Das Gesicht des Hasen - P.M. - E-Book

Das Gesicht des Hasen E-Book

P.M.

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Beschreibung

Außer seinen Wanderschuhen, dem Regenzeug und einem kleinen Rucksack hatte er einen Feldstecher, einen analogen Photoapparat und sein Notizbuch dabei. Weder Laptop noch Smartphone gehörten zu seiner Ausrüstung – er plante zwei digitalfreie Wochen. Diese umsichtige Planung würde weitgehend überraschungsfreie Ferien garantieren. Abenteuerreisen waren nichts anderes als mutwillige Überforderungen verletzlicher Strukturen, energetische Kleinkatastrophen sozusagen. Die Vermeidung von unnötigen Abenteuern war ein ökologisches Gebot. Doch da geschehen gleich mehrere Morde. Und er entdeckt eine eigenartige Gesellschaft, die nicht von dieser Welt zu sein scheint und ausgerechnet ihn zum Wanderer zwischen den Welten erwählt.

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Der Autor

P. M., geboren 1947, wurde mit seinem ersten Roman Weltgeist Superstar (1980) im deutschsprachigen Raum bekannt.

bolo’bolo, eine Art Glossar für eine andere Welt, erschien 1983 und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, unter anderem ins Russische, Türkische und Hebräische. Seitdem erschien eine ganze Reihe von Romanen, Sachbüchern, Spielen und Theaterstücken. P. M. war aktiv in der Zürcher Hausbesetzungsszene und engagiert sich im genossenschaftlichen Wohnungsbau und in der urbanistischen Diskussion – zuletzt mit dem Buch Die Andere Stadt (2017).

»Im Allgemeinen verursachen Nahrungsmittel einer leicht stimulierenden Art Träume: so zum Beispiel rotes Fleisch, Tauben, Enten, Wild, und vor allem der Hase.«

Jean-Anthelme Brillat-Savarin, Die Physiologie des Geschmacks oder Meditationen über die transzendente Gastronomie, 1825

Paul Sandhurst saß im Zug nach Newcastle. Er packte sein zweites Sesambrotsandwich mit Sojasprossen und Kressequark aus und biss hinein. Dabei löste sich ein Quarkklecks seitlich aus dem Spalt zwischen den zwei Brotscheiben und fiel auf den rechten Ärmel seines grau-grün gesprenkelten Tweedjackets. Doch Sandhurst kümmerte sich nicht darum und ließ sich den herb-sauren Geschmack von Soja und Kresse auf seinem Gaumen zergehen, spürte mit der Zunge ein Stück erfrischend bittere Gurke auf und genoss die Gewissheit, gesund und gut zu essen.

Der Wagen holperte rhythmisch über die Geleise, während die vom Nieselregen verschmierte Landschaft vorbeizog. Sandhurst bemerkte endlich den Quarkklecks auf seinem Unterarm und wischte ihn mit einer Kante seines Wanderbuches The Cheviot Hills sorgfältig weg. Der Quark fiel auf den Boden, ohne größeres Aufsehen zu erregen, denn Sandhurst hatte das Abteil ganz für sich. Er war froh, allein in einem Abteil zu sitzen, denn im ersten Abteil gab ein Mann mittleren Alters per Mobiltelephon Befehle an ferne Angestellte durch, im zweiten saß eine jüngere Frau, die eifrig auf ihrem Smartphone herumtippte und sich von der Welt abgrenzen wollte. Die Fasern des Tweedstoffs hatten den Quark am Festkleben gehindert, und so blieben nur einige kaum wahrnehmbare weiße Partikel haften.

Sandhurst schaute zum Fenster hinaus und war zufrieden, denn angenehm gräuliche Nebelschwaden verwandelten die Gegend in eine Abfolge beruhigend formloser Silhouetten. Waren es Häuser, Fabriken, Hügel? Yorkshire. Er riss sich von der Traumlandschaft los, wandte sich wieder seinem Buch über die Cheviots zu und versuchte, sich die Wanderungen auszumalen, die er zu unternehmen gedachte. Schon vor Wochen hatte er einige Routen grün koloriert und landschaftliche Anhaltspunkte mit roten Kreisen bezeichnet. Außer seinen Wanderschuhen, dem Gore-Tex-Regenzeug und einem kleinen Rucksack hatte er einen Feldstecher, einen analogen Photoapparat und sein Notizbuch dabei. Weder Laptop noch Smartphone gehörten zu seiner Ausrüstung – er plante zwei digitalfreie Wochen. Er würde Füchse und Dachse, einige Wachteln und Buntspechte, verschiedene Finkenarten und die üblichen bedrohten Pflanzen antreffen. Er würde ja sehen, welche Arten trotz der Umweltzerstörung noch vorhanden waren. Diese umsichtige Planung würde weitgehend überraschungsfreie Ferien garantieren.

Sandhurst war ein mittelgroßer Mann um die fünfzig, mit wenig blondem Haar, grauen Augen, feiner Nase und einem weichen Mund. Sein Gesicht wirkte oft leicht erschrocken oder fragend. Er trug eine dünn umrandete bifokale Hornbrille, mit der er sowohl lesen als auch in die Weite sehen konnte. Er sah so unauffällig aus, dass er sozusagen mit dem sozialen Hintergrund seiner Epoche verschmolz, und war sich dessen durchaus bewusst. Kontrolleure, Zöllner und Sicherheitsbeamte ließen ihn immer anstandslos passieren, ohne auch nur einen Blick auf seine Tickets oder Dokumente zu werfen. Nie wurde er durchsucht. Sie wussten, dass bei diesem Mann, falls sie ihn überhaupt bemerkten, alles in Ordnung war. Manchmal kam es ihm in den Sinn, dass er eigentlich der ideale Geheimagent oder Terrorist wäre. Er könnte unerkannt überall hingelangen und ebenso unerkannt wieder verschwinden. Er beabsichtigte allerdings nicht, auf diesem ohnehin prekär ausbalancierten Planeten physische Eingriffe vorzunehmen, deren Auswirkungen nur schwer abzuschätzen waren. Er arbeitete in der Buchhaltungsabteilung von Western Power, hatte alle politischen und technologischen Revolutionen der Elektrizitätsbranche mitgemacht und überstanden und wollte damit nichts weiter zu tun haben. Er beherrschte die neueste Software, betrachtete seine öde Arbeit als eine milde Strafe für seinen kaum verantwortbaren, überhöhten Ressourcenverbrauch und seine Komplizenschaft mit der Atomindustrie und fuhr immer per Bahn oder Schiff in den Urlaub, manchmal in den Lake District, manchmal nach Cornwall, manchmal nach Schottland. Dieses Jahr war es wieder einmal der Norden. Es war noch September, aber schon recht kühl. Vielleicht hatte er Glück, und es gab einen Altweibersommer. Wenn er Pech hatte, war er auch für regnerisches Wetter ausgerüstet.

Wichtig war es, an jedem Tag einige Stunden in Wind und Wetter zu verbringen. Für den Rest der Zeit hatte er fünf Bücher dabei, darunter eine Biographie des Propheten Mohammed. Dazu sein Tagebuch. Das würde für die zwei Wochen genügen.

Sandhurst reiste sorglos im Express-Zug, denn er hatte sich schon von Reading aus ein Zimmer im vom Green Guide empfohlenen Hotel Lynndale Manor House, etwas außerhalb des Dorfes Wexham, reserviert. Es war nicht gerade billig, aber man hatte ihm versichert, dass die Küche sehr gut sei und jederzeit vegetarische Kost erhältlich sein würde.

