Briefe an einen Blinden - Colin Cotterill - E-Book
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Briefe an einen Blinden E-Book

Colin Cotterill

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Beschreibung

Treffen sich ein blinder Zahnarzt, ein Transvestit und ein laotischer Leichenbeschauer … Ein Krimi der liebenswerten Art

Das unglückselige Zusammentreffen mit einem Holzlaster in Laos’ Hauptstadt Vientiane hat einen blinden Zahnarzt zu Dr. Siri geführt. Der Leichenbeschauer staunt nicht nur über die seltene Todesursache – in Laos sind Autos rar, und zwei Fahrzeuge auf einer Straße gelten bereits als Verkehrschaos –, sondern auch über einen eigenartigen Fund: Der Tote hat einen Brief bei sich, der eine mit unsichtbarer Tinte geschriebene, verschlüsselte Botschaft enthält. Dr. Siri geht der Sache nach und kommt einem brisanten Geheimnis auf die Spur. Bei seinen Ermittlungen konsultiert er den Kartenleger und Transvestiten Tante Bpoo, sieht Bruce Lee beim Sieg über den Kapitalismus zu, schwimmt mit einem Delphin und verliert sein Herz an eine bezaubernde Frau ...

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Seitenzahl: 365

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Colin Cotterill

Briefe

an einen Blinden

Dr. Siri ermittelt

Roman

Aus dem Englischenvon Thomas Mohr

MANHATTAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel»Anarchy and Old Dogs«bei Soho Press, New York
Manhattan Bücher erscheinen imWilhelm Goldmann Verlag, München,einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2011Copyright © der Originalausgabe2008 by Colin CotterillCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.Published in agreement with the author,c/o Baror International Inc., Armonk, New York, U.S.A.Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigungdes Hans-im-Glück-Verlags, MünchenCovergestaltung: Roland EschlbeckCovermotive: © Lucy Davey / The ArtworksRedaktion: Martina KlüverSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-05769-5V004
www.manhattan-verlag.de

Ich möchte meinen engagierten Erstlesern danken, die zu meiner Freude bisweilen auch vor Verbalinjuriennicht zurückschrecken: David, Lizzie, Dtee, Kye, Cathy, Geoff, Tony, meiner wunderbaren Jess und dem fabelhaften John Cotterill alias Dad.

FORMULAR A223-79Q

AN: Richter Haeng Somboun

p. A. Justizministerium

Demokratische Volksrepublik Laos

VON: Dr. Siri Paiboun

BETR.: Amtlicher Leichenbeschauer

DATUM: 13.06.1976

LEBENSLAUF:

1904

Plus/minus ein Jahr – das nahm man seinerzeit nicht so genau. Geboren in der Provinz Khammouan, angeblich als Sohn Hmong-stämmiger Eltern. Ich selbst kann mich nicht daran erinnern.

1908

Ich werde zu einer bösen Tante abgeschoben, die mich …

… der Obhut eines Tempels in Savannaketh und damit dem Wohlwollen des Herrn Buddha überlässt.

1920

Abschluss der Tempelschule. Keine Glanzleistung.

Die Buddha-Investition zahlt sich aus: Eine überaus großzügige französische Gönnerin schickt mich nach Paris, auf dass etwas aus mir werde. In Frankreich muss ich von Neuem die Schulbank drücken, um zu beweisen, dass ich mir meine Zensuren nicht ergaunert habe.

Besuch der Ancienne faculté de médecine.

In Paris eheliche ich Bouasawan und trete spaßeshalber in die Kommunistische Partei ein.

Praktikum am Hôtel-Dieu-Krankenhaus. Ich beschließe, doch noch Arzt zu werden.

Rückkehr nach Laos.

Spiel, Spaß und Spannung im Dschungel von Laos und Vietnam. Ich flicke kaputte Soldaten wieder zusammen und versuche, dem Bombenhagel zu entgehen.

Ich komme in der Hoffnung auf einen friedlichen Lebensabend nach Vientiane.

Ich werde von der Partei zwangsrekrutiert und zum amtlichen Leichenbeschauer ernannt. (Bei dem Gedanken an die mir zuteilgewordene große Ehre vergieße ich nicht selten heiße Tränen.)

Hochachtungsvoll,

Dr. Siri Paiboun

1

BRIEF AN EINEN BLINDEN ZAHNARZT

Der Briefkasten befand sich bei achtzehn waagerecht, zwölf senkrecht, und die Klappe war mit einem Wollfaden umwickelt, damit Dr. Buagaew ihn nicht verfehlte. Er zeichnete den Umriss des Schlüssellochs mit dem linken Zeigefinger nach und schob den Schlüssel mit der rechten Hand ins Schloss. Der schmale Holzschacht duftete nach der Korrespondenz vergangener Tage: nach Packpapier und Klebstoff, nach alten Pergamenten und Geheimnissen. Seine Hand suchte den dünnen Umschlag. Er wusste, dass er da war, und er wusste auch, was er enthielt, denn nur eine andere Person kannte diese Postfachadresse.

Er verschloss die Klappe wieder, faltete den Umschlag zusammen, verstaute ihn in der Innentasche seiner Jacke und wandte sich zum Gehen. Das Bureau de Poste war wie immer brechend voll. Er hörte das wüste Geschrei der Bauerntölpel, die sich vor den Schaltern drängten. Das Kratzen der Stifte, die dringende Nachrichten auf Postkarten kritzelten, und das Knistern des Papiers, in das man für dreißig Kip seine Päckchen oder Pakete einschlagen lassen konnte. Gleich mehrere Leute brüllten in die Fernsprechapparate am anderen Ende der Halle und ließen halb Vientiane bereitwillig an ihren hochprivaten Angelegenheiten teilhaben.

All das gehörte zur Geräuschkulisse der Stadt, die Dr. Buagaew so sehr verabscheute. Wären die Briefe nicht gewesen, hätte er keinen Fuß hierhergesetzt. Jeden Tag stieg er beim Morgenmarkt aus dem Bus, überquerte die Khou Vieng Road, holte seine Post und fuhr mit derselben Linie zurück. Weiter nichts. Angesichts der wenigen Autos, die im August 1977 auf den Straßen der laotischen Kapitale unterwegs waren, konnte von »Verkehr« eigentlich nicht die Rede sein. Nur wer verwandtschaftliche oder berufliche Beziehungen zur sozialistischen Staatsregierung unterhielt, verfügte über die notwendigen Mittel, seinen Motor mit Petroleum zu geißeln. Zwei Fahrzeuge auf einer Straße galten bereits als Verkehrsstau. Und wenn sich die Hunde auf dem warmen Asphalt ausstreckten, war selbst am späten Vormittag noch Platz genug, sie weiträumig zu umfahren.

Vielleicht hatte Dr. Buagaew die Straße deshalb nie als potenzielle Gefahr betrachtet. Das würde jedenfalls erklären, warum er weder am bröckelnden Bordstein haltmachte noch auf das nahende Motorengeräusch achtete. Hatte er die Risse und Schlaglöcher in der Fahrbahn mit Hilfe seines Bambusstockes erst einmal erfolgreich umschifft, brauchte er nur noch den Maschendrahtzaun auf der anderen Seite zu finden und ihm bis zur Bushaltestelle zu folgen. Die Zeugen waren sich einig: Um in Vientiane unter die Räder eines Lastwagens zu kommen, musste man sich schon vor dieselben werfen. Und selbst dann war der LKW in der Regel so langsam, dass der Fahrer ausreichend Zeit hatte, auf die Bremse zu treten und unangenehme Zwischenfälle zu vermeiden.

