Der fröhliche Frauenhasser - Colin Cotterill - E-Book

Der fröhliche Frauenhasser E-Book

Colin Cotterill

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Beschreibung

Der sechste Laos-Krimi mit dem einzigartigen Ermittler

Dr. Siri Paiboun, einziger Leichenbeschauer in Laos und ebenso exzentrisch wie genial, steckt in der Klemme: Dass er die Wohnung seiner Angetrauten, Madame Daeng, der ihm von der Regierung zugewiesenen Bleibe vorzieht, ruft die laotische Bürokratie auf den Plan − und mit der ist nicht zu spaßen. Doch Siri hat keine Zeit, sich mit halsstarrigen Beamten herum zuschlagen: Die Arbeit ruft! Als auf seinem Seziertisch die Leiche einer jungen Frau landet, schlittert er prompt in seinen nächsten Kriminalfall. Denn das Mädchen wurde brutal ermordet. Der Killer hatte es an einen Baum gefesselt, gefoltert und schließlich erwürgt. Als Dr. Siri der Sache nachgeht, muss er feststellen, dass er es mit einer ganzen Serie von Frauenmorden zu tun hat. Und dass der Killer auch vor in Ehren ergrauten Pathologen nicht haltmacht …

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Dr. Siri Paiboun ist mittlerweile stolze 73 Jahre alt, dennoch hat der sympathischste – und einzige – Leichenbeschauer in Laos nichts von seinem messerscharfen Verstand eingebüßt. Als eines Tages die Leiche einer ausnehmend hübschen Siebzehnjährigen auf seinem Obduktionstisch landet, schlittert Siri prompt in seinen nächsten Kriminalfall. Dabei steckt er ohnehin schon in der Klemme: Dass er die Wohnung seiner Angetrauten, Madame Daeng, der ihm von der Regierung zugewiesenen Bleibe vorzieht, ruft die laotische Bürokratie auf den Plan, und mit der ist bekanntermaßen nicht gut Kirschen essen. Doch Siri hat keine Zeit, sich mit kratzbürstigen Beamten herumzuschlagen, er hat einen Mordfall zu lösen. Denn das Mädchen wurde ganz offensichtlich das Opfer eines Psychopathen: Der Killer hatte es an einen Baum gefesselt, brutal gefoltert und schließlich erwürgt. Als Dr. Siri der Sache nachgeht, muss er feststellen, dass er es mit einem gefährlichen Serienmörder zu tun hat. Was Siri nicht weiß: Der Killer hat sein nächstes Opfer längst im Visier – und er macht auch vor in Ehren ergrauten Pathologen keineswegs halt …

Colin Cotterill

Der fröhliche Frauenhasser

Dr. Siri ermittelt

Roman

Aus dem Englischen von Thomas Mohr

MANHATTAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »The Merry Misogynist« bei Quercus, London

Manhattan Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Copyright © der Originalausgabe 2012 by Colin Cotterill

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München

Umschlaggestaltung und Konzeption: R·M·E Roland Eschlbeck / Rosemarie Kreuzer / Sabine Hanel unter Verwendung von Motiven von © Lucy Davey /

The Artworks

Redaktion: Martina Klüver

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-08828-6V004

www.manhattan-verlag.de

Meiner Frau Jessi, die mich von meinem Machogehabe kuriert und in einen Bilderbuchsoftie verwandelt hat.

Für Anjan, Valérie, David, Lizzie, Dad, Tony, Kay, Martina, Dr. Pongruk und Bounlan zum Dank für ihre unschätzbare Hilfe und für Ethel Appleyard, die mir den großen Gefallen getan hat, mich zur Welt zu bringen.

Längst überfälliger Dank an Richard Curtis und Laura Hruska, die mich weiland unter ihre Fittiche genommen haben und mich seither ertragen müssen.

Uuuuund ein ganz besonderes Dankeschön allen Unterstützern meines Projekts »Books for Laos«

(www.colincotterill.com).

Inhalt

1

FÜNF TOTE FRAUEN

2

BO BEN NYANG

3

LANGER MONTAG

4

EIN HINDULEBEN

5

SCHWARZE SPITZE UND EIN HAUCH VON ROSA

6

MADE IN THAILAND

7

DIE UNSICHTBARE REISBÄUERIN

8

DER PALAST DER 111 AUGEN

9

LAOTISCHE PATRIOTINNEN

10

TANZ MIT DEM TOD

11

DIE BLASE PLATZT

12

MAUERFALL

13

FLITTERWOCHEN IN DER HÖLLE

14

STATISTISCHES MITTEL

15

DÜMMER, ALS DIE POLIZEI ERLAUBT

16

SPIESSRUTENLAUF

17

DER FALSCHE PRINZ

18

DER BUDDHA-PARK

1Fünf tote Frauen

Der Kalender zeigte das Jahr 1978, und in Vientiane, der Hauptstadt der Demokratischen Volksrepublik Laos, herrschten Trübsal und Tristesse. Man hatte ihr mit aller Macht das Leben ausgepresst wie einer Durianfrucht den Saft. Sie war grau und fad und suhlte sich in Selbstmitleid.

Die frischgebackene sozialistische Regierung, die die sechshundert Jahre alte Monarchie vom Thron gestoßen hatte, musste allmählich einsehen, dass sie mit ihrer Aufgabe gelinde überfordert war. In den zwei Jahren seit der Machtübernahme hatte der Premierminister vier Attentate nur knapp überlebt. Die Armee rodete die Wälder und verhökerte das Holz heimlich ins Ausland, und Pathet-Lao-Soldaten verschoben Benzin auf dem Schwarzmarkt. Die Insassen der Umerziehungslager im Norden erhielten neuerdings verstärkten Zuwachs: durch korrupte sozialistische Beamte.

Die Zahlen sprachen für sich. Das Pro-Kopf-Einkommen lag bei unter neunzig US-Dollar, und über hunderttausend Menschen waren aus der Stadt geflohen, um in den thailändischen Flüchtlingslagern am anderen Ufer des Mekong ihr Glück zu suchen. Obwohl die verbliebene Bevölkerung zu fünfundachtzig Prozent aus Subsistenzbauern bestand, war Laos zum ersten Mal seit Menschengedenken gezwungen, Reis zu importieren. Nach der beispiellosen Dürre im Vorjahr hatte die Landwirtschaftsabteilung für 1978 eine schwere Hungersnot prognostiziert. Wie es schien, hatte selbst Buddha seine Schäfchen im Stich gelassen. Die Regierung hatte den privaten Handelsverkehr per Dekret strengen Beschränkungen unterworfen, was jedoch keine allzu große Rolle spielte, da ohnehin kaum Geld im Umlauf war. Die fünfhundert Millionen Dollar, die die US-Imperialisten während des Vietnamkrieges in die Stadt gepumpt hatten, waren längst in dunklen Kanälen versickert. In den verzagten Gesichtern der Hauptstadtbewohner spiegelte sich die Freudlosigkeit der Kapitale. Und so gab es am 11. März jenes Jahres im ganzen Land nur zwei Männer, die wirklich und wahrhaftig glücklich waren.

Der eine war der bald vierundsiebzigjährige amtliche Leichenbeschauer Dr. Siri Paiboun. Dass ein so betagter Mann, der im Laufe seines langen Lebens so viel schlechtes Karma angehäuft hatte, überhaupt noch Grund zur Freude fand, grenzte an ein Wunder. Zwei Jahre zuvor hatte man seinem Traum von einem beschaulichen Rentnerdasein ein grausames Ende bereitet und ihn kurzerhand zum ersten und einzigen Pathologen des Landes bestellt. Es war der Tiefpunkt einer von Mühsal und Unbill geprägten Existenz: Jahrzehntelang hatte er versucht, seine eigene Kommunistische Partei zu verstehen, jahrzehntelang war er mit einer Frau verheiratet gewesen, der die Revolution mehr bedeutet hatte als die Gründung der ersehnten Familie, jahrzehntelang hatte er Soldaten zusammengeflickt, die in den zahllosen Schlachten eines anhaltenden Bürgerkrieges verstümmelt worden waren. Da machte ein Rückschlag wie dieser den Kohl auch nicht mehr fett.

Doch dann hatte das Schicksal ein Einsehen gehabt und den Witwer Siri mit einer alten Freundin, der Freiheitskämpferin Madame Daeng zusammengeführt, die mit ihren sechsundsechzig Jahren noch immer wunderschön war und ihren weißhaarigen Doktor noch immer heiß verehrte. Die beiden hatten sich Hals über Kopf ineinander verliebt und vor knapp zwei Monaten Hochzeit gefeiert. Die Flitterwochen schienen kein Ende nehmen zu wollen, und stets lag ein beseeltes Lächeln auf den Lippen den Leichenbeschauers.

Der andere wirklich und wahrhaftig glückliche Mensch an diesem drückend schwülen Märztag war ein Mann, der gewöhnlich unter dem Namen Phan firmierte. Er hatte soeben seine fünfte Ehefrau ins Jenseits befördert, und wie üblich schöpfte niemand auch nur den geringsten Verdacht. Wenn das kein Grund zur Freude war …

»Sind Sie Dr. Siri?«

»Ja.«

»Dr. Siri Paiboun?«

»Ja.«

»Der Leichenbeschauer?«

»Dreimal ins Schwarze. Sie haben eine Kokosnuss gewonnen.«

»Ich muss Sie bitten mitzukommen.«

Siri stand am Fuß der Treppe, die ins obere Stockwerk von Madame Daengs Nudelküche in der Fa Ngum Street führte. Er trug weiter nichts am Leib als ein Paar Muay-Thai-Boxershorts, sein dichