatte bisher kaum jemals ernsthaft seine Kräfte erprobt, zumindest nicht in Schlägereien. Und die kleinen Prügeleien mit seinen früheren Spielkameraden waren nie sehr verbissen geführt worden. Deshalb machte er sich keine Illusionen. Er würde Ken kaum davon abhalten können, ihn zu schlagen, sollte der es darauf abgesehen haben. Und wo Ken war, war George nicht weit, das wusste Daniel aus Erfahrung. Ebenso ahnte er, dass er wieder einmal Prügel beziehen würde, ganz egal, wie sanftmütig er sich verhielt.

Daniel ging Schlägereien aus dem Wege, wenn er konnte. Es entsprach nicht seinem Naturell, Meinungsverschiedenheiten mit den Fäusten auszutragen. George und Ken jedoch suchten förmlich nach Gründen, jemanden zusammenzuschlagen.

Besonders gefiel es ihnen, andere, und am liebsten ihren Stiefbruder, zu quälen und zu demütigen.

Deshalb versuchte Daniel nun, schnell in den Stall zurück zu schlüpfen. Doch wie aus dem Boden gezaubert, stand plötzlich George hinter ihm, die Hand an die Stalltüre gestemmt. Sein Grinsen wirkte gemein, und da ihm schon ein paar Zähne fehlten, hatte es eine äußerst abstoßende Wirkung auf den Betrachter. Doch auch ohne diesen Makel flößte es Daniel Furcht ein. George war noch um etliches bösartiger als sein jüngerer Bruder, und aus irgendeinem Grunde verfolgte er Daniel mit unversöhnlichem Hass.

»Was wollt ihr von mir?«

Daniel schaute gehetzt von einem zum anderen.

»Lasst mich in Ruhe!«

Er bemühte sich, seiner Stimme einen festen Klang zu verleihen, und wollte sich abwenden. Aber Georges Hand legte sich schwer auf seine Schulter, seine Finger packten hart zu, so dass Daniel unwillkürlich das Gesicht verzog. Mit falscher Freundlichkeit säuselte George:

»Komm, wir wollen einen kleinen Spaziergang machen. Geh ein Stück mit uns.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, zog er Daniel mit sich. Ken kam an seine andere Seite gehastet und packte ihn grob am Arm. Hilflos sah er sich zwischen den beiden Grobianen gefangen. Sie drängten ihn eilig um die Stallecke herum. Diese Seite lag im tiefen Schatten und war vom Haus aus nicht einzusehen.

Würgende Angst stieg in Daniels Kehle hoch, plötzlich fühlte er sich elend. Was würden sie diesmal mit ihm anstellen? Zwar fürchtete er nicht gerade um sein Leben. Denn er wusste, wollte der alte Cameron noch irgendwie in den Besitz der Burg kommen, musste er Daniel mindestens bis zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag am Leben erhalten. Daniels Vater hatte in seinem Testament verfügt, dass die Burg und alles, was dazugehörte, der Kirche zufiele, sollte sein Sohn seinen einundzwanzigsten Geburtstag nicht erleben. Damit wäre auch für Cameron endgültig alles verloren.

Leider konnte Alexander Kenneth jedoch nicht vorausahnen, was seinem Sohn an sonstigem Ungemach drohte. So war nirgendwo vermerkt, dass Daniel bis zum Antritt seines Erbes unversehrt an Körper und Seele sein sollte. Und manchmal hatte er sogar den Verdacht, sein Stiefvater hetze seine Söhne mit voller Absicht auf ihn, um ihm das Leben auf der Burg zu vergällen.

Hoffnungslos und deshalb nur halbherzig versuchte Daniel, seine Stiefbrüder von ihrem Vorhaben abzulenken. Er sträubte sich leicht gegen den Druck an seiner Schulter und meinte lahm: »Eigentlich würde ich lieber etwas essen, als einen Spaziergang zu machen. Können wir das nicht auf später verschieben? Ich habe wirklich ziemlichen Hunger, müsst ihr wissen.« Ken lachte meckernd, und George antwortete gehässig:

»Ich glaube nicht, dass du noch viel Hunger hast, wenn wir mit dir fertig sind.«

Er bleckte abermals sein lückenhaftes Gebiss, und Daniel roch angewidert seinen schlechten Atem.

Sein Herz schlug bis zum Halse. Er schluckte trocken, um den Kloß in seiner Kehle zu beseitigen, doch der wollte nicht weichen. Er dachte voller Angst an seinen letzten Spaziergang mit den beiden. Danach hatte er tatsächlich zwei Tage keinen Hunger mehr verspürt, sondern nur Magenschmerzen.

Krampfhaft überlegte er, wie er ihnen entkommen konnte, doch es fiel ihm keine brauchbare Ausrede ein. Und Kens Griff um seinen Oberarm vereitelte von vorneherein jeden Fluchtversuch.

Ohne viel Federlesens kamen die zwei nun zur Sache. Sie suchten nicht einmal nach einem plausiblen Vorwand für ihr rüdes Spiel. Und sie waren ein eingespieltes Team. So drehte Ken Daniels Arm jetzt mit einem Ruck herum, drückte ihm dabei die Hand unbarmherzig zwischen die Schulterblätter. Daniel gab augenblicklich dem starken Druck nach und beugte ächzend den Oberkörper nach vorne. Der scharfe Schmerz raubte ihm fast den Atem. Doch mit der anderen Hand packte ihn Ken jetzt an den Haaren und zog so kräftig daran, dass er sich mit einem Schmerzensschrei wieder aufrichtete.