Wie er es gewohnt war, hatte er aufmerksam die Karte der Umgebung von Wexham studiert und sich die Namen von Flüssen, Anhöhen, Dörfern und den nahen Buchten der Nordseeküste eingeprägt, damit er sich nach der Ankunft mühelos im Gelände orientieren konnte, ganz ohne Smartphone und GPS. Sandhurst hielt Überraschungen für unnötige Inszenierungen von Selbstbetrug und suchte auch in der Fremde nur Gewohntes. Das war ihm bisher immer gelungen. In Schottland zum Beispiel hatte er sich so ausgiebig eingelesen, dass das Land sich vor seinen Augen als lückenlose Bestätigung seiner Vorstellungen abwickelte: die Trockenmauern, die grünen Weiden, die Torfmoore, die schroffen Küsten.

Sandhurst traute es sich zu, dass er Afghanistan, Bolivien oder Neuguinea auf die gleiche Weise bereisen könnte. Man wusste inzwischen via Internet und Fernsehen so viel über diese Länder, dass physisches Bereisen nur noch überflüssiger Nachvollzug war. Selbstverständlich hielt er brennstoffintensive Flugreisen ohnehin für unverantwortbar.

Entdeckungen lehnte er strikt ab, denn Unbekanntes musste genauso vor zerstörerischem Wissen geschützt werden wie bedrohte Pflanzen- oder Tierarten. Was man nicht wusste, war in einer immer totalitäreren Informationsgesellschaft ein Reichtum. Abenteuerreisen waren nichts anderes als mutwillige Überforderungen verletzlicher Strukturen, energetische Kleinkatastrophen sozusagen. Die Vermeidung von unnötigen Abenteuern war ein ökologisches Gebot. Es konnte immer noch genug Schreckliches passieren.

Mit Befriedigung stellte Sandhurst fest, dass Abenteuertouristen zunehmend Opfer lokaler Banditen oder meist islamischer Terroristen wurden, wodurch ganze Landstriche in Asien und Afrika eine Beruhigung erfuhren. War es möglich, dass die islamische Religion jenes Bremsmittel war, das den auf den Abgrund zurasenden Planeten noch zum Stillstand bringen konnte?

Sandhurst war es bewusst, dass er nicht genug Entschlusskraft hatte, um der Schärfe seiner Einsichten entsprechend zu handeln. Daher subventionierte er mutigere Menschen mit namhaften Geldbeiträgen an Greenpeace und eine andere Organisation, von der nur wenige wussten.

Trotzdem leistete er sich kein gutes Gewissen.

Immerhin hatte er beschlossen, dass Resignation in seinem Alter angebracht war. Es brauchte auch Mut, die Hoffnung aufzugeben, realistisch zu werden, auch wenn einem die Realität unhaltbar, ja, obszön schien.

Die weißen Flecken draußen waren Schafe, die grasten. Sandhurst war immer wieder verblüfft über das Glück dieser Tiere, die sich nur für Gras interessierten und einfach drauflosgrasten. Alles andere war ihnen egal. Er fühlte sich ihnen seelenverwandt.

Sandhurst bemerkte auf dem Fenstertischchen eine laminierte, kreditkartengroße Karte, die ihm bisher nicht aufgefallen war. Es sah nach Werbung aus. Abgebildet war eine nächtliche Gebirgsgegend, ein enges Tal mit einem Nest hell erleuchteter Fenster auf dem Talboden, eingerahmt von schroffen Felswänden von leicht rötlicher Farbe, darüber ein klarer Sternenhimmel. Über und im Talkessel schwebten jedoch einige Lichter, die aussahen wie Seelen auf religiösen Gemälden. Kein Wort deutete darauf hin, für welches Produkt hier geworben wurde. Der Text befand sich auf der Rückseite. Er lautete folgendermaßen:

»Das Innere Tal.

Wir alle sehen, wenn wir die Augen schließen, ein nächtliches Inneres Tal – alle das gleiche Tal. Wir sehen es seit Urzeiten. Sobald wir das Tal sehen, werden wir zu einem Licht, das im Tal frei herumfliegt. Alle anderen Lichter sind andere Menschen, die zur gleichen Zeit das Tal besuchen. Sie wiederum sehen Dich. Wir können zusammen herumfliegen, durch unsere Bewegungen kommunizieren, sie zusammen genießen. Im Inneren Tal sind wir allgegenwärtig, unsterblich, glücklich. Wir alle werden uns schließlich im Inneren Tal wiederfinden.«

‹Eine Sekte›, dachte Sandhurst angewidert. Eine dieser totalitären Meditationskulte, die einen völlig abhängig machten und dann finanziell ausnahmen und psychisch zugrunde richteten. Von ihnen wimmelte es nun. Er suchte nach einer Adresse. Es war keine angegeben. Wahrscheinlich waren diese Karten nur die Phase 1 eines ausgeklügelten Propagandafeldzugs.

Er schloss seine Augen. Zu seiner Überraschung war er sofort im Inneren Tal, genauso wie es auf der Karte abgebildet war. Er schwebte als Lichtpunkt über dem Tal, setzte sich dann in Bewegung und flitzte, wie ein Mauersegler, immer kühner die rosaroten Felswände entlang. Andere Lichter kreuzten seine Bahn, umkreisten ihn, flogen mit ihm zusammen, berührten ihn – es war angenehm. Es funktionierte tatsächlich. Wo war das Tal?

Als er die Augen wieder öffnete, fiel sein Blick auf seinen rechten Unterarm, wo er die letzten Quarkpartikel entdeckte, die er mit der Karte wegkratzte.

Sandhurst holte sein Tagebuch hervor und trug das merkwürdige Erlebnis ein. Die Karte steckte er in sein Portemonnaie zu den Kreditkarten.

‹Es kann nicht anders sein›, dachte er, während die verwaschene Gegend am Bahnfenster vorbeizog. Sein Blick schweifte zur rot lackierten Notbremse. Auch dieses Mal konnte er der Versuchung widerstehen.

In Newcastle nahm er den Bus Richtung Wexham – es war um die drei Uhr. Außer ihm saßen nur ein paar ältere Frauen und Kinder drin.

Es regnete immer noch. Wieder Schafe, Hecken, Steinmauern. Northumberland.

Rechts waren nun die Cheviots als dumpfviolette Silhouette schon gut zu erkennen. Die Gegend wurde hügliger. Der Bus hielt in mehreren Dörfern, wo wenige Leute ein- und ausstiegen.

Nach vier Uhr hielt der Bus in Wexham. Nachdem Sandhurst seinen Rucksack geschultert und seinen Koffer behändigt hatte, stand er ratlos zwischen den Pfützen des Dorfplatzes vor dem Pub Black Boar und blickte dem abfahrenden Bus nach.

Als er sich schließlich in Richtung des Pubs in Bewegung setzte, flitzte ein schwarzer Wagen nahe an ihm vorbei und schleuderte ihm ein paar beige Spritzer auf Jackett und Hose. Er schaute dem Wagen nach: PB3… – mehr konnte er nicht mehr entziffern. War es ein Jaguar gewesen, ein BMW, ein italienisches Modell? Auf jeden Fall etwas Schnittiges mit niedriger Schnauze. Der Wagen zweigte weiter vorn nach rechts ab.

