Der Tote trägt Hut - Jimm Juree 1 - Colin Cotterill - E-Book

Der Tote trägt Hut - Jimm Juree 1 E-Book

Colin Cotterill

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Beschreibung

Was haben eine liebenswert-verrückte Sippe, ein Hut tragendes Skelett und ein ermordeter Mönch gemeinsam? Sie alle halten Kriminalreporterin Jimm Juree ordentlich auf Trab.

Jimm Juree, Mitte dreißig und Kriminalreporterin bei einer thailändischen Zeitung, lebt mit ihrer gesamten exzentrischen Familie unter einem Dach. Als die schrullige Bagage in ein verschlafenes Provinznest übersiedelt, glaubt Jimm, ihr Leben, zumindest aber ihre Karriere sei zu Ende. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse: Erst wird durch Zufall ein alter VW-Bus ausgegraben, in dem die Hut tragenden Skelette zweier Männer sitzen, dann wird der Abt des örtlichen Tempels brutal ermordet. Jimm wittert ihre Chance auf eine Exklusivreportage. Doch bei ihren Recherchen braucht sie nicht nur Geduld und Glück – sondern auch die Unterstützung ihrer kauzigen Sippe.

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Buch

Die vierunddreißigjährige Jimm Juree, die bei einer großen thailändischen Zeitung als Kriminalreporterin angestellt ist, liebt ihren aufregenden Job über alles. Jimm ist überzeugt davon, dass sie bald befördert und zum Star der Szene aufsteigen wird. Umso tiefer sitzt der Schock, als ihre Mutter ihr eröffnet, dass sie das Haus der Familie verkauft und den Ertrag in ein heruntergekommenes Resort an der Küste investiert hat. Widerwillig folgt Jimm ihrer Mutter, ihrem mürrischen Großvater und ihrem jüngeren Bruder in die Provinz. In dem verschlafenen Nest wartet auf sie ein tristes Dasein als Lokalreporterin. Bis bei Aushebungsarbeiten auf einer Ölpalmplantage nebenbei zwei menschliche Skelette entdeckt werden, die in einem VW-Bus aus den Siebzigern sitzen. Merkwürdigerweise thront auf einem der Totenschädel auch noch eine Baseballkappe. Jimm wittert ihre Chance auf eine Exklusivreportage. Und es kommt noch schlimmer, beziehungsweise besser: Ein Mönch des örtlichen Klosters wird brutal ermordet. Voller Freude stürzt Jimm sich in die Ermittlungen gleich zweier Fälle. Doch bei ihren Recherchen braucht sie nicht nur Geduld und Glück – sondern auch die Unterstützung ihrer exzentrischen Sippe.

Weitere Informationen zu Colin Cotterill

sowie zu lieferbaren Titeln des Autors

finden Sie am Ende des Buches.

Colin Cotterill

Der Tote trägt

Hut

Ein Thailand-Krimi

Aus dem Englischen

von Jörn Ingwersen

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Killed at the Whim of a Hat. A Jimm Juree Novel« bei Quercus, London.
Copyright © der Originalausgabe 2011 by Colin Cotterill Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Published in agreement with the author, c/o Baror International Inc., Armonk, New York, U. S. A. Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagbild: FinePic, München Redaktion: Gerhard Seidl LT · Herstellung: Str. Satz: omnisatz GmbH, Berlin ISBN: 978-3-641-09971-8V004www.goldmann-verlag.de

In liebender Erinnerung an Joan

Kapitel 1

»Familie ist, wo unsere Nation Hoffnung schöpft, wo Flügeln Träume wachsen.«

George W. Bush

LaCrosse, Wisconsin, 18. Oktober 2000

Der alte Mel heuerte einen Neffen von Da an, den minderbemittelten mit der Delle in der Stirn, damit dieser ihm hinter dem Haus einen Brunnen aushob. Die Bewässerungsgräben, die seine Familie zwischen den Reihen der Ölpalmen ausgehoben hatte, reichten nicht bis zum hinteren Zaun, und die jungen Palmwedel wurden schon braun, bevor sie sich entfalten konnten. Seit einem Monat hatte es nicht geregnet. Zwei Wochen lang hatte Mel Gießkannen geschleppt, und langsam knackten seine Rückenwirbel wie Mah-Jongg-Steine. Deshalb also ein Brunnen, eine billige, chinesische Pumpe und ein halbes Dutzend Sprinkler, dann musste er nur noch einen Schalter drücken. Ölpalmen waren pflegeleicht, wenn man sie oft genug wässerte und alle drei Monate düngte. Zwanzig Bäume gerettet, ohne sich den Rücken zu ruinieren. Es war den Preis mehr als wert.

So saß Mel also letzten Sonntag auf seinem Zaun und sah dem jungen Mann bei der Arbeit zu. Angesichts der Delle im Schädel des Neffen fragte sich Mel, ob er vielleicht eine Bocciakugel an den Kopf bekommen hatte. So groß war die Delle. Aber er beschloss, lieber nicht nachzufragen. Er wusste, dass die Antwort lang und feucht ausfallen würde, dass sein Neffe aufhören würde zu arbeiten, weil er nicht zwei Sachen gleichzeitig machen konnte. Also saß Mel nur da und beobachtete ihn beim Graben. Er hätte ein bisschen mit anfassen können, um ihm die Arbeit zu erleichtern, aber Old Mel vertrat die Ansicht, man solle sich keine Ziege leihen und dann selbst meckern.

Die bewährte, südthailändische Methode, einen Brunnen auszuheben, wäre in westlichen Ländern sicher nicht erlaubt, da dort bestimmte Vorstellungen von »Qualität« und »Sicherheit« eine entscheidende Rolle spielten. Vier Betonrohre von je einem Meter Länge lagen dort. Der Neffe sollte ein Loch graben, das breit und tief genug war, eines davon aufzunehmen. Dann würde er in das Loch springen und das Erdreich unter dem Rohr herausschaufeln. Wie ein sehr langsamer Fahrstuhl würde es sich in die Erde absenken. Sobald der obere Rand auf Höhe des Feldes war, käme das zweite Stück Rohr obendrauf, und das Ausheben konnte weitergehen. Der Boden war eine Mischung aus Erde und Sand, und sobald man das unentwirrbare Wurzelwerk hinter sich hatte, fiel das Graben nicht mehr schwer. Mit etwas Glück bekam man erst Probleme, wenn das dritte Rohrstück aufgesetzt wurde und das Wasser anstieg, was die Grube in ein Schlammbad verwandelte. Bis das vierte Segment auf gleicher Höhe mit dem Feld war, würde der arme Kerl die Hälfte seiner Zeit in trübem, braunem Wasser stehen.

An diesem trockenen Samstagmorgen jedoch wollte sich der Brunnen nicht ausheben lassen. Schon auf Hüfthöhe traf der Neffe mit der Hacke auf etwas Festes. Ein lauter, metallischer Gong vertrieb die schreckhaften Drongos aus den Bäumen. Eidechsen huschten unter Steinen hervor. Offenbar hatte der Neffe seinen Spaß daran, denn er schlug noch dreimal zu, bis Mel ihn überreden konnte, damit aufzuhören. Der alte Mann kletterte von seinem Zaun, hakte seine Zehen in die Sandalen und schlenderte zur Grube hinüber. Am Betonrand blieb er stehen und blickte auf die Füße seines Arbeiters hinab, zwischen denen überraschenderweise etwas Rostiges zu sehen war.

»Das kann nicht groß sein«, sagte Mel. »Wahrscheinlich der Deckel von einem Fass. Such den Rand. Dann kannst du die Hacke drunterschieben und das Ding anheben.«

Leicht gesagt. Der Neffe stocherte und bohrte, doch alle Versuche brachten nur dasselbe blecherne Geräusch. Es gab keinen Rand. Vielleicht reichte das Ding sogar vom Golf von Thailand bis zum Andamanen-Meer und war mit einer der Kontinentalplatten verbunden. Mel konnte nichts anderes denken, als dass diese Metallplatte zwischen ihm und seinen Rückenschmerzen stand. Er würde nicht kampflos aufgeben, und wenn es die Erde aus dem Lot brachte. Er ging zum Zaun, nahm eine stabile, schwarze Brechstange und hielt sie dem Jungen hin.

»Hier, nimm!«, sagte er. »Brich es auf!«

Ratlos starrte der Neffe das Werkzeug an. Es war nicht zu übersehen, wie schwerfällig sich die Rädchen in seinem Kopf drehten. Langsam wurde die Brechstange in Mels Hand schwer.

»Ich werde nur fürs Graben bezahlt«, sagte der Neffe schließlich. »Von Brechen hat mir keiner was gesagt. Das ist ein Job für einen Fachmann, das Brechen. Ich kann nur graben.«

»Mach schon, Junge! Sieh es dir an! Es ist total verrostet. Man könnte glatt ein Loch reinniesen.«

»Ich weiß nicht, Old Mel. Der Werkzeugverschleiß. Die ganze zusätzliche Zeit …«

Da lernte Mel seine Lektion. Eine Delle im Kopf hatte unter Umständen keinerlei Auswirkungen auf das erpresserische Talent junger Männer.

