Amberland - P. M. - E-Book

Amberland E-Book

P.M.

0,0

Beschreibung

Willkommen in Amberland Die Amberländer:innen können sich beleidigt fühlen, wenn sie nur aufgrund dieses Reiseführers aufgesucht werden. Sie wollen von individuellen Freund:innen empfohlen sein. Diesem Dilemma zu entkommen ist zugegeben schwierig. Die Gabe der kleinen Lüge wirkt hier Wunder: Anstatt den Reiseführer als Quelle der Inspiration anzuführen, einfach auf eine Freundin Berta verweisen. Den Reiseführer selbst auch besser nicht offen mitführen, sondern im Rucksack verstecken oder gleich zu Hause lassen. Wer ihn sorgfältig gelesen und die kleine Lüge gut geübt hat, dem kann auf Amberland eigentlich nicht mehr viel passieren…

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 198

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



P.M.Amberland

Reiseführerin ein vergessenes Inselparadies

Die persönliche Verdankung von Roberto dem 2ten an den Autor

»P. M.s geschmacklose Enthüllungen werden sich als Bumerang erweisen.«

Progres

»P. M. hält uns den Spiegel hin, der das Fenster zur Welt werden kann.«

Faar Gazita

Reaktionen der amberländischen Presse zur Erstausgabe 1989

Einführung

Amberland ist weitherum unbekannt. Auch unter ihrem eigentlichen Namen Isckar scheint die Insel unauffindbar. Und doch existiert am äußersten Rand unserer Sicht der Welt Amberland. In der buchstäblichen Peripherie fristet Isckar ein unbeobachtetes Dasein. Selbst die Abenteurer aus der Reisebranche winken ab, wenn von Amberland die Rede ist. Mit diesem Reisebuch versuchen wir, Licht auf den weißen Fleck zu werfen.

Doch auch Isckar erlebte eine goldene Epoche. Die Insel war nicht immer unbekannt, wie das heute scheinen mag. Um 1900 traf sich der europäische Hochadel mit den steinreichen Industriemagnaten aus Amerika an den Stränden von Limas, Vilya oder Nabul. Die Casinos und Grand Hotels der ambrischen Südküste hatten einen legendären Ruf weit über Petersburg und Montevideo hinaus. Das geflügelte Wort vom Diamanten in Amberland als Sinnbild für das Sandkorn in der Wüste oder den Wassertropfen im Meer ging um die Welt.

Vieles hat sich seither geändert. Der Fortschritt hat die westliche Welt heimgesucht. Stillstand galt als Schande und Modernisierung als Muss. Nicht in Amberland. Still und heimlich hat es sich von der Industrialisierung abgekoppelt. Schritt halten mit dem Westen war nicht möglich oder nicht erwünscht. Eine wahrhaft orientalische Lethargie machte sich breit und verhinderte die Entstehung einer modernen Konsumgesellschaft. Das inverse Japan trieb dem Untergang entgegen, und als die Depression der 1930er Jahre die Insel erreichte, war die Geldwirtschaft schon fast am Boden. Die Ökonomen kehrten Amberland ein für alle Mal den Rücken zu. Seither steht der Diamant in Amberland für die Perlen, die vor die Säue geworfen werden.

Heute erleben wir einen zaghaften Neubeginn der ambrischen Annäherung an den Westen. Namentlich die ambrische Jugend sucht den Kontakt mit der Außenwelt und hat den entscheidenden Impuls zu diesem Reisebuch gegeben. Zwar gilt Reisen auf Isckar als beschwerlich. Geld kann nicht gewechselt werden, Kreditkarten und PayPal werden nicht akzeptiert, die Verkehrsmittel sind unpünktlich oder inexistent, die touristische Infrastruktur ist gleich null, das Personal unzuverlässig und der Service schlecht. Die wenigen Tourismus-Operatoren, die sich auf Isckar umgesehen haben, rattern auf Nachfrage ellenlange Beschwerdelisten herunter. Nicht einmal das Rückfahrdatum kann vorausgeplant werden.