»Verfluchte Bastarde!«, tönte eine heisere Stimme von der Tür des Pubs her.

Sandhurst drehte sich um: Da stand der Wirt, ein kleiner Mann mit großem Kopf, dichtem schwarzem Haar, tief eingegrabenen Gesichtszügen und wachen, dunklen Augen. Er glich einem kampfeslustigen Hahn.

»Kommen Sie«, sagte er, zupfte an Sandhursts Ärmel und begann zugleich, den beigen Spritzer mit einem Lappen abzuwischen.

Im Lokal drin, das überraschend freundlich wirkte und dessen Luft kaum von den üblichen sauren Bier- und Whiskygerüchen gesättigt war, stellte Sandhurst sein Gepäck ab.

»Zeit für ein Badger hell«, meinte der Wirt. »Das ist mein lokal gebrautes Bier, müssen Sie unbedingt probieren.«

Sandhurst nickte wehrlos. Der Wirt zapfte das Bier.

»Kennen Sie die Leute im schwarzen Wagen?«, fragte Sandhurst.

»Keine Ahnung, wer sie sind. Der Wagen ist in den letzten Tagen schon ein paar Mal hier durchgekommen – immer wie der Teufel auf der Jagd nach armen Seelen.«

»Mit überhöhter Geschwindigkeit.«

»Genau. Rücksichtslos. Ihr Bier.«

Sandhurst trank.

»Schmeckt ausgezeichnet.«

»Mein Name ist Tom, Thomas Porter.«

»Paul Sandhurst. Ich habe ein Zimmer im Lynndale Manor House reserviert. Man holt mich hier ab.«

»Dacht ich mir. Ein gutes Hotel. Ich ruf gleich an, damit sie kommen.«

Der Wirt telefonierte mit seinem Mobiltelephon. Er mochte um die vierzig Jahre alt sein, sah gesund aus, trug ein schwarzrot kariertes Hemd. Ein energischer Typ. Ein freundliches Pub, sauber, mit geblümten Vorhängen, einigen Holztischen, dem üblichen Dart-Brett. Ein guter Ort.

»Sind in einigen Minuten da«, verkündete Thomas Porter. »Möchten Sie noch ein Bier?«

»Nein danke. Ich denke, ich werde in den nächsten Tagen noch einige Male vorbeikommen. Ist es sehr ruhig hier?«

»Sehr ruhig. Abends kommen die Einheimischen, dazu ein paar Touristen, die die Cheviots besuchen, den Hadrians-Wall, das Römer-Museum …«

»Es gibt hier ein Römer-Museum?«

»Ja, das Hobby unseres vorvorletzten Pfarrers, nichts Großes, zwei, drei Zimmer mit Fundstücken aus der Gegend. Es befindet sich im alten Pfarrhaus, gleich hinter der Kirche.«

»Aha. Steht nicht im Führer. Und wo führt die Straße hin, die nach rechts abzweigt?«

»Dort, wo der BMW hingefahren ist, meinen Sie? Die führt nach Fernby, einem kleinen Nest mit einem zerfallenen Kloster.«

Sandhurst erinnerte sich von seinen Kartenstudien an den Namen Fernby. Das Kloster galt als Sehenswürdigkeit.

Der Wirt musterte ihn mit einem Anflug von Misstrauen.

»Es gibt einen Bus nach Fernby«, fügte er hinzu, »falls Sie mal einen Ausflug machen möchten.«

»Ich werde viel wandern.«

»Wir haben hier ein ausgezeichnetes Wanderwegenetz. Im Manor House werden sie Ihnen sicher Karten zur Verfügung stellen.«

»Ich habe schon Karten. Hoffentlich wird das Wetter nicht zu nass.«

»Um diese Jahreszeit ist alles möglich. Wir hatten schon Altweibersommer, wo man im T-Shirt rumspazieren konnte.«

»Ich bin für jedes Wetter ausgerüstet.«

Sandhurst zeigte auf seinen Rucksack. Der Wirt nickte anerkennend. Es hatten sich in letzter Zeit genügend suspekte Individuen in der Gegend herumgetrieben – dieser Sandhurst wirkte wenigstens normal. Einer dieser Naturverehrer, ein ernsthafter Wanderer, der sich nicht einmischte.

Während Tom Porter Gläser abwusch, lehnte Sandhurst am Tresen und blickte geistesabwesend durch die Fenster auf die trübe Straße hinaus. Ob das Innere Tal hier auch funktionierte?

»Hallo!«, sagte eine junge Frauenstimme.

Sandhurst drehte sich aufgeschreckt um. Eine gepflegt gekleidete Frau mit blondem Pferdeschwanz, zwischen zwanzig und dreißig, mit einem breiten, eher groben Gesicht, stand munter und frisch dreinblickend da. Sie trug ein wollenes, dunkelblau-rot kariertes Kostüm mit Faltenrock und einen feinen beigen Pullover.

»Ich bin Dorothy Ford. Willkommen in Wexham, Herr Sandhurst.«

Sie reichte ihm die Hand, er schüttelte sie. Ihre Hand war überraschend schwielig und kräftig.

»Bis bald«, sagte Sandhurst zum Wirt, der breit grinste.

Dorothy Ford hatte schon seinen Koffer ergriffen, er nahm den Rucksack, und sie gingen nach draußen, wo ein dunkelgrüner Landrover wartete.

»Mit dem Wetter haben Sie Pech«, sagte Dorothy, als sie in den zweiten Gang schaltete und über eine holprige Feldstraße Richtung Nordosten fuhr.

Die Scheibenwischer tickten langsam und gaben den Blick auf niedrige, graue Wolkenschwaden frei. Der Weg war von brusthohen Mauern, einigen Weiden und Buchen gesäumt.

»Aber Northumberland ist ja nicht Mallorca«, bemerkte Dorothy kichernd.

»Das Wetter macht mir nichts aus«, reagierte Sandhurst unsicher.

Machte sie sich etwa über ihn lustig?

»Unsere Schafe«, verkündete sie feierlich und wies nach links. »Unsere Kühe, unser Bulle Mr. Gong, unser Kartoffelacker. Und da vorn sehen Sie schon das Manor House. Kein Schloss, einfach nur das komfortable Landhaus des Marquis von Berkwood. Den Marquis gibt’s nicht mehr, nun besitzt meine Mutter das Haus. Wir sind seit fünf Jahren ein Hotel.«

»Liegt sehr schön.«

»An einem Bach – wir haben auch einen Ententeich, mehrere Gänse, Karpfen, Forellen, Aale, Krebse. Hunde, Katzen. Flöhe. Viel Biomasse drum herum.«

Der Landrover hielt auf einem Kiesplatz vor einem andeutungsweise griechisch-römisch gestalteten Vordach an. Das Manor House hatte zwei Stockwerke, war ein weiß verputzter Ziegelbau mit französischem Blechdach, architektonisch unauffällig.

Eine Frau um die fünfzig – zurückhaltend elegant in dunklen Grüntönen gekleidet – begrüßte den neuen Gast unter der Tür. Auch sie war blond, trug jedoch eine Goldrandbrille und hatte viel feinere Gesichtszüge als Dorothy.

»Das ist meine Mutter, Rose Ford – sie führt das Hotel.«

Sandhurst gab ihr die Hand. Die Haut war um einiges zarter als jene ihrer Tochter.

