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Beschreibung

Der Entwurf alternativer Wohn- und Lebensformen von 1983 mit einem neuen Nachwort

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Seitenzahl: 213

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p.m.

bolo'bolo

E-ndgültige Ausgabe

mit einem Nachwort

Edition Aisatore 2015

ISBN: 978-3-906247-07-6

© verlag paranoia city Zürich 1983

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur 5. Auflage

Vorwort zur endgültigen Auflage 1995

Abfahrt

bolo'bolo – Grundrisse für ein Projekt

ibu

bolo

sila

taku

kana

nima

kodu

yalu

sibi

pali

sufu

gano

bete

nugo

pili

kene

tega

dala

dudi

fudo

sumi

asa

buni

mafa

feno

sadi

fasi

yaka

Nachbemerkung

asa’pili

Erste Entwürfe zu den Piktogrammen

Entwurf eines asa’pili Sprachführers

Vorwort zur 5. Auflage

Sechs Jahre bolo'bolo

Peinlich, aber wahr: gemäss bolo-Fahrplan von 1983 müssten wir schon längst alle in bolos leben. 40-Stundenwoche, Staatsgrenzen, Luftverschmutzung und AKWs sollten nur noch unangenehme Erinnerungen sein. Ich habe meine Wette gegen den Lauf der Dinge verloren und als Prophet jämmerlich versagt.

Die Idee bolo'bolo hat sich nicht nur als unwirksam erwiesen, es ist alles noch schlimmer gekommen. Die Planetare Arbeitsmaschine hat sich in den letzten fünf Jahren weiterentwickelt. Sie läuft auf Hochtouren und ihre Bestandteile – wir selbst – spielen noch reibungsloser zusammen. Die Autoimporte haben einen Höchststand erreicht. Wir haben gelernt, mit den Katastrophen, Unfällen und Ereignissen der Maschine zu leben. Waldsterben, Tschernobyl und Ozonkrisen kommen und gehen. Wir haben Katalysatoren eingebaut, essen keine Pilze mehr und behalten unsere Kinder an Sommernachmittagen in der Wohnung. Das Leben ist komplizierter geworden, aber im Grossen und Ganzen geht es weiter wie bisher. Auch die 90er Jahre werden nur kleine Umstellungen bringen und bis zu unserer Pensionierung zwischen 2010 und 2020 sind keine grösseren Veränderungen abzusehen. Mit jedem Franken, den wir für AHV und Pensionskasse bezahlen, bestätigen wir diese Perspektive. Die Zukunft hat uns fest im Griff.

Ernüchtert müssen wir uns fragen: Sind die Verhältnisse gegen grundsätzliche Veränderungen immun geworden? Haben Utopien ihre praktische Wirkung endgültig verloren? Sind wir selbst so reduziert, glücklich und apathisch, dass wir eine andere Lebensweise nicht mehr anstreben können? Sind also Utopien lediglich Lebenslügen? Sind sie bloss der eine Pol im Spektrum der zynischen Vernunft, die uns sagt, dass wir Utopien nötig haben, um den Alltag besser ertragen zu können? Der Mensch lebt ja nicht vom Brot allein. Gewisse Ideale und Visionen sind daher durchaus überlebenswichtig. Der "Sinn" ist längst zum Komplizen des Systems geworden.

Über Utopien nur schon vernünftig zu reden, scheint ungeheuer schwierig zu sein. Vielleicht liegt es am Wort "Utopie", das auf den Hund gekommen ist: "Meine Utopie ist ein heisses Bad und ein gutes Buch." Zudem wird bei Utopien die Vorstellung eines phantastischen Schlaraffenlandes überstrapaziert. So steht einer kaum korrigierbaren Realität eine utopische Traum- und Märchenwelt gegenüber, wo die Vernunft nichts mehr zu suchen hat. Kopf und Bauch, Verstand und Gefühl werden in verschiedene Welten verbannt. Solche Utopien sind natürlich harmlos, blosse Fluchtwelten, Trostphantasien. bolo'bolo wollte etwas anderes sein: ein Inventar realer technischer, biologischer und sozialer Möglichkeiten. Phantasie und solide Dokumentation, Erfindungslust und praktischer Verstand sollten zusammenkommen und sich vermengen. Dieser Anspruch ist unbequem, denn es tut weh zu sehen, dass viele unserer Träume eigentlich möglich sind. Viel lieber würden wir sie "rein" behalten und als Utopien eben verdrängen. Für viele war bolo'bolo eine herbe Enttäuschung: Was als sektiererisches Brevier mit Geheimsprache und scheinbar geschlossenem "System" daherkommt, ist eigentlich nur eine lockere Liste möglicher Vorschläge zur Lebensverbesserung. Vieles fehlt, manches ist unvollständig und ungesichert, je nach erhältlichen Daten, dem Stand der Forschung und der Erfahrungen. Ja, gerade die wesentlichsten Fragen sind ausgeklammert, weil sie eben nur durch die Praxis beantwortet werden können und verschiedene Lösungen zulassen: das Verhältnis zwischen Mann und Frau, die Kindererziehung, die internen Entscheidungsstrukturen, das Verhältnis von Arbeit zu Freizeit usw. bolo'bolo liefert weder eine Philosophie noch eine Lebenshaltung. Auch als universaler Ratgeber ist es nicht zu gebrauchen. Es sieht nur so aus.

Viele stört an bolo'bolo sein "dogmatischer" Charakter, der Mangel an Offenheit: Kein Weg führt am bolo vorbei. bolo or bust. Nun ist Offenheit im privaten Leben eine höchst nützliche Haltung. Ohne Offenheit verkümmern wir gefühlsmässig und erstarren geistig. Als politische Forderung kann Offenheit aber ganz gut mit Ratlosigkeit, Pragmatismus oder mit Opportunismus gleichgesetzt werden. Man kann auch ganz leicht für jede neue Scheisse und jede Neueinstellung der Maschine "offen" sein wie etwa die Sozialdemokraten, die diese Haltung oft betonen. Das Schwein zeigt sich "offen" angesichts seiner Verwurstung. Es blickt den neuen Ideen der Fleischindustrie beweglich, liberal und unorthodox entgegen. Alten ideologischen Ballast wirft es leicht über Bord. Wir lieben das Schwein, es ist uns sympathisch. Das sture Wildschwein hingegen hat eine notorisch schlechte Presse. Seine Vorurteile gegen Gehege, seine dogmatischen Ernährungsgewohnheiten und seine starren Feindbilder, was die Jäger betrifft, machen es unsympathisch. Es hat auch keine Zukunft.

Warum bolos und nichts anderes? Auf diesem Planeten sind nur zwei grundsätzlich verschiedene Lebensweisen möglich: eine expansive, externe, politische Art zu leben und eine subsistenzorientierte, haushälterische, lebensimmanente. Es gibt den Haushalt und die Wirtschaft, den Bereich der Frauen und den der Männer, die Dritte Welt und die Erste, das Leben und das Erwerbsleben. Das Idealbild des Haushaltes – der sich selbst versorgende Bauernhof – braucht kein Geld, keine Politik, keinen Staat. Arbeit und Freizeit gehen ineinander über. Ausführung und Entscheidung sind nicht getrennt. Der Kontakt zur Natur ist unmittelbar und das Interesse an ihrer Erhaltung unvermittelt. Ein Gleichgewicht herrscht und alles kann unbeschränkt weitergehen. Die Wirtschaft hingegen kann nur leben, wenn sie expandiert, wenn immer mehr Energien, Rohstoffe, Menschen mobilisiert werden. Die Natur ist ihr blosses Material zur Verwertung, Menschen sind anonyme Zahnrädchen. Beide Lebensweisen haben ihre Vorteile. Aber die wirtschaftliche ist heute ganz eindeutig vorherrschend. Durch ihre Einseitigkeit zerstört sie Natur und Menschen. Sie ist derart komplex geworden, dass ihre Aufrechterhaltung mehr Aufwand erfordert als ihr Output. Im Prinzip der Industrie steckte irgendwo die Idee eines gesteigerten Lebensgenusses. Doch heute zerstört es die wichtigsten Güter wie Musse, Natur, Gesellschaftlichkeit.

Das Verhältnis zwischen Haushalt und Wirtschaft ist heute aus dem Gleichgewicht geraten. Der Haushalt ist zum ohnmächtigen Anhängsel der Erwerbstätigkeit geschrumpft. bolo'bolo geht davon aus, dass das richtige Mass irgendwo in der Mitte liegt. Die Haushalte müssen wieder mächtiger werden. Sie müssen zu bolos werden, zu recht selbständigen, aber nicht autarken Land/Stadtgemeinschaften mittlerer Grösse, d. h. 500 Personen, nicht 2,6 wie heute. Als bolo kann der Haushalt oder die vom griechischen oikos=Haus hergeleitete Ökologie die Wirtschaft kontrollieren und deren Vorteile in Einklang mit den Erfordernissen der Gesellschaft und der Natur bringen.

Dem Misserfolg unserer utopischen Bemühungen auf der Spur kommen wir zum nächsten Themenkreis: Es geht uns zu gut, der "Leidensdruck" ist nicht stark genug, wir sind weltweit gesehen immer noch die Privilegierten. Warum sollten wir da etwas ändern wollen? Das sind alles Lügen. Nicht der Leidensdruck fehlt, sondern unsere Sensibilität. Sie wird uns täglich abtrainiert. Wir spüren gar nicht mehr, wie schlecht es uns geht – deshalb scheint es uns gut zu gehen. Ausgedient haben nur die alten Muster des Elends. Die Armen alter Schule sind eine Minderheit geworden. Heute verdienen 50 % der Erwerbstätigen mehr als 35'000 Franken und ein normales Haushaltseinkommen erreicht schon gute 50'000 Franken. Die Wohnungsnot belastet wenige, denn 95 % wohnen auf mehr Quadratmetern pro Person denn je. Das Haushaltsbudget der statistischen Schweizerfamilie sieht geradezu abenteuerlich aus: Der grösste Brocken sind die Versicherungen mit 15,38 %, dann folgen die Verkehrsausgaben (Auto!) mit 13,15 % und die Miete mit 12,51 %. Erst an vierter Stelle sind die Auslagen für Nahrungsmittel mit 12,16 % zu finden (Stat. Jahrbuch der Schweiz 1989, S. 143). Sicher sehen diese Zahlen bei verschiedenen Minderheiten anders aus: 30 % bis 50 % für die Miete, 20 % für Nahrungsmittel usw. Doch angesichts dieser Zahlen brauchen wir uns nicht zu wundern, dass die "exotischen Experimente" von Randkulturen à la Zaffaraya das "Herz des schweizerischen Staates" höchstens symbolisch zu rühren vermögen. Dabei spricht die Statistik eine klare Sprache: Es gibt eine Sehnsucht nach Überwindung der Isolation, die im Zwang zur Versicherung, einer pervertierte Form der Solidarität, zum Ausdruck kommt, es existiert überdies eine Sehnsucht nach Ausbruch (Verkehr) und Raum (Miete). Diese Hauptposten drücken Werte aus, die sich mit dem Wort "bolo" zusammenfassen lassen. Zugleich sind diese Werte mit Geld nicht mehr zu erstehen. Wenn das "Herz des Staates" gerührt werden soll, dann müssen unsere Utopien ihren exotischen, provokativ-symbolischen Charakter verlieren und zu banalen "bürgerlichen" Lösungen werden. Nicht die Hippie-, Punk-, oder Anarchokultur soll noch einmal gefeiert werden. Vielmehr besteht unsere einzige Chance darin, die lächelnde, unzufriedene Mehrheit immer wieder in Versuchung zu führen.

Doch nun zum wichtigsten Einwand, den ich hören musste: Das ist ja alles schön und gut, doch was können wir jetzt tun? Warten, bis der grosse bolo-Gong erschallt? Der Einwand ist natürlich etwas unfair. Er beinhaltet eine lebensphilosophische Fangfrage vom Typ: Wie erreiche ich, was ich will? Trotzdem habe ich etwas über "vermittelnde Strategien" nachgedacht. Sollen wir bolo-Aufbaufonds in Gemeinden und Kantonen verlangen? In den Gewerkschaften aktiv werden? Die Parteien infiltrieren? Genossenschaften gründen? In Quartieren bolo-Aufbaugruppen gründen? Produzenten/Konsumenten-Genossenschaften initiieren? All dies halte ich je nach Lage der Dinge für möglich und sinnvoll und ich begrüsse solche Aktivitäten ausdrücklich und herzlich. Sicher müssen wir uns bei diesen Umtrieben bewusst sein, dass letztlich nur eine breite Arbeitsverweigerungsbewegung die Maschine blockieren und überwinden kann. Aber aus dem Einen kann das Andere werden.

Eine ganz simple "vermittelnde" Idee ist mir bei einer Diskussion mit einem alten Freund gekommen: der wirtschaftsfreie Mittwoch. Traditionellerweise werden Länder befreit, wobei die Resultate nicht immer überzeugen. Warum nicht einmal Tage befreien? Die Idee geht davon aus, dass wir, selbst wenn wir wollten, gar nicht fähig wären, in bolos zu leben. Wir sind viel zu spezialisiert, sozial hilflos und landwirtschaftlich unbedarft, als dass uns das Leben in bolos auf Anhieb gelingen würde. Wir brauchen also eine Lernphase, um überhaupt umsteigen zu können. Diese Lernzeit könnte am Mittwoch geschehen, der arbeits-, fernseh-, auto-, zeitungs-, schulfrei wäre. Der befreite Mittwoch wäre auch als gewerkschaftliche Forderung denkbar (32 Stundenwoche). Als Denk-, Lern-, Sozial-, Landtag eignet sich der Mittwoch sehr gut. Bei den Bauern ist er traditionell ein Untag. Er war schon immer ein Tag des Austausches, des Marktes, der gesellschaftlichen Anlässe, der Magie und der List (Gott Merkur). Er könnte eine ruhende Mitte bilden und die Arbeitswoche in zwei leichter verdauliche Brocken teilen. Zunächst wäre er ein Tag der Meditation, des utopischen Haltes, also nicht wieder ein Geschäftstag. Langsamkeit wäre sein Prinzip. Er würde Zeit für Gespräche, Zusammenkünfte, gegenseitige Hilfe bieten. Nachbarn werden zum Essen eingeladen, jedes Haus ist ein "offenes Haus". Väter und Göttis haben Zeit für Kinder ohne den Wochenendstress. Kontakte zu Bauernhöfen könnten geknüpft werden. Gemeinsam könnten auch gewisse ökologische Umbauarbeiten vorgenommen werden. Es wäre der ideale bolo-Tag. Allmählich würde auch der Dienstag angeknabbert und der Donnerstag "befreit". Vielleicht bliebe dann nur noch der Montag als einziger Tag für externe Arbeit übrig ...

Die Planetare Mittwoch-Befreiungsbewegung kann sofort beginnen. Es genügt, wenn Du Dir am nächsten Mittwoch eine Grippe nimmst und das Buch, das Du schon lange lesen wolltest, endlich liest (z. B. Maria Mies, Patriarchat und Kapital, Rotpunktverlag 1988). Noch weniger "utopisch" ist Dein Eintritt in die planetarische Bewegung, wenn Du an Mittwochen mir besonders offenen Augen durch die Strassen gehst. Dabei entdeckst Du vielleicht auch das PMBB-Verschwörungszeichen, das ein Freund auf der Alp erfunden hat. Der anti-wirtschaftliche Mittwoch lässt alle Aktionsformen zu. Die Vermittlung liegt bei Dir.

Ich möchte die Gelegenheit dieses Vorwortes benützen, um mich bei allen zu bedanken, die bei der Produktion und Verbreitung von bolo'bolo mitgewirkt haben. Ganz herzlich danke ich Tomi G. für seinen verlegerischen, kabarettistischen und publizistischen Einsatz. Auch allen Setzerinnen, Layouterinnen, Übersetzerinnen, von Tokio bis Brasilia möchte ich für ihre Gratisarbeit danken. Ein besonderer Dank gilt auch allen bekannten und unbekannten Propagandistinnen in Alpentälern, Grossstadtdschungeln, Seminaren und auf abgelegenen Inseln. Nur dank ihnen konnte bolo'bolo ohne grossen Werbeaufwand in Zirkulation kommen und an den überraschendsten Orten auftauchen. Dass mit dem Buch oft auch Eier gegen Käse oder Honig gegen Musikkassetten getauscht wurden, tut ihrem Verdienst keinen Abbruch. Zwar wurde in den fünf Jahren nur knapp das Programm eines Jahres erfüllt, aber das Leben dazwischen hat doch viel Spass gemacht. Also dann bis 1993!

p.m. April 1989

bolo'bolo ist zuerst 1983 im Paranoia City Verlag erschienen und hat mittlerweile in der deutschen Ausgabe 10'000 Exemplare und fünf Auflagen erreicht. Inzwischen ist es auch auf Französisch, Englisch, Portugiesisch, Italienisch, Holländisch und Russisch veröffentlicht worden. Die Ausgaben auf Japanisch, Spanisch und Arabisch sind in Vorbereitung.

Im Demono-Spielverlag in Zürich ist bolo'bolo als Brettspiel erschienen. Das Leben in Zürich bestehend aus bolos beschreibt Zwischen Regenwald und Permafrost, erschienen im Stroemfeld Verlag, Basel. Der neu erschienen Reiseführer AMBERLAND zeigt Dir ein Land, wo heute schon bolo-mässige Verhältnisse herrschen (Paranoia City Verlag 1989).

Vorwort zur endgültigen Auflage 1995

Diese Ausgabe enthält den ursprünglichen Text von 1983. Aktualisierungen wären leicht möglich gewesen, hätten aber an der grundsätzlichen Aussage nichts geändert. Sowohl die sich aufdrängenden Aktualisierungen wie die passende Interpretation ironisch oder satirisch gemeinter Passagen überlasse ich vertrauensvoll der Intelligenz der Leserinnen.

Die Planetare Arbeitsmaschine (PAM) torkelt weiter von Krise zu Krise, verliert dort ein Zahnrad, setzt da ein anderes ein. Obwohl innerlich schon morsch und verrostet, schafft sie es immer wieder, uns in ihren Bann zu ziehen und ein Leben ausserhalb von ihr unmöglich erscheinen zu lassen. Die Angst vor ihrem Zusammenbruch ist immer noch grösser als die vor all dem Elend, den Kriegen, Zerstörungen und Verschwendungen, die sie tagtäglich und für alle sichtbar anrichtet.

Mein Ausstiegsfahrplan ist inzwischen acht Jahre im Verzug. Ist damit das Spiel endgültig verloren? Sollen wir endlich «erwachsen» werden und uns mit weiteren 7’000 Jahren Arbeitsmaschine abfinden?

Trotz ihrer imposanten Skylines und ihrer Allgegenwart in Form von Geld, Werbung und Autos ist die Arbeitsmaschine schwächer und prekärer, als wir denken. Die internationalen Finanzkreisläufe z. B. sind jeder Kontrolle entglitten und haben Geld und Produktion von Werten gefährlich entkoppelt. Der Zusammenbruch von scheinbaren Kolossen wie der Sowjetunion oder die «Verpuffung» der DDR haben gezeigt, dass grosse Maschinen manchmal nur noch durch den Lack zusammengehalten werden. Die Versuche, sich ein Leben jenseits der Maschine zu organisieren, sind erst zaghaft, aber immerhin vorhanden. Die kommunitäre Organisation (von mir Dysko genannt), die sie voraussetzen, ist unter den Bedingungen des Maschinenlebens schwer herstellbar. Nach anstrengender Arbeit fehlen uns Zeit und Energie. Unsere aktuellen realen Eigeninteressen widersprechen den «möglichen» zukünftigen, gemeinsamen Interessen. Der «Markt» der Maschine ist überall wendiger als unsere Tauschsysteme. Unsere Siedlungen sind nicht direkt für proto-bolos eingerichtet. Pionierprojekte wiederum verwandeln sich schnell in Ghettos oder verkrampfte Brückenköpfe von «alternativem» Leben. Es geht aber nicht um das «alternative» Leben, sondern endlich um das normale! Ansätze von Netzen in bestehenden Nachbarschatten und experimentelle Siedlungsprojekte z. B. auf Industriebrachen sind trotz ihrer zahlenmässig lächerlichen Bedeutung sehr wichtig. Es genügt nicht, auf die Katastrophe zu warten und zu meinen, wir könnten uns dann aus dem Stand arrangieren. Die postkatastrophalen Pläne der Maschine selbst, so wie wir sie heute in Afrika, auf dem Balkan, in Innerasien oder in Südamerika in Aktion sehen können, beinhalten Massaker, Krieg, Seuchen, Hunger und nicht ein alternatives Idyll. Nur in dem Masse, wie wir es schaffen, noch vor dem Zusammenbruch der Maschine unsere eigenen Netze zu knüpfen, werden wir nicht ins Leere fallen.

In diesem prä-katastrophalen Netz zirkuliert bolo'bolo immer noch ungesteuert in allen möglichen Kreisen und schafft weiter die beabsichtigten Missverständnisse und Kontakte. Wer nicht dazu gehört, glaubt sogar an eine Weltverschwörung. Es ist inzwischen auch auf chinesisch erschienen und wird hoffentlich die «Sozialistische Marktwirtschaft» in China im Kern erschüttern.

Ich möchte allen Übersetzerinnen, Verlegerinnen, Korrektorinnen, Vertreterinnen, Herumreicherinnen, Zuflüstererinnen und andern Helferinnen meinen herzlichen Dank aussprechen. Ihr habt es möglich gemacht, dass Auflage um Auflage von bolo'bolo wie von selbst vom planetaren gesellschaftlichen Geflecht aufgesogen wurde. Weiter so! Wer Möglichkeiten sieht, Ausgaben in zusätzlichen Sprachen oder Dialekten zu bewerkstelligen, möge sich mit dem Verlag in Verbindung setzen.

p. m. 1995

Abfahrt

Und wieder sitze ich im Bus. Es ist morgens um sieben Uhr dreissig, Linie 32. Es ist regnerisch und kalt, bald wird es schneien. Die Nässe dringt durch Schuhe und Hosen. Wie gelähmt sitze ich da und sehe ich die gefassten, ruhigen Gesichter. Eine junge Frau unterdrückt ein Gähnen, verzieht ihre Mundwinkel. «Nordstrasse», brummt der Chauffeur. Wieder überfällt mich dieses Gefühl der Fremdheit. Ungläubig starre ich durch das Fenster. «Wozu das Ganze?» «Warum mache ich das noch mit?» «Wie lange noch?» Eine Maschine hat mich im Griff. Ekel stallt sich in meiner Brust. Es geht unaufhaltsam dem Arbeitsplatz entgegen. «Guten Morgen, Arbeitsvieh!» Der Aufschub ist kurz, die Zeit zerrinnt von Station zu Station. Gewaltsam wurde ich dem Schlaf entrissen, widerstandslos verschlingt mich die Alltagsmaschine.

Meine Haltestelle kommt, doch ich kann nicht aufstehen. Ich bleibe sitzen bis zur Endstation. Aber der Bus hält nicht mehr. Er fährt weiter: durch Österreich, Jugoslawien, die Türkei, Syrien, Persien ... nach Indien, Malaya. Unterwegs verwandelt sich der Bus. Er wird umgebaut, farbig bemalt, mit Betten versehen, repariert, dem wechselnden Klima angepasst. Die etwa zwanzig Passagiere werden zu einer engen Lebensgemeinschaft. Sie suchen sich unterwegs Jobs, um den Treibstoff, die Ersatzteile und die Lebensmittel kaufen zu können. Sie teilen sich in die Busarbeit. Sie erzählen sich ihre Geschichten. Das andere Gesicht des Alltags kommt zum Vorschein: Leistungsverweigerung, Sabotage, Schlamperei, Diebstahl, Indiskretionen, Krankfeiern, solidarische Aktionen, Racheakte gegen Chefs, nächtliche Anschläge. Alle haben auf ihre Art irgendwann Widerstand geleistet und versucht, die Maschine aufzuhalten. Vergeblich. Fünf Jahre später kehrt der Bus zurück. Er ist von Auf- und Anbauten überkrustet, trägt Inschriften in unbekannten Alphabeten, hat bunte Vorhänge. Niemand erkennt ihn wieder und die Rückkehrer sind Fremde ...

Haltestelle. Aussteigen. Der Traum ist zu Ende. Wochenenden, Ferien, Illusionen und Fluchtphantasien gehen immer wieder zu Ende und wir sitzen wieder im Bus oder in der Strassenbahn, im Auto oder in der U-Bahn. Die Alltagsmaschine triumphiert über uns. Wir sind ein Teil von ihr. Sie zerstückelt unser Leben in Zeitfragmente, kanalisiert unsere Energien, zermalmt unsere Wunschträume. Wir sind nur noch gefügige, pünktliche, disziplinierte Zahnrädchen in ihrem Getriebe. Und die Maschine selbst treibt dem Abgrund entgegen. In was haben wir uns da eingelassen?

Der grosse Kater

Es hatte vielversprechend angefangen. In der Altsteinzeit z. B. (etwa vor 50000 Jahren) gab es erst wenige von uns, waren Pflanzennahrung und Wild im Überfluss vorhanden und erforderte das Überleben nur wenig Zeit und mässige Anstrengungen. Um genügend Wurzeln, Beeren, Nüsse, Früchte oder Pilze zu sammeln und um ein paar Kaninchen, Rehe, Kängurus, Fische, Vögel oder Eidechsen zu erjagen (oder noch bequemer: mit Fallen zu erwischen) brauchten wir bloss zwei bis drei Stunden pro Tag. In unseren gemütlichen Lagern, in Laubhütten oder Höhlen, verzehrten wir das Fleisch und die gesammelten Pflanzen gemeinsam und verbrachten wir den Rest der Zeit mit herumdösen, träumen, baden, tanzen, schmusen und Geschichten erzählen. Einige begannen Felswände zu bemalen, andere schnitzten an Knochen oder Holzstücken herum, oder sie erfanden neue Fallen und Lieder. Unbeschwert zogen wir in Horden von etwa 25 Leuten in der Gegend herum, ohne viel Gepäck und ohne Eigentum, ohne Familienbindungen und Chefs, ohne Angst und Religion. Von 2 Millionen Jahren haben wir nur etwa 10000 Jahre nicht so gelebt. 99,5 % unserer Geschichte sprechen für sich. Die jüngere Altsteinzeit war unser bisher bester Deal – so behauptet es wenigstens die neuere Forschung. Eine lange und glückliche Zeit – verglichen mit den 200 Jahren dieses industriellen Alptraums.