»Na gut, pass auf! Ich bezahl dich nicht dafür, dass du irgendwo anders den nächsten Brunnen anfängst. Wieso sagen wir nicht einfach … wie viel? Fünfzig Baht extra? Was meinst du?«

Damit war die Diskussion beendet. Eifrig schlug der Neffe mit der Brechstange auf die Metallplatte ein. In Vorfreude auf weitere fünfzig Baht arbeitete er wie ein übereifriger Dosenöffner. Er stand mitten in der Grube und meißelte sich durch das Blech. Genau wie Mel hatte auch er wahrscheinlich erwartet, er würde ein rundes, rostiges Stück herausnehmen und könnte darunter ungestört weitergraben. Er war davon ausgegangen, dass sich unter dem Metall fester Boden befand. Vermutlich hätte er nicht einmal in seinen wildesten Träumen dieses zähneknirschende Knarren erwartet oder dass das Metall, auf dem er stand, wie eine Falltür nachgeben würde. Für den Bruchteil einer Sekunde schien er in der Luft zu hängen, dann stürzte er in dunkle Leere.

In der heißen Morgenluft zog sich die Stille wie warmer Nudelteig. Vögel und Grillen hielten den Atem an. Über ihnen hingen Wolkenfetzen. Mel beugte sich leicht vor, um einen Blick in die Grube zu werfen, doch er sah nur Schwarz. Er wusste nicht mehr, wie der Junge hieß, also rief er irgendwas.

»Alles okay da unten?«, fragte er. Dann, als ihm bewusst wurde, dass der Schacht vielleicht sehr tief war, rief er lauter: »ALLES OKAY?«

Es kam keine Antwort.

In einer Reihe von Ländern rund um den Globus gibt es etwas, das man als südliches Temperament bezeichnet. Thailand bildet da keine Ausnahme. Sicher hätte Old Mel weglaufen und um Hilfe rufen können. Er hätte laut an die alte Blechwanne schlagen können, die vom Balkon hing, oder die zwei Kilometer zum nächsten Münztelefon laufen. Aber er war Südländer. Er brach einen Grashalm ab und kaute darauf herum, während er auf dem Betonrohr saß und in den Abgrund blickte. Da gab es einiges zu bedenken. Vielleicht war es im Grunde ein Segen. Er überlegte, ob sie möglicherweise auf einen alten Brunnenschacht gestoßen waren. Es würde ihnen viel Zeit ersparen. Aber er hatte kein Platschen gehört. Vermutlich war alles trocken. Das war Pech.

»Junger Mann?«, rief er noch einmal, eher halbherzig.

Noch immer keine Antwort.

Mel fragte sich, welcher Zeitraum wohl angemessen war, bevor man sich Sorgen machen musste. Schon schmiedete er an einem Plan herum. Geh rüber zum Schuppen. Hol ein Seil. Binde es an den Zaun. Lass es in das Loch hinunter und … Doch da war das Problem mit seinem Rücken. Das würde nichts werden. Er musste Gai, seinen Nachbarn, rufen, um …

»Old Mel!«

Die Stimme klang seltsam, hallte wie die einer einsamen Sardine in der Dose.

»Old Mel. Bist du da?«

»Was treibst du da unten?«, fragte Mel. »Sitzt du fest?«

»Nein, nein. Mir ist nur gerade die Luft weggeblieben, aber ich hatte Glück. Ich sitze auf … einem Bett.«

»Du hast bestimmt eine Gehirnerschütterung, Junge. Du brauchst einen …«

»Nein. Ich sitze auf einem Bett. Wirklich wahr.«

»Woher weißt du das?«

»Ich kann die Federn spüren.«

»Pflanzenwurzeln, Junge. Kann man leicht mit Bettfedern verwechseln.«

Mel dachte, dass eine Gehirnerschütterung bei diesem Jungen keinen großen Unterschied machen würde.

»Okay, hör zu. Ich muss Hilfe holen«, sagte er.

»Ich glaube, ich kann mich selbst befreien, Old Mel. Ich sitz nicht weit vom Loch. Ich sehe es direkt über mir.«

»Bist du verletzt?«

»Nein, aber mein Hemd ist an einer Feder hängen geblieben. Du solltest runterkommen und es dir ansehen. Es ist ganz merkwürdig, Old Mel. Und je mehr sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen, desto merkwürdiger wird es.«

»Was kannst du erkennen, Junge?«

»Fenster.«

Old Mel schnaubte. »Du sitzt auf einem Bett und bist von Fenstern umgeben? Klingt ja fast, als wärst du auf ein unterirdisches Schlafzimmer gestoßen. Eher unwahrscheinlich, oder?«

Er überlegte, wo die nächste psychiatrische Notaufnahme sein mochte. Ob die normale Krankenversicherung für monatlich dreißig Baht auch für eine Analyse aufkam.

»Und da ist …«, begann der Neffe.

»Eine Nachttischlampe?«

»O nein. Old Mel. Old Mel!« Seine Stimme bekam etwas Panisches.

»Was? Was ist?«

»Hier unten sind Skelette.«

Mel hoffte, man würde nicht ausgerechnet ihm die Wiedereingliederung des Jungen übertragen. Von ihm verlangen, den Neffen zu subalternen Tätigkeiten heranzuziehen, bei denen sein Defekt kein allzu großer Nachteil war. Als Vogelscheuche zum Beispiel. Vielleicht fand er einen Zeugen, der beschwören konnte, dass der Junge schon halb hirntot gewesen war, bevor er in den alten Brunnenschacht fiel. Angesichts der vielen arbeitslosen Anwälte heutzutage konnte man nicht vorsichtig genug sein. Alles Schweinepriester, diese Anwälte.

»Sind das Tierknochen, Junge?«, fragte er, um ihn nicht zu provozieren.

»Nein, Old Mel. Es sind Menschen.«

»Woran siehst du das?«

»Der eine hat einen Hut auf.«

So weit war ich mit meiner Prosaversion gekommen. Es wird einem glatt ausgetrieben, das Schreiben mit Herzblut. Und diese Version war auch eigentlich nur für mich gedacht. Um mir zu beweisen, dass die Diva in mir die Tastatur noch immer lieben kann, sofern ihr danach zumute ist. Wenn ich für Zeitungen schreibe, muss ich die Diva fesseln und knebeln. Dort mag man sie überhaupt nicht. Diese Leute wollen keine Liebe. Sie wollen ein kurzes Schäferstündchen, das schon bald vergessen ist. Sie wollen Daten und Zeiten, Zahlen und Fakten – und Statistiken. Sie wollen die Namen und das Alter der Opfer und der Täter, den Rang jedes einzelnen Polizeibeamten, der irgendwie mit dem Fall zu tun hatte, die wortgetreuen Zitate von Experten und die grammatikalisch unpräzisen Fehlaussagen der Augenzeugen. Es ist ihnen egal, was ich denke. Ich bin nur diese komische Kriminalreporterin, oder zumindest war ich das. Hin und wieder versuchte ich, eine Metapher einfließen zu lassen, doch die Mail ließ ihre redaktionelle Medusa auf mich los, bis mein Text aussah wie ein Lexikon kriminalistischer Begriffe mit Ortsnamen. Das Ergebnis landete sonntagmorgens am Zeitschriftenstand.

ZWEI LEICHEN

IN VERGRABENEM FAHRZEUG

Provinz Chumphon. Zwei bisher nicht identifizierte Leichen wurden gestern in einem VW-Bus Typ 2 mit dem Kennzeichen Or Por 243 aus der Provinz Surat Thani gefunden, vergraben am Rande einer Ölpalmplantage im Unterdistrikt Bang Ka, Distrikt Lang Suan, in der Provinz Chumphon. Generalmajor Suvit Pamaluang von der Polizei in Lang Suan erklärte, die Leichen seien am Samstag, dem 23. August, um 08.00 Uhr morgens, von Mr. Mel Phumihan, dem Besitzer des Geländes, entdeckt worden. Bisher konnten die Toten nicht identifiziert werden, und es gibt keinerlei Hinweise darauf, wie das Fahrzeug dorthin gelangen konnte.