Inzwischen hatte ein großer, weißer Hund diskret an seiner Hose geschnuppert und sich ohne einen Laut ins Innere des Hauses verzogen. Gut.

Rose führte ihn ins Foyer des Hotels, das kühl und dunkel war. Auf einem roten Fliesenboden lag ein dicker Perserteppich. An den schwarz getäfelten Wänden hingen goldgerahmte Stiche von italienischen Landschaften, die mit zahlreichen Zypressen gespickt waren. Über der Rezeption grinste das hauerbewehrte und rot lackierte Maul eines ausgestopften Wildschweinkopfs den ankommenden Gast an. Die Direktorin legte ihm das Gästebuch hin.

»Wir haben für Sie ein ruhiges Zimmer im Westflügel bereit gemacht«, sagte sie mit freundlicher Stimme. »Ich hoffe, das ist Ihnen recht?«

»Das passt mir ausgezeichnet.«

»Dorothy wird Ihnen das Zimmer zeigen. Wir servieren das Abendessen um sieben Uhr, im Kaminsaal gleich links von hier. Sie sind Vegetarier?«

»Ich esse nicht viel Fleisch.«

»George – unser Koch – wird Ihnen ein Kartoffelgratin mit Pilzen zubereiten.«

»Ausgezeichnet.«

Sie lächelte ihn aufmunternd an, schob das Gästebuch zur Seite und gab Dorothy den Messingschlüssel mit der Nummer 12.

»Vielleicht sehen wir uns vor dem Abendessen an der Bar«, sagte Rose und wies wiederum zum Kaminsaal hinüber. Sie bezweifelte stark, dass sie mit diesem neuen Gast viel Spaß haben würden. Er roch geradezu nach Einsamkeit und Naturfanatismus. Zudem stellte sie fest, dass sie sowohl sein Gesicht als auch seine Kleidung schon wieder vergessen hatte.

Dorothy hatte seinen Koffer ergriffen und führte ihn eine breite Treppe hoch, dann nach links durch einen Korridor und nach hinten zum letzten Zimmer des U-förmigen Gebäudes. Sandhurst fielen einige alte Flinten und Hirschfänger auf, die man als Wandschmuck befestigt hatte. Dazwischen hingen Aquarelle und Stiche von eindeutig mediterranen Städten und Landschaften.

»Hat der Marquis die gemalt?«, fragte er, auf eines der Aquarelle deutend.

Dorothy lachte.

»Meine Mutter. Mein Vater ist Italiener.«

»Ich verstehe.«

»Er hat uns kurz nach meiner Geburt verlassen, er ist von Florenz, ein Architekt.«

»Tut mir leid.«

»Macht nichts. Wir besuchen ihn von Zeit zu Zeit.«

Sie hatte inzwischen sein Zimmer geöffnet und ließ ihn eintreten.

Das Zimmer sah einladend hell, freundlich und behaglich aus. Auf dem breiten Bett lag eine Patchworkdecke mit viel Gold und Rot, die Wände waren mit beigen Tapeten tapeziert, auf dem Boden lagen dicke Perserteppiche. Es gab ein zierliches Schreibtischchen neben dem Fenster, das von langen weißen Vorhängen halb verdeckt war. Über dem Bett hing ein Aquarell, das den trichterförmigen Hauptplatz von Siena darstellte. Keine Zypressen.

Sie zeigte ihm das Bad, wies ihn auf den kleinen Flachbildfernseher hin und sagte lächelnd:

»Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie es mir. Ich bin hier so etwas wie das Mädchen für alles.«

»Vielen Dank. Es sieht alles perfekt aus. Ich glaube, ich werde noch einen kleinen Spaziergang machen.«

»Fallen Sie nicht in den Bach«, warnte sie ihn, einen Zeigefinger schwenkend.

Sie zog die Tür hinter sich zu, er packte sorgfältig seine Sachen aus, verteilte sie in Fächer und Schubladen, legte das Tagebuch auf das Schreibtischchen und blickte dann eine Weile durch das Fenster auf die sanft gewellte Weidelandschaft, dahinter graue Wolkenschwaden und eine Andeutung der ersten Anhöhen der Cheviots. Es regnete leicht. Es war völlig ruhig.

»Ausgezeichnet«, murmelte Sandhurst vor sich hin, »genau richtig.«

Er breitete eine Wanderkarte auf dem Bett aus, legte einen Zeigefinger auf den Ort, wo sich das Hotel befinden musste und fuhr einer grünen Linie nach, die nach Norden ausholte, nach Westen führte und nicht weit von der Fernby Abbey wieder nach Süden zurückschwang.

Zu weit. Vielleicht morgen. Er würde jetzt nur dem Bach nach Osten folgen, sich diesen kleinen See anschauen und dann auf dem gleichen Weg wieder zum Manor House zurückgehen. Ein erster Augenschein. Nur ein kleiner Spaziergang, noch keine eigentliche Wanderung. Man musste sich ja akklimatisieren.

Er zog seine wasserdichten Wanderstiefel, die gefütterte Gore-Tex-Jacke und darunter einen leichten anthrazitgrauen Shetlandpullover an. Er ergriff seinen Faltregenschirm und ging nach unten, zur Eingangshalle.

Da niemand mehr da war, behielt er seinen Schlüssel in der Hosentasche.

Vor dem Eingang saß nur der weiße Hund, der ihn nicht beachtete. Umso besser. Der grüne Landrover war auch weg.

In einer Tür gerade neben dem Eingang – offensichtlich die Küche – stand ein rundlicher Mann, der eine weiße Schürze trug. Er hatte eine Halbglatze, einen grauen Schnauz, viele Lachfalten um Mund und Augen.

»Hallo«, sagte der Mann, »schon unterwegs?«

»Ja, ein kleiner Bummel. Man kann hier doch den Bach entlanggehen?«

»Ohne Weiteres, Herr Sandhurst. Mein Name ist übrigens George. Ich koche hier, zusammen mit Ben. Sie können hier problemlos den Weg entlanggehen. Etwa eine Meile bis zum Weiher. Schließen Sie die Gatter der Schafweiden.«

»Selbstverständlich.«

»Sonst verirren sich die unschuldigen kleinen Dinger.«

»Und der Bulle …?

»Ah, Mr Gong! Keine Angst, der ist da drüben, auf der südlichen Weide. Er ist lammfromm, wenn man so sagen darf, tut keinem etwas.«

»Keine Hunde?«

George schüttelte den Kopf.

»Nein, nur Elsie – aber die kennen Sie ja schon, bellt nicht, beißt nicht, schnuppert nur ein bisschen. Der ideale Hund. Nein, die einzige Gefahr, die Ihnen hier droht, sind nur diese kleinen, grünen Männer in ihren schnellen Untertassen. Die sind eine wahre Landplage!«

Er lachte.

»George!« tadelte ihn eine Stimme vom Eingang her.

Es war Rose, die kopfschüttelnd dastand.

»Ich versuche nur, unsere Gäste zu unterhalten – nicht wahr, Herr Sandhurst?«

»Indem du deine Schauermärchen erzählst?«

»Schauermärchen gehören zu einem richtigen Angebot in Northumberland«, wehrte er sich. »Wir haben ja nicht einmal ein Gespenst im Haus.«

»Gespenster werden überschätzt«, brachte sich Sandhurst ein.