Das ließ nur einen Schluss zu: Der blinde, alte Mann musste einen enormen Berg karmischer Schulden angehäuft haben, sonst wäre er wohl kaum vor den führerlosen Holztransporter gelaufen. Was für eine aberwitzige Verkettung von Zufällen! Ein chinesischer Lastzug. Ein verklemmtes Gaspedal. Und ein junger Fahrer, der zwanzig Meter vor dem Aufprall in panischer Angst vom Bock gesprungen war. Der LKW raste am Postamt vorbei und überrollte Dr. Buagaew, bevor er mit dem hölzernen Lautsprechermast an der Ecke Lane Xang Avenue kollidierte. Letzterer hielt der Schwerkraft noch ein paar Sekunden stand, dann kippte er um und krachte auf die leere Straße.

Obwohl die tragische Geschichte sich wie ein Lauffeuer verbreitete, vergoss kaum jemand eine Träne über den Tod des namenlosen alten Mannes. In den Herzen der Hauptstädter war für das Unglück ihrer Mitmenschen kein Platz. Seit einiger Zeit lag eine merkwürdige Stimmung über Vientiane. Die Regierung erinnerte zunehmend an einen ungeliebten Verwandten, der sich fürs Wochenende angekündigt hatte, nun aber schon seit zwei Jahren das Gästezimmer okkupierte. Es waren unangenehme Zeiten in einem Land, das mit Annehmlichkeiten ohnehin nicht eben reich gesegnet war. Die Dürre hatte der bedauernswerten Erde den letzten Tropfen Wasser abgetrotzt. Der für die Jahreszeit typische Monsun ließ auf sich warten, und ein paar kurze Mangoschauer waren rasch versickert und vergessen. Zwar hatte die Weltbank Reis gespendet, aber da es nur wenige LKW und noch weniger Benzin gab, gelangte kaum etwas davon in die ländlichen Regionen.

Eigentlich hätte das neue sozialistische Regime die Gelegenheit nutzen können, um die leidgeprüfte Bevölkerung vom Joch der Bürokratie zu befreien. Die Pathet Lao waren 1975 an die Macht gekommen, und selbst der Premierminister musste zugeben, dass sie seitdem nicht allzuviel zustande gebracht hatten. Stattdessen versuchte die dschungelerprobte Regierung, ihr Unvermögen dadurch zu verschleiern, dass sie das Volk mit immer neuen Vorschriften und Gesetzen drangsalierte. Wer von einer Präfektur zur anderen radeln wollte, musste sage und schreibe sechs Unterschriften einholen. Wenn ein Stück Nutzvieh starb, und sei es eines natürlichen Todes, musste dies schriftlich gemeldet werden. Und Gott gnade einer Familie, die ihre armselige Hütte durch einen Anbau erweitern wollte. Für den entsprechenden Papierkram mussten ein kleiner Wald und ein ausgewachsener Tintenfisch dran glauben.

Etwa fünfzigtausend ehemals royalistische Beamte saßen in Umerziehungslagern, und die Positionen, die sie einst bekleidet hatten, waren entweder vakant geblieben oder mit Parteikadern besetzt worden, denen die erforderliche Qualifikation für ihre Arbeit fehlte. Sie alle taten ihr Bestes, doch das Beste ist eben nicht immer gut genug.

2

DIE STRASSENWAHRSAGERIN

Dr. Siri Paiboun, der erste und einzige Leichenbeschauer des Landes, saß in der Pathologie und rollte einen Hoden zwischen Daumen und Zeigefinger. Es war ein eigenartiges Gefühl. Er hielt ihn ans Licht und fotografierte ihn. Dann legte er ihn neben seinen Genossen auf den Tisch und machte noch einen Schnappschuss von dem trauten Paar.

»Wissen Sie was? Das sind wahre Wunderwerke der Natur«, sagte er.

»Inwiefern?«

Schwester Dtui kramte hektisch in ihrer Schublade, auf der Suche nach einem geeigneten Behältnis für die beiden Testikel. Sie war eine hübsche Mittzwanzigerin mit einem hinreißenden Lächeln. In der blütenweißen Tracht, die sich um ihren voluminösen Körper spannte, sah sie aus wie ein überdimensionaler – wenn auch ausgesprochen gutgelaunter – Kühlschrank.

»Sie wirken zwar eher unscheinbar«, sagte Siri, »aber die kleinen Kerlchen haben es buchstäblich in sich. Sie steuern sämtliche sexuellen Vorgänge im männlichen Körper. Sie schütten Testosteron aus, um Potenz und Zeugungskraft zu signalisieren und so das weibliche Geschlecht anzulocken, sie stimulieren eine Erektion und produzieren Spermien zur Befruchtung der Eizelle. Und trotz dieser gewaltigen Verantwortung haben sie noch nicht einmal einen Platz im Körperinnern. Sie sind bloße Anhängsel, zum Baumeln verdammt. Reichlich rücksichtslos von unserem Schöpfer, wenn Sie mich fragen.«

»In frittierter Form werden die Dinger wohl keinen allzu großen Beitrag zum Fortbestand der Menschheit mehr leisten«, sagte Dtui und hielt lächelnd eine aus zwei Blättern zusammengeklammerte Papiertüte in die Höhe, die ehedem Bananenpuffer beherbergt hatte. »Das muss genügen.«

»Sie scheinen es ja ziemlich eilig zu haben, Schwester Dtui.«

»Heute ist Mittwoch. Ich darf den Termin bei meiner Wahrsagerin auf keinen Fall verpassen.«

»Sollten Sie sich nach Feierabend nicht eher um die Gemüsebeete im Klinikgarten kümmern oder anderweitig zum Wohl der Republik beitragen?«

»Dazu ist auch nach meiner Sitzung noch Zeit. Sie dauert höchstens eine halbe Stunde.«

»Sie enttäuschen mich, verehrte Dtui. Sie glauben doch nicht ernsthaft an diesen Hellseher-Humbug?«

»Das müssen Sie gerade sagen.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Wenn ich kurz zusammenfassen dürfte: ein Mann, in dessen Körper ein tausend Jahre alter Hmong-Schamane wohnt, ein Mann, der von bösen Waldgeistern verfolgt wird, ein Mann, der regelmäßig Besuch von den Geistern der Ermordeten bekommt …«

»Der Herr scheint ja ein echter Teufelskerl zu sein.«

»… ein Mann, in dessen magischem Schandmaul sich Stücker dreiunddreißig Zähne drängen, was zweifelsfrei beweist, dass er mit der Geisterwelt sozusagen auf dem Duzfuß steht, dieser Mann also hält Hellseherei für Humbug?«

»Allerdings. Barer Unfug. Die Zukunft ist wie ein Pickel auf unserer Nasenspitze. Egal wie schnell wir laufen, wir holen sie doch niemals ein. Schon der Versuch ist zwecklos.«

»Das klingt aber verdächtig nach einer von Richter Haengs Parteilosungen.«

»Mitnichten. Das ist ganz allein auf meinem Mist gewachsen. Niemand kann in die Zukunft sehen. Diese Scharlatane erzählen leichtgläubigen Trotteln, was sie hören wollen, und verdienen sich damit eine goldene Nase.«

»Also, dass mein Studium in der Sowjetunion ins Wasser fällt, wollte ich ganz bestimmt nicht hören.«