Um 10.00 Uhr erhielten Constable Ma Yai und Constable Ma Lek vom Polizeirevier der Untergemeinde Pak Nam im Distrikt Lang Suan den Auftrag, nach Bang Ka zu fahren, nachdem dort um 09.23 Uhr ein Anruf eingegangen war. Bei ihrem Eintreffen auf Mr. Mels Plantage wurden sie von Mr. Mel (68) und seinem Tagelöhner, Mr. Anuphong Wiset (22), in Empfang genommen. Die beiden Männer hatten einen Brunnen ausgehoben und waren im Erdreich auf ein unerwartetes Hindernis in Form eines vollständig erhaltenen VW-Busses, Baujahr 1972, gestoßen, allgemein als »Bulli« bekannt, rot und beige lackiert. Die Beschreibung des Fahrzeugs wurde an das Polizeirevier in Surat durchgegeben, und noch immer sind die Beamten damit beschäftigt, vermisste Fahrzeuge aufzuspüren, auf die diese Beschreibung passt. Der diensthabende Sergeant Monluk Pradibat von der zentralen Kraftfahrzeugmeldestelle in Bangkok teilte unserer Zeitung mit: »Dieses Fahrzeug wird besonders schwer zu finden sein, weil unsere computerisierten Daten vermisster Fahrzeuge nur bis 1994 zurückreichen. Die Unterlagen aus der Zeit davor befinden sich in Aktenordnern in unserem Zentrallager.«

Was die Identität der Toten angeht, so erklärte Police Major Mana Sachawarapong, der Chef des Reviers von Pak Nam, in dessen Zuständigkeitsbereich die Entdeckung gemacht wurde: »Die Identität der Leichen und die Todesursache werden noch untersucht, aber ich kann Ihnen schon jetzt sagen, dass es sich hierbei um einen Unfall, einen Mord oder die Folge eines Unglücks handeln dürfte.« Doch auch einen Selbstmord konnte der Revierleiter nicht ausschließen.

So machte sie es immer, die thailändische Polizei. Alle Möglichkeiten offenhalten. Viermal ins Gesicht geschossen, in einem Zeitraum von zwanzig Minuten? Selbstmord ist nicht auszuschließen. Kürzlich hatten sie einen Kopf in einer Plastiktüte gefunden, die in Bangkok am Seil von einer Brücke hing, und wollten auch hier einen Selbstmord nicht ausschließen. Damit die öffentlichkeitsgeilen Polizeichefs der Presse etwas zu erzählen hatten. Damit sie wichtiger klangen. Statt zuzugeben: »Wir haben keinen Schimmer«, ging der zuständige Abteilungsleiter die Liste offensichtlicher Möglichkeiten durch, selbst wenn er gar nicht am Tatort gewesen war. Solange du seinen Namen richtig buchstabiertest, unterhielt er sich den ganzen Tag mit dir. Vielleicht merkt man mir an, dass ich unseren Herren in Kaki gegenüber eher düstere Gefühle hege.

Aber es hatte auch was Positives: Ich war wieder da. Na gut, mein Name wurde nicht genannt, weil die thailändischen Tageszeitungen kein Verständnis für die Eitelkeiten ihrer Reporter haben, doch die Nachricht würde sich verbreiten, dass ich von den Toten auferstanden war. Ich mochte am Arsch der Welt wohnen, aber ich hatte immer noch ein Näschen für eine gute Geschichte. Nach neun Monaten Berichterstattung über Auffahrunfälle und Kokosnuss-Statistiken war ich geradezu begeistert, als ich hörte, dass man diese Leichen gefunden hatte. Bitte lass sie Mordopfer sein!, betete ich. Nicht, dass man mich falsch versteht: Ich bin nicht blutrünstig. Ich brauchte nur eine Bestätigung, dass sich der Mensch anderen Menschen gegenüber nach wie vor unmenschlich verhielt. Mittlerweile waren mir direkt Zweifel gekommen.

Ich hatte in einer unserer Grasdachhütten mit Blick auf die Bucht gesessen und Makrelen ausgenommen, als ich die Nachricht von Old Mels Bulli hörte. Sofern wir nicht ein paar Zackenbarsche oder leckere Sardellen reinbekommen, stellt das Ausnehmen einer Makrele in unserem Dorf am Ende aller Straßen für gewöhnlich den Höhepunkt der Woche dar. Kow, der Tintenfischkapitän, kam auf seiner Honda Dream mit Fischfrikadellen vorbei. Er ist unser ortseigener Paul Revere. Man braucht kein Handy und kein Internet, wenn man jemanden wie Käpt’n Kow in der Nähe hat. Ich habe keine Ahnung, woher er das alles weiß, aber ich schätze mal, bei den meisten Nachrichten dürfte er der BBC wohl eine gute Stunde voraus sein.

»Schon gehört?«, rief er.

Natürlich hatte ich es nicht gehört. Ich höre nie irgendwas.

»In Mels Hinterhof haben sie ein Auto mit zwei Leichen gefunden.« Er lächelte. Er hat eine Art Briefschlitz, wo seine Vorderzähne sein sollten. Schon deshalb möchte man gern an ihm zweifeln, aber er hat ausnahmslos recht. Sein südlicher Akzent ist so ausgeprägt, dass ich ein paar Sekunden brauchte, bis ich seine Worte entschlüsselt hatte.

»Wer ist Old Mel?«, fragte ich.

»Hat zwanzig Hektar draußen an der Straße von Bang Ka, kurz vor Bang Ga.«

Ich war freudig erregt. Es war der erste Ausdruck von Begeisterung, den ich in diesem Jahr verspürte. Ich musste da hin! Mein kleiner Bruder Arnon, scherzhaft Arny genannt, war irgendwo mit dem Pick-up unterwegs, und Opa Jah hatte das Moped. Mir blieb nur Mairs klappriges Fahrrad mit dem Korb vorn am Lenker. Ich rief meiner Mutter zu, dass ich es mir nehmen wollte, und hörte ein leises: »Vergiss nur nicht zu tanken« von drinnen aus unserem Laden. Schon klar, Mair.

Abgesehen von der Brücke über den Fluss Lang Suan sind die Straßen hier in der Gegend meist flach und führen durch Palmenwälder und Kokosnussplantagen. Ganz hübsch, wenn man Grün mag – ich nicht. Hier und da ragen Kalksteinklippen auf, was irgendwie ungepflegt aussieht, aber Hügel gibt es eigentlich keine. Old Mels Haus lag etwa zehn Kilometer entfernt, und Sport war nicht gerade eine meiner Stärken. Aber man weiß ja, wie es ist, wenn man erst mal Blut geleckt hat. Meine kurzen Beine strampelten auf die Pedale ein, Adrenalin durchströmte meine Adern, und urplötzlich – mit überschäumender Klarheit – fielen mir meine glorreichsten Augenblicke ein. Die wunderbaren Verbrechen, über die ich berichtet hatte, die zahllosen Leichen, über die ich gestiegen war, immer vorsichtig, um nicht ins Blut zu treten, die kastrierten Ehemänner, die aufgebrochenen Geldautomaten, die Junkies, die lesbischen Hochhaus-Selbstmörderinnen, die mörderischen Moped-Gangs, die Schmuggler mit ihren Lastwagen, die mysteriös verstümmelten Tramper, die Unfälle bei Schulbusrennen, die schmierigen Pseudowahrsager, Gangster, die ich überführt hatte – wenn auch anonym –, die Morde durch Erstechen, Ersticken, Erdrosseln … Ach, ich wüsste gar nicht, wo ich anfangen soll!

Was für eine Karriere ich vor mir hatte! Mein Name, Jimm Juree, war in ganz Thailand ein Synonym für vorbildliche Kriminalreportagen. Nicht einmal die schlichte Kost, die übrig blieb, nachdem die Medusa über mich hergefallen war, konnte von meiner offensichtlichen Affinität zu meinem Job ablenken. Man respektierte mich. Fast saß ich schon auf dem Ledersessel des leitenden Kriminalreporters. Saeng Thip konnte seine Aufgabe kaum noch erfüllen, und alle wussten, dass es um seine Gesundheit nicht gut bestellt war und ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Man gab ihm noch ein halbes Jahr. Dann wäre ich dran. Man musste mich nur noch abnicken. Die erste Leitende Kriminalreporterin in der Geschichte der Chiang Mai Mail. Landesweit erst die zweite. Ich. Auf Höhenflug.

Und dann, eines heißen Frühabends im August letzten Jahres, stand mein kleiner Reispapierballon plötzlich in Flammen und stürzte ab. Offenbar hatte ich den entscheidenden Leuten in einem früheren Leben nicht genug Schmiergeld gezahlt. Obwohl die Beteiligung unserer Mutter – Mair – an der ganzen Sache nicht zu leugnen war, behauptete sie nach wie vor, es sei Schicksal gewesen. Sie sprach von »Karma«, aber es kann wohl kein Zufall gewesen sein, dass sie den Buddhismus etwa zur selben Zeit für sich wiederentdeckte, als sie dement wurde.

Dieser Abend vor ziemlich genau einem Jahr hat sich für alle Zeit auf die DVD meiner Seele gebrannt. Sie läuft ununterbrochen, selbst wenn ich aus bin. Ich sehe die Bilder. Höre den Soundtrack. Ich weiß genau, bei welcher Szene der Film stehen bleibt, mit dem Ausdruck abgrundtiefen Entsetzens auf meinem Gesicht.