»Sehr richtig, Herr Sandhurst. Alles nur Humbug. Wir haben das nicht nötig. – Aber drehen Sie sich jetzt nicht um.«

Rose Ford hatte sich George genähert und streichelte ihm über seine schlecht rasierte Wange.

»Bis später«, murmelte Sandhurst (der nicht verstand, warum man ihm diese zärtliche Szene vorführte), betätigte den Entfaltungsknopf seines Schirms und wanderte über den weiten Kiesplatz in Richtung eines Stalls mit Scheune, wo der Weg entlangführte.

Aus einem Stallfenster blickten ihn zwei braune Pferde mit weißen Stirnblässen interessiert schnaubend an. Sandhurst atmete den würzigen Stallgeruch ein.

Er öffnete das erste Gatter, legte den Haken sorgfältig wieder ein und gelangte schließlich zum Bach, der von Weiden, Birken und Haselbüschen gesäumt war. Eine getigerte Katze saß hoch konzentriert auf einem Stein am Bach, schlug dann mit der Pfote zu und holte tatsächlich einen silbern glitzernden, etwa fingerlangen Fisch aus dem Gewässer. Sie trug ihn mit erhobenem Kopf Richtung Manor House davon, wo er wahrscheinlich als Liebes- oder Tüchtigkeitsbeweis auf einem der kostbaren Perserteppiche deponiert werden würde.

Sandhurst spähte in den Bach hinein und sah den Schatten einer Forelle wegflitzen.

Weiter vorne gründelten einige Stockenten. Nicht weit hinter ihm weideten schwarze und weiße Schafe ruhig vor sich hin. Er schaute ihnen lange zu und beneidete sie um ihr einfaches, geregeltes, zukunftsfreies Leben.

Forellen, Katzen, Schafe, Enten, ein Hund. So viele Tiere. Sandhurst fühlte sich geradezu belagert von ihnen. Diese Gegend war dicht besiedelt, voller Aktion und Drama, dachte er. Es wimmelte von Leben. Und trotzdem war alles ganz ungefährlich.

Eine Elster flog über seinen Weg in südlicher Richtung. Dann verhöhnte ihn eine struppige Krähe, die auf einem Weidenstrunk saß. Irgendwie sah sie erbärmlich aus. Wahrscheinlich war sie krank oder von Artgenossinnen dermaßen übel zugerichtet worden. Den Krähen war asoziales Verhalten zuzutrauen.

Als er beim Weiher ankam, ließ der Regen so weit nach, dass er den Schirm zusammenfalten konnte. Auf dem Weiher trieben sich mehrere Enten herum. Für Spaziergänger gab es eine Steinbank. Nun war sie allerdings noch zu nass, um sich darauf setzen zu können. Jemand hatte das Verpackungspapier eines Mars-Schokoriegels liegen lassen. Sandhurst stellte zahlreiche Zigarettenstummel fest. Er widerstand dem Drang, die Marke zu bestimmen, sie zu zählen oder sie aufzuheben.

Der Weiher lag friedlich und ruhig da. Ab und zu sauste ein Wasserinsekt über seine Oberfläche, unter der längliche Schatten große Fische andeuteten. Waren das die erwähnten Karpfen? Sandhurst beschloss, falls das Angebot gemacht würde, einmal einen lokalen Fisch zu essen.

Die Ruhe wurde gestört durch einen fernen Helikopter, der aus Richtung Newcastle knapp unter den Wolken zu den Cheviots flog. Vielleicht hatte es dort einen Unfall gegeben. Ein betagter Wanderer, der einen Herzanfall erlitten hatte?

Sandhurst seufzte resigniert. Nichts war wirklich in Ordnung. Dann fragte er sich, wie gut George wohl kochte. Er sah jedenfalls nach einem lustvollen Koch aus.

Auf dem Rückweg ödete ihn die struppige Krähe wieder an. Es war schon gegen sechs und wurde dunkel. Ein Schaf hob seinen Kopf und blickte ihn an, als ob es zutiefst verblüfft wäre.

»Ein Mensch«, klärte es Sandhurst auf.

Es schien nicht zu begreifen.

»Grase weiter.«

Das verstand es sofort.

Die kleine Bar in der Ecke des Kaminsaals wurde von der Chefin persönlich betreut. Sie hatte dazu ein dunkelblau-schwarz changierendes Kleid angezogen und eine schlichte Perlenkette umgelegt. Ihr Make-up war frisch, sie war guter Laune.

Sandhurst stand mit einem Glas trockenem Sherry in der Hand am Tresen aus fast schwarzem Holz. Er war der einzige Gast.

Im Kamin brannte ein Feuer, darum herum waren drei große Sofas und einige Lehnsessel gruppiert, weiter weg waren gut acht Tische mit weißen Tischtüchern und schlichtem Stahlbesteck gedeckt. Überall frische Buschrosen in schlanken Kristallvasen.

»Ja, Sie sind der einzige Gast – außer einem älteren Herrn, der wahrscheinlich erst zum Essen erscheinen wird. Es ist nicht gerade Saison – die meisten Leute kommen im Sommer oder um Weihnachten, um sich vom Rummel zurückzuziehen. Doch wir haben auch im Herbst offen. Ich finde, der Herbst ist hier eine besonders reizende Jahreszeit.«

»Eigentlich ist es sehr unvernünftig, Ferien nur während sogenannter Saisons zu machen«, gab Sandhurst zu bedenken. »Die Natur ist ja rund ums Jahr offen. Es gibt immer etwas zu sehen, der Mensch kann in jedem Klima leben. Auch Eskimos empfinden ihre Lebensweise als vollständig und befriedigend – obwohl sie nie eine Palme zu Gesicht bekommen.«

Rose Ford lachte. Sie hatte sich auch einen Sherry eingeschenkt.

»Ich umgekehrt brauche zu meinem Glück nie auf einer Eisscholle kampiert zu haben«, erklärte sie lachend.

»Wichtiger als die geographische Lage und die Jahreszeit ist eine gute soziale Atmosphäre«, belehrte er sie, »aber auch die Bereitschaft, auf die bescheidensten Dinge mit Neugier zuzugehen.«

Sie seufzte. Wieder so ein Naturschwärmer.

»Was für unzeitgemäße Ansichten! Leider denken die meisten Menschen nicht so. Es gibt einen Kult des Spektakulären, der alle feineren Wahrnehmungsweisen begraben hat.«

»Immerhin versuchen Sie hier mit Ihrem Hotel eine neue Kultur zu schaffen.«

Er überblickte den geschmackvoll eingerichteten Raum, der Luxus, Zurückhaltung und Gemütlichkeit zugleich ausstrahlte. Das lebendige Feuer und die brennenden Kerzen trugen das ihre dazu bei.

»Ich bin sicher, dass diese neue Ferienkultur eine Zukunft hat«, dozierte er weiter. »Denn wir können uns Massenflugtransporte eigentlich ökologisch schon lange nicht mehr leisten. Der Reiz der Distanz wird sich bald totlaufen. Dann kommt wieder die Zeit der natürlichen Intimität.«

»Botanisieren, Beobachten, Wandern, Konversieren«, ergänzte sie.