»Das hat sie Ihnen gesagt? Da haben Sie’s! Unfug! Nichts und niemand kann Sie daran hindern, nach Moskau zu fliegen. Es ist alles unter Dach und Fach. Genau deshalb sind diese Hellseher so gefährlich, Dtui. Sie pflanzen Ihnen einen unheilvollen Samen ein, der in Ihrem hübschen Köpfchen Wurzeln schlägt und wuchert wie eine bösartige Geschwulst. Am Ende sind Sie so verwirrt, dass Sie Ihr Verhalten den Weissagungen entsprechend ändern. Der Hellseher hat also keineswegs in die Zukunft geschaut, sondern vielmehr Ihre Flugbahn geringfügig verändert und Sie in eine Richtung gelenkt, die sich mit seiner Prophezeiung weitgehend deckt. Ihr blinder Glaube macht Sie zur leichten Beute dieser Lügner und Betrüger.«

»Quatsch!«

»Quatsch? Quatsch? Ich muss schon sagen. Mit der Ehrfurcht vor dem Alter scheint es ebenso bergab zu gehen wie mit allen anderen Umgangsformen auf dieser schnöden Welt.«

»Tut mir leid. Aber Quatsch ist Quatsch, Alter hin oder her. Tante Bpoo kann in die Zukunft sehen. Darauf verwette ich meine Socken.«

»Tante Puh? Der Name sagt alles. Wo treibt sie denn ihr anrüchiges Unwesen?«

»Ähm …«

»Ähm?«

»Auf dem Gehweg vor dem Aeroflot-Reisebüro.«

»Ach, Dtui. Sie meinen doch nicht etwa den Transvestiten?«

»Doch.«

»Dann ist Hopfen und Malz verloren. Das ist ja noch deprimierender, als ich es mir in meinen finstersten Albträumen hätte ausmalen können. Sie sehen ja selbst, wie prächtig seine Geschäfte florieren. Kein Wunder in dieser erstklassigen Lage. Meinen Sie nicht auch, dass der Mann längst steinreich wäre, wenn er tatsächlich in die Zukunft schauen könnte? Und es schwerlich nötig hätte, in bunter Kriegsbemalung auf einer Strohmatte zu hocken? Meine Güte, wenn ich hellsehen könnte, säße ich längst in Bangkok und würde mit anderen respektablen Rentnern Kaffee und Cognac schlürfen.«

»Sie darf aus ihrer Gabe keinen Profit schlagen.«

»Wollen Sie damit sagen, sie … er nimmt kein Geld für seine dubiosen Dienste?«

»Nicht einen Kip.«

Siris Verwirrung währte nur kurz. »Aha, verstehe. Die Damen und Herren Hellseher haben einen Ehrenkodex. In diesem Fall sollte ihre Ehre es ihnen verbieten, allzu leichtfertige Vorhersagen zu treffen und Ihnen zu erzählen, dass Ihre Ostblockreise platzen wird. Ich glaube, ich muss mal ein ernstes Wörtchen mit Ihrem komischen Tantchen reden.«

»Nur zu. Tun Sie sich keinen Zwang an.«

»Was?«

»Sprechen Sie ruhig mit ihr.«

»Sie haben nichts dagegen?«

»Vielleicht ist ja selbst ein alter Hund wie Sie noch lernfähig.«

»Das möchte ich doch stark bezweifeln.«

»Dann gehen Sie hin, und reden Sie mit ihr. Aber bitte recht freundlich. Vergessen Sie das bizarre Beiwerk, und lassen Sie sich von ihr bezirzen. Sie wird Sie überzeugen, das garantiere ich Ihnen.«

»Sie scheint auf Negativprognosen abonniert zu sein.«

»Nicht unbedingt. Hin und wieder spricht sie einem auch Mut zu. Sie hat mir prophezeit, dass ich Ende des Monats in den Hafen der Ehe einlaufen werde.«

Siri lachte. »Und wer ist der Glückliche?«

»Das hat sie nicht gesagt.«

»Dann bestellen Sie schon mal das Aufgebot. Heute ist der fünfzehnte.«

Dtui tütete die Hoden ein, etikettierte sie (»Abgetrenntes Skrotum. Hr. Tawon. Aug. 1977«) und brachte sie in den Lagerraum der Pathologie. Sie würden den Leichnam nicht auf den Scheiterhaufen begleiten. Herr Tawon hatte die Heiligkeit der Ehe regelmäßig verletzt. Nach zwanzig Jahren Untreue war seine ebenso ergebene wie langmütige Frau mit ihrer Geduld am Ende und beschloss, ihrem Gemahl ein selbiges zu setzen. Auf der anderen Seite des Flusses, in Thailand, hätte Herr Tawon vermutlich darauf hoffen dürfen, seine Karriere als Weiberheld und Schürzenjäger nach angemessener Rekonvaleszenzzeit fortsetzen zu können. Thaifrauen zogen es im Allgemeinen vor, die Karotte und nicht die Zwiebeln abzuschneiden. Sofern es dem solcherart Entmannten gelang, sein verloren gegangenes Glied rechtzeitig zu finden und damit zu einem halbwegs fähigen Chirurgen zu humpeln, bestand eine immerhin dreißigprozentige Chance, das Organ erfolgreich wieder anzunähen.

Doch Frau Tawon machte keine halben Sachen. Als ihr Mann wieder einmal in eine Wolke billigen Parfüms gehüllt von einer Sauftour heimgekehrt war und seinen Reiswhiskyrausch ausschlief, hatte sie ihm das Rasiermesser ans Gemächt gesetzt. Und damit er sich im Jenseits nicht zu weiteren Schandtaten hinreißen lassen konnte, hatte sie die Weichteile kurzerhand in Sesamöl fritiert. Bei dem Versuch, sie zu retten, war Herr Tawon verblutet. Wie Dr. Siri ganz richtig bemerkt hatte, vermochte eine Geschichte wie diese selbst dem hartgesottensten Mannsbild die Tränen in die Augen zu treiben.

»Eine ebenso scharfe wie schmerzliche Lektion«, hatte er gesagt.

Die Weisheit der Toten verhalf Dr. Siri Paiboun immer wieder zu neuen Erkenntnissen. Trotz seiner dreiundsiebzig Jahre und seiner reichhaltigen Erfahrung auf den Gebieten der Medizin, des Krieges, der Liebe und der Politik musste er sich eingestehen, dass er noch allerhand zu lernen hatte. Viele Laoten, die halb so alt waren wie er, spielten sich gern als Experten auf. Wäre ihnen auch nur ein Bruchteil von Dr. Siris Bescheidenheit vergönnt gewesen, hätten sie gewusst, dass es für einen wahren Experten keine einfachen Antworten gab. Zwar waren nicht viele seiner Zeitgenossen so störrisch und widerborstig wie der alte Mann, doch wer so viele Jahre auf dem Buckel hatte, brauchte sich dessen wahrhaftig nicht zu schämen. Bei aller Streitlust fuhr er jedoch nur selten aus der Haut und beleidigte andere Menschen nur, wenn sie es ausdrücklich verdient hatten. Zudem war er mit schier unendlicher Geduld gesegnet. Man hatte ihn verschiedentlich mit der vietnamesischen Tausend-Jahres-Pflanze verglichen, die sich ihr Leben lang in der vagen Hoffnung wiegte, dass eines Tages ein Hirsch des Weges kommen und ihre einzige Spore in fruchtbarere Gefilde tragen möge.

Und genau wie die Tausend-Jahres-Pflanze war der Doktor für einen Mann seines Alters noch recht gut erhalten. Sein Haar war dicht und weiß wie das Gefieder eines Zwerghuhnkükens. Seine stechenden grünen Augen funkelten immer noch so hell wie die Smaragde eines Radschas. Sein gedrungener Körper war straff und muskulös, sein Verstand schärfer denn je. Erst seit Kurzem plagte ihn das eine oder andere Gebrechen. Nachdem er sich beim Einsturz seines Hauses eine Staubvergiftung zugezogen hatte, ließ seine Lunge ihn manchmal ihm Stich. Überdies schienen ihm seit einigen Monaten die Sinne abhanden zu kommen. Nicht etwa die fünf Sinne, die einen Mann gemeinhin davor bewahren, auf einen Hahnenkampf zu wetten oder die Frau seines besten Freundes zu beschlafen. Nein, was Siri nach und nach verloren ging, waren die Sinne, denen die Welt Farbe, Geschmack und Geruch verdankte. Das Grau der Blüten und ihren schwachen Duft hätte man eventuell der Dürre zuschreiben können. Doch die Fadheit der Gewürze, die einer Speise einst das nötige Aroma verliehen hatten, ließ sich schwerlich der Trockenheit anlasten. Je vertrauter Dr. Siri Paiboun das Übernatürliche erschien, desto glanzloser erschien ihm die Natur.

Als die Brüder den Leichnam des Eunuchen, der einst den Namen Tawon getragen hatte, in den Tempel brachten, kamen ihnen zwei junge Polizisten entgegen, die eine alte Halls-Menthol-Hustendrops-Reklametafel als Trage zweckentfremdet und die verstümmelten Überreste eines Unfalltoten darauf gebettet hatten. Auch das Schild war dem Verkehrsunfall zum Opfer gefallen. Die Beamten trugen uneinheitliche, schlecht sitzende Uniformen. Als sie zur Tür hereinkamen, blickte Siri in ihre knabenhaften Gesichter. Der Abstand zwischen Pubertät und Autorität schien von Tag zu Tag geringer zu werden.

»He, Onkel«, sagte einer der beiden und stützte sein Ende der Tafel mit dem Knie. »Wohin damit?«

Siri trat vor ihn hin und starrte dem einfältigen Bengel in die Augen. »Da ich erstens ein Einzelkind bin«, sagte er, »und mein letzter Geschlechtsverkehr zweitens gut und gerne fünfzehn Jahre zurückliegt, halte ich es für äußerst unwahrscheinlich, dass Sie und ich verwandt sind. Insofern wäre es wünschenswert, wenn Sie mich mit ›Doktor‹ anreden würden, meinen Sie nicht auch?«

»Hä?«

»Tut mir leid, Doktor«, fuhr der andere Jungpolizist dazwischen. »Er ist neu. Frisch aus der Provinz. Können wir den irgendwo abladen? Er wird allmählich ein bisschen schwer.«

Siri führte sie in den Sektionssaal und öffnete die einzige Tür der Kühlkammer.

»Hier hinein, wenn ich bitten darf«, sagte Siri. »Was ist denn passiert?«

»Er ist vor der Hauptpost von einem Laster überfahren worden.«

»Wie ungewöhnlich. Er hatte ihn wohl nicht kommen sehen.«

»Der hat gar nichts gesehen, Genosse. Der ist nämlich blind. Genauer gesagt, war.«

Siri zog eins der Augenlider des Toten hoch, worauf der graue Star zum Vorschein kam, der die Pupillen des Mannes erweitert und seine Linsen getrübt hatte. Sie schillerten weißlich wie Opale.

»Wohl wahr. Haben Sie eine Ahnung, wer er ist?«

»Keinen Schimmer«, sagte der erste Beamte, »… Doktor. Ich dachte, das könnten Sie uns sagen.«

»Tja, mein Junge, falls er seinen Namen nicht gerade auf sein Hinterteil tätowiert hat, bin ich genauso schlau wie Sie. Ich bin schließlich Pathologe und kein Hellseher.«

3

DER KLEBREISPOLIZIST

Tante Bpoo war schon von Weitem als Transvestit zu erkennen. Selbst in finsterster Nacht hätte den nicht mehr ganz jungen Mann im Fummel wohl niemand mit einer Frau verwechselt. Bei Tageslicht freilich stach sie dem Beobachter auf der gegenüberliegenden Straßenseite ins Auge wie ein Leuchtfeuer – oder doch zumindest wie eine Boje. Über ihren breiten Schultern spannten sich die Spaghettiträger eines grellrosa Tops. Ihre bleichen Speckrollen quollen über den Gummibund ihrer leopardengemusterten Leggings wie wild wucherndes Eis aus dem Gefrierfach eines billigen Kühlschranks. Das Rouge auf ihren Wangen und das Violett rings um ihre Augen standen einem Paradiesvogel in puncto Farbenpracht nicht nach. Und ihr schwarzes, militärisch kurz geschnittenes Haar brachte die cremeweiße Hibiskusblüte, die sie sich hinters Ohr gesteckt hatte, hervorragend zur Geltung.

Siri hatte sich vor dem geschlossenen Kaffeestand auf der anderen Seite der Samsenthai Road postiert und tat, als wolle er einen verirrten Pflasterstein mit dem Fuß an seinen rechtmäßigen Platz bugsieren. Doch außer der schwarzen Stupa inmitten ihrer kleinen Insel aus verdorrtem Gras nahm von ihm niemand Notiz. Selbst durch den Staubschleier, der trübe über der Hauptverkehrsader der Hauptstadt hing, war Tante Bpoo eine Beleidigung fürs Auge. Siri machte kehrt und ging zu seinem Motorrad zurück. Was hatte er sich bloß dabei gedacht? Wie, um alles in der Welt, war er auf diese abstruse Idee gekommen? Er hätte wie geplant auf schnellstem Weg nach Hause fahren sollen. Aber nein. Stattdessen lungerte er hier herum und trug sich mit törichten Gedanken. Vielleicht hatte er auch nur wissen wollen, was in seine ansonsten vollkommen zurechnungsfähige Sektionsassistentin gefahren war, dass sie auf einen derart hanebüchenen Schwindel hereinfiel. Und wovon lebte diese Bordsteingräfin eigentlich? Sie nahm kein Geld für ihre Dienste, war aber offensichtlich auch nicht am Verhungern. Sein innerer Detektiv veranlasste Siri zur Umkehr und schickte ihn über die meistbefahrene Straße Vientianes. Normalerweise wäre er blindlings auf die Fahrbahn gelaufen, doch nach den Ereignissen des heutigen Tages beschloss er, am Randstein stehen zu bleiben und brav nach links und rechts zu schauen.

Eine Minute später hockte er im Schneidersitz auf einer Bananenblattmatte im langen Abendschatten des Aeroflot-Schildes. Er sah Tante Bpoo beim Kartenmischen zu, sie mischte und mischte, bis sie den Damen und Königen die Nase aus dem Gesicht gescheuert hatte. Seit seiner Ankunft hatte sie ihn keines Blickes gewürdigt. Sie beachtete ihn gar nicht. Als sie ihr Schweigen schließlich doch brach, geschah es in Form eines Gedichts. Dachte Siri jedenfalls. Zwar hatte er schon des Öfteren schlechte Gedichte gehört, doch Tante Bpoos Elaborate besaßen eine ganz eigene Tiefe.