Ich hatte einen erfolgreichen Tag gehabt, was alles nur noch schlimmer machte. Ich meine, einen echt erfolgreichen Tag. In Maerim war ein alter Mann tot aufgefunden worden, dem jemand mit einer Stiftpistole in die Schläfe geschossen hatte. Die Polizei verhaftete den Teenager von nebenan, der als Unruhestifter bekannt war und an der Schulter die Tätowierung eines gepfählten Kätzchens trug. Ich hatte schon früher mit ihm zu tun gehabt. Ich wusste, dass er ein Teufelsbraten war, hatte aber meine Zweifel, dass er einen Mord begehen würde. Dafür muss man dann doch ein gänzlich anderer Mensch sein.

In den letzten dreizehn Jahren hatten seine Großeltern ihn mehr schlecht als recht aufgezogen, seit seine Mutter, ein Barmädchen, ihn sitzen gelassen hatte und spurlos verschwunden war. Augenscheinlich waren sie der Aufgabe ebenso wenig gewachsen gewesen wie bei ihrer Tochter. Ich interviewte die Großeltern. Die Polizeiakte war offiziell geschlossen, und der Junge stand vor einem langen, düsteren Tunnel, der ihn am Ende wegen Mordes in einem Gefängnis für Erwachsene ausspucken würde. Er hatte den alten Mann vor Zeugen bedroht, und die Polizei hatte die Tatwaffe unter seiner Matratze gefunden. Sie suchten gar nicht weiter. Bitterarme Familie. Kein Geld für einen Anwalt. Ein hübscher Erfolg für die Statistik dieses Monats. Die Großmutter war außer sich – stand für einen Kommentar nicht zur Verfügung. Aber der Großvater wirkte irgendwie nervös. Er war der Trinkkumpan des alten Mannes gewesen. Sie waren schon seit der Grundschule befreundet. Ich hätte seine knurrigen Antworten und den Mangel an Blickkontakt auf eine Angina Pectoris oder den Umstand zurückgeführt, dass er seinen besten Freund verloren hatte, aber ich spürte, dass da noch was anderes sein musste. Er war ein Mann, der reden wollte.

Ich ging zum Getränkestand an der Ecke und kam mit einer halben Flasche Mekhong-Whiskey zurück. Ich schlug vor, auf den Verblichenen anzustoßen und ihm auf dem Weg durchs Nirwana zur nächsten Inkarnation alles Gute zu wünschen. Hoffen wir, dass es ihm dort besser ergeht. Der Großvater schenkte ein, ohne ein Wort zu sagen. Seine Hand zitterte leicht, als er mir mein Glas reichte. Er hob seinen Drink an die Lippen, hielt ihn dort. Er roch daran und blickte in die glasig braune Flüssigkeit, als könnte er darin sein Gewissen sehen.

»Wir waren an diesem Abend betrunken«, sagte er mehr zum Whiskey als zu mir.

Ich ließ mein Glas sinken, um ihm zuzuhören.

»Wir haben uns oft betrunken, aber dieser Abend war verrückter als sonst. Er kam gerade aus Fang zurück, mit einem halben Dutzend Flaschen Fusel und diesem verfluchten Amulett. Er meinte, er hätte es jemandem vom Stamm der Akha aus den Bergen abgekauft. Er meinte, es besäße Zauberkräfte. Er hat geschworen, er hätte gesehen, wie der Mann in einen Gewehrlauf gestarrt und nicht mal gezuckt hatte, als seine Frau auf ihn schoss. Er meinte, die Kugel sei einfach von ihm … abgeprallt.«

So fing das Geständnis an, und dabei rührten wir beide den Whiskey gar nicht an. Dennoch fand ich die zweiundachtzig Baht gut investiert. Es stellte sich heraus, dass der alte Mann davon überzeugt gewesen war, das Amulett mache ihn kugelsicher, und als der Abend fortgeschritten war und sie immer betrunkener wurden, stiftete der Nachbar seinen Freund an: »Mach schon! Schieß auf mich! Schieß doch, wenn du mir nicht glaubst!«

»Anfangs habe ich ihn ignoriert«, sagte der Großvater. »Aber er hat nicht aufgehört damit. Ich wusste, dass der Junge eine Stiftpistole hat. Ich hatte sie schon mal gesehen. Ich nahm sie – eher um ihm zu drohen als sonst was. Um zu bluffen. Um ihn zum Schweigen zu bringen. Wissen Sie? Aber als er die Waffe sah, wurde er nur noch aufgeregter. ›Mach schon!‹, sagte er. ›Ich weiß, du glaubst mir nicht. Mach schon, Feigling, tu es!‹«

»Und Sie haben es getan«, sagte ich.

»Ja.«

Der Junge kam frei, und sein Großvater wurde der fahrlässigen Tötung angeklagt. Die Mail ließ mich den Fall als persönlichen Bericht abfassen. Das wiederum gefiel der Medusa nicht. Sie strich alle meine Adjektive und vereinfachte den Artikel, aber es blieb noch immer meine Geschichte: Wie ich einen Fall löste, den die Polizei schon abgeschlossen hatte. Man kann gar nicht beschreiben, wie es sich anfühlt. Es hätte der glücklichste Tag der Woche sein sollen. Zur Feier des Tages kaufte ich einen Fünf-Liter-Kanister roten Mont Clair und zwei Päckchen Schokoladenkekse. Ich stellte mir vor, wir würden alle um den Küchentisch sitzen, einen picheln und über Mair lachen, die ein völlig anderer Mensch wurde, sobald Alkohol auch nur ihre Lippen benetzte.

Wir hatten einen kleinen Laden gleich neben dem Campus der Chiang-Mai-Universität. Abends hörte man oft das Kreischen der Cheerleader beim Training – manche davon weiblich – und nachts die Betrunkenen, die mit ihren Motorrädern durch die Blumenbeete rasten. Ernsthafte Studenten zogen sich ins Starbucks zurück, wenn sie Ruhe und Schokoladencroissants brauchten. Manches hatte sich verändert, seit ich dort studiert hatte. In unserem Laden gab es nicht viel: Instant-Nudelsuppen, Reiscracker, klebrige Moskitospiralen, Shampoo, Bier, solche Sachen. Wir waren so etwas wie rustikaler 7-Eleven. Mair hatte ein paar Waschmaschinen aufgestellt, damit die Studenten ihre Wäsche abgeben konnten, und unweigerlich aßen und tranken sie dann auch etwas. Und wir waren gleich neben einem Wohnheim voller farang, weißhäutiger Ausländer, die sich einen Fernsehabend ohne ein halbes Dutzend Singha-Biere schlicht nicht vorstellen konnten. So sah unser Kundenstamm aus. Wir würden es nicht bis ins Forbes Magazine schaffen, aber wir kamen zurecht. Der Bungalow, in dem wir aufwuchsen, das einzige Zuhause, das wir je hatten, befand sich direkt hinter dem Laden.

Ich hatte die Abkürzung durch die Universität genommen, was immer etwas problematisch war, weil die Wachen oft früher Feierabend machten, um nicht im Verkehr stecken zu bleiben. Es war noch nicht mal zehn vor fünf, doch die Seitentore waren schon geschlossen. Die Kette mit dem Vorhängeschloss war nur locker darum herumgelegt. Schlanke Thai-Studenten konnten sich durch den Spalt zwängen, grobschlächtige, übergewichtige Vergewaltiger nicht. Die Mädchen konnten in ihren Wohnheimen ruhig schlafen. Ich parkte mein Moped neben dem Wachhäuschen und schob mich durch das Tor. Noch ein paar Pizzen mehr, und ich würde den Umweg nehmen müssen.

Ich wusste, dass etwas passiert sein musste, als ich Opa Jah auf dem Kantstein vor unserem Laden sitzen sah. Er trug Unterhemd und Shorts und saß mit nackten Füßen im Rinnstein da. Weder sein Aufzug noch sein Verhalten war ungewöhnlich. Er hockte gern am Straßenrand. Seit einigen Jahren bestand sein Lebenszweck darin, sich jedes Fahrzeug genau anzusehen, das vor unserem Laden vorbeifuhr, sich das Kennzeichen zu merken, den Zustand der Karosserie zu begutachten und den Fahrer böse anzufunkeln. Es herrschte Feierabendverkehr, was seine liebste Tageszeit war, doch er ließ den Kopf hängen und verpasste ein paar faszinierende Anblicke.

Ich fragte ihn, ob alles okay sei, doch er zuckte nur mit den Schultern und deutete mit dem Daumen über seine Schulter. Opa Jah war kein großer Redner, und ich hatte keine Ahnung, was mir diese Geste sagen sollte. Vielleicht wollte er mich auf die beiden Kunden aufmerksam machen, die im Laden warteten, weil keiner da war, um sie zu bedienen. Undenkbar, dass er vielleicht mal seinen Hintern hochbekam und sich zur Abwechslung ein bisschen nützlich machte. Nein. Dafür fuhren zu viele Autos vorbei, die beobachtet werden wollten. Ich rief nach Mair, aber es kam niemand, also bediente ich die Kunden selbst und ging über den betonierten Hof in unsere Küche. Ich stieß auf einen Anblick, der mich an ein Militärgericht erinnerte.

Am einen Ende des Küchentischs saß meine Schwester Sissi, die früher mein älterer Bruder Somkiet gewesen war. Den Platz am anderen Ende des Tischs nahm mein derzeitiger Bruder Arny ein. Er war das, was man allgemein als Bodybuilder bezeichnete, und heute Abend spannte sich das T-Shirt derart stramm über seine Muskeln, dass es wie aufgemalt aussah. Er hielt einen Klumpen Taschentücher in der rechten Hand, und es war nicht zu übersehen, dass er geweint hatte.

Zwischen den beiden saß Mair, meine Mutter. Sie trug ein förmliches schwarzes Kostüm, das normalerweise traurigen Anlässen vorbehalten war. Sie hatte etwas Make-up aufgetragen, ihr Haar zu einem laotischen Knoten hochgebunden und sah aus wie eine elegante Bestattungsunternehmerin in den besten Jahren, schöner als ich sie seit Monaten gesehen hatte. Allerdings fiel mir auf, dass die weiße Bluse, die sie unter ihrer Jacke trug, falsch geknöpft war. Es mochte ein Fashion Statement sein, aber ich wusste es besser. Ich konnte die Stille nicht ertragen.

»Jemand gestorben?«, fragte ich.

»Wir«, sagte Sissi und starrte geflissentlich zu den Deckenbalken hinauf. Die Temperaturen lagen an diesem Tag bei bis zu vierunddreißig Grad im Schatten, doch wie üblich trug sie eine Sonnenbrille und einen dicken Schal, weil sie nicht davon abzubringen war, dass sie mit der schlabberigen Haut an ihrem Hals wie ein Truthahn aussah. Das war nicht der Fall, ihr Hals war okay. Es gab wirklich nichts Traurigeres als eine alternde, transsexuelle Ex-Schönheitskönigin. Zumindest dachte ich das früher.

»Möchte mir vielleicht jemand erzählen, was hier passiert ist?«, flehte ich. Offenbar nicht. Keiner sagte was. Die Eidechsen an der Decke gingen um die – bislang dunkle – Neonröhre über unseren Köpfen in Stellung und zuckten aus Vorfreude auf das bevorstehende Festmahl. Doch meine Familie schwieg.

»Sie hat uns verkauft.«

Die Stimme kam von hinter mir. Ich hatte nicht bemerkt, dass Opa Jah mir gefolgt war, doch nun stand er mit verschränkten Armen in der Tür. Es war so lange her, seit ich ihn zuletzt hatte sprechen hören, dass ich schon gar nicht mehr wusste, wie seine Stimme klang. Jetzt war die Familie vollständig, wenn auch jeder für sich. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich Mair an. Die wundervollste, wenn auch manchmal unheimlichste Eigenschaft meiner Mutter war, dass nichts sie jemals aus der Fassung zu bringen schien. Selbst grauenvollsten Momenten – Tragödien oder Unfällen – begegnete sie mit dem immer gleichen, dürren Lächeln. Dann funkelten ihre hübschen Augen, und kaum merklich schüttelte sie den Kopf. Schon oft hatte ich mir vorgestellt, wie sie mit der Titanic unterging, Leonardo DiCaprio neben ihr strampelte und Wasser spuckte und Mairs rätselhaftes Lächeln langsam in den eisigen Fluten versank. Dort an unserem Küchentisch trug sie ihr Titanic-Lächeln, und ich wusste, dass sich dahinter etwas Grauenvolles verbarg.

»Mair, was hast du getan?«, fragte ich.

»Ich …«

»Sie hat alles verkauft«, platzte Sissi heraus. »Das Haus, den Laden, alles.«

Das konnte unmöglich stimmen.

»Mair?« Wieder sah ich sie an. Sie zog eine Augenbraue hoch, nur ein Stückchen. Kein Dementi. Ich fühlte mich, als würden mir die Dielen unter den Füßen weggerissen. Ich ließ mich auf einen der leeren Stühle sinken.

»Wir werden ein besseres Leben haben«, sagte Mair. »Ich habe beschlossen, dass es Zeit wird wegzuziehen.«

»Beachte bitte das hohe Maß an Rücksprache«, fauchte Sissi.

»Wie konntest du so eine Entscheidung fällen, ohne mit uns zu sprechen?«, fragte ich. »Das ist unser Zuhause. Wir sind hier alle aufgewachsen.«

»Und wir sollten hier alle sterben«, fügte Opa hinzu.

»Eine Veränderung ist so gut wie ein Urlaub«, sagte Mair. »Ich denke dabei an euch alle. Ihr werdet mir dafür noch danken.«

»Können wir es nicht mehr rückgängig machen?«, fragte ich Sissi. Sie war unsere Vertragsspezialistin, unsere unbezahlte Sekretärin und Buchhalterin. Bestimmt hatte sie die Unterlagen geprüft.

Sie zog einen Stapel von Dokumenten aus ihrer nachgemachten Louis-Vuitton-Handtasche und legte ihn auf den Tisch. »Die Urkunde ist unterzeichnet, beglaubigt und unanfechtbar«, sagte sie. Ein bebender Seufzer kam von Arny am Ende des Tischs. Opa stand schäumend in der Tür. Wir alle wussten, dass die Eigentumsdokumente noch auf seinen Namen ausgestellt wären, hätte er nicht auf Oma gehört, als sie auf ihrem Sterbebett lag. Es war das erste Mal gewesen, dass er auf sie gehört hatte.

»Überschreib alles dem Mädchen!«, hatte sie gesagt. »Du könntest jeden Moment tot umfallen, und dann würden die Schweine im Rathaus nur Steuern und Zinsen kassieren. Am Ende bleibt nichts übrig. Überschreib es dem Mädchen!«

Und das hatte er dann getan, ein letztes Versprechen an eine Frau, auf die er nie gehört, der er nie gehorcht hatte. Ein einziges Mal hatte er getan, worum sie ihn bat, und das war nun dabei herausgekommen. Als einzige Eigentümerin bestand für seine Tochter rechtlich gesehen keinerlei Verpflichtung, die anderen in ihre Entscheidung mit einzubeziehen. Rechtlich gesehen.

Ich brauchte einen Moment, um nachzudenken. »Okay«, sagte ich schließlich. »Pass auf. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm.«

»Ach nein?« Sissi brodelte förmlich.

»Nein.«

Natürlich log ich. Ich war genauso aufgebracht wie alle anderen, aber ich musste erst mal ein paar Sachen geraderücken.

»Nein. Überlegt doch mal! Wir wissen alle, dass man in dieses Haus viel Arbeit stecken müsste«, sagte ich mit wissendem Blick auf meiner ungewissen Miene. »Das Dach leckt, auch wenn es gar nicht regnet, und wir beherbergen einen ganzen Termitenstaat. Mit dem Geld aus dem Verkauf könnten wir uns was Besseres suchen …« Im Augenwinkel sah ich, dass Arny den Kopf schüttelte. Ich dachte, wenn ich ihn ignorierte, würde dieses Kopfschütteln unter Umständen verschwinden. »Vielleicht etwas außerhalb der Stadt, nur ein kleines Stück. Wir könnten sogar einen Garten mit …«

Sissi stieß dieses hochmütige Lachen aus, das sie bei ihrer Seifenoper gelernt hatte. »Oho. Aber das Beste weißt du ja noch gar nicht«, sagte sie. »Es geht noch weiter. Der Umzug ist schon arrangiert, Schwesterherz.«

»Verstehe ich nicht«, räumte ich ein.

»Das Geld, das der alte Laden hier gebracht hat, habe ich bereits in eine zauberhafte Ferienanlage im Süden investiert.« Mair leuchtete vor Stolz. »Wir werden es ganz bestimmt wundervoll haben. Ein Traum wird wahr.«

Es war einer dieser Träume, die man bekommt, wenn man kurz vorm Schlafengehen scharf gewürztes Hoor Mok mit klebrigem Reis isst. Ich spürte den Knoten direkt. Im Süden? Im Süden sprengten sich die Leute gegenseitig in die Luft. Alle flohen nach Norden, aber wir sollten in den Süden ziehen.

»Wie weit südlich?«, fragte ich.

»Ziemlich weit«, sagte sie.