»Dabei bin ich gar nicht gegen echte Genüsse. Essen und Trinken sind sehr wichtig.«

»Ich werde mal schauen, wie weit George ist.«

Sie stellte ihr Glas ab und huschte in Richtung Küche. Sandhurst fand, dass sie es sehr eilig gehabt hatte, von ihm wegzukommen. Dabei hatte er überhaupt nicht mit ihr geflirtet, sondern es nur genossen, vernünftige Ansichten zu äußern. Was das Botanisieren betraf, so fand er es allerdings überholt, Pflanzen auszureißen, zu pressen und zu etikettieren. Man konnte sie ja einfach genau anschauen und stehen lassen. Der archaische Sammlerinstinkt musste überwunden werden.

Er schlenderte zum Kamin hinüber, betrachtete die munter züngelnden Flammen, hörte dem Knistern des Feuers zu. Was seinen Tisch betraf, so hatte er wohl eine große Auswahl. Er schwankte noch zwischen einem Tisch näher beim wärmenden Feuer und einem blickgeschützten in der Ecke. Neben dem Kamin hing das Ölportrait eines milde lächelnden weißhaarigen, rotnäsigen Mannes, der einen schwarzen Bratenrock trug.

»Der zweitletzte Marquis von Berkwood«, erklärte Dorothy, die in schwarz-weißer Kellnerinnenkleidung und ein Tablett balancierend plötzlich hinter ihm stand, »Albert von Berkwood. Netter Mann, nicht?«

»Ja, ein freundlicher Mann.«

»Die Suppe ist bereit. Wo möchten Sie sitzen?«

Er schaute ratlos um sich.

»Wo es Ihnen am besten passt.«

»Gut, wie wär’s mit dem Tisch da? Da haben Sie’s schön warm und ich nicht weit bis zur Küche.«

Er setzte sich.

»Sie trinken doch ein bisschen Wein? Wir haben einen guten Brunello, einen 97er.«

»Ein Glas wäre nicht schlecht.«

Sie stellte eine Suppenschüssel auf den Tisch und schöpfte ihm.

»Gemüsecrème à la George – mit Rahm«, erläuterte Dorothy, machte lachend einen Knicks und ging.

Als Sandhurst sich die Serviette auf den Schoß legte, bemerkte er, dass ein fast kahlhäuptiger, sehr alter Mann an einem der Wandtische saß. Sein Kopf hatte eine gelbliche Hautfarbe, er trug einen kleinen, weißen Schnurrbart und war von großer, schlanker Statur. In seinem dunkelblauen, dreiteiligen Nadelstreifenanzug sah er sehr feierlich aus. Er musste den Saal betreten haben, als Sandhurst das Portrait des Marquis betrachtet hatte.

Als der Mann bemerkte, dass er beobachtet wurde, drehte er seinen Kopf, nickte knapp und schaute wieder in Richtung der Tür, wo jetzt gerade Dorothy mit seiner Suppe daherkam.

Sie schöpfte auch ihm stumm, er löffelte sofort langsam und methodisch.

Sandhurst begann ebenfalls mit der Suppe, die ihm sehr behagte. Eigentlich war an dem Mann überhaupt nichts Besonderes, dachte er. Sicher war er sehr reich oder gehörte zur Aristokratie. Dann hatte er wieder den Eindruck, dass an dem Mann doch etwas Merkwürdiges war. Er schaute wieder zu ihm hinüber, kam jedoch nicht darauf, was es sein könnte. Der Mann war siebzig oder noch älter, sah gesund aus, hielt sich gerade, zitterte nicht mit der Hand.

Dorothy brachte eine Karaffe Brunello und ein großbauchiges Glas mit langem Stiel.

»Ich bringe Ihnen die Karaffe – Sie müssen aber nicht alles trinken. Wie schmeckt die Suppe?«

»Köstlich.«

»Noch einen Teller?«

»Sehr gerne.«

»Den Rest nehm ich mit, sonst schaffen Sie das Gratin nicht mehr. George hat sich nämlich große Mühe gegeben.«

Sie stolzierte mit der Schüssel davon. Sandhurst probierte den Wein, den er als sehr rund, teerig und waldbodenartig mit einem Hauch von Ameise und Brombeeren einstufte. Der Abgang deutete Richtung Holunder, Gartenschuppen im Spätwinter und nasse Eichenrinde. Dann war da noch eine leise Ahnung von getrockneter Orangenschale. Ein frischer Oberton.

»Als Zwischengang haben wir ein Herbstsalätchen mit Rote Bete und Haselnüssen«, verkündete Dorothy und stellte ihm schwungvoll einen Glasteller hin.

Es war ein sehr bunter Salat mit grünem Blattzeug, allerlei fein geschnittenen Knollen, einer kleinen Spättomate, überpudert mit einem hellgrünen Staub, den Sandhurst nicht einordnen konnte.

Dorothy hatte seine Blicke amüsiert verfolgt.

»Das giftgrüne Zeug ist eine Spezialität von George – Baumflechte, gemahlen.«

»Schmeckt interessant – wirklich herbstlich«, erklärte Sandhurst der gespannt wartenden Dorothy.

»Rassig, und man stirbt nicht daran, jedenfalls nicht sofort«, quittierte sie und entschwand wieder.

Sandhurst stellte fest, dass der alte Mann kein Herbstsalätchen serviert bekam. Was er auf dem Teller hatte, war flach und braun und glich einer Terrine.

Der Salat beschwor einen ganzen Herbstgarten, einen Waldspaziergang, Felder, Wiesen herauf. Es war der beste Salat, den er je gegessen hatte. Auch beim Öl musste es sich um erstklassiges, natives Olivenöl handeln.

Er trank wieder vom Brunello und fühlte sich schon ganz beschwingt, irgendwie versetzt in eine andere, leichtere Welt.

Es war George selbst, der ihm das Gratin brachte, ein goldbraunes Gericht in einer schwarzen Gusseisenform. Er duftete herrlich, als der Koch die Kruste brach und ihm eine Portion auf den Teller schaufelte.

»Dazu empfehle ich lediglich etwas Weißbrot«, sagte George und schob Sandhurst das Brotkörbchen hin.

Dieser probierte, schaute dem Koch fest in die Augen und erklärte:

»Hervorragend. Eines der besten Gratins, die ich je gegessen habe.«

»Danke.«

Strahlend ging George in die Küche zurück.

Das Gratin war groß genug für vier Personen. George hatte nicht mit Doppelrahm, Kräutern und Pilzen gespart. Sandhurst aß nun noch langsamer, ließ sich die Mischung auf der Zunge zergehen, schenkte sich ein zweites Glas Brunello ein und schöpfte sich selber nach.

Der alte Mann aß Geflügel. Dazu trank er einen Rosé.

Die Chefin erschien wieder, lächelte Sandhurst zu und schob Holzscheite im Kamin nach. Dann räumte sie das leere Geschirr des alten Mannes ab.

Sandhurst nahm sich noch eine Portion Gratin.

Schließlich legte er sein Besteck auf den leeren Teller und lehnte sich zurück.

»Käse oder Dessert?«, fragte Dorothy. »Wir haben einen einheimischen Ziegenfrischkäse aus den Cheviots. Alten Cheddar aus Boorwickslow. Oder ein Beerendessert mit Sorbet.«

»Die Beeren.«

»Zu viel Gratin gegessen, nicht wahr?«

»Allerdings.«

»Dann sind Beeren genau richtig – dazu einen hausgemachten Kräuterlikör, der hilft verdauen.«

»Gute Idee.«

Sie räumte ab.

Der alte Mann war verschwunden.