Darauf hatte George nur gewartet. Mit geballter Kraft schlug er seinem Stiefbruder die Faust in den Magen. Kurz blickte er ihm ins schmerzverzerrte Gesicht, weidete sich daran. Dann schlug er erneut zu, traf ihn in Rippen und Magen und trieb ihm die Luft aus den Lungen. Daniel würgte und versuchte verzweifelt, sich zusammenzukrümmen, um seine empfindlichen Weichteile vor den unbarmherzigen Schlägen zu schützen. Ken ließ ihm dazu jedoch keine Chance, er hielt ihn in eisenhartem Griff gefangen, zerrte ihm dabei weiter den Kopf an den Haaren in den Nacken.

Währenddessen erklang die ganze Zeit über Bojans wütendes

Gebell aus dem Stallfenster. Der Hund spürte mit sicherem Instinkt die Not, in der sich sein Herr befand. Wütend warf er sich immer wieder gegen den dicken Strick, der ihn an die Stallwand fesselte. Als das nichts nützte biss er in das Seil, zerrte und kaute so lange daran, bis es nachgab. Den Strick war er nun los, doch die Stalltüre war verschlossen und gab auch nicht nach, als er seinen massigen Körper dagegen warf.

Daniels Zähne schlugen mit einem Klicken aufeinander. George hatte ihm einen Kinnhaken verpasst, der auch noch seine Nase schrammte. Der Schlag war als krönender Abschluss gedacht und nicht mehr mit der brutalen Kraft der vorhergegangenen Schläge geführt. Dennoch tat er höllisch weh. Um das Maß vollzumachen, hatte sich Daniel auch noch auf die Zunge gebissen. Ein dünnes Blutrinnsal lief ihm aus Nase und Mundwinkel. George lehnte seinen Oberkörper nach vorne, um Daniel in die Augen zu blicken.

»Na, Bruder, wie gefällt dir das?« fragte er scheinheilig. Dabei wischte er Daniel in spöttischer Fürsorge mit schmutzigen Fingern das Blut vom Kinn. »Irgendwie, meine ich, siehst du nicht mehr so gut aus wie vorher.«

Er schaute ihn lauernd an, überlegte, ob er schon von seinem Opfer ablassen sollte. Dann meinte er gönnerhaft:

»Ich habe noch eine kleine Zugabe für dich.« Mit Wucht stieß er ihm das Knie in den Unterleib.

Ein dünner pfeifender Laut entrang sich Daniels Lippen. Er hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, sich zu übergeben. Als Ken ihn endlich losließ, fiel er wie ein nasser Sack zu Boden, krümmte sich, verzweifelt nach Luft schnappend, zusammen. Einen Arm hielt er gegen seinen Magen gepresst, den anderen drückte er zwischen seine Beine.

Mit verschwommenem Blick sah er Ken auf sich zukommen. Der jüngere der beiden Quälgeister wollte offensichtlich auch noch sein Mütchen an ihm kühlen. War er doch bisher nur als Handlanger in Erscheinung getreten. Breitbeinig baute er sich vor Daniel auf, der seine letzten Reserven mobilisierte, um von ihm wegzukriechen.

Plötzlich ertönte ein reißendes Geräusch über ihren Köpfen, und Bojans schwerer Körper landete neben ihnen im Dreck. Da er nicht durch die Stalltüre herauskonnte, war er einfach durch die dünne Lederbespannung gesprungen, die ans Stallfenster genagelt war, um die Tiere vor der Witterung zu schützen.

Ohne zu zögern, stürzte sich der Hund auf den erstbesten, der seinen Herrn bedrohte, und das war George. Der stand über Daniel gebeugt und wollte ihn gerade wieder auf die Beine ziehen, damit auch Ken noch zu seinem Spaß kam.

Aus der Kehle des wütenden Hundes erklang ein tiefes, gefährliches Grollen, im nächsten Moment hechtete er zu George und verbiss sich in seinem Arm. George ließ erschrocken von Daniel ab, um sich gegen das rasende Tier zu wehren. Doch gegen das über 60 Kilo schwere Ungetüm hatte er nicht den Hauch einer Chance. Bojans Zähne drangen tief ins Fleisch seines Unterarms, zerrten und rissen daran und zerfetzte dabei Sehnen und Muskeln, als wären es Bindfäden.

George kreischte, seine Augen weiteten sich voller Schock, und sein Blut spritzte aus einer zerrissenen Ader über seinen Körper und sein Gesicht.

Ken erkannte sofort die veränderte Lage, und da er ein Feigling war, brachte er sich lieber eilig in Sicherheit, anstatt seinem Bruder zur Hilfe zu eilen. Das nahegelegene Aborthäuschen schien ihm eine sichere Zuflucht vor dem tobenden Hund. Mit Riesensätzen hechtete er darauf zu und verbarg sich darin. Zuerst nahm Daniel die veränderte Situation nur verschwommen wahr. Zu sehr beschäftigten ihn seine eigenen Schmerzen. Deshalb verstrichen einige Sekunden, bis er sich so weit unter Kontrolle hatte, dass er klarer denken konnte. Dann rappelte er sich mühsam auf und rief Bojan mit krächzender Stimme zurück.

Der Hund gehorchte augenblicklich, ließ Georges zerfetzten Arm los und setze sich vor ihm auf seine Hinterkeulen. Doch er wandte den Blick nicht von seinem Feind, war bereit, sofort wieder zuzubeißen, sollte der einen neuen Angriff wagen. Drohend kräuselten sich seine Lefzen über den mörderischen Fangzähnen.

George zeigte unterdessen keinerlei Neigung zu einer erneuten Attacke auf seinen Stiefbruder. Halb ohnmächtig durch Schmerz und Blutverlust lag er auf der Erde. Sein Körper zitterte unkontrolliert.

Daniels Verstand arbeitete fieberhaft. Bei Georges Anblick vergaß er seine eigenen Beschwerden. Er sah, schnelle Hilfe war dringend notwendig, sollte sein Stiefbruder nicht vor seinen Augen verbluten. Wie eine Fontäne spritzte hellrotes Blut aus der zerrissenen Schlagader. Schnell kniete er neben ihm nieder, riss Georges schmuddeliges Halstuch ab und drehte es zu einem Strick zusammen. Damit band er den Arm oberhalb der Bissstelle ab, und die Blutung kam zum Stillstand. Langsam stand er auf, nach Hilfe ausschauend. Mit Ken war nicht zu rechnen, stellte er fest. Nur dessen Auge schaut durch das Guckloch in der Aborttüre. Er würde nicht eher herauskommen, bis Bojan vom Hof verschwunden war.

Jedoch näherten sich nun eilige Schritte vom Haus her. Einige der Bediensteten kamen um die Stallecke und schauten stumm auf den am Boden Liegenden. Keiner der Knechte empfand besondere Sympathie für die Söhne des neuen Burgherrn. Dennoch gehorchten sie Daniels Befehl und trugen den Schwerverletzten ins Haus.

Daniel blieb im Hof zurück. Er grübelte und starrte dabei auf Bojan, der sich jetzt zufrieden vor seinen Füßen niederlegte und Beifall heischend zu ihm aufsah. Seufzend bückte er sich, um dem Hund den mächtigen Kopf zu tätscheln. Bojan konnte ja nicht wissen, dass sein beherztes Eingreifen Daniels Situation auf der Burg nur verschlimmert hatte.

Spätestens wenn George versorgt war, würde der alte Cameron Daniel zur Rede stellen. Und er wusste ganz genau, dass seine Antworten den Stiefvater nicht besänftigen würden. Im Gegenteil. Er würde Daniel beschuldigen, die Prügelei provoziert zu haben. Und er würde Bojan erschießen. Der Hund war ihm schon lange ein Dorn im Auge. Genau wie seine Söhne besaß Donald Cameron eine sadistische und grausame Ader. Nichts würde ihm mehr Freude bereiten, als Bojan vor Daniels Augen zu töten.

Von seiner Mutter konnte er keine Hilfe erwarten. Zu groß war inzwischen ihre Angst vor dem ungeliebten Ehemann. Er musste von hier verschwinden, wurde Daniel klar. Und zwar sofort. Bojan würde er mitnehmen. Und Devil natürlich. Nie würde er zulassen, dass Cameron oder seine Söhne sich des Hengstes bemächtigten und das sensible Tier zuschanden ritten. Er eilte zum Stall, wo er Devil mit fliegenden Fingern sattelte. Viel konnte er nicht mitnehmen. Ins Haus zu gehen, um sich Kleider und Proviant zu besorgen, kam nicht in Frage. Cameron ließ ihn bestimmt nicht mehr gehen. Deshalb sah er sich nun im Stall um, was er noch mitnehmen konnte. Ein paar alte Kleidungsstücke hingen an einem Nagel an der Stallwand. Sie waren so schäbig, dass sie nur noch zur Stallarbeit getragen wurden. Daniel hängte sie trotzdem ab und stopfte sie in die Satteltasche. Er fand auch noch eine alte Decke und zurrte sie mit einem Riemen am Sattel fest.

In der Futterkiste fanden sich einige trockene Brotscheiben und verhutzelte Äpfel, die eigentlich als Leckereien für die Pferde gedacht waren. Auch sie wanderten in die Satteltasche. Außerdem band er noch einen Sack Hafer daran fest.

Er konnte nicht aufbrechen, ohne nochmals nach Sina zu schauen, deshalb schlüpfte er schnell in ihre Box und kniete sich zu ihr nieder. Die Hündin hob den Kopf und leckte ihm die Hände. Fast war ihm, als würde ihr Blick ihn um Verzeihung bitten, weil sie ihm nicht zu Hilfe gekommen war. Doch natürlich verstand er, ihr Mutterinstinkt zwang sie dazu, bei ihren hilflosen neugeborenen Jungen zu bleiben. Daniel blickte auf die winzigen Fellknäuel, die leise fiepend, dicht an ihre Mutter gedrängt lagen. Es tat ihm unendlich leid, die kleine Hundefamilie einem ungewissen Schicksal überlassen zu müssen. Er konnte nur hoffen, dass Camerons Geldgier größer war, als seine Rachegelüste. Er ließ die Hündin und ihre Welpen sicher am Leben, um die reinrassigen Tiere später für gutes Geld zu verkaufen. Der Gedanke beruhigte und tröstete Daniel etwas.

Außerdem hoffte er auf Sam, den alten Stallknecht. Sina mochte den Alten schon immer gerne, genau wie er sie. Sicher würde er die Hunde bestens versorgen und vor Cameron schützen.

Seufzend erhob er sich aus dem Stroh. Schmerz durchzuckte ihn bei jeder Bewegung, und sein Atem ging immer noch etwas gepresst. Er wollte lieber nicht an die vielen Blutergüsse denken, die seinen Körper zierten.

Niemand war zu sehen, als er mit Devil am Zügel aus dem Stall trat. Inzwischen hatte sich auch Ken wieder aus seinem Versteck getraut. Die offene Tür des Aborthäuschens bewegte sich leicht im Windzug.

Bojan trabte munter und unternehmungslustig neben Devil durchs Burgtor. Daniel schaute sich ein letztes Mal die Gebäude an, die fast achtzehn Jahre lang sein Zuhause gewesen waren.

Erst nach seinem einundzwanzigsten Geburtstag wollte er hierher zurückkehren. Dann, so schwor er sich, würde er Cameron und seine Brut für immer von hier vertreiben.

Kapitel 4: Unterwegs

Die Nacht wurde empfindlich kühl. Daniel fröstelte und wickelte sich fester in seinen Umhang. Jetzt, Ende September, hatte sich der Sommer zwar schon verabschiedet, doch herrschten tagsüber noch angenehme Temperaturen. Des Abends zogen jedoch dichte Nebelschwaden aus den Niederungen und den Feldern auf. Die feuchte Luft machte seine Kleidung klamm, und mit Unbehagen dachte Daniel an die bevorstehende Nacht. Er wollte sie nur ungern unter freiem Himmel verbringen. Deshalb schaute er sich nach einer Scheune oder einem Schuppen um, wo er einigermaßen geschützt schlafen konnte.

Zu Beginn seines Rittes quälten ihn Schmerzen in allen möglichen Körperteilen, und obwohl Devil einen leichten, federnden Gang hatte, fühlte sich Daniel bald ziemlich durchgerüttelt. Nach und nach schwand dann das Stechen und Ziehen in Rippen und Magen. Dafür knurrte sein Bauch jetzt vernehmlich. Devil drehte verwundert die Ohren nach hinten, um die Ursache für das seltsame Geräusch herauszufinden. Trotz seiner misslichen Lage musste Daniel lachen.

Er schaute sich nach Bojan um. Der Hund trottete unzufrieden hinter dem Pferd her. Der Ausflug dauerte ihm entschieden zu lange. Hechelnd ließ er seine lange breite Zunge aus dem weit geöffneten Fang hängen. Es war ihm anzusehen, wie gerne er zu Hause bei Sina und seinem Wurf gewesen wäre.

Zwar liebte Bojan Spaziergänge mit seinem Herrn über alles, und es machte ihm auch nichts aus, der schnellen Gangart des Hengstes zu folgen. Doch stundenlange Abwesenheit von dem ihm anvertrauten Anwesen war dem Hund ein Gräuel.

Seine Rasse zählte zu den Lagerhunden, es lag ihm im Blut, Menschen, Tiere und Güter zu bewachen. Und so schaute er immer wieder sehnsüchtig den Weg zurück, den sie gekommen waren.

Bojan tat Daniel in der Seele leid, doch leider war es unmöglich, umzukehren.

Bisher hatte er sich noch keine Gedanken gemacht, was er überhaupt tun würde. Er war einfach nur darauf losgeritten, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die Burg zu bringen. Aber mit der zunehmenden Entfernung kamen ihm unweigerlich Gedanken an die nahe Zukunft.

Da war vor allem das Problem der Nahrungsbeschaffung. In der Eile des Aufbruchs war es natürlich unmöglich gewesen, Geld mitzunehmen. Hätte ich wenigstens ein paar Pennys bei mir, dachte er betrübt.

Um Devils Futter machte er sich keine Gedanken. Der Hengst fand noch genügend Gras um satt zu werden, außerdem hatte er ja auch noch den Sack Hafer dabei. Aber Bojan brauchte ordentliche Fleischmahlzeiten und die Mengen, die der große Hund verdrückte, waren beachtlich.

Und für sich selbst brauchte Daniel auch etwas Ordentliches zu essen. Seufzend dachte er an die trockenen Brotscheiben und die wurmstichigen Äpfel in der Satteltasche. Ein Festmahl würde sein Abendessen nicht werden.

Endlich machte er am Rande eines abgemähten Feldes eine halbzerfallene Kate aus und steuerte darauf zu. Sehr einladend sah das Gemäuer nicht aus, doch für die Nacht musste es reichen. Wenigstens würde es ihm Schutz vor dem kalten Wind bieten. Und hoffentlich auch vor dem Regen, den der Wind herantrieb. Im Inneren der Kate warf Daniel einen misstrauischen Blick auf das verrottete Strohdach über seinem Kopf, doch dann breitete er entschlossen die fadenscheinige alte Decke auf dem Boden aus.

Zuvor hatte er Devil abgesattelt und mit einem Heubüschel abgerieben. Trottend entfernte sich der Hengst nun etwas von der Kate, um auf einer nahen Wiese zu grasen. Sein Sattel diente Daniel als Kopfstütze, als er sich jetzt schwerfällig niederlegte. Der lange Ritt hatte seinen ohnehin schmerzenden Körper steif gemacht. Bojan legte sich dicht neben ihm nieder, und der Junge war froh über die Körperwärme des Hundes.

Das trockene Brot knackte zwischen seinen Zähnen und erinnerte ihn daran, dass er noch nicht einmal einen Schluck Wasser zum Nachspülen dabeihatte. In der Nähe war sicher ein Bach, aber Daniel war zu müde, um nochmals aufzustehen. Er knabberte an einem der Äpfel und hielt das Kerngehäuse Bojan vor die Nase. Der schnupperte kurz daran und ignorierte es dann voller Abscheu. Die angebotene Brotscheibe fraß er jedoch gierig auf.

Daniel befürchtete, die Ereignisse des Tages würden ihm nicht aus dem Kopf gehen. Doch die Strapazen der vergangenen Stunden forderten ihren Tribut von seinem Körper. Er schlief fast augenblicklich ein.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als er, einigermaßen erholt, erwachte. Gähnend und die steifen Glieder dehnend, trat er vor die Hütte. Weder von Bojan noch von Devil war etwas zu sehen. Er machte sich keine Sorgen um die Tiere, und als er hinter die Kate trat, sah er die beiden einträchtig nebeneinander an dem Bächlein stehen, das am Waldrand entlangfloß.

Devils Mähne wehte in der frischen Brise. Einmal mehr bewunderte er das edle Tier. Sicher gibt es in ganz Schottland kein zweites Pferd wie Devil, dachte er voller Besitzerstolz. Und auch der Hund bot ein imposantes Bild. Wehmütig betrachtete er die Tiere. Sie waren alles, was er noch besaß. Wut auf Cameron stieg in ihm hoch, und Tränen drängten sich in seine Augen, als er daran dachte, was er aufgegeben hatte. Doch dann schüttelte er energisch jeden Gedanken an die Vergangenheit ab. Er musste seinen Blick auf das Wesentliche lenken. Und das hieß, er musste Arbeit finden und ein Dach über dem Kopf.

Der Winter nahte unaufhaltsam, auch wenn die Sonne noch trügerische Wärme verbreitete. Wenn er bis zum ersten Schneefall keine Bleibe fand, würde das unweigerlich sein Ende bedeuten.

Nach nur kurzem Ritt tauchten endlich in der Ferne vereinzelte Häuser auf, und er hielt darauf zu. Als er näher kam, stellte er fest, dass es sich um ein großes Dorf, fast schon eine kleine Stadt handelte. Da er bisher noch nie weit über Kenmore hinausgekommen war, kannte er sich in der Umgebung nicht aus. Er war einfach aufs Geratewohl davongeritten, ohne sich Gedanken über den Weg zu machen.

Friedlich lag das Dorf in der Mittagssonne vor ihm. Auf den Straßen herrschte wenig Betrieb, nur ein paar Hunde lagen träge in der warmen Herbstsonne und dösten. Sie übersahen geflissentlich den mächtigen fremden Hund, der unwillig hinter dem Pferd herschlich. Auch Bojan zeigte kein Interesse an seinen Artgenossen.

Sie trafen einen Bauern, dessen Ochsenkarren mit Hühner- und Hasenkäfigen beladen war, auch ein paar Jungschafe lagen mit zusammengebundenen Beinen dazwischen.

Auf Daniels Frage antwortete der Bauer bereitwillig. Er war auf dem Weg zum Markt, der einmal monatlich auf dem Dorfanger abgehalten wurde. Neben sich auf dem Sitz hatte er einen großen Korb mit allerlei Esswaren stehen, aus dem er sich bediente.

Daniel konnte kaum den Blick von all den Köstlichkeiten abwenden. Sein Magen knurrte vernehmlich.

»Hast wohl Hunger, Junge?« fragte der Bauer mit einem Seitenblick.

Daniel nickte verlegen, worauf ihm der Mann eine großzügige Portion seiner Speisen abgab.

»Meine Frau packt mir immer viel zu viel ein«, winkte er ab, als Daniel sich überschwänglich bedankte.

An einem gefällten Baum machten sie Rast, um gemeinsam zu schmausen. Auch für Bojan fiel eine ordentliche Portion ab.

Der Bauer spendierte noch einen kräftigen Schluck Apfelwein zum Essen, dann trennten sich ihre Wege.

Frisch gestärkt, machte sich Daniel auf den Weg zum Marktplatz. Er hoffte, dort eine Möglichkeit zu finden, etwas Geld zu verdienen. Bald hörte er Stimmengewirr, und verschiedenartige Gerüche drangen in seine Nase.

Dann tauchten die ersten Stände auf. Der Marktplatz war voll von Menschen und Tieren aller Art. Hier gab es einfach alles zu kaufen, was man zum Leben benötigte. Noch nie hatte Daniel so etwas gesehen. Ein Großteil der angebotenen Produkte war landwirtschaftlichen Ursprungs. Daneben gab es noch Stoffe, Wolle, Felle, allerlei Haushaltsgerät und viele Sachen, die Daniel noch nie gesehen hatte. Von den Ständen, die Esswaren feilboten, wehten verführerische Düfte in seine Nase. Im hinteren Teil des Marktes wurden lebende Tiere aller Art angeboten. Hier lag ein strenger Geruch nach Kot und Urin in der Luft, aus den Käfigen drangen protestierende oder auch ängstliche Tierstimmen.

Mit gemischten Gefühlen betrachtete Daniel die Tiere, die hier neue Besitzer suchten. Geflügel wie Hühner und Gänse oder Enten war in viel zu kleine Käfige eingepfercht. Hähne hingen mit zusammengebundenen Beinen und gespreizten Flügeln kopfunter von langen Stangen. In winzigen mit Stroh ausgelegten Pferchen hockten Lämmer oder Ferkel.

Ganz am Ende des Marktes entdeckte Daniel den Rossmarkt. Auch hier standen die verschiedensten Rassen zum Verkauf. Kleine, zähe Hochlandponys standen einträchtig neben schweren Kaltblütern und hochbeinigen Kutsch- und Reitpferden. Devil erregte unter den Pferdekennern großes Aufsehen. Ein Edelmann mit hochnäsigem Auftreten bot Daniel ein erkleckliches Sümmchen für den Hengst. Natürlich lehnte er ab, nie würde er Devil verkaufen. Doch der Adelige gab nicht so schnell auf. Nun bot er Daniel eine hohe Prämie dafür, dass- sein schwarzer Hengst die Stute, die er soeben erworben hatte, deckte. Damit war Daniel einverstanden. Er führte Devil zu einer etwas abseits gelegenen Koppel, auf der die Stute stand. Ein wahrhaft edles Tier, stellte Daniel fest. Die Stute befand sich in der Rosse, aufgeregt tänzelte sie in dem kleinen Pferch umher als sie den Hengst roch. Sie wieherte ihm schrill entgegen.

Devil war kaum noch zu bremsen. Ungeduldig stampfte er mit seinen zierlichen Hufen auf, als Daniel ihm Sattel und Zaumzeug abnahm. Sobald er seine Freiheit spürte, galoppierte der Hengst los und setzte in elegantem Sprung über das Gatter. Für den jungen Hengst war es der erste Deckakt, doch er zeigte keine Unsicherheit. Selbstbewusst näherte er sich der Stute und begann mit seiner Werbung. Sie zierte sich erst noch ein wenig, doch dann stand sie still, den langen Schweif graziös zur Seite gebogen. Sie hatte schon ein Fohlen geboren und wusste, was sie wollte. Die Paarung der Tiere ging problemlos vonstatten.

Mit der Deckprämie in der Tasche fühlte sich Daniel gleich viel besser. Wenn er sparsam damit umging, würde das Geld einige Wochen für ihren Unterhalt reichen. Frohgemut wandte er sich zu den Ständen, an denen leckere Fleisch- und Wurstwaren angeboten wurden.

Nach dem Deckakt hatte er Devil etwas abseits an einem jungen Baum angebunden, Bojan lag in seiner Nähe. Seine Anwesenheit gab Daniel die Sicherheit, dass niemand dem wertvollen Tier zu nahe kam.

Auf kandierten Nüssen kauend, schlenderte Daniel über den Platz, als ihn ein Händler ansprach, der einen großen Gemüsestand betrieb.

»Hey, Junge, willst du dir ein paar Pennys verdienen? Ich könnte etwas Hilfe gebrauchen.«

Mit dem Zipfel seiner langen Schürze fuhr er sich über seine glänzende Glatze. Schweißperlen rannen an seinen feisten Backen herab.

Daniel überlegte nicht lange. Ein paar Pennys mehr garantierten ihm einen weiteren Tag ohne Geldsorgen.

Der Händler musterte ihn kurz von Kopf bis Fuß. Was er sah, schien ihn zufriedenzustellen.

»Siehst ganz kräftig aus«, meinte er und zeigte Daniel, was er zu tun hatte. Während sie arbeiteten, erzählte der Händler knurrend.

»Mein Knecht, dieser Nichtsnutz, ist heute früh beim Beladen vom Wagen gefallen und hat sich den Arm gebrochen. Konnte gestern Abend anscheinend den Boden der Schnapsflasche nicht finden, der verdammte Kerl. Und ich kann jetzt zusehen, wie ich mit dem ganzen Kram alleine zurechtkomme. Hast du morgen auch noch Zeit? Wäre mir recht, wenn du mir nochmals helfen könntest. Es soll auch dein Schaden nicht sein.« Daniel sagte gerne zu und wuchtete weiter Säcke und Kisten mit Gemüse und Getreide herum.

Hundemüde, aber zufrieden, schleppte er spät am Abend eine Kiste und einen Holzeimer zu seinen Tieren. Darin waren Karotten und Äpfel für Devil und Schlachtabfälle für Bojan. Die Metzgersfrau war so freundlich gewesen, ihm das Fleisch gleich abzukochen. Der Hund stürzte sich heißhungrig auf den Eimer und verputzte den Inhalt in Windeseile. Dann rülpste er gewaltig und legte sich zufrieden ins Gras, um an einem Ochsenknochen zu nagen.

Für Devil gab es eine extragroße Portion Hafer. Schließlich hatte er dafür gesorgt, dass sie die nächsten Wochen nicht hungern mussten.

Sein Nachtlager schlug Daniel in einem der leeren Pferdeställe auf. Er baute sich ein gemütliches Bett aus Heu und seiner alten Decke und streckte sich wohlig darauf aus. Kurz vorm Einschlafen dachte er bei sich, dass die Zukunft nicht mehr ganz so trübe aussah.

Kapitel 5: Fahrendes Volk

Der nächste Tag brachte Daniel abermals viel Arbeit. In aller Frühe stand er auf dem Marktplatz, um seinem neuen Arbeitgeber zur Hand zu gehen. Er half beim Entladen des Wagens, baute Obst- und Gemüsekisten auf dem Stand auf, schleppte Kartoffel- und Getreidesäcke. Dazwischen half er den Kunden, die gekauften Waren zu transportieren, was ihm auch noch manch kleines Trinkgeld einbrachte. Der Tag verging wie im Fluge. Als er am Abend die unverkauften Waren auf dem Wagen verstaut hatte, war er zwar hungrig und todmüde, aber auch ein wenig stolz auf seine geleistete Arbeit.

Der Händler entlohnte ihn durchaus großzügig, gerne hätte er Daniel als Knecht angeheuert, da er gesehen hatte, wie sorgfältig und fleißig er arbeitete. Doch der lehnte nach einigem Nachdenken ab. Ein sicheres Dach über dem Kopf für sich und seine Tiere war zwar verlockend, aber insgeheim wünschte er sich irgendetwas Aufregenderes, als Gemüsekisten zu schleppen. Bis zum Winterbeginn dauerte es noch Wochen, und er hoffte, bis dahin eine interessante Arbeit gefunden zu haben. Von den Marktleuten hatte Daniel erfahren, dass in den nächsten Tagen eine Schaustellertruppe ihre Zelte vor den Toren des Städtchens aufstellen wollte. Vielleicht brauchen die ja einen kräftigen Burschen, der zupacken konnte, überlegte er. Am liebsten würde er als Tierpfleger arbeiten. Die Zirkusleute besaßen seltene fremdländische Tiere, berichteten ihm die Marktleute. Er würde auf jeden Fall ihr Eintreffen abwarten und sich um Arbeit bewerben, beschloss Daniel. Bis es soweit war, schaute er sich nach Gelegenheitsarbeiten um, die Nächte verbrachte er weiterhin in dem leeren Pferdestall.

Nach einigen Tagen trafen die Schausteller auf dem Dorfanger ein. Schon von weitem konnte man die buntbemalten Wagen ausmachen, die von johlenden Kindern begleitet wurden. Kaum angekommen, schlug die Truppe ihre Zelte auf. Die Zirkuswagen wurden in einem großen Kreis zu einer Wagenburg zusammengestellt. In deren Mitte kamen das große Manegen-Zelt und einige kleinere Zelte, die den Zirkustieren als Unterstand dienten.

Gleich bei ihrer Ankunft bewarb sich Daniel. Er wurde zu einem der größeren Wagen verwiesen, dessen Türe offen stand. Hinter einem kleinen Tisch saß ein untersetzter, bullig wirkender Mann von etwa fünfzig Jahren. Als Daniels Schatten auf ihn fiel, hob er unwillig den Kopf. Sein Blick war bohrend. Daniel kam sich vor wie auf dem Viehmarkt, und er fühlte sich etwas unbehaglich. Trotzdem zwang er sich dazu, selbstsicher nach Arbeit zu fragen.

Dave Conelly, so hieß der Besitzer des Unternehmens, war kein Mann vieler Worte. Er musterte Daniel noch eindringlicher, dann meinte er mürrisch:

»Scheinst mir ja ein bisschen mager zu sein, machst aber einen zähen Eindruck. Arbeit hab ich genug, und einen arbeitsamen Burschen kann ich immer gebrauchen. Aber ich kann nicht viel zahlen. Dafür ist Essen und Unterkunft frei.«

»Das geht schon in Ordnung«, beeilte sich Daniel zu sagen. »Ich habe aber zwei Tiere bei mir, von denen will ich mich nicht trennen.«

Conelly kam mit ihm vor den Wagen, um Bojan und Devil zu begutachten. Von dem Hengst war er gleich begeistert.

»Wenn du das Pferd dazu kriegst, ein paar Kunststücke zu lernen, baue ich es in die Pferdenummer mit ein. Dann komm ich für sein Futter auf. Für den Köter musst du selbst sorgen. Ich hoffe, er bringt mir nicht alle Tiere im Lager durcheinander.«

»Bojan ist ganz harmlos«, versicherte Daniel seinem neuen Arbeitgeber schnell und fügte hinzu: »Man sagt mir nach, ich könne mit Tieren besonders gut umgehen. Am liebsten würde ich als Tierpfleger arbeiten. Wärt Ihr damit einverstanden?« Das war Conelly nur recht, einen guten Tierpfleger konnte er allemal gebrauchen.

»Also abgemacht«, meinte er abschließend, »du kannst in den Stallungen anfangen. Aber wenn anderswo Arbeit anfällt, erwarte ich auch dort deine tatkräftige Mithilfe. Melde dich in den Ställen, da kannst du auch gleich dein Pferd hinbringen. Du arbeitest mit Ben und Billy zusammen. Mit ihnen teilst du dir auch einen Wagen. Sag ihnen, ich hab dich geschickt, sie werden dir alles zeigen. Und nun mach dich an die Arbeit.

Ich zahle nicht fürs Faulenzen.«

Conelly stapfte in seinen Wagen zurück, und Daniel machte sich auf den Weg zu den Ställen. Ben und Billy erwiesen sich als junge Burschen, etwa in seinem Alter. Sie freuten sich, Verstärkung zu bekommen, führten ihn umher und erklärten ihm seine Arbeit. Im Stall war im Moment nichts zu tun, so nahmen seine neuen Kumpel ihn ins Dorf mit, wo sie Plakate anbringen wollten.

Sie spannten ein unglaublich altes Pony vor ein leichtes Wägelchen und machten sich auf den Weg. Das Tier war zu schwach, um ihr Gewicht zu ziehen, deshalb liefen sie nebenher. Daniel bemitleidete das Tier.

»Das Pferdchen ist aber schon viel zu alt zum Arbeiten, es hätte längst sein Gnadenbrot verdient.«

»Conelly ist da anderer Meinung«, erklärte ihm Billy. »Egal ob Tier oder Mensch, alles muss bei ihm arbeiten, bis es zusammenbricht. Wenn die alte Mähre«, dabei wuschelte er dem Pony liebevoll die dürftige Mähne, »nichts mehr leisten kann, so wird sie am nächsten Tag als Futter für die Raubtiere enden.«

Im Dorf angekommen, befestigten sie die bunt bemalten Plakate an Bäumen oder Zäunen. Daniel staunte über die Bilder, die für die Sehenswürdigkeiten des Zirkus warben. Darauf waren die Tiere zu sehen, auf die er schon einen flüchtigen Blick in den Ställen geworfen hatte und die nun zu seinen Schützlingen zählten. Wenn er sie nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, er hätte bezweifelt, dass es sie wirklich gab. Conellys Menagerie unterhielt so seltene Tiere wie einen Löwen und einen schwarzen Panther. Dazu Zebras, Kamele, Affen und ein Dromedar. Dann noch etliche kleinere Tiere, die Daniel noch nie zuvor gesehen hatte, deren Namen ihm zwar gesagt wurden, aber schon wieder entfallen waren.

Noch erstaunlicher als die Tiere erschienen ihm die ungewöhnlichen Menschen, die da von den Plakaten prangten. Er konnte nicht glauben, dass es Menschen mit so ungewöhnlichem Aussehen gab. Doch seine Begleiter versicherten ihm, all diese Leute gehörten tatsächlich dem Zirkus an.

»Sie sind Mitglieder der Kuriositätenschau, wie Conelly es nennt. Heute Abend, beim Essen, wirst du sie alle kennenlernen. Aber pass auf, dass du nicht gar so starrst, wenn du sie siehst«, warnte Ben. »Die Leutchen sind etwas empfindlich. Sie müssen sich in der Schau von all den Neugierigen begaffen lassen, das macht sie verletzlich, verstehst du.«

Daniels Neugierde war ebenfalls geweckt, doch er musste sich noch gedulden, bis sie sich auf den Heimweg machten. Ben und Billy hatten es keineswegs eilig, ihrem strengen Arbeitgeber allzu schnell wieder unter die Augen zu kommen. Sie klärten ihren neuen Freund ein wenig über Conelly auf. Was sie zu berichten hatten, war nicht erfreulich.

»Er ist ein Sklaventreiber«, sagte Billy, »der seinen Leuten das Letzte abverlangt. Schon öfter ist vorgekommen, dass er Arbeiter, die er beim Faulenzen erwischte, mit der Reitpeitsche gezüchtigt hat.«

»Andererseits«, meinte Ben, »wenn du hart arbeitest, lässt er dir viele Freiheiten. Wenn alles zu seiner Zufriedenheit erledigt wird, kümmert er sich nicht weiter um uns. Wir können unsere Arbeit nach eigenem Gutdünken einteilen. Wenn du wirklich einmal faulenzt, darfst du dich halt bloß nicht von ihm erwischen lassen.«

Seine Worte beruhigten Daniel wieder etwas. Er hatte nicht die Absicht herum zu faulenzen, deshalb würde er wahrscheinlich nie in Konflikt mit seinem neuen Arbeitgeber geraten. Pünktlich zum Abendessen kamen sie in die Wagenburg zurück. Die Speisen wurden in einem kleinen Zelt ausgeteilt. Rohe Bänke und Tische, die eher zweckmäßig als bequem waren, standen in dichten Reihen. Überrascht blickte Daniel auf die vielen Menschen, die hier versammelt waren. Es war ein bunt zusammengewürfelter Haufen. Arbeiter und Artisten hockten einträchtig beieinander, alle langten kräftig zu.