Kapitel 2

»Ich bin mir sicher, dass Menschen und Fische in friedlicher Koexistenz leben können.«

George W. Bush

Saginaw, Michigan, 29. September 2000

Die neuen Besitzer wollten ein schmales, hohes Apartmenthaus auf unserem Grundstück bauen, sodass uns genau zwei Monate blieben, um von unserem Erbe Abschied zu nehmen. Meine vierunddreißig Jahre Plunder und Erinnerungen wurden in Pappkartons verpackt. Es war eine Reise ins Unbekannte. Mair verließ sich einzig und allein auf eine Computergrafik vom Gulf Bay Lovely Resort & Restaurant in Maprao in der Provinz Chumphon. Ich musste es nachschlagen. Chumphon ist eine dieser thailändischen Provinzen, in die kein Mensch fährt. Man hat eine grobe Vorstellung davon, wo sie liegt, aber man könnte auf der Karte nicht mit dem Finger darauf zeigen. Wäre es ein Land, wäre es Liberia.

Im ersten Monat hielten wir immer wieder Familienrat, und jeder von uns erklärte, wieso und warum er unmöglich aus Chiang Mai wegziehen konnte. Sissi hatte ihre Internetgeschäfte und war sicher, dass es im Süden nicht mal Strom gab. Arny trainierte für den Bodybuilding-Wettbewerb Northern Adonis 2008. Zweimal schon war er nur ein Brustmuskelzucken von der Zulassung zum landesweiten Wettkampf entfernt gewesen, und wir waren allesamt davon überzeugt, dass es ihm dieses Jahr gelingen würde. Er brauchte Zugang zu Hanteln und zu Anabolika. Opa Jah wies darauf hin, dass es in Nakhon Sri Thamarat mehr Morde gab als in jeder anderen Provinz des Landes. – Nicht sonderlich relevant, da Chumphon zwei Provinzen entfernt war. – Und ich? Verdammt. Ich war nur einen Herzinfarkt entfernt vom Chefsessel. Ich liebte meinen Job. Ich würde Chiang Mai ebenso wenig freiwillig verlassen, wie ich die Nacht in einer Wanne mit Wieselspucke verbringen wollte. Ich konnte nicht weg. Ich wollte nicht.

Das schien Mair nichts auszumachen. Im Geiste hatte sie die smogverhangene Stadt im Norden längst hinter sich gelassen und nippte Eiswasser auf einem Balkon, mit Blick über die sanft plätschernde Brandung des Golfs.

»Hört auf zu jammern«, sagte sie und lächelte. »Eure Mair ist groß und hässlich genug, um auf sich selbst aufzupassen. Geht ihr nur und amüsiert euch. Macht euch um mich keine Gedanken. Ich kann immer noch Personal einstellen.«

Ich glaube nicht, dass es sarkastisch klingen sollte. Ich glaube, sie dachte wirklich, sie könne es allein schaffen.

»Es ist nur eine kleine Ferienanlage«, sagte sie. »Nur fünf Zimmer. Das kann auch nicht schwieriger sein, als vier lebhafte Kinder großzuziehen.«

Sofern sie uns nicht etwas verschwiegen hatte, waren wir eigentlich nur zu dritt, aber Zahlen wurden für unsere Mair langsam kompliziert. Tatsächlich wurde so manches für sie doch sehr verwirrend. Und da waren wir nun, zwei Monate später, mitten im Monsun, Opfer familiärer Verpflichtungen, und klammerten uns verzweifelt an den Rand der Erde: Mair, ich, Arny und Opa Jah. Sissi zog mit ihren Computern und ihren Fotoalben in eine kleine Einzimmerwohnung in Chiang Mai. Sie hatte Probleme. Eines dieser Probleme bestand darin, dass sie nicht in die Öffentlichkeit ging, ein bisschen wie diese Wie-heißt-sie-gleich aus Boulevard der Dämmerung. Und »Öffentlichkeit« bezog sich speziell auf verschwitzte Fischerdörfer auf dem Land. Sie war hin- und hergerissen zwischen ihren familiären Pflichten und ihrem eigenen Leben. Allerdings war sie nicht zum ersten Mal hin- und hergerissen und wusste, wie sie damit umzugehen hatte.

Arny und ich widmeten unsere Tage dem Hüten von Mair und unsere Worte dem Schimpfen auf alles, was mit unserem Leben nicht stimmte. Wir waren in ein von Kokos-hainen umgebenes Dorf namens Maprao gezogen. Der Name bedeutet »Kokosnuss«. Wir sitzen mitten in einer Bucht namens Glang Ow, was »in der Mitte der Bucht« bedeutet, und das nächstgelegene Städtchen liegt an der Mündung eines Flusses. Es heißt Pak Nam. Das muss ich Ihnen wohl nicht übersetzen. Pak Nam liegt an der Mündung des Flusses Lang Suan, der durch den Lang-Suan-Distrikt fließt und von der Stadt Lang Suan herkommt. Lang Suan bedeutet »hinter dem Garten«, sodass wir wohl davon ausgehen können, dass der Fluss einmal bei irgendwem hinterm Garten entlanggeflossen ist.

Hier unten gibt es achtundzwanzig Dörfer, die Maprao heißen, dreißig Buchten namens Thai Bay, vierunddreißig namens Middle Bay und neununddreißigmal River Mouth. Im Süden sind eintausendzweihundertsechsundsiebzig Dörfer nach Obst oder Gemüse benannt. Exakt zweitausendfünfhundertsiebenundsechzig tragen den Namen einer Person, die dort einmal gelebt hat. Genau dieser Mangel an Einfallsreichtum spiegelt für mich den Süden wider. Hier unten interessiert sich bestimmt keiner hinreichend dafür, dass er sich extra vor den Computer setzen würde, um das auszurechnen. Hätten Südthais Australien kolonisiert, wären die Olympischen Spiele im Jahr 2000 vermutlich in Großer Hafen eröffnet worden.

Das bearbeitete Bild vom Gulf Bay Lovely Resort & Restaurant war ausgesprochen schmeichelhaft. Der Laden selbst war ein Loch, umzingelt von Sümpfen voller Moskitos, drei Monate im Jahr bombardiert vom Monsun, meilenweit von der nächsten Touristenroute entfernt und … deprimierend. Bei jedem Sturm holte sich die See etwas mehr vom Strand, und als wir ankamen, fanden wir ein sichelförmiges Ufer vor, das bei der nächsten Flut ins Wasser zu kippen drohte. Ungeachtet der Mängel dieses Orts arbeitete Mair im spärlich bestückten Kiosk und sang viel. Arny kümmerte sich um die Zimmer, und ich zog den Kürzesten und bekam die Verantwortung für die Küche. Fast zehn Monate hatte ich gelitten, toleriert und mitgespielt, wenn auch nicht kommentarlos, bis zu jenem wundervollen Tag, als Käpt’n Kow auf seiner Honda ins Dorf kam und verkündete, man habe zwei Leichen in einem vergrabenen VW-Bus gefunden.

Nachdem ich zehn Minuten nach dem Weg gefragt und nicht ernstlich irgendwas verstanden hatte, stieß ich eher zufällig auf Old Mels Plantage. Hier unten sind die Palmenfelder nicht umzäumt. Man könnte mit einem Sattelschlepper vorfahren und mit vierzig Bäumen abhauen, wenn man wollte. Doch das tat niemand. Ich war ganz wacklig und verschwitzt von der Fahrt und schob Mairs Fahrrad den Sandweg hinauf. Da waren Hunde. Ich bin keine große Hundefreundin, und die beiden gaben sich auch keine Mühe, mich zu bekehren. Sie knurrten und sabberten an meinen Knöcheln herum, den ganzen Weg bis zum hinteren Ende des Grundstücks. Dort parkte ein Polizeiwagen, und weiter hinten sah ich einen Pulk von Schaulustigen. In den USA wäre man vielleicht auf eine Polizeiabsperrung samt Aufpasser gestoßen, doch Pak Nams Freunde und Helfer posierten für Fotos vor einer rapide wachsenden Grube. Alle Nachbarn hatten Hacke oder Spaten mitgebracht und gruben den VW vorsichtig aus wie einen versteinerten Dinosaurier.

Sie hatten sich auf das vordere Ende konzentriert, und der Fahrer und seine Begleitung blickten starr durch eine erstaunlich saubere Windschutzscheibe. Mir war wohl bewusst, dass sie nur noch Skelette waren, doch sie wirkten wie ein entspanntes Pärchen auf einem Wochenendausflug. Der Fahrer hielt das Lenkrad fest, und obwohl ihm sein Sicherheitsgurt und der Bart schon lange auf den Schoß gefallen waren, hielt die John-Lennon-Mütze noch immer seine langen Haare fest. Solches Glück war seiner Freundin nicht vergönnt. Sie war kahl wie eine Billardkugel, und nur ihre Statur und eine dicke, hawaiianische Kette aus Glas- und Plastikperlen um den Hals verrieten ihr Geschlecht.

