Borderline – zwischen Trieb und Trauma - Mathias Kohrs - E-Book

Borderline – zwischen Trieb und Trauma E-Book

Mathias Kohrs

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Beschreibung

Borderline-Störungen stellen seit vielen Jahren eine stetig wachsende Anforderung an ambulante wie stationäre Behandler und Behandlerinnen dar. Sie waren lange im Kontext klassischer psychoanalytischer Theorien in ihrer Entstehung wie ihrer Behandlung nicht gut zu konzeptualisieren. Neuere psychodynamische Entwicklungsmodelle inklusive psychotraumatologischer Erkenntnisse und daraus abgeleitete Therapieansätze ermöglichen jedoch einen Zugang zu der verwirrenden und verstörenden Innenwelt sowie zu der (Selbst-)Destruktivität dieser Patientinnen und Patienten. Die Autoren geben einen Überblick über die Geschichte des Konzepts Borderline und den aktuellen Stand zur Pathogenese, Diagnostik und Therapie dieser vielschichtigen Persönlichkeitsstörung, mit deren Erkenntnissen strukturelle Entwicklungsprozesse eingeleitet werden können. Die Zusammenfassung der Behandlung einer Borderline-Patientin veranschaulicht insbesondere die komplexen Anforderungen der Therapie von Menschen mit dieser Störung.

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PSYCHODYNAMIKKompakt

Herausgegeben von

Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

Mathias Kohrs/Annegret Boll-Klatt

Borderline – zwischen Trieb und Trauma

Mit 2 Abbildungen und 1 Tabelle

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.de abrufbar.

© 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Paul Klee, Blaublick, 1927/akg-images

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISSN 2566-6401

ISBN 978-3-647-90132-9

Inhalt

Vorwort zur Reihe

Vorwort zum Band

Vorbemerkungen – »Machen Sie auch Borderline?«

1Eine kleine Geschichte der falschen Patienten

2Zwischen Trieb und Trauma – zur Geschichte des Borderline-Konzepts

2.1Borderland – Orientierungen im Grenzgebiet

2.2Beiträge der kleinianischen Psychoanalyse

2.3Beiträge der Objektbeziehungstheorie

2.4Beiträge der Mentalisierungsforschung

2.5Beiträge der Psychotraumatologie

2.5.1Symptome der BPS als »kreative Selbstheilungsversuche«

2.5.2Plädoyer für ein Zusammenwirken der psychoökonomischen und der hermeneutisch-objektbeziehungstheoretischen Perspektive

3Diagnostik

3.1Das diagnostische Dilemma: deskriptiv oder strukturell?

3.2Phänomenal-deskriptive Diagnostik

3.2.1DSM-5

3.2.2ICD-10

3.2.3BSL

3.3Strukturelle Diagnostik

3.3.1STIPO

3.3.2Reflective Functioning

3.4Traumazentrierte Diagnostik

4Therapeutische Ansätze: Konzepte zwischen Trieb und Trauma

4.1TFP – Übertragungsfokussierte Psychotherapie

4.1.1Behandlungskonzept

4.1.2Die Therapievereinbarung

4.1.3Therapeutisches Vorgehen und Interventionsstrategien

4.2MBT – Mentalisierungsbasierte Psychotherapie

4.3Traumazentrierte Behandlungsansätze

5Beispiel einer Behandlung

Literatur

Vorwort zur Reihe

Zielsetzung von PSYCHODYNAMIK KOMPAKT ist es, alle psychotherapeutisch Interessierten, die in verschiedenen Settings mit unterschiedlichen Klientengruppen arbeiten, zu aktuellen und wichtigen Fragestellungen anzusprechen. Die Reihe soll

Diskussionsgrundlagen liefern, den Forschungsstand aufarbeiten, Therapieerfahrungen vermitteln und neue Konzepte vorstellen: theoretisch fundiert, kurz, bündig und praxistauglich. Die Psychoanalyse hat nicht nur historisch beeindruckende Modellvorstellungen für das Verständnis und die psychotherapeutische Behandlung von Patienten hervorgebracht. In den letzten Jahren sind neue Entwicklungen hinzugekommen, die klassische Konzepte erweitern, ergänzen und für den therapeutischen Alltag fruchtbar machen. Psychodynamisch denken und handeln ist mehr und mehr in verschiedensten Berufsfeldern gefordert, nicht nur in den klassischen psychotherapeutischen Angeboten. Mit einer schlanken Handreichung von 70 bis 80 Seiten je Band kann sich die Leserin, der Leser schnell und kompetent zu den unterschiedlichen Themen auf den Stand bringen.

Themenschwerpunkte sind unter anderem:

–Kernbegriffe und Konzepte wie zum Beispiel therapeutische Haltung und therapeutische Beziehung, Widerstand und Abwehr, Interventionsformen, Arbeitsbündnis, Übertragung und Gegenübertragung, Trauma, Mitgefühl und Achtsamkeit, Autonomie und Selbstbestimmung, Bindung.

–Neuere und integrative Konzepte und Behandlungsansätze wie zum Beispiel Übertragungsfokussierte Psychotherapie, Schematherapie, Mentalisierungsbasierte Therapie, Traumatherapie, internet-basierte Therapie, Psychotherapie und Pharmakotherapie, Verhaltenstherapie und psychodynamische Ansätze.

–Störungsbezogene Behandlungsansätze wie zum Beispiel Dissoziation und Traumatisierung, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, Borderline-Störungen bei Männern, autistische Störungen, ADHS bei Frauen.

–Lösungen für Problemsituationen in Behandlungen wie zum Beispiel bei Beginn und Ende der Therapie, suizidalen Gefährdungen, Schweigen, Verweigern, Agieren, Therapieabbrüchen; Kunst als therapeutisches Medium, Symbolisierung und Kreativität, Umgang mit Grenzen.

–Arbeitsfelder jenseits klassischer Settings wie zum Beispiel Supervision, psychodynamische Beratung, Soziale Arbeit, Arbeit mit Geflüchteten und Migranten, Psychotherapie im Alter, die Arbeit mit Angehörigen, Eltern, Familien, Gruppen, Eltern-Säuglings-Kleinkind-Psychotherapie.

–Berufsbild, Effektivität, Evaluation wie zum Beispiel zentrale Wirkprinzipien psychodynamischer Therapie, psychotherapeutische Identität, Psychotherapieforschung.

Alle Themen werden von ausgewiesenen Expertinnen und Experten bearbeitet. Die Bände enthalten Fallbeispiele und konkrete Umsetzungen für psychodynamisches Arbeiten. Ziel ist es, auch jenseits des therapeutischen Schulendenkens psychodynamische Konzepte verstehbar zu machen, deren Wirkprinzipien und Praxisfelder aufzuzeigen und damit für alle Therapeutinnen und Therapeuten eine gemeinsame Verständnisgrundlage zu schaffen, die den Dialog befördern kann.

Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

Vorwort zum Band

Die Behandlung der schweren Persönlichkeitsstörungen, die »mit dem Begriff Borderline verbunden sind«, stellt den Kern des vorliegenden Buches dar. Auch wenn der Begriff der Borderline-Störung schon fast zum normalen Sprachgebrauch gehört, im Alltag wie eine Marke herumgezeigt zu werden droht und auch bizarre Kohärenzerfahrungen einzelner Gruppen ermöglicht, die in Internetforen zusammengeschweißt und durch Selbstverletzungen stabilisiert werden – auch wenn der Begriff also eine Bedeutungsdiffusion erleidet, liegen in der Regel doch schwere Leidensgeschichten, Bindungsstörungen, intrafamiliäre Traumatisierungen und schicksalshafte (auto-)aggressive Verhaltensweisen hinter den modischen Kulissen. Es besteht ein erheblicher Behandlungsbedarf aus individueller und gesellschaftlicher Perspektive.

Diesem Bedarf steht oft eine Ablehnung durch Therapeuten entgegen, da die Patientinnen und Patienten als schwierig, strukturell beeinträchtigt, sprunghaft, unverlässlich und unberechenbar erscheinen. Das Buch möchte den Borderline-Mythos durch klares Wissen ein wenig entzaubern und eine Lanze für die oft hart an sich arbeitenden Betroffenen brechen.

Eine historische Übersicht führt in die Begriffsgeschichte des »Borderline-Syndroms« zwischen »Trieb und Trauma« ein, wobei auf die Arbeiten von Melanie Klein und Otto Kernberg sowie auf die Gruppe um Peter Fonagy und Mary Target besonders eingegangen wird. Beiträge aus der Traumaforschung ergänzen das Bild und zeichnen die Symptome der Störung als kreative Selbstheilungsversuche auf. Intrapsychische und interpersonale Aspekte sind mit dem Borderline-Syndrom untrennbar verbunden.

Die Probleme der Diagnostik zeigen das Dilemma auf, die Borderline-Symptome als Ausdruck struktureller Defizite oder als nosologische Entität zu fassen. Die therapeutischen Möglichkeiten werden in aller Breite und Deutlichkeit dargestellt. Sie erweitern die Hoffnung bis zur Gewissheit, den Patienten heute auch evidenzbasiert helfen zu können. Die Übertragungsfokussierte Psychotherapie wird der Mentalisierungsbasierten Therapie gegenübergestellt und durch traumafokussierte Ansätze ergänzt. Ein eindrucksvolles Behandlungsbeispiel rundet die Darstellung ab.

Diese gelungene Übersicht über das Borderline-Syndrom, seine Diagnostik und Behandlungsmöglichkeiten gibt einen guten Einblick in den Forschungsstand und die Praxis dieses schwierigen Krankheitsbildes. Sie kann dazu dienen, Vorurteile abzubauen und negative Erwartungen durch Wissen zu ersetzen. Dieses anschaulich und engagiert geschriebene Buch ist allen Therapeutinnen und Therapeuten wärmstens zu empfehlen.

Inge Seiffge-Krenke und Franz Resch

Vorbemerkungen – »Machen Sie auch Borderline?«

Der Begriff Borderline gehört heute fast zum alltäglichen Sprachgebrauch. Patienten, vor allem im Alter zwischen zwanzig und dreißig Jahren, melden sich oft schon telefonisch mit der entsprechenden Diagnose zur Psychotherapie an, meist in der – oft sehr begründeten – Befürchtung, abgewiesen zu werden. Bereits die Diagnose selbst wird für viele Patientinnen und Patienten zur Belastung, bei anderen hat man dagegen den Eindruck, sie leiste eher noch einen Beitrag zur Identitätsbildung; manche tragen sie geradezu wie ein Abzeichen vor sich her. Darüber hinaus gibt es Gruppenprozesse auf Therapiestationen, aber auch in Schulklassen und adoleszenten Peergroups, in denen Borderline-Prozesse geradezu zelebriert werden. Sowohl anorektische Hungerprozeduren wie ausgiebige selbstverletzende Handlungen werden wie selbstverständlich geschildert und aufrechterhalten, ein bizarrer Lebensstil stärkt die Kohärenz des Einzelnen wie der Gruppe, entsprechende Seiten im Internet liefern Anschauungs- und gewissermaßen Trainingsmaterial.

Dieses Buch beschäftigt sich vor allem mit der Entwicklung relevanter Konzepte zum Verständnis und zur Behandlung der schweren Persönlichkeitsstörungen, die mit dem Begriff Borderline verbunden sind. Sie betreffen in der klinischen Praxis überwiegend junge Erwachsene, die spätestens seit ihrer Adoleszenz mit sich, ihrer persönlichen wie beruflichen Entwicklung, ihren Beziehungen und ihrer generellen Lebensbewältigung erkennbar nicht zurechtkommen. Es besteht ein hoher Leidensdruck und erheblicher Behandlungsbedarf, schon aus individueller, aber auch aus kollektiver, gesellschaftlicher Perspektive.

Denn – und auch diese Frage soll aufgeworfen werden – wie kommt es, dass diese schweren Persönlichkeitsstörungen so sehr zugenommen haben? Treten sie tatsächlich häufiger und schwerer auf oder erkennen wir sie nur besser und früher? Diese Fragen sind kaum befriedigend und sicher nicht abschließend zu beantworten. Sie streifen aber gesellschaftliche, kulturelle, mithin kollektive Prozesse, über die es sich lohnt nachzudenken. Die westlichen postindustriellen Gesellschaften erleben seit einigen Jahrzehnten einen rasanten, sich weiter beschleunigenden Wandel, der hohe Ansprüche an jedes Individuum stellt – aber auch von einer großen Zahl von Menschen begeistert mitgestaltet wird. Gefragt sind expressive Selbstdarstellung, schnelle Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit und die Bereitschaft, innerlich wie äußerlich, beruflich wie privat möglichst mobil und versatil zu sein, was übrigens laut Duden sowohl wandlungsfähig und geschmeidig bedeutet als auch ruhelos und wankelmütig.

Es könnte also sein, dass in gewissem Sinn Borderline Ausdruck und Krankheit unserer Zeit ist, so wie die Hysterie die Krankheit des ausgehenden 19. Jahrhunderts war. Damals dominierten strenge moralische Normen die Sozialisation, insbesondere in Hinblick auf Sexualität, festgelegte Zugehörigkeiten zu Geschlecht, Familie und sozialer Rolle. Diese engen Normen gaben Orientierung und Identität in Familie und Gesellschaft und sie produzierten spezifische psychische Konflikte und Neurosen, die sich zwischen Triebimpuls und internalisierten Verboten verstehen und behandeln ließen. Ermann spricht vom »ödipalen Sozialisationstyp«, der inzwischen »von einem postödipalen, narzisstischen Sozialisationstyp abgelöst« worden sei (Ermann, 2009, S. 7).

Wallerstein beschreibt 1991 bereits im Rückblick auf die Entwicklung der amerikanischen Selbstpsychologie durch Kohut eine gesellschaftliche Veränderung, die auch zu einem Wandel des psychoanalytischen Paradigmas geführt habe. Diesem liege nun nicht mehr »Konflikt und Konfliktlösung zugrunde, sondern Defizite und ihre Aufarbeitung, nicht die Konzeption des schuldigen Menschen als Personifizierung des ödipalen Dramas, sondern der tragische Mensch mit einem nichtintegrierten Selbst, das unter Streß zu Desorganisation und Fragmentierung neigt« (Wallerstein, 1991/2001, S. 661). Und genau damit sind wir hier befasst, mit der existenziellen Angst des Menschen vor dem Verlust des inneren und äußeren Zusammenhalts. Auch dies lässt sich als Schattenseite kollektiver Prozesse beschreiben, die – durchaus gewollt – der Individualität und Entwicklungsfreiheit des Einzelnen immer weniger Reglementierungen entgegensetzen. Dies führt zu Freiheit und potenziell auch zu Verlorenheit und – etwa im Kontext dysfunktionaler Familien – zu schweren Entwicklungsstörungen. Aus dieser Sicht könnte man viele Borderline-Patienten als »Modernisierungsverlierer« sehen, wie es Ulrich Sachsse einmal anmerkte (mündl. Mitteilung in Lindau, 2018).

Aber Borderline hat noch eine andere, noch dunklere Seite, die im psychoanalytischen Feld lange verleugnet wurde: In einer überwältigenden Mehrzahl der schweren Borderline-Pathologien findet sich in der biografischen Vorgeschichte ein familiärer Hintergrund mit chronischem sexuellem Missbrauch, schweren aggressiven Traumatisierungen und vielfältigen, nach außen oft kaum wahrnehmbaren emotionalen Misshandlungen, sogenannten Mikro- oder auch Bindungstraumatisierungen. Die klassische Psychoanalyse hat sich hier lange schwergetan, faktische Traumatisierung mit dem psychodynamischen Blick auf unbewusste Prozesse zu integrieren und in den Auswirkungen zu behandeln. Wir werden sehen, dass Borderline-Patientinnen und -Patienten uns häufig gewissermaßen dazu zwingen, diese beiden Perspektiven miteinander zu verbinden.

1Eine kleine Geschichte der falschen Patienten

Die Patienten und die Phänomene, von denen in der Folge die Rede sein soll, spielen seit vielen Jahren in der stationären wie ambulanten klinischen Praxis der psychodynamischen Psychotherapie eine stetig wachsende Rolle. Dabei passten und passen sie eigentlich in kein Konzept, die therapeutische Behandlung ist äußerst anstrengend, sie »nimmt jeden Behandler mit«, und die Prognosen und Resultate sind – um es vorsichtig zu sagen – nicht immer sehr ermutigend.

Was soll aber die Rede von den »falschen Patienten«? Nun: Die psychoanalytisch begründeten Therapieverfahren, heute vielfach unter dem Dach der psychodynamischen Psychotherapie