Viele Geschichten wären von dort an denkbar gewesen. Eine davon ist die unsere – eine Art dummer Ausrutscher, mit gigantischen Folgen. Jemand muss mit Samen und Pflanzen herumgespielt und so allmählich die Landwirtschaft entdeckt haben. Es schien eine gute Idee zu sein: Statt den essbaren Pflanzen nachzulaufen, konnte man sie nun in der Nähe des Lagers wachsen lassen. Aber wir mussten nun mindestens einige Monate am gleichen Ort bleiben, genügend Saatgut zurückbehalten, die Arbeit einteilen, vorausplanen und unmittelbare Bedürfnisse unterdrücken. Statt mit der Natur lebten wir nun von ihr und sahen wir sie immer mehr als unberechenbaren Partner und manchmal als gemeinen Spielverderber. Wir hatten die Produktivität entdeckt: dass es einen Zusammenhang zwischen unserer Arbeit und dem Umfang der Ernte gab. Disziplin wurde wichtiger als Jagdglück. Und das Ganze nahm dann einen sehr unglücklichen Verlauf: Die Frauen, die bisher hauptsächlich gesammelt hatten, wurden für die Feldarbeit zuständig. Dann kamen die Männer mit Zugtieren und Pflug. Die Frauen verloren ihre Gleichberechtigung und wurden immer mehr unterdrückt. Zum Trost erhielten sie den Kult der Grossen Göttin. Viehzüchter unterjochten die Ackerbauern, es entstanden Staat, Kriegerkasten – der allgemeine Weltkrieg, der bis heute dauert. Es ist schwierig zu rekonstruieren, was damals genau falsch gelaufen ist, doch dass wir da etwas ganz Dummes ausprobieren, ist nun klar geworden. Statt eines vielfältigen Mit- und Durcheinanders haben wir eine Unterdrückungspyramide aufgebaut: Könige-Männer-Frauen-Kinder-Tiere-Pflanzen. Diese Geschichte war sicher nicht «notwendig», aber die Weichen wurden doch schon sehr früh gestellt.

Mit dem Aufkommen der alten Zivilisationen in Mesopotamien, Indien, China und Ägypten war die Staatsgewalt, die Kontrolle des Zentrums über die Gesellschaft, schon zum Selbstzweck geworden. Von nun an ging es um die «Macht», also den Einfluss auf dieses Zentrum. Und damit begann die Geschichte, diese «ewige Flucht nach vorn», auch Fortschritt genannt. Wie schlecht es uns ging, zeigt schon die Tatsache, dass nun Utopien und Träume von goldenen Zeitaltern, vom Paradies, von Arkadien, Atlantis usw. als Rechtfertigungs- oder Trostideologien gebraucht wurden. Die Männer im Zentrum sagten uns, dass nur straffe Organisation und verbesserte Produktionsmittel wieder zum Glück führen konnten. Wir begannen für die Illusion des Fortschritts zu arbeiten. Jene, die die Täuschung durchschauten und einen abgekürzten Weg zum Paradies gehen wollten, wurden als Rebellen, Verräter, Ketzer oder Barbaren verfolgt, deportiert, verstümmelt oder massakriert. Unsere Sippen und Stämme wurden ausgelöscht, wir wurden Fremdlinge auf unserer Erde und standen den hierarchischen Zwangsorganisationen wehrlos gegenüber. Statt zwei Stunden arbeiteten wir nun zehn und mehr auf den Bauplätzen und Feldern der Pharaonen und Cäsaren, starben wir in ihren Kriegen und wurden wir nach Belieben herumgeschoben. Wir wurden zum Staats- und Arbeitsvieh.

Mit der Industrialisierung wurde es nicht besser. Nachdem die Bauern frech geworden waren und die Handwerker in den Städten zu unabhängig, setzten die Herren des Zentrums zu einem neuen Sprung an. Das neue Organisations- und Zwangsmittel hiess nun Fabrik. Sie sammelten uns auf den Strassen ein und sperrten uns in diese schmutzigen, lärmigen Schuppen, wo uns Maschinen einen neuen Arbeitstakt diktierten. Die Unterdrückung wurde automatisiert und vervielfacht. Die Maschine ist Produktions- und Strafmittel in einem: Wer sich ihr nicht fügt, wird mit einem «Unfall» bestraft. Fortschritt bedeutete wieder nur mehr Arbeit und noch mörderischere Lebensbedingungen. Die ganze Gesellschaft und der ganze Planet wurden zu einer grossen Arbeitsmaschine. Und diese Arbeitsmaschine war gleichzeitig eine Kriegsmaschine, denn Frieden und Arbeit schliessen sich gegenseitig aus. Wie soll einer, den die Arbeit langsam zerstört, sich dagegen wehren können, dass die Maschine andere umbringt? Die eigene Unfreiheit ist immer eine Bedrohung der Freiheit der andern. Die Industrie ist immer eine Rüstungsindustrie – auch im «Frieden». Entweder führt sie den Kleinkrieg namens «Alltag» oder den Grosskrieg namens «Krieg». Das eine geht nicht ohne das andere.

Auch diesmal begleiteten Illusionen und Utopien die neue Verschärfung unserer Sklaverei. Die «Zukunft» musste ja besser werden, wenn die Gegenwart so elend war. Sozialistische Reformer versuchten den Arbeitern einzureden, dass die moderne Industriegesellschaft auf lange Sicht mehr Freizeit und Wohlstand, mehr Freiheit und Genüsse bringen würde. Marx meinte, wir würden dann endlich wieder in Ruhe jagen, fischen und dichten können. (Wozu der grosse Umweg?) Dann verlangten sozialistische und kommunistische Politiker aller Schattierungen, von Lenin bis Trotzki, von Castro bis Pol Pot, von uns mehr Opfer und Disziplin, um die neue Gesellschaft aufzubauen. Doch der Sozialismus war nur ein neuer Trick der Arbeitsmaschine, die sich so auch dort durchsetzen konnte, wo es an privatem Kapital fehlte. Die Herren des Zentrums hatten sich nur anders verkleidet. Der Arbeitsmaschine ist es egal, ob sie nun von transnationalen Konzernen oder von Staatsbürokratien entwickelt und verwaltet wird. Ein Politbüro ist ihr genauso genehm wie ein Verwaltungsrat. Die industrielle Arbeits- und Kriegsmaschine hat unser Raumschiff und seine Zukunft gründlich ruiniert: Die Möblierung (Dschungel, Wälder, Seen, Meere) ist zerschlissen, unsere Spielgenossen sind verschwunden oder fast ausgerottet (Wale, Schildkröten, Bären, Tiger), die Luft stinkt und macht uns krank, die Vorratskammern sind geplündert (fossile Brennstoffe, Metalle) und die atomare Selbstzerstörung ist vorbereitet. Wir bringen es trotz «Fortschritt» nicht einmal zustande, dass alle genug zu essen haben. Wir sind so nervös und reizbar geworden, dass wir für alle Arten von nationalistischen, rassistischen oder pseudoreligiösen Bewegungen, Pogrome und Kriege zu haben sind. Für viele von uns ist der Selbstmord oder ein Atomkrieg nicht mehr eine Bedrohung, sondern die willkommene Erlösung von Angst, Plackerei und Langeweile.

Einige Tausend Jahre Zivilisation und 200 Jahre Industriegesellschaft haben uns mit einem grossen Kater zurückgelassen. Die «Wirtschaft» ist zum Selbstzweck geworden und droht uns zu verschlingen. Das Hotel «Erde» terrorisiert seine Gäste. Doch wir sind Gäste und Wirte zugleich.

Die Planetare Arbeitsmaschine (PAM)

Das Monster, das wir aufgezogen haben und das diesen Planeten beherrscht, heisst: Planetare Arbeitsmaschine (PAM). Wenn wir unser Raumschiff/Hotel wieder in einen angenehmen Aufenthaltsort zurückverwandeln möchten, müssen wir uns also zuerst mit der PAM befassen. Wie schafft es die Maschine, uns unter Kontrolle zu halten? Wie kann sie blockiert und auseinandergenommen werden? Wie können wir sie loswerden, ohne dass sie uns zugleich vernichtet?