Anfangs ignorierten mich die Grabenden und die posierenden Polizisten, und ich hätte ohne Weiteres zum Auto in der Grube schleichen und fotografieren können, was ich wollte. Offensichtlich führte man keine sonderlich eingehenden Tatortermittlungen durch. Die Situation verlangte nach Klärung, also beschloss ich, mein Glück zu versuchen. Ich marschierte zu den Polizisten, stellte mich mit dem Rücken vor die klickenden Kameras und sagte, wobei ich bewusst auf die Vergangenheitsform verzichtete: »Meine Herren, ich bin Jimm Juree, stellvertretende Kriminalredakteurin bei der Chiang Mai Mail. Ich bin hier, um über diesen Fall zu berichten.«

Die Fotografen hielten hörbar die Luft an, und die Grabenden schulterten ihre Werkzeuge. Ich bezweifelte, dass die beiden jungen Polizisten je von der Mail gehört oder überhaupt je eine Zeitung gelesen hatten, doch ich blieb unbeirrbar. Wie ein Revolverheld ließ ich meine Hand über der Kamera schweben, die von meiner Schulter hing. Nach mehreren Sekunden überlegte ich schon, ob sie vielleicht stumm waren, doch schließlich meldete sich der jüngere der beiden zu Wort.

»Ich habe einen Vetter in Chiang Mai«, sagte er. »Kovit.«

Ich fürchtete, er würde mich vielleicht fragen, ob ich ihn kannte, doch stattdessen überraschte er mich damit, dass sein Vetter der stellvertretende Direktor des Zoologischen Gartens war und lukrative Angebote aus Europa ausgeschlagen hatte, um in Chiang Mai zu bleiben, weil sie dort versuchen wollten, Pandas zu begatten. Er meinte ein Panda den anderen … glaube ich. Der andere Polizist fügte die kaum bekannte Tatsache hinzu, dass Pandas zwanzig Jahre leben und die Weibchen nur über ein Zeitfenster von drei Jahren verfügen, in dem sie fruchtbar genug sind, um schwanger zu werden. Er fügte hinzu, sie hätten für Sex nicht viel übrig, und die Weibchen bestimmten, wann und wo sie es »trieben«.

Das war alles faszinierend und offensichtlich ein Thema, das sie ausgiebig diskutiert hatten, doch würde es mir einen Exklusivbericht über den tiefergelegten VW-Bus einbringen? Die Antwort kam in einem zweiten braun-beigen Wagen, aus dem Police Major Mana stieg, der Chef des Reviers von Pak Nam. Er war ein Mann in den besten Jahren, dessen dunkles Gesicht so poliert aussah wie seine Schulterstücke. Er war klein und bewegte sich, wie man es von einem Panda in zu enger Uniform erwarten würde. Ich fragte mich, ob die beiden Streifenpolizisten wohl dasselbe dachten.

Aus dem Wagen kletterte außerdem ein dürrer, junger Polizist mit einer altmodischen Kamera, die mehr zu wiegen schien, als er tragen konnte. Major Mana verbrachte mehrere Minuten damit, seinen Hut zurechtzurücken und sich im Außenspiegel zu betrachten, dann marschierte er an mir und den beiden Beamten vorbei zur Grabungsstelle. Er hielt etwas Abstand und registrierte mit finsterer Miene, dass die Arbeiten unterbrochen waren. Der Fotograf folgte ihm, richtete sein Objektiv ein und machte ein hübsches Foto von seinem Major bei der Besichtigung des Tatorts – falls es etwas geworden war, falls es weder über- noch unterbelichtet und der Film nicht in der Kamera geschmolzen war. Digital mochte vielleicht nichts für Liebhaber sein, aber wenigstens musste man nicht einen ganzen Tag warten, bis man sah, was man vermasselt hatte.

Nachdem er seiner Pflicht offenbar Genüge getan hatte, nahm Major Mana seinen Hut ab, tupfte seine Stirn mit einem Tuch und machte sich wieder auf den Weg zu seinem Auto. Einer der beiden Polizisten trat vor und salutierte, als er an ihm vorüberkam.

»Major, Sir«, sagte er. »Das hier ist Nong Jimm von der Presse in Chiang Mai.«

Ich konnte es nicht leiden, wenn man mich »Kleine Schwester« nannte. Es ist so, als könne man, nur weil man klein und faltenlos war, unmöglich so alt sein wie sie. Vielleicht lag es an der Hitze oder am ehrlichen Respekt vor der Zunft der Journalisten, doch plötzlich sprühte der Major vor Charme. Er hatte es derart eilig, seine Hände zu einer unverdienten Erwiderung meines wai zusammenzubringen, dass er seine hübsche Mütze fallen ließ.

»Nong Jimm«, sagte er, trat beiseite, damit die beiden Beamten seine Mütze aufheben und entstauben konnten. »Willkommen in unserer Provinz. Wenn ich irgendetwas tun kann, um Ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten, so müssen Sie es nur sagen.«

Ich kannte diese Sorte nur zu gut. Aalglatt wie eine Schlange in Motoröl. Ich beschloss, seinen Irrtum zu nutzen, bevor er mitbekam, dass ich es mit dem Fahrrad nur eine halbe Stunde bis nach Hause hatte.

»Sobald ich mich hier etwas umgesehen habe, wäre ich Ihnen dankbar, wenn wir uns ein wenig unterhalten könnten«, sagte ich. Das Sonnenlicht auf seinen Zähnen blendete mich.

»Dann will ich Sie gern zu einem Arbeitsessen einladen«, sagte er. »Wenn Sie hier fertig sind, natürlich.«

Das passte mir. Es lag in meinem Interesse, meine lokalen Gesetzeshüter kennenzulernen, und vielleicht bekam ich zur Abwechslung mal etwas zu essen, das nicht schwimmen konnte. Eine schöne Scheibe Schweinebraten würde mich glücklich machen. Eine Scheibe Schinken. Ein paar Scheibchen Wild. Liebend gern nahm ich eine Stunde Schauspielerei auf mich, wenn ich dafür einen Teller mit irgendwas bekäme, das noch vor Tagen auf einer Wiese herumgetollt war. Langsam verlor ich mein fleischfressendes je ne sais quoi.

Es überraschte mich direkt, wie sehr ich die Zeit an dieser Ausgrabungsstelle genoss. In meinem ganzen Jahr in Chumphon hatte ich aus unerfindlichem Grunde bisher nicht das Vergnügen gehabt, mich mit einem Haufen arbeitsloser Männer herumzutreiben. Mehrere waren in Opa Jahs Alter, doch sie schwangen ihre Hacken mit der Kraft von Männern, die früher verletztes Vieh auf ihren Schultern getragen hatten. Und sie fanden alles komisch. Das Graben war ein Riesenspaß. Witze und Gelächter gingen hin und her, doch ich hätte eine Nordthai/Südthai-Simultanübersetzung gebraucht, um auch nur die Hälfte davon zu verstehen. Das bei Weitem Lustigste an diesem Morgen war die forensische Katastrophe.

Ich hatte einige Digitalbilder der beiden Skelette gemacht, bezweifelte jedoch, dass Zeitungen wie die Mail sie verwenden würden. Aber ich war sicher, dass ich sie an 191 verkaufen konnte, diese morbide Zeitschrift in Bangkok. Für die war nichts zu blutrünstig. Ich überlegte gerade, wie ich diese Fotos noch etwas aufpeppen konnte, als Onkel Ly, der Komiker unter den Gräbern, durch das Loch im Dach in den kleinen Bus kletterte und zwischen den Skeletten posierte. Sein Neffe machte ein Foto mit seinem Handy, und gerade stellte ich mich an, um es ihm nachzutun, als das Unvermeidliche geschah.

Wahrscheinlich hätte sich schon mal jemand fragen sollen, wieso die Skelette eigentlich so unversehrt sein konnten, trotz des eklatanten Mangels an körpereigenen Schrauben und Klemmen, die uns alle zusammenhalten. Wie dem auch sei, sie hielten nicht, denn sobald Onkel Ly sein Peace-Zeichen hinter der Schulter des Fahrers gemacht hatte, fiel Letzterer in sich zusammen wie ein Stapel Münzen. Wir alle schwiegen. Dann, als wären die beiden durch einen unsichtbaren Faden miteinander verbunden, neigte die Beifahrerin ihren Kopf ganz leicht nach rechts und nickte, bevor sie – treue Gefährtin, die sie war – ihrem Liebsten auf den Boden der Fahrerkabine folgte. In guten wie in schlechten Tagen und in Einzelteilen.

Es war der Anblick des peinlich berührten Onkel Ly bei dem Versuch, die beiden Leichen wieder zusammenzusetzen, der uns zum Lachen brachte. Constable Ma Yai und Constable Ma Lek kamen zur Grube gelaufen, und einen Moment lang fürchtete ich schon, sie würden uns maßregeln, weil wir lachten, oder sogar verhaften. Doch erst der eine, dann der andere Beamte machte Bemerkungen, die den Übermut der Zuschauer nur noch schürten und den armen Ly vollends aus der Fassung brachten. Als klar war, dass die Skelette nie wieder dieselben sein würden, zogen die beiden jungen Beamten eine sehr gute Schlussfolgerung. Sie folgerten, dass es die Erschütterungen infolge der Grabung gewesen sein mussten, die den Zusammenbruch des Pärchens ausgelöst hatten. Alle stimmten zu. Es schien geradezu ungesellig, es nicht zu tun. Auf meinem Heimweg staunte ich, wie leicht ich Komplizin eines Betrugs geworden war. Es lag wohl in der Luft.

Um zehn vor zwölf war ich wieder zu Hause, sodass mir noch eine halbe Stunde bis zu meiner Essensverabredung blieb. Da ich die Makrele am Morgen halb ausgenommen zurückgelassen hatte, teilte ich der Familie mit, dass heute Instant-Nudel-Tag war. Ich hatte duschen wollen, nachdem ich eine halbe Stunde unter der prallen Sonne geradelt war, doch der kleine Gott der Stromversorgung wählte ebendiesen Augenblick, um seinen Dreizack in den himmlischen Sicherungskasten zu rammen, und die ganze Gegend fiel zurück ins mittelalterliche Reich von Ayutthaya. Das passierte in unserer kleinen, dunklen Ecke des Himmels dermaßen oft, dass ich darüber schon lange nicht mehr leise vor mich hin fluchte. Mir blieb nur, entweder ins Meer zu springen und mich während des gesamten Mittagessens zu kratzen, oder einen Plastikeimer voll aus dem großen Fass hinter dem Haus zu holen, in dem es mehr Viecher gab als im Naturkundemuseum. Ich wählte das Meer.

Major Mana war offenherzig wie eine Venusfliegenfalle. Ich saß ihm gegenüber und rutschte auf meinem Stuhl herum, während das Salz auf meiner Haut prickelte. In meiner Tasche steckte der dicke Bericht, den ich noch am Tatort geschrieben hatte. Nach dem Essen wollte ich ein paar Telefonate erledigen, ihn in mein Notebook tippen und vom Internetcafé aus wegschicken. Da Samstag war, konnte ich mich auf einiges Gerangel mit den Teenagern einstellen, aber ich hatte meine erste echte Geschichte seit einem Jahr am Haken, und da waren ein paar Kinder mit blauen Flecken kein allzu hoher Preis. Vom Major brauchte ich nur die obligatorischen Namen und Dienstgrade aller beteiligten Polizisten und ein Zitat, um der Bevölkerung zu versichern, dass die Polizei alles unter Kontrolle hatte. In Chiang Mai hatten wir einen Vorrat von solchen Zitaten, aus denen sich die hochrangigen Polizeibeamten eins aussuchen konnten, weil es ihnen oft an grammatikalisch korrekten Phrasen mangelte. Ich hatte meine Liste nicht bei mir, also durfte Mana die Leser mit seiner Mord/Unglück/Unfall/Selbstmord-Theorie verblüffen. Der geschäftliche Teil unseres Mittagessens war nach zehn Minuten abgeschlossen, und ich konnte es kaum erwarten, dort wegzukommen und meine Geschichte abzuschicken. Doch da ich aus Chiang Mai kam und zu Besuch im Süden war, hatte der Major frische Makrele und Zackenbarsch aus der Region bestellt und wartete auf meine Reaktion, während ich aß. Ich brachte ein Lächeln zustande.

Wie zu erwarten, hatte er dafür gesorgt, dass bei unserer Ankunft eine Flasche »Hinnisy«-Brandy auf dem Tisch stand, als sei das ein normaler Service des Restaurants. Aus einem Bericht, den wir für die Mail gemacht hatten, wusste ich jedoch, dass einige dieser nachgemachten Branntweine Deformationen bei Neugeborenen hervorrufen konnten und einem schon beim dritten Glas die Zähne im Mund verfaulten. Major Manas strahlend weiße Zähne stärkten jedoch mein Vertrauen, und ich hielt während des ganzen Essens mit, Schluck für Schluck. Ich kann was vertragen. Ich habe keine Ahnung, woher meine Kondition kommt. Meine Mutter muss nur an einem Fliegenfänger riechen, schon singt sie alte Bird-Thongchai-McIntyre-Balladen. Es muss also an den Genen meines auf mysteriöse Weise nicht vorhandenen Vaters liegen. Vielleicht war er Alkoholiker. Mair schweigt sich über dieses Thema aus. Ich kann mich nicht mehr an ihn erinnern. Sissi, die Älteste von uns, erinnert sich an einen gut aussehenden, lustigen Mann, der kam und ging und kam … und ging. Das ist alles, was wir von »Dad« wissen. Keine Fotos. Keine liebevollen Erinnerungen von Mair. Nur Gene, die irgendwie nicht passen wollen.

Jedenfalls waren wir beim Obstteller und hatten den Hinnisy fast geschafft, und Major Mana lallte und hatte an Lautstärke gewonnen. Er zwinkerte dem Restaurantbesitzer zu, als er seinen Stuhl herumrückte, um mir Geheimnisse ins Ohr zu flüstern. Da er während des ganzen Essens von sich redete, musste ich nicht lügen, was meinen Wohnort anging. Er bestand darauf, unsere Drinks selbst zu mixen. Ausnahmslos hatte er doppelt so viel Brandy in mein Glas geschenkt, und ausnahmslos wartete ich, bis er abgelenkt war, und tauschte die Gläser. Zweimal hatte er mir nun schon erklärt, dass er ein Motelzimmer gebucht hatte, für den Fall, dass ich mich nach dem Essen ausruhen wollte. Galant wie ein Haufen Echsendung – ich meine, mal ehrlich: Vielleicht war er noch nie mit einer Frau essen gewesen, die weder Fell noch Schuppen hatte.

Irgendwann kam er nicht wieder von der Toilette zurück. Angesichts der Zeit, die er gebraucht hatte, um sie zu finden, war ich nicht sonderlich überrascht. Ein Penis ist viel kleiner als eine Toilette. Ich gab ihm fünf Minuten, schüttete den Rest von meinem Drink in den Eiseimer und spazierte die Hauptstraße entlang zu meinem Moped, das ich dort abgestellt hatte.

»Hattest du einen schönen Sonntag?«, fragte Mair.

»Ja, danke.«

Dabei war Samstag.

Ich konnte ihr noch immer nicht verzeihen, was sie uns angetan hatte, und war entschlossen, ein komplettes Jahr lang zivilen Ungehorsam zu üben, doch wie immer merkte ich, dass meine Bissigkeit ihre bleierne Mutterhülle nicht durchdringen konnte. Die meiste Zeit über war sie Mair – lieb, zugänglich, unfreiwillig komisch, eben die ganz normale Mair. Aber es gab auch Momente, in denen sie uns Angst machte. Es hatte mit kleinen Dingen angefangen. Beispielsweise mochte einem eine Ameisenstraße auffallen, die zu einer Kommode führte, und darin fand man dann einen offenen Karamellpudding.

»Mair, wieso steht der Karamellpudding nicht im Kühlschrank?«

»Steht er nicht?« Dann schüttelte sie den Kopf. »Das ist ja komisch. Da habe ich ihn aber reingestellt, Kindchen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wer ihn da rausgenommen hat.« Dann gab es Momente, in denen sie den Fernseher mit ihrem Handy umschalten wollte oder den lokalen Radiosender in der Mikrowelle suchte. In letzter Zeit fand ich es zunehmend sinnvoll, dass wir in den Süden Thailands und nicht in den Süden von Chicago gezogen waren. Mair schloss den Laden ab, ging ins Bett und ließ fünfzig Säcke Reis über Nacht draußen vor der Tür stehen. Ich weiß gar nicht, wieso sich eigentlich nie jemand selbst bediente.

Seit wir hierhergezogen waren, hatte Mair außerdem ungebührliche Beziehungen aufgenommen. Um unser Thailand zu verstehen, müssen Sie sich vor Augen führen, dass manches schon in der Natur der Sache liegt. Ein Politiker beispielsweise kann schon per Definition unmöglich ehrlich sein. Ehrliche Politiker haben keine einflussreichen Freunde, die ihnen über die erste Hürde hinweghelfen – den Stimmenkauf. Dann ist da die Geschäftswelt. Geschäftsleute haben keinerlei soziale Verpflichtungen. Sie sind im Geschäft, um ihr Gegenüber – wenn möglich, höflich – über den Tisch zu ziehen. Womit wir bei den Hunden wären. Täglich werden Millionen davon geboren. Nach menschlichen Maßstäben gemessen, kommt die überwiegende Mehrheit nicht mal übers Kindergartenalter hinaus. Nur die starken überleben, was bedeutet, dass schon pubertierende Hunde fies und gemein und zutiefst unliebenswert sind. Hilft man einem Hundewelpen, widersetzt man sich also dem Gesetz des Dschungels.