Auch die Beeren waren ausgezeichnet, der Kräuterbitter half tatsächlich ein bisschen gegen das Völlegefühl, und Sandhurst saß nun träge und zufrieden da.

»Wenn Sie möchten, können Sie den Kaffee in der Bibliothek nehmen«, schlug die immer noch muntere Dorothy vor. »Jetzt, wo Sie ja so mutterseelenallein sind.«

»Sie haben eine Bibliothek?«

»Ja, gleich durch diese Tür.«

Die Bibliothek befand sich westlich vom Kaminsaal, ein Eckzimmer mit Ledersesseln und einem kleineren Feuer, das auch schon eine Weile gebrannt hatte.

Sandhurst ging an den Bücherschränken entlang und kam zum Schluss, dass seine Ferien auf jeden Fall gerettet waren. Alle Bücher, die er schon lange hatte lesen wollen, waren da in erstklassigen Ausgaben aufgereiht.

Als er die Rücken einer Gesamtausgabe von H.G. Wells’ Werken durchging, wies ihn Dorothy darauf hin, dass der Kaffee bereitstünde und die Zigarren sich im Humidor auf dem Tischchen befänden.

»Zigarren?«

»Ja, rein vegetarisch«, versetzte sie.

»Ich rauche auch keine vegetarischen Zigarren«, stellte er fest.

»Wir haben auch neuere Bücher, zum Beispiel alle Werke von Fay Weldon. Einige davon hat sie hier bei uns im Hotel geschrieben. Ich komme sogar drin vor.«

»Das muss aufregend sein – in einem Buch vorzukommen. Leider kenne ich Fay Weldon nicht.«

»Sollten Sie aber, sie ist der Oscar Wilde des zwanzigsten Jahrhunderts.«

»Es wundert mich nicht, dass der Oscar Wilde des zwanzigsten Jahrhunderts eine Frau ist«, erklärte er und schaute ihr bedeutungsvoll in die Augen.

»Die Teufelin ist heute, was der Dorian Gray damals war.«

Sie hielt ihm einen in grünes Leder gebundenen Band hin.

»Ich lasse Sie nun allein«, erklärte sie, machte wieder einen ihrer theatralischen Knickse und entwich.

Sandhurst setzte sich schmunzelnd, trank Kaffee und schlug das Buch auf.

Es war zwei Uhr, als er das Buch beendet hatte und die Bibliothek verließ. Der Kaminsaal war leer, es brannte nur ein kleines Licht. Es war still im ganzen Hotel. Er ging zu Bett und schlief sofort ein.

Knapp nach zehn Uhr erschien er zum Frühstück. Sein Tisch neben dem Kamin war schon gedeckt. In einer Kristallvase steckte eine rote Rose.

»Ich habe Die Teufelin gelesen«, sagte Sandhurst, als Dorothy erschien, um ihn zu fragen, wie er die Eier wollte und ob mit oder ohne Speck, Wurst und gebratenen Bücklingen.

»Ich seh’s an Ihren Augen. Ich werde Ihnen nie mehr ein Buch empfehlen.«

»Ich habe es verschlungen – wie das Gratin. Und danach habe ich ausgezeichnet geschlafen.«

»Keine bösen Träume?«

»Traumlos – nur einmal glaubte ich, Gänse zu hören – ist das möglich?«

»Es streicht oft ein Fuchs ums Haus, da werden sie nervös.«

»Ein Fuchs – auch das noch. Es gibt hier so viele Tiere.«

»Wie wollen Sie also die Eier?«

»Keine Eier – nur etwas Käse, Marmelade und Toast.«

»Macht alles einfacher.«

Nach dem Frühstück studierte Sandhurst wieder die Wanderkarte und beschloss, den Weg nach Wexham und dann nach Fernby auszuprobieren. Er war gespannt darauf, wie gut die Landschaft ihrer Wiedergabe auf der Karte entsprechen würde. Draußen war es neblig und es regnete leicht. Wunderbar.

Als er regensicher angezogen ins Foyer hinunter trat, trug sich ein mäßig elegantes, irgendwie unstimmiges Paar um die dreißig ins Gästebuch ein. Sie trugen beide gräuliche Regenmäntel, hatten fast identische Ledertaschen als Gepäck und sahen wie flüchtige Ehebrecher aus.

»Ich werde zum Lunch zurück sein«, sagte er zu Rose, die ihn über den Brillenrand hinweg anblickte, »so um halb eins.«

»Sehr gut, Herr Sandhurst.«

Das Paar musterte ihn kurz und scheinbar uninteressiert. Sie sahen weder verliebt noch verheiratet aus, eher wie Geschäftsreisende. Aber hier gab es definitiv keine Geschäfte zu tätigen. Er hörte noch etwas von »einigen Tagen« und trat ins Freie hinaus.

Ben, ein rothaariger Junge in Jeans und punkiger Lederjacke, lud frisches Gemüse aus dem Landrover. George entdeckte Sandhurst und wünschte ihm einen guten Tag. Sandhurst zweifelte nicht daran, dass es einer werden würde.

Er wanderte die Straße entlang Richtung Wexham. Er blieb eine Weile beim Gehege des Bullen Mr. Gong stehen und musterte das weiß-schwarze Tier, bewunderte seinen dicken Nacken, die prallen Hoden, die kräftigen Beine. Mr. Gong blickte ihn gutmütig an und schlang seine rosarote Zunge wieder um ein saftiges Grasbüschel.

Sandhurst wich den Pfützen aus, beschleunigte lustvoll seine Schritte und sog die würzige Landluft ein. Es war alles gut, sehr gut.

Er sah einen Krähenschwarm, ein Rotkehlchen, einen Feuersalamander, Drosseln, Schnecken. Den Schnecken widmete er eine Viertelstunde intensiver Beobachtung. Ob sie auch ein Inneres Tal hatten? Wohl kaum.

Schon erblickte er den Kirchturm von Wexham, dann erste Häuser, dann stand er auf dem Dorfplatz. Es gab da eine Apotheke, einen Laden mit Post, Zeitungen, Gemüse, eine Metzgerei, das Black Boar Pub, eine Bäckerei. Ein hübsches, kompaktes, kleines Dorf, wie aus dem Bilderbuch. Einige Wagen waren vor dem Pub geparkt, Frauen mit Einkaufstaschen überquerten die Straße. Drei ältere Männer standen vor einem Souvenir-Buch-Laden und besprachen nichts Wichtiges.

Dann kam der alte Mann aus dem Hotel aus dem Zeitungsladen, einen Packen Zeitungen unter dem Arm. Er nickte Sandhurst im Vorbeigehen knapp zu. Er trug einen schwarzen Regenmantel, einen Schlapphut, Galoschen. Diese Gummigaloschen passten nicht hierher.

Sandhurst betrat das Pub, wo ihm sofort auffiel, dass etwas los war. Ein gutes Dutzend Gäste waren da, alle intensiv ein Thema besprechend. Thomas Porter zapfte eifrig Bier, schaute finster drein und warf immer wieder Sätze in die Diskussion.

»Ah, Herr Sandhurst«, sagte er, »ein Badger, wie immer?«

»Wie immer.«

»Was ist geschehen?« fragte er den Wirt.

»Drei Tote, drüben in Clairsburgh, gestern Nachmittag erschossen.«

»Ein Massaker«, redete ein grauer Alter auf Sandhurst ein. »Haben Sie’s nicht gelesen?«

»Wo ist Clairsburgh?«

»In den Cheviots«, sagte der kleine Graue, »zehn Meilen von hier. Ein Paar und ein Mann ermordet, mitten auf der Wiese.«

Sandhurst fiel sofort der Helikopter ein.