»Aus einem Schaf (begann sie)

Da werden vier. So geht es weiter

Tier um Tier

Löwe, Affe und Delfin

Unsere eigenen Anomalien

Perfekt geklont

Hundertmal ich

Du, er, sie

Alles Eins.«

Siri überlegte, was er tun sollte. Fragen, was das alles zu bedeuten hatte? Applaudieren? Er wollte eben etwas sagen, als der Transvestit aufblickte und sich ein Lächeln in seinem Clownsgesicht breitmachte – ein hässlicher, betelnussroter Schlitz.

»Dr. Siri«, sagte sie. »Ich habe Sie bereits erwartet.«

Siri war verdutzt. Woher wusste sie, wie er hieß? Sie waren einander nie begegnet. Vielleicht hatte Dtui …? Um seine Verwunderung zu überspielen, simulierte er einen Hustenanfall.

»Eigentlich bin ich gekommen, um Ihnen zu sagen …«, begann er.

»Dass Sie meine Prophezeiungen für ausgemachten Humbug halten«, sagte sie.

Siri war beeindruckt. Sie hatte ihm die Worte aus dem Mund genommen. Es war entweder ein brillanter Trick oder ein schier unglaublicher Zufall.

»Kompliment. Dann können Sie mir doch bestimmt auch sagen, was ich gestern zu Abend gegessen habe«, schlug Siri vor.

»Nein, das kann ich nicht«, knurrte Tante Bpoo und steckte die Nase wieder in ihre Karten. »Wenn Ihnen nach Tingeltangel zumute ist, müssen Sie schon nach Bangkok fahren.«

»Aber ich dachte, Sie sind Spezialist für Taschenspielertricks«, stieß Siri mühsam, ohne den gewohnten Nachdruck hervor.

Als Tante Bpoo von Neuem aufblickte, waren ihre Augen von demselben stumpfen Grau wie Kugellager. Sie schienen ihn geradewegs zu durchbohren. »Noch vor der zweiten Tagundnachtgleiche werden Sie, Dr. Siri Paiboun, Ihr Vaterland verraten haben.«

»Wie bitte? Seien Sie nicht albern.«

»Sie sind zu mir gekommen. Nicht umgekehrt.«

»Aber ich wollte doch bloß …«

»Und geben Sie gut Acht auf Ihren Talisman, Doktor. Die phibob liegen schon auf der Lauer. Sie warten nur auf eine günstige Gelegenheit.«

»Wer … wer hat Ihnen das verraten?«

Siri spürte, wie ein kalter Schauer ihm langsam das Rückgrat hinaufkroch. Diese Wahrsagerin wusste Dinge, die sie unmöglich irgendwo aufgeschnappt haben konnte. Gefährliche Dinge. Die Waldgeister hatten Siri auf einen Felsvorsprung gehetzt, der ins Tal des Todes hinausragte. Sie hatten den Geist des tausendjährigen Schamanen Yeh Ming aufgespürt, der sich in Siris Körper häuslich eingerichtet hatte. Doch um den einen zu vernichten, mussten sie den anderen eliminieren. Siri lebte in ständiger Angst vor ihnen. Er griff sich an die Brust, wo sich das weiße Zauberamulett, sein einziger Schutz gegen die phibob, warm an seine Haut schmiegte. Es befand sich unter seinem Hemd, fremden Blicken entzogen.

»Ich sehe nicht, was hier und jetzt ist«, erklärte ihm der Transvestit. »Ich sehe nur, was kommt. Aber oftmals liefert uns die Zukunft eine Erklärung für die Gegenwart.«

Plötzlich fing er ohne ersichtlichen Grund schrill an zu kichern. Ein Hund in der Gosse suchte panisch das Weite. Siri überkam eine böse Ahnung. Was, wenn das Monstrum, das da vor ihm saß, ein kleines Mädchen mit Haut und Haar verschlungen hatte?

»Meine Güte. Schon so spät?«, hörte er es jetzt mit dünnem Stimmchen sagen. »Wenn ich nicht mutterseelenallein durch die dunklen Straßen gehen will, muss ich mich sputen.«

Hastig raffte Tante Bpoo Karten und Tasche zusammen, scheuchte Siri von der Matte und rollte sie auf. Dabei bewegte sie sich wie eine Ballerina auf Heroin. Sie hatte sich in ein albernes Gör verwandelt, das Siri am liebsten mit ein paar schallenden Ohrfeigen zur Vernunft gebracht hätte, was er jedoch wohlweislich unterließ. Schließlich wog sie gut fünfunddreißig Kilo mehr als er. Stattdessen stellte er sich in den Eingang des Aeroflot-Reisebüros und sah ihr nach, wie sie davonlief und mit gezierten Trippelschritten an der schwarzen Stupa vorbeieilte. Siri hatte es vor Schreck den Atem verschlagen. Es gab nur wenige Wesen, denen er sich unterlegen fühlte, doch Tante Bpoo, der wahrsagende Transvestit, gehörte zweifellos dazu.

Eine Hand ragte steif unter dem weißen Laken hervor. Die Handfläche nach oben gekehrt, lag sie auf dem Totentisch, als würde sie um die Rückgabe ihres kürzlich ausgehauchten Lebens betteln. Die ganz in Weiß oder Schwarz gewandeten Trauergäste schoben sich in einer ungeordneten Reihe an dem Leichnam vorbei. Einer nach dem anderen tauchte eine Blechtasse in ein tönernes Wasserbecken und träufelte ein paar Tropfen auf die aschgrauen Finger. Sie baten die Verblichene um Vergebung, falls sie noch eine Rechnung mit ihr offen hatten. Ein Stück abseits saßen vier Mönche und sangen hinter vorgehaltenen Zeremonienfächern wie schüchterne Ping-Pong-Spieler. Der sai-sin-Faden verband sie mit der Leiche und gab ihre Botschaft wie ein karmischer Telegraf an die Verstorbene weiter. Dtui stand zu Füßen ihrer Mutter und dankte den Gästen für ihr Kommen. Sie lächelten. Sie lächelte. Sie scherzten. Sie lachte. Niemandem war damit gedient, wenn man aus einer Bestattung ein Trauerspiel machte.

Im Hof des kleinen Tempels stand ein langer Bocktisch mit Getränken im Schatten eines Goldregenbaums. Dort konnten die Gäste sitzen und ihrer lieben Freundin Manoluk gedenken. Nach ein paar Gläsern Reiswhisky würden sie vermutlich allen Anstand über Bord werfen und lauthals schlüpfrige Geschichten aus Manoluks Jugend zum Besten geben. Wenn sie keine kannten, würden sie welche erfinden. Und sie würden bestimmt über die elf Kinder sprechen, die sie geboren hatte, und mit ihren Gedanken bei Dtui verweilen, der einzigen ihr verbliebenen Tochter, die sie verhätschelt und für deren Ausbildung sie sich krumm geschuftet hatte. Sie würden ihre Gläser auf die mollige Krankenschwester erheben, »Alles Gute« rufen, ein paar Runden Karten spielen und schließlich heimwärts wanken. Tränen würden sie keine vergießen, denn die brachten Unglück und hätten Manoluks Heimkehr ins Nirwana gefährden können. Ihre wahre Trauer würde sich allein in ihren Träumen zeigen.