Auch das Staatswesen siecht vor sich hin. Keine Polizei, keine Behörde und kein Rechtswesen schützen die Touristin vor Übergriffen und Diebstählen. Obskure kadis oder gar Ehrengesellschaften und Ritterinnenorden gelten als unberechenbar und sehr langsam, wenn ein Streitfall gelöst werden soll. Außerdem ist ohne Beziehungen gar nichts zu erreichen. Weder Unterkunft noch Verpflegung noch Transportgelegenheiten werden in unserem Sinn zum Kauf angeboten.

Die Menschen gelten als nett, aber völlig unzurechnungsfähig, wenn unsere Maßstäbe angelegt werden sollten. Doch das Chaos hat System. Allerdings nur für die Ambrerinnen, nicht für uns.

Wer Amberland bereist, braucht fast kein Geld, aber viel Zeit und Geduld. Amberland sollte ambulatorisch, in gemächlichem Schritt spazierend bereist werden. Hektik und Zeitnot sind hier ganz fehl am Platz. Ich stelle mir die typische Amberland-Ambulatorin so vor: Sie hat sich für mindestens zwei Monate von ihrem Chef verabschiedet und dunkel angedeutet, es könnte auch noch etwas länger dauern. Sie liebt die Improvisation und die Überraschung. Sie verfügt über viel Einfühlungsvermögen und Geduld. Sie ist sich nicht zu schade, auch selbst mit anzupacken, und vergisst dann, dass sie eigentlich in den Ferien ist. Sie schützt sich vor Frustrationen mit der Einstellung: Erstens denkt man anders, zweitens als es geht.

Ich bin mir bewusst, dass mit der Wiederveröffentlichung dieses Reisebuchs der Geheimtipp zum Reiseziel für viele und das Land vom sattsam bekannten Massentourismus überwalzt werden könnte. Allerdings bin ich sicher, dass die Amberländer*innen diese Entwicklung nicht zulassen werden. Gleichzeitig wachsen Bestrebungen, die eine Öffnung Amberlands wünschen. Nicht um Kapital aus dem Tourismusgeschäft zu schlagen, was in der geldlosen Gesellschaft Isckars ohnehin ein absurdes Unterfangen wäre, sondern um uns zu zeigen, dass der westliche Weg in eine ungewisse Zukunft nicht unabwendbar und alternativlos ist.

Amberland wünscht sich lernfähige und für neue soziale Erfahrungen empfängliche Tourist*innen. Amberland stellt Ansprüche.

Doch belohnt das Land den Aufwand reichlich. Eine nahezu unzerstörte Natur und eine vielfältige Kultur laden tagtäglich zu neuen Entdeckungen. Dieses Reisebuch soll dazu dienen, das Faszinosum Amberland zu erschließen, ohne es zu stören. Der Verfasser ist sich bewusst, dass sein Werk in die falschen Hände fallen kann. Er vertraut auf die Gabe der Ambrer*innen, die Kaputtmacher zu erkennen und auszuweisen. Dennoch wünscht er, dass der Geheimtipp Amberland zwar ein Tipp, aber doch geheim bleibt. Ein schwieriger Spagat, der vielleicht auch dadurch gelingt, dass ich für die Neuveröffentlichung nicht DuMont oder Lonely Planet, sondern bewusst den engagierten, aber kleinen Hirnkost Verlag gewählt habe, in dem auch meine literarischen Werke ihre Heimat gefunden haben.

Dieses Reisebuch folgt in seiner Gliederung dem klassischen Muster eines Reiseführers. Ein allgemeiner Teil informiert über die Geografie, die Geschichte, die Literatur und die Kunst des Landes. Namentlich das Kapitel über Sitten und Gebräuche sollte sorgfältig gelesen werden, um unliebsame Überraschungen zu vermeiden. Denn die Ambrer*innen sind stolze, manchmal überempfindliche Menschen. Sie reagieren sehr impulsiv, öfters mit der berühmten ambrischen Ohrfeige, wenn sie Geringschätzung spüren.

Ein oft zu beobachtendes Missverständnis zwischen Aus- und Amberländer*innen wurzelt in unserer Auffassung, dass Berufe den Menschen ausmachen. Wir sind es gewohnt, dass beispielsweise der Kellner eben Kellner IST und nicht nur spielt. Solche festgelegten Identitäten existieren in Amberland in einem viel geringeren Ausmaß. Der Kellner von heute kann der Gast von morgen sein, oder er kann mir nichts, dir nichts aus seiner Rolle fallen und eine andere spielen. Die Amberländer*innen sind durch ihre einmalige Reproduktionsweise nicht an Jobs und Berufe gebunden, die sie bei Missachtung der Regeln verlieren könnten, sondern bewegen sich von Rolle zu Rolle, ohne existenzbedrohende Konsequenzen fürchten zu müssen. Jede Amberländerin ist auch Teilzeitbäuerin, Köchin usw. Sie will als Mensch ernst genommen werden und nicht als Berufsausübende.

Ohne böse Absicht kann die Reisende in unzählige Fettnäpfchen treten, unnötig provozieren oder gar beleidigen, wenn sie den elementaren Regeln des sozialen Lebens auf Isckar nicht folgt. Natürlich bleibt die Reise ein Wagnis, über welches ein Buch nicht hinweghelfen kann. Aber gewappnet mit den wichtigsten Konzepten der ambrischen Gesellschaft ist die Reisende vor den schlimmsten Folgen gefeit.

Entgegen seinem Ruf als Heimat der Hinterwäldler*innen verändert sich Amberland laufend. Deshalb sind die Hinweise auf bestimmte burliks und deren Spezialitäten nicht unbedingt für bare Münze zu nehmen, weil die Informationen sich auf den Sommer 2022 beziehen und schnell veralten können. Ich bin deshalb für Ergänzungen, Korrekturen und Neuerungen zu diesem Reisebuch sehr dankbar.

In den informativen Text eingestreut finden interessierte Leser*innen kursiv gesetzte Erzählungen, die ich Euch / Ihnen ans Herz legen möchte, da sie das typisch Ambrische besonders gut zum Ausdruck bringen.

Im hinteren Teil des Buches sind die vier großen Städte beschrieben: Morham, Talsum, Laduga und Yambur werden vorgestellt. Ein Glossar mit den wichtigsten ambrischen Redensarten schließt das Buch ab.

Eine letzte Warnung: Die Amberländer*innen können sich beleidigt fühlen, wenn sie nur aufgrund dieses Reiseführers aufgesucht werden. Sie wollen von individuellen Freundinnen empfohlen sein. Diesem Dilemma zu entkommen ist zugegeben schwierig. Die Gabe der kleinen Lüge wirkt hier Wunder: Anstatt den Reiseführer als Quelle der Inspiration anzuführen, einfach auf eine Freundin Berta verweisen. Den Reiseführer selbst auch besser nicht offen mitführen, sondern im Rucksack verstecken oder gleich zu Hause lassen. Wer ihn sorgfältig gelesen und die kleine Lüge gut geübt hat, dem kann auf Amberland eigentlich nicht mehr viel passieren.

P.M. / T.G.

»Entweder die Welt verambert oder sie geht unter.«

Friedrich Dürrenmatt.

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Das Land

Die Leute

Die Geschichte

Die Sitten und Gebräuche

Die Wirtschaft

Die ambrischen Spezialitäten

Die Sprachen

Die Literaturen

Die Künste und Architekturen

Fakten für Reisende

Einreise / Ausreise

Gepäck

Reisezeit

Geld

Post

Unterkunft

Essen und Trinken

Gesundheit

Zeit

Elektrizität

Film und Foto

Zeitungen

Radio und Fernsehen

Unterhaltung

Verkehr

Vier wichtige Städte

Yambur

Laduga

Morham

Talsum

Anhang

Das Land

Amberland besteht aus der Hauptinsel Isckar und den beiden kleinen Inseln Isi und Eka im Nordosten. Vor allem vor der steilen, felsigen Westküste liegen unzählige winzige Inseln und Schären, die jedoch meist unbewohnt sind und früher den Piraten und Schmugglern als ideale Verstecke gedient haben. Weitere flache Inseln und Sandbänke findet man im Gebiet der Lagunen um Laduga an der Ostküste.

Isckar bedeckt eine Fläche von 72.000 km2, bei Ebbe etwas mehr. Davon entfallen auf die Elbur-Gebirgskette etwa 26.000 km2. Die Wüstengebiete im Süden nehmen ca. 8.500 km2 ein. Die Seenplatte von Larskura enthält Seen mit einer Oberfläche von 2.000 km2; ein Drittel der Landfläche ist von Wald oder Buschwald bedeckt. Isckar hat die Form eines spitzen Dreiecks, das nach Nordosten zeigt. Oft wird gesagt, es gleiche einem Schinken. Muslime sehen in der Form aber eher ein Füllhorn. Das Rückgrat der Insel wird vom Elbur, dem recht wilden tertiären Faltengebirge, gebildet. Es fällt im Westen steiler ab als im Osten, wo es in ein breites Hügelland (Lugdan, West-Larskura) übergeht. Im Norden endet der Elbur in einer vulkanischen Zone. Der Vulkan Narpir (2.600 m) ist noch aktiv (letzter Ausbruch 1998/99), und rundherum sprudeln und zischen eine Menge Heißwasserquellen und Geysire, die auch als Energiequellen genutzt werden. Der höchste Berg der Insel heißt Munt Alun (4.400 m). Im Süden verzweigt sich der Elbur gegen Westen in den mineralreichen Bentar (Silber, Eisen, Gold) und das trockene Tasari-Gebirge.

Da der Regen meist an der Westküste fällt, ist der Süden sehr trocken. Zwischen Galbul und bis über Tablash hinaus erstreckt sich die Algardash-Wüste. Das fruchtbare Land verteilt sich entlang der Flüsse Vadakar und Talgil über einige Oasen und gewisse Küstenstreifen. Im Algardash spürt man die Nähe Afrikas. Auch heute noch sind die Kontakte nicht abgebrochen.

Das Herz Isckars liegt im Larskura mit seinen Hügeln und seinen über hundert Seen, die durch die Flüsse Yarda, Dis und Potamu oder durch die unterirdischen Kanäle verbunden sind. Viele ausgedehnte Höhlensysteme dienten früher den Rebellen, Banditen oder Flüchtlingen als Verstecke. In der Römerzeit wurden sie als Katakomben benutzt. Die Gegend zwischen der Küste mit ihren langen Sandstränden und den Seen ist wieder trockener. Manchmal geht sie in Buschsteppen (garrigues) über.

Nördlich schließt sich der Lugdan an, benannt nach dem Fluss Lug. Gegen die Küste hin erstreckt sich ein fruchtbares Flachland, das als Weide und für den Reis- oder Weizenanbau genutzt wird. Die Gebiete zwischen dem Kelfis und dem Lug befinden sich sogar unter dem Meeresspiegel. Typisch für den Lugdan sind einzelne, herausragende Felsbrocken. Auf einem solchen ist die Oberstadt Ladugas erbaut.

Albo liegt in der Hügelzone

Entlang dem Ostabhang des Elburgebirges erstreckt sich eine lange, stark bewaldete Hügelzone mit einigen Seen. Einzelhöfe und Weiler herrschen hier vor.

Die Inseln Isi und Eka mit ihren je 500 Einwohner*innen liegen 220 km von der Hauptinsel entfernt. Isi ist gebirgig, Eka flach. Isi ist 220 km2 groß, Eka nur 63. Auf Isi liefert eine Heißwasserquelle die gesamte Heizenergie.

Geografisch gesehen ist Isckar also sehr vielfältig: Hochgebirge mit Gletschern, sumpfige Tiefländer, trockene, heiße Wüsten und feuchte Wälder, Steppen, Sandstrände und Fjorde (nardun), enge Täler und weite Horizonte. Diese Uneinheitlichkeit schlägt sich auch in der Geschichte, der Bevölkerung und in der Wirtschaft nieder. Es gibt kein Amberland – es gibt nur einzelne Regionen oder Bezirke, wie die Amberländer*innen sie nennen.

Das Klima der Insel wird bestimmt durch seine Lage in der subtropischen bis gemäßigten Zone und den Einfluss des warmen Maelstroms. Es ist sehr ausgeglichen. Die Winter sind mild und die Sommer erträglich heiß, außer vielleicht im Algardash. Regen fällt immer reichlich an der Westküste, aber auch im Nordosten.

Während es im Larskura und Lugdan im Sommer sehr schwül werden kann, weht in den anderen Landesteilen immer eine Brise. Stürme sind häufig im Norden und Westen. Amberland ist zu jeder Jahreszeit ein angenehmes Reiseland. Im Sommer empfiehlt es sich, ins kühlere Gebirge auszuweichen, wo man auch im Juli noch Skifahren kann. Im Winter ziehen viele Amberländer*innen traditionellerweise zu ihren fainuburliks (siehe: Die Geschichte, Die Sitten und Gebräuche) im Algardash und sparen sich so den Heizaufwand.

Die folgende Klimatabelle gibt die durchschnittliche Minimalund Maximaltemperaturen der wichtigsten Städte an (0C):

Auf dem Weg nach Dazi

Der Hauptsitz der Amberbank bleibt seit 1931 unvollendet

Einwintern in Ckar

Als ich endlich Zeit fand, Norkan in Ckar zu besuchen, war es schon Anfang November. Ich hatte Norkan vor zwei Monaten in einem Café am Gogrini-Platz in Laduga kennengelernt, und wir waren auf die Volksepen zu sprechen gekommen. Er hatte mir verraten, dass er – heimlich und superdoga – Tonbandaufnahmen rhapsodischer Vorträge zu Hause habe. Diese wollte ich auf meinen Reiserekorder überspielen und aus Isckar hinausschmuggeln.

Es war kühl und neblig, als ich in Ckar ankam. Mir wurde erst warm, als ich die lange Treppe vom Bahnhof zur Stadt hinaufstieg, die auf einer recht großen Bergterrasse gegen Süden angelegt ist und etwa 45 burliks (18.000 Einwohner*innen) umfasst. Norkan wohnte im burlik Akika (Storch) in der Neustadt. Aus dieser Richtung vernahm ich immer deutlicher emsiges Hämmern, Klopfen und Kreischen. In den Straßen herrschte überall Betrieb. Die Stadt schien in einem allgemeinen Aufbruch oder Umbruch begriffen zu sein. Balken, Säcke, Fensterscheiben, Truhen und Kisten wurden herumgetragen. Kleider hingen quer über den Gassen. Kinder rannten mit kleinen Körben und Koffern hin und her. Schweine wurden herumgetrieben. Die Stimmung war geschäftig, aber auch fröhlich. Die typische Dudelsackmusik erschallte aus vielen Hinterhöfen.

»Was ist los?«, fragte ich die erste Person, die mir begegnete.

»Einwintern!«, sagte die Frau kurzangebunden und eilte weiter.

Ich kam zu Akika. Auch hier herrschte Hochbetrieb. Ich fand Norkan in einer Nebenstraße. Er saß rittlings auf einem hohen Gerüst. Die Straße wurde für den Winter mit einem Glasdach überdeckt und in einen Wintergarten verwandelt, der zugleich die Wärme im Häuserblock zusammenhalten sollte. Dabei wurde auch eine besonders ausgeklügelte Vorrichtung montiert, die bei Bedarf den Schnee vom Glasdach automatisch wegwischen konnte. Norkan rief mir zu, dass er keine Zeit für mich habe. Die Gastfreundschaftsgesetze seien zudem während des Einwinterns teilweise aufgehoben. Am besten würde ich gleich mit Hand anlegen und helfen, die Glasdachteile aus dem Keller zu holen …

Was blieb mir übrig? Im Café saßen nur ein paar sehr alte Greise, die erst noch mit Linsen verlesen beschäftigt waren. Keine Stimmung zum Herumhängen wie üblich. Ich stellte meine Reisetasche in eine Ecke und machte mich ans Werk. Es war harte Arbeit. Die Verglasungen waren schwer und ich musste sehr vorsichtig mit ihnen umgehen. Denn Scherben hätten hier kein Glück gebracht.

In der Pause bei Leberwurst und Most erfuhr ich, was alles im Tun war. Das ganze burlik Akika wurde auf Winterbetrieb umgestellt. Es handelte sich um einen großen Häuserblock, eine Blockrandbebauung aus der vorletzten Jahrhundertwende, die für die Arbeiter der ehemaligen Silberindustrie gebaut worden war. Für den Winter wurden die obersten Stockwerke geräumt, ein Teil der Dachgärten abgeschlossen, Isolationsplatten montiert, Balkone verglast, Doppelfenster eingesetzt, die Nordseite abgedichtet, der Hof sowie einige Seitenstraßen auf der Höhe des zweiten Stocks teilweise überdacht. Im Innern mussten zusätzliche Wände und Türen zur Wärmedämmung eingesetzt werden. Die Parterreräumlichkeiten wurden durch den Einbezug der Wintergärten etwas größer, dafür musste man oben zusammenrücken. Es wurde diskutiert, wer zu wem umziehen würde. Vor allem die Kinder hatten großen Spaß an der Sache. Für die Jugendlichen ging es darum, welche Pärchen über den Winter zusammenzogen. Auch das verursachte ziemlichen Wirbel.

Im Hinterhof wurden Schweine abgestochen, verwurstet und eingepökelt, Käse eingelagert, Kartoffeln in die Hurden geleert, Sauerkraut eingestampft, Weinfässer aufgefüllt, Holz bereitgestellt, Öfen revidiert usw. Alle hatten etwas zu tun. Die Mahlzeiten tagsüber wurden nur sehr improvisiert gestaltet, dafür stieg jeden Abend ein Fest. Blut- und Leberwürste, Kastanienbrei, gebratene Äpfel, Gänsebraten, Kraut und Berge von Schlagrahm gehörten dazu. Der Energieschub für den Winter!

Der Zeitpunkt des Einwinterns wird in Ckar jeweils vom Rat der Alten festgelegt, die für ihren Entscheid die Mondphase, den Stand der Planeten, das Verhalten der Insekten und ihr eigenes Befinden (Rheumatismen) beobachten. Das Einwintern nimmt die ganze Bevölkerung für eine halbe Woche, d. h. sieben Tage, vollständig in Beschlag. Alle anderen Arbeiten, Liebhabereien und Reisen werden gestrichen. Die Gäste müssen mithelfen und sich selbst durchschlagen. Wie die Murmeltiere bereiten sich die burliks in den Bergen, wo es sehr kalt werden kann, auf den »Winterschlaf« vor. Das heißt nicht, dass keine Aktivitäten mehr entfaltet werden, sie werden einfach mehr nach innen verlagert. Vor allem werden die burliks so eingerichtet, dass sie möglichst wenig Energie verbrauchen. Etwa ein Drittel der sonst bewohnten Räume wird verschlossen. Die Schlafzimmer werden nur auf etwa 18° geheizt. Es stehen jedoch genug Aufenthaltsräume im Parterre zur Verfügung, wo es gemütlich warm ist. Dazu bleibt das große Bad in Betrieb. Wer sich im Sommer über viele Räume, über Loggien, Dachhütten usw. ausgebreitet hat, muss seine Sachen zusammenpacken und ein kleineres Zimmer beziehen.

Bei meiner Ankunft war das Einwintern schon zwei Tage im Gang. Die großen Arbeiten waren schon erledigt. Nun ging es vor allem darum, die Winterkleider hervorzuholen, das Sommerzeug sicher einzumotten, nochmals die Betten zu lüften und die Stiefel zu flicken. Für etwa 40 Akikaner*innen bedeutete dieses Einwintern auch Abschiednehmen, denn jedes Jahr überwintern traditionellerweise viele Bewohner*innen, insbesondere ältere oder gesundheitlich Schwächere, in einem befreundeten burlik im milden Alsuk. Für sie ist es die Zeit des großen Packens, denn im Rahmen einiger fainus nehmen sie auch viele Waren mit.

Ich habe das Einwintern sehr genossen, obwohl ich jeden Abend hundemüde war. Pünktlich am siebten Tag waren wir fertig und das große stadtweite Herbstfest begann. Gruppenweise zogen die Ckarer*innen von burlik zu burlik und ließen sich verköstigen. Bei Bier, Most und Wein begutachteten sie auch die fantasievollen Neuerungen, die jedes burlik sich hatte einfallen lassen. Immer neue Sonnenkollektorsysteme, effizientere Heizkessel, neue Abwärmenutzungen, verbesserte Isolationen waren zu besichtigen. Aber auch die Qualität der Würste, des Mostes und der eingemachten Gemüse wurde beurteilt.

Als ich Norkan am achten Tag am Nachmittag aus seinem Kater gerüttelt hatte, mochte er sich nicht mehr erinnern, wo er die kostbaren Tonbänder versteckt hatte. Auch er war umgezogen.

»Vielleicht bei den Sommersachen«, murmelte er. »Am besten kommst du zum Auswintern im März … Das ist noch viel lustiger.«

Da ich mich persönlich nicht »eingewintert« hatte, nahm ich den Zug mit den Leuten, die in den Süden zogen. Schon in Talsum konnte ich den ausgeliehenen Pullover einem Akikaner mitgeben.

In Ckar vor dem Einwintern

Flora und Fauna

Flora und Fauna weisen einige Besonderheiten auf, da sich wegen der langen Trennung vom Festland viele Arten erhalten oder entwickelt haben, die sonst nirgends zu finden sind. Im südlichen Elbur finden wir urtümliche Farnbäume, die zabars, im anschließenden Algardash die sogenannte Zuckerpalme (fakrut, Palmyra saccharifera), deren riesige Datteln zur Zuckergewinnung gesammelt werden. Im Waldgebiet östlich des Elbur stehen kori-Fichten, die oft mehrere Jahrhunderte alt sind, über 30 Meter hoch und mehrere Meter dick werden, sodass sie von Baumhüttenleuten bequem bewohnt werden können. Leider wurden viele koris gegen Ende des 19. Jahrhunderts gefällt und zu Eisenbahnschwellen und Grubenholz verarbeitet. Im Lugdan heimisch ist die ambrische Roteiche (payho, Quercus ambricus purpureus), aus deren Eicheln sich ein leicht anregendes Getränk brauen lässt. Einen unvergesslichen Anblick bieten die bunten Moosteppiche in der vulkanischen Region um Breta. Dort gedeiht auch die Phosphorrose (ziza, Rosa ambrica phosphorica), deren Blüten im Dunkeln gelb phosphoreszieren.

In den Wäldern des südlichen Larskura finden sich prächtige Orchideen. Die Seen sind oft von Seerosen bedeckt, die den Meister der expressionistischen Hermetik Burhamson (siehe: Die Künste und Architekturen) zu seinen großflächigen Bildern angeregt haben. Auf gewissen Inseln in Larskura gedeiht der obo, ein schwarz- gelber Pilz mit halluzinogenen Substanzen. Das Einzelburlik Gadagada, das allerdings auf keiner Karte verzeichnet ist, kann da bei Bedarf vielleicht weiterhelfen.

Am Vadakar wachsen Bambushaine, in der Wüste die ungoks, Tellerkakteen von bis zu drei Metern Durchmesser (nicht hineinfallen!). Im Elbur-Gebirge hat sich eine einzigartige Flora erhalten. Hoch oben trifft man mit viel Glück auf den Goldstern, gorsami, ein golden glänzendes Edelweiß. Das Brotmoos (famu) kann getrocknet, gemahlen und zu wohlschmeckendem Brot verarbeitet werden. famu-Brot ist eine Spezialität in Iso. Die dortigen blauen und roten Disteln werden zur Schmuckherstellung verwendet. An Bachufern gedeiht das Bärenzahnkraut (alvador, Corydalis ursina), das richtig präpariert gleichzeitig als Empfängnisverhütungsmittel und Aphrodisiakum wirkt.

Insektenforscher*innen, Reptilienfreund*innen und Vogelbeobachter*innen kommen auf Isckar voll auf ihre Kosten. Erwähnenswert sind die Riesenlibellen im Larskura, die der Sage nach schon kleine Kinder geraubt haben, und die schmackhaften, kiloschweren Tigerschnecken, die in Nishur als Delikatesse zubereitet (paniert wie Wiener Schnitzel) werden. Der Nordkäfer dreht den Kopf genau nach Norden, wenn man ihn auf den Rücken legt. Die Spiegelschmetterlinge (seseni) ernähren sich von Moskitos, die sie mit ihren Spiegelflügeln blenden. Die Selbstmordspinnen (nuku-rina) stürzen sich an ihrem Faden von den höchsten kori-Fichten, wobei der Faden manchmal reißt, was den Spinnen ihren Namen eingetragen hat. Die Totengräberameisen erfüllen eine wichtige ökologische Funktion, indem sie die Kadaver vergraben. Zu warnen ist vor den Giftmilben, die in den zahlreichen Teichen anzutreffen sind. Ihr Stich ist tödlich. Örtliche Insektenassoziationen (Tel. 555) können bei Stichen oder merkwürdigen Begegnungen immer helfen.

Der Nordkäfer

Reptilienliebhaber*innen werden das hintere Bani-Tal (Algardash) aufsuchen, wo sich Abkömmlinge der Dinosaurier, die uruks, oder Bani-Leguane (Saurus ambricus baniensis) erhalten haben. Die Tiere leben in einem sumpfigen Nebental, das durch eine enge Schlucht mühsam erreicht werden kann. Exemplare von bis zu vier Metern Länge (mit Schwanz) sind gesichtet worden. Die uruks haben es trotz ihrer unüberbietbaren Dummheit geschafft, zu überleben, weil sie schon immer doga waren. Pro Jahr erlegen ausgewählte Köche in einer rituellen »Jagd« zwei ältere Tiere, um das berühmte Leguan-Kuskus (kuskus-uruk) von Mugura zuzubereiten (eine Ramadan-Spezialität). Damit bleibt das ökologische Gleichgewicht im Sumpftal gewahrt.

Ja, es gibt Schlangen auf Isckar. Giftige Halbmondottern und Vipern kommen im Gebirge und im Süden vor. Im Algardash lebt die Spring-Kobra, die sich hinter Felsen oder im Sand versteckt und Beutetiere (Mäuse, Insekten) anspringt. Auch dem Menschen kann sie gefährlich werden. Glücklicherweise lässt sie sich durch die kisham-Rassel leicht vertreiben, die auf allen Poststationen und in den burliks ausgeliehen werden kann. Eine besonders große, schwarze Natter (guza), die drei Meter lang wird, kommt im Larskura vor, ist jedoch völlig harmlos und gilt sogar als kinderlieb. Das gilt ebenfalls für die geringelten Hausnattern (maka), die im Süden und im Dirya als Mäuse- und Rattenfänger gehalten werden. Auch vor den überall gegenwärtigen Geckos (bilbo) braucht man keine Angst zu haben.

In den Larskura-Seen wimmelt es von Aalen, Karpfen, Hechten und Welsen. Der Larskura-Wels, lotak, erreicht vier Meter Länge und wird darum auch See-Wal genannt. In den meisten Flüssen können Lachse gefangen werden. Vogelfreunde werden an die Nordwestküste reisen, wo viele seltene Vögel ihre Brutkolonien anlegen. Der Papageien-Pinguin, makoto, kann menschliche und andere Stimmen nachahmen und wird oft als Haustier gehalten. Im Elbur leben Adler und die Elbur-Geier (komur). Die flugunfähigen Bodenraben (mari) suchen ihre Nahrung in den Wäldern des Lugdan. Sie verstecken sich tagsüber in Höhlen. Auf Isckar findet man Auerhähne, Störche, Reiher, Fasane und viele andere Vögel. Auskünfte können die Vogelgesellschaften und die gastronomische Assoziation (beide Nr. 555) erteilen.

Selbstverständlich haben auf Isckar die Bären überlebt. Der gelb-braune kleine Ambar-Bär (Ursus ambricus melliphagus) erinnert weniger an die große schwarze Bärengöttin – vgl. Ambrologie – als an den harmlosen Winnie the Pooh. Er ist rund um den Munt Alun und nördlich davon anzutreffen. Gereizt oder geneckt kann er durchaus gefährlich werden. Er ist ohnehin doga.