»Es ist sehr mysteriös«, verkündete eine dicke Frau,. »Man hat nicht mal die Namen bekannt gegeben. Meiner Meinung nach war es eine dieser Sekten.«

»Sekten?«

»Ja, die Goldtempler oder wie sie heißen.«

»Die Gralssucher«, korrigierte sie ein hagerer Mann, der nach pensioniertem Lehrer aussah.

»Sie haben das Brembrough Castle gekauft«, informierte ihn der kleine Graue.

»Da feiern sie ihre Orgien«, klagte die Frau.

»Ach was!«, rief ein glatzköpfiger Mann aus. »Da machen sie Exerzitien und geißeln sich.«

»Umso schlimmer«, meinte die dicke Frau. »Eine kleine Orgie kann man ja noch verstehen …«

»Was du nicht sagst«, brummte der pensionierte Lehrer.

»In den letzten drei Jahren hatten wir hier in der Gegend sieben unaufgeklärte Morde«, sagte der Wirt zu Sandhurst, der betroffen nickte.

Er bekam endlich sein Bier.

»Die Polizei gibt sich schon gar keine Mühe mehr«, ereiferte sich der kleine Graue.

»Wahrscheinlich ist es eine Verschwörung – wie in Italien die Mafia«, erklärte ein anderer, weißhaariger Greis, der sich an einem Pint Guinness festhielt.

»Seit die Gralssucher hier sind, stimmt etwas nicht mehr«, betonte die dicke Frau wieder und bestellte noch ein kleines Helles.

»Ich wüsste nicht, was die Morde mit diesen Spinnern zu tun haben könnten«, mischte sich Thomas Porter ein.

»Es waren jedenfalls keine Ritualmorde«, stellte der pensionierte Lehrer fest.

»Was weißt du schon?«, fauchte ihn seine Frau an. »Es wird alles vertuscht. Vielleicht wurden sie furchtbar verstümmelt gefunden, und man hat uns das verschwiegen.«

»Du hast eine wilde Phantasie.«

»Was steht denn in den Zeitungen?«, fragte Sandhurst den Wirt, der als Einziger eine gewisse Objektivität zu wahren versuchte.

Er schob ihm eine Zeitung hin. Sie hieß Newcastle Times, und die Meldung war auf der Titelseite. »Exekution auf der Schafweide?«, lautete die Schlagzeile. Auf dem Photo drei Leichensäcke neben zwei verdutzt dreinschauenden Schafen. Was geschah da Unvegetarisches in ihrem Gras?

Der Bericht war eher nichtssagend. Ein Beziehungsdelikt wurde vermutet. Die Polizei sei an der Arbeit. Etwas stimmte da ganz definitiv nicht, das merkte Sandhurst sofort. Die Sache war irgendwie »fad«, ohne Hintergründe, wie ein schlechter Roman. Ganz anders als die echte Realität, in der es von unerwarteten Details nur so wimmelte.

Wer waren die Toten? Nur das Alter war angegeben: Frau 33, Mann 37, Mann 54. Menschen im Durchschnittsalter. Vielleicht ein Chef und zwei Angestellte. Aber sicher nicht auf einem Betriebsausflug. Wanderer?

»Wie alt waren denn die Opfer der anderen Morde?«, fragte Sandhurst, einer unbewussten Eingebung folgend.

Thomas Porter und einige der näheren Gäste starrten ihn verwundert an.

»So um die dreißig, nehme ich an«, sagte der kleine Graue.

»Jedenfalls keine ganz Jungen dabei«, meinte die Frau.

»Auch keine Alten«, fügte der Wirt hinzu.

»Wieso fragen Sie?«, wollte der Ex-Lehrer wissen, der plötzlich sehr aufmerksam war.

»Ich weiß nicht. Es ist ja nur das Alter angegeben«, antwortete Sandhurst.

»Ja«, rief die dicke Frau aus, » man verheimlicht uns etwas!«

»Es geht etwas vor, aber wir wissen nicht, was es ist«, munkelte der kleine Graue.

»Ach was, alles Spekulationen«, tat es der Wirt ab. »Morde gibt’s heute überall.«

Sandhurst trank sein Bier, bezahlte. Die Diskussionen gingen ohne ihn weiter.

Im Zeitungsladen kaufte er eine weitere Zeitung, die über den Fall berichtete, dazu den Guardian. Er schaute sich einen Ständer mit Karten und Reiseführern der Region an, betrachtete nichtssagende Postkarten, wobei ihm auch eine mit dem Brembrough Castle auffiel. Es war ein viktorianischer Bau mit mehreren Zwiebeltürmen und einer Kuppel à la Taj Mahal. Ideal für eine Sekte. Er kaufte die Karte.

Als er wieder den Dorfplatz betrat, kam gerade der Mittagsbus. Die üblichen Frauen und Kinder entstiegen ihm, aber es war auch eine einzelne Frau dabei, die einen abgewetzten Lederkoffer trug. Es war eine unscheinbare Frau in einem grauen Ledermantel, mit dunkelblonden Haaren, Hornbrille, ungeschminktem, schmallippigem Mund, vernünftigen Schuhen. Sie blickte suchend um sich, schritt dann auf das Pub zu.

Sandhurst überlegte einen Augenblick lang, ob er sie ansprechen und seine Hilfe anbieten sollte, doch dann hielt er das für zu aufdringlich und machte sich auf den Rückweg nach Lynndale Manor House.

Irgendwie betrübte ihn die Tatsache, dass er nun in einer Gegend herumwandern sollte, die für ungeklärte Morde bekannt war. Sieben Morde in drei Jahren in vier Countys – war das viel? Wahrscheinlich nicht. Es war nicht auffällig. Es ging ihn nichts an. Warum sollte man gerade ihn ermorden? Dazu müsste man ihn zuerst einmal bemerken.

Allenfalls konnte er sich erkundigen, wo die Morde stattgefunden hatten. Dorothy würde das sicher wissen und gerne erzählen.

Es war verständlich, dass man im Hotel nicht über die Morde gesprochen hatte. Morde waren nicht gut für den Tourismus, jedenfalls nicht für diese Sorte von sanftem Tourismus. Wie sanft konnte Tourismus in einer barbarischen Welt noch sein?

Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Es brachen sogar einige Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke. Auf halbem Weg kam ihm der grüne Landrover entgegen und Dorothy winkte ihm übertrieben fröhlich zu.

Etwas später kam der Landrover von hinten, Dorothy hielt an und fragte, ob er mitfahren wolle. Er verneinte. Im Wagen saß die unscheinbare Frau von vorhin: ein neuer Gast!

Sein Herz klopfte. Dann ärgerte er sich sogleich über seine Reaktion. Was ging ihn die Frau an? War sie nicht völlig uninteressant? Sogar einige Jahre älter als er? Eine alte Jungfer!

Und trotzdem! Sie würde womöglich in einem Nachbarzimmer, kaum zwei Meter von seinem Bett entfernt, schlafen. Als Mit-Gast wurde sie zu einem Bestandteil seines Urlaubs.

Er versuchte, sich ihr Gesicht zu vergegenwärtigen, aber es gelang ihm nicht. Dann wunderte er sich, dass er dies überhaupt versucht hatte.