Als Siri gegen sechs Uhr schweißgebadet aufgewacht war, hatte ihm das Bild Tante Bpoos noch immer lebhaft vor Augen gestanden. Im Traum hatte er in einem französischen Bordell engumschlungen mit ihr getanzt. Ihr verlaufenes Make-up hatte auf seine Wangen abgefärbt und ihm das Aussehen eines Komantschen auf dem Kriegspfad verliehen. Die Mitglieder des Politbüros der Laotischen Volkspartei saßen mit Baskenmützen auf dem Kopf an niedrigen Tischen und schielten verstohlen zur Tanzfläche herüber. Siri spähte über die behaarte Schulter seiner Partnerin und zählte die Amts- und Würdenträger durch. Da waren, logisch, der Präsident, der Premierminister, die Minister für Landwirtschaft und Bildung. Er hatte sieben der acht Parteibonzen entdeckt und überlegte noch, wer fehlte, als plötzlich eine Bombe – eine kugelrunde schwarze Comicbombe – durch ein Fenster geflogen kam. Sie explodierte und beförderte sie alle mit einem lauten Schlag ins Jenseits.

Als Siri aus seinem Traum schrak, war es stockfinster, und der stechende Geruch verkohlten Fleisches stieg ihm in die Nase. Er musste daran denken, wie leuchtend die Farben dort gewesen waren, verglichen mit den verwaschenen Grautönen in seinem Zimmer. Wie fruchtig der Bordellwein, wie süß der Duft der Gitanes, der die Luft geschwängert hatte. Alles Sinnliche war verschwunden, und ihm blieben nichts als bleierne Tristesse und das monotone Schluchzen einer jungen Frau. Es dauerte einen Augenblick, bis ihm klar wurde, dass es aus dem Nebenzimmer kam, von Dtui.

Sie lag neben der Leiche ihrer Mutter auf der Einzelmatratze. Viele leidvolle Jahre lang hatte Manoluk die Schmerzen der Zirrhose tapfer ertragen, um ihre Tochter zu ernähren. Nach deren Schulabschluss hatten sie die Rollen getauscht, und ein beträchtlicher Teil von Dtuis Lohn war für teure Medikamente draufgegangen, die angeblich Wunder wirkten, Manoluks Schmerzen jedoch nicht gelindert, sondern die Frau lediglich am Leben erhalten hatten – bis jetzt. Siri stand in der Tür und fragte sich, ob Dtui vor Kummer weinte oder vor Erleichterung. Endlich musste ihre Mutter nicht mehr leiden. Wäre die Matratze etwas breiter und Dtui etwas schmaler gewesen, hätte er sich zu ihnen gelegt. Er hätte Dtuis Hand gehalten und ihr einen Teil der Trauer abgenommen.

In der schwülen Augusthitze galt es keine Zeit zu verlieren. Im Lauf des Tages machten die Hausgenossen sich mit vereinten Kräften an die Vorbereitung des Waschungsrituals und der Anfangszeremonie. Unter Siris Dach tummelte sich eine bunte Schar von schrägen Vögeln. Frau Fah und ihre Kinder überbrachten die eilig geschriebenen Einladungen. Herr Inthanet, der Puppenspieler, fuhr mit dem alten Lieferwagen seiner Verlobten zum Tempel, während Genosse Noo, der abtrünnige thailändische Waldmönch, auf der Ladefläche saß und sich um die geistlichen Bedürfnisse der Toten kümmerte. Dtui hatte sich freigenommen und sorgte für die Verpflegung. Laotische Bestattungen machten den Leuten mächtig Appetit, und das Problem der Verköstigung der Gäste lenkte die Krankenschwester ab und bewahrte sie davor, in Selbstmitleid zu versinken.

Sie hatten jeden verfügbaren Kip geopfert, damit Dtui kaufen konnte, was der Markt hergab. Und das war weiß Gott nicht viel. In Vientiane kam das Einkaufen inzwischen einem Lotteriespiel gleich. Obst und Gemüse waren nach und nach aus dem Angebot verschwunden. Die Bauern durften zwar ihre Familien versorgen, mussten jedoch horrende Steuern auf alles entrichten, was sie zum Verkauf anbauten. Eine erstaunlich widersinnige Politik. Denn statt die Märkte mit frischen Naturprodukten zu versorgen und dringend benötigtes Geld in die Staatskassen zu spülen, drehte die Regierung das Rad der Geschichte zurück in eine Zeit, als die Laoten nach alter Tradition gerade so viel produzierten, wie sie zum Überleben brauchten. Tatkraft und Erfindungsgeist gehörten nicht unbedingt zu den Stärken der laotischen Landbevölkerung. Der Versuch, aus welken Vegetabilien und fliegenstarrendem Büffelfleisch eine Mahlzeit zusammenzustoppeln, ließ Dtui die Trauer über den Tod ihrer Mutter rasch vergessen.

Nur Dr. Siri war heute zur Arbeit erschienen. Da er das Gros der Bestattungskosten übernommen hatte, war er auf sein bescheidenes Monatssalär dringend angewiesen. Und so machte er sich eher lustlos an die Obduktion der verstümmelten Leiche des Blinden. Nicht lange, und ihm wurde klar, dass er seine Arbeit ohne seine beiden Sektionsassistenten niemals hätte verrichten können. Nicht nur fehlten ihm die knappen, präzisen Notizen und scharfsinnigen Beobachtungen Dtuis. Ihm fehlte auch Herr Geung (der sich momentan von einer lebensbedrohlichen Begegnung mit einer Stechmücke erholte), ein wahrer Meister im Umgang mit Leichen, der jeden Knochen scheinbar mühelos durchsägte. Am späten Nachmittag sank Siri erschöpft auf einen Hocker neben dem Toten. Irgendwie war es ihm gelungen, die sterblichen Überreste des Mannes in einen der nagelneuen roten Leichensäcke aus PVC zu stopfen, mit denen die Sowjetunion sie großzügig versorgt hatte.

Nun brauchte er nur noch den Totenschein auszustellen und die Familie des Verstorbenen ausfindig zu machen, damit sie verständigt werden konnte. Siri war eben dabei, die Kleider des Toten nach etwaigen Hinweisen zu durchsuchen, als ein gut aussehender Mann von Mitte vierzig den Sektionssaal betrat. Sein schlanker Wuchs und seine gepflegte Erscheinung deuteten darauf hin, dass er auf sein Äußeres sehr bedacht war, sein zerschlissenes Hemd zeugte vom Gegenteil.

»Nichts Passendes dabei?«, fragte er Siri.

»Ah, Phosy. Der einzige Hauptstadtpolizist jenseits des Flegelalters. Wie geht es Ihnen?«

»Ich bestehe zwar nur noch aus Haut und Knochen, kann aber ansonsten nicht klagen. Und selbst?«

»Blendend. Einfach blendend.« Siri streifte einen Gummihandschuh ab und streckte seinem Freund breit grinsend die Hand hin. Inspektor Phosy schlug freudestrahlend ein. »Was führt Sie in meine Pathologie?«, fragte Siri.

»Ihr Verkehrsunfall. Was sonst?«

»Warum? Ich dachte, Sie ermitteln ausschließlich in Staatsangelegenheiten.«

»Stimmt. Und die fragliche Waffe war doch ein Holztransporter der Armee, oder?«

»Ja, schon. Aber es deutet eigentlich nichts auf ein Verbrechen hin, wenn Sie das meinen. Sie könnten den Chauffeur natürlich wegen Fahrlässigkeit belangen, nur hat der den Unfallort fluchtartig verlassen und ist seitdem spurlos verschwunden. Der arme Kerl macht sich wahrscheinlich in die Hosen vor lauter Angst, dass er hingerichtet werden könnte. Wenn mich nicht alles täuscht, war das Gaspedal verklemmt. Sie sollten vielleicht eher die Chinesen verklagen, weil sie uns für teures Geld ihren ausrangierten Militärschrott andrehen.«

»Gute Idee. Was ist mit dem Opfer?«

»Ein Blinder. Keine Ahnung, woher.«

»Standen in seinem Hemdkragen denn nicht Name und Adresse, nur für den Fall, dass er verloren geht?«

»In Blindenschrift? Fehlanzeige. Aber er hatte das hier bei sich.« Siri hielt einen beigefarbenen Umschlag in die Höhe. Die Adresse lautete: »Hr. Bounthan, Hauptpostamt Vientiane, Postfach 53, Präfektur Vientiane.« Die Briefmarke war zwei Mal gestempelt worden: einmal vor sechs Tagen in Pakxe – der größten Stadt des Südens – und einmal tags zuvor in Vientiane.

»Na prima«, meinte Phosy. »Circa dreißig Prozent der männlichen Bevölkerung heißen mit Vornamen Bounthan, und einen Nachnamen scheint der Gute nicht gehabt zu haben.«

»Nicht besonders hilfreich, was?«

»Werfen wir doch mal einen Blick hinein.«

Siri schlitzte den Umschlag mit einem Skalpell auf und zog einen Bogen Papier daraus hervor. Er war weiß, liniert und in der Mitte säuberlich gefalzt. Siri faltete ihn auseinander und starrte auf das Papier.

»Merkwürdig«, sagte er.

»Was steht denn drin?«

»Nichts.«

»Gar nichts?«

»Sehen Sie selbst.«

Phosy hielt das Blatt mit spitzen Fingern hoch und unterzog beide Seiten einer eingehenden Inspektion. Es war leer.

»Und?«, fragte Siri.

»Kein Wunder. Der Mann war schließlich blind.«

Siri lachte. »Ah, an Ihnen ist ein echter Meisterdetektiv verloren gegangen.«

»Also gut. Warum sollte sich jemand die Mühe machen, einem Blinden ein leeres Blatt Papier zu schicken?«

»Es muss für den Verstorbenen von besonderer Bedeutung gewesen sein. Moment mal. Es wird doch nicht …?« Er nahm Phosy das Papier aus der Hand und hielt es sich unter die Nase. Er schnupperte vorsichtig daran und schüttelte den Kopf. Dann nahm er einen zweiten, etwas tieferen Atemzug. »Heureka. Wonach riecht das Ihrer Meinung nach, Inspektor?«

Phosy schnüffelte. »Ich weiß nicht genau. Schwefel?«

»Fast. Kupfersulfat, um genau zu sein. Ein weitverbreitetes Pestizid und für den Menschen obendrein hochgiftig. Es handelt sich offenbar um eine beträchtliche Dosis, andernfalls könnte ich es in meinem derzeitigen Zustand gar nicht riechen. Welchen Schluss ziehen Sie daraus, mein lieber Herr Gesetzeshüter?«

»Dass der Absender ein heimtückischer Mörder war, der hoffte, dass der Blinde den Brief verspeisen und auf diese Weise aus dem Leben scheiden würde, ohne eine Spur zu hinterlassen?«

»Phosy, Sie scheinen Ihre Arbeit nicht allzu ernst zu nehmen. Machen Sie mit Ihrer regen Fantasie einen Spaziergang über das weite Feld der Spionage.«

»Siri, wie Sie wissen, habe ich meine gesamte Ausbildung im Nordosten unseres schönen Vaterlandes absolviert. Ich bin ein einfacher Klebreis-und-Stockfisch-Polizist. Ich habe mein Lebtag noch kein kriminaltechnisches Labor von innen gesehen. Bei der Lösung meiner Fälle verlasse ich mich voll und ganz auf altmodische Logik und meinen angeborenen Instinkt. Also kommen Sie mir nicht mit exotischen Gerüchen und diesem ganzen CIA-Hokuspokus.«

»Wie Sie wollen. Dann würde ich sagen, wir haben es mit einer in unsichtbarer Tinte verfassten Geheimbotschaft zu tun.«

Phosy zog eine Augenbraue hoch. »Und wie kommt ein greiser Feldscher wie Sie auf diese eigenartige Idee?«

»Inspektor Phosy, ich darf Sie an Ihren Kollegen Maigret vom Pariser Palais de Justice erinnern. Während meines Frankreichaufenthaltes habe ich qua eifriger Lektüre des L’Œuvre regen Anteil an vielen seiner Fälle genommen. Im Unterschied zu uns hat Inspektor Maigret das große Glück, fiktiv zu sein, und braucht sich deshalb nicht mit allzu menschlichen Ärgernissen wie Schlendrian und Geldmangel herumzuschlagen. Und er kriegt den Täter jedes Mal. In einem Fall sandte ein Staatssekretär seiner Geliebten geheime Botschaften, die er mit unsichtbarer Tinte auf die Rückseite von Wäschereiquittungen schrieb, damit ihr Gatte keinen Verdacht schöpfte. Natürlich kam der Gehörnte dahinter und entledigte sich des gemeinen Lumpen, aber der springende Punkt an der Geschichte ist, dass Maigret nicht nur die Bestandteile der Tinte genauestens vermerkte, sondern auch, wie man sie wieder sichtbar machte. Da ich mich seit jeher für wissenschaftliche Fragen dieser Art interessiere, habe ich mir die entsprechenden Informationen gründlich eingeprägt und bewahre sie bis zum heutigen Tag in meinem hervorragenden Gedächtnis. Wenn es sich hierbei tatsächlich um eine Geheimbotschaft handelt, brauchen wir weiter nichts als Natriumkarbonat – gewöhnliches Waschsoda –, um sie zu entziffern.«

»Ich bin beeindruckt. Und ich dachte, die Lektüre von Kriminalromanen sei bloße Zeitverschwendung.«

»Sie würden sich wundern.«

»Haben Sie welches?«

»Waschsoda? Nicht bei mir. Aber in Herrn Geungs Besenkammer werden wir sicher fündig.« Siri verschwand im Lagerraum und kehrte kurz darauf mit einem großen Behälter zurück. »Das müsste es eigentlich sein.«

»Wo steckt der gute Herr Geung überhaupt?«

Siri machte sich daran, das Waschsoda in Wasser aufzulösen. »Ach ja. Ich habe Ihnen ja noch gar nicht von unseren jüngsten Abenteuern berichtet. Wir haben eine Menge nachzuholen. Vor gut vier Wochen hätten wir Geung beinahe an das Denguefieber verloren.«

»Mist. Wie geht es ihm?«

»Er wird schon wieder. Auch wenn er sich mit der Genesung reichlich Zeit lässt. Was allerdings nicht weiter verwunderlich ist, umschwirren ihn doch von morgens bis abends hübsche Krankenschwestern wie die berühmten Motten das Licht. Wäre ich Zyniker, würde ich sagen, er kostet sein Siechtum weidlich aus. In der Zwischenzeit muss ich sämtliche einfachen Arbeiten selbst erledigen, was mir wieder einmal anschaulich vor Augen geführt hat, dass es einfache Arbeiten nicht gibt.«

Mit einem feinen Pinsel tupfte er die Lösung auf das Blatt. »Was sagt man dazu?« Eines nach dem anderen nahmen die Schriftzeichen auf dem Papier Gestalt an, langsam, gerade so, als hätte er sie aus einer Art Dornröschenschlaf erweckt. Trotzdem schienen sie keine Wörter zu bilden. Das Ganze sah eher nach einer Liste als nach einer Botschaft aus. Siri kannte die einzelnen Buchstaben aus dem Französischen, verstand jedoch nur Bahnhof. Der Brief in seiner Hand war ganz offensichtlich in einer Sprache verfasst, die er nicht einmal in Ansätzen beherrschte.

»Und, was steht da?«, fragte Phosy.

»Ich habe keinen Schimmer.«

»Hervorragendes Gedächtnis. Soso.«

»Was haben Sie gesagt?«

»Nichts.«

»Obwohl ich den dunklen Verdacht habe, dass es sich um eine verschlüsselte Nachricht handelt, sollten wir sie für alle Fälle jemandem zeigen, der des Englischen mächtig ist. Was halten Sie davon, wenn wir ein paar Nachforschungen anstellen?«

4

ZWO RANOPADP ZKYD GAEJ IAJOYD

Kaum waren Siri und Phosy im Lycée eingetroffen, kam Lehrerin Oum auch schon aus einem Klassenzimmer. Sie wirkte mutlos und verzagt. Eigentlich hatte die zierliche Frau von Anfang dreißig immer gute Laune, heute jedoch erinnerte ihre matte, ausdruckslose Miene eher an einen Hefekloß. Die Dreizehnjährigen in ihrem Schlepptau hatten denselben stumpfen Blick.

»Oum!«, rief Siri.

Sie starrte die beiden einen Moment lang verwirrt an und trat dann zu ihnen.

»Genosse Siri. Genosse Phosy. Dem Himmel sei Dank.«

»Was ist denn los?«, fragte Siri.

»Nach einer Stunde Neuer Geschichte bin ich jedesmal fix und fertig.«

Neue Geschichte gehörte, neben Russisch und Marxistisch-leninistischer Theorie, zu den Fächern, die das Bildungsministerium den Schulen aufgezwungen hatte. Der offiziellen Lesart zufolge hatte alles irdische Leben in den Höhlen von Houaphan seinen Anfang genommen, wo die Machtübernahme durch die Pathet Lao geplant und vorbereitet worden war. Während in Alter Geschichte die jahrhundertelange laotische Königsherrschaft und das Weltgeschehen im Mittelpunkt gestanden hatten, begnügte sich die Neue Geschichte mit der Darstellung der vergangenen fünfzig Jahre und schilderte den Westen wie einen winzigen, entlegenen Vorort von Vientiane, wohin sich nach Einbruch der Nacht kein aufrechter Laote mehr verirrte.

»Aber Sie sind doch Chemielehrerin«, wandte Siri ein.

»Ich war, Doktor. Ich war. Und werde es ab Donnerstag auch wieder sein. Aber wir sind nun einmal dazu angehalten, auch andere Fächer zu unterrichten.« Sie blickte zu Phosy, über dessen politische Ansichten sie sich nicht recht im Klaren war. In Zeiten wie diesen konnte man gar nicht vorsichtig genug sein. »Ein geniales System. Neuerdings unterrichte ich montags Sport. Ist das zu fassen? Seit mich die Schüler vorige Woche das erste Mal in kurzen Turnhosen gesehen haben, hat sich die Hälfte von ihnen krankgemeldet.«

»Mit Verlaub, aber Sie haben doch überhaupt keine Ahnung von neuerer Geschichte«, gab Siri zu bedenken.

»Das ist auch gar nicht nötig«, sagte sie und hielt einen dicken Ringordner prallvoll mit Papieren in die Höhe. »Es steht alles hier drin. Ich brauche die entsprechende Lektion bloß an die Tafel zu schreiben, und die Kinder schreiben sie ab.«

»Und heute ging es um …?«

»Den großartigen Sieg bei Sala Phou Khoun.«

»Ach ja? Ich war dabei. Und konnte ihn so großartig eigentlich nicht finden«, sagte Siri. »Hätte ich das gewusst, wäre ich schon etwas früher gekommen, um die eine oder andere Kleinigkeit zurechtzurücken.«

»Tut mir leid«, sagte sie und führte sie zu einer Bank auf dem Schulhof. »Aber Abweichungen vom Lehrplan sind strengstens untersagt. In jeder Klasse gibt es einen Spitzel – pardon, ich meine natürlich Vertrauensschüler –, der dem Politoffizier der Schule Meldung macht. Die Kinder dürfen noch nicht einmal Fragen stellen. Was allerdings nicht weiter schlimm ist; ich könnte sie ohnehin nicht beantworten.«

Sie plumpste auf die Bank, als hätte sich ihr Gewicht während des Unterrichts verdoppelt. »Und? Was kann ich für die beiden begehrtesten Junggesellen der Hauptstadt tun? Sie wissen doch, dass ich keine Chemikalien habe. Die liegen nach wie vor beim Zoll. Wie man hört, haben die Schnüffler vom Innenministerium sie geschnupft, wohl in der Hoffnung, es könnte sich um halluzinogene Drogen handeln.«

Siri und Phosy ließen sich links und rechts von ihr nieder. Siri holte den Brief des Blinden hervor.

»Eigentlich hatten wir es eher auf Ihr Englisch abgesehen«, sagte er.

Oum hatte kurz vor der Machtübernahme durch die Kommunisten ein Aufbaustudium im australischen Sidney begonnen und im Zuge dessen zwei folgenschwere Fehlentscheidungen gefällt. Erst hatte sie sich von einem fuchsblonden Aussie schwängern lassen, der kurz darauf das Weite gesucht hatte. Ein Missgriff, dem sie die Geburt ihres Sohnes Nali verdankte, eines der in Laos äußerst raren rothaarigen Babys. Dann hatte sie beschlossen, ihr Studium abzubrechen und in ihr Heimatland zurückzukehren. Kaum war sie am Flughafen Wattay gelandet, klebten ihr die Spitzel der Regierung an den Fersen. Schließlich konnte sie nur eine Spionin sein. Warum sonst hätte sie gegen den Strom der Flüchtlinge schwimmen sollen, die zu Zehntausenden das Land verließen? Zu allem Übel sprach sie auch noch Englisch – ein dekadentes Werkzeug des Westens zur Verbreitung von Lügen und Propaganda. Lehrerin Oum stand ganz oben auf der Schwarzen Liste.

»Mit dem größten Vergnügen«, sagte sie und nahm Siri das Stück Papier aus der Hand. Sie überflog die Liste.

»Was soll das heißen?«, fragte Phosy.

»Ich habe nicht den blassesten Schimmer. Englisch ist es jedenfalls nicht«, sagte sie. »Aber das wussten Sie natürlich längst, nicht wahr, Doktor? Sie sind nicht wegen meiner Sprachkenntnisse hier.«

»Wie, bitte, soll ich das verstehen?«

»Siri, Sie wissen doch genau so gut wie ich, dass diese Liste verschlüsselt ist. Es könnte sich auch um Französisch oder irgendeine andere Sprache handeln, die sich der lateinischen Schrift bedient. Sie sind nur hier, weil Sie wissen wollten, ob ich den Code knacken kann. Sie halten mich auch für eine Spionin.«

»Ich halte Sie für nichts dergleichen. Aber ich weiß, dass Sie über einen messerscharfen Verstand verfügen und Ihnen eine so simple Denksportaufgabe wie diese vermutlich kein allzu großes Kopfzerbrechen bereitet. Dass Sie eine Spionin sind, spielt dabei nicht die geringste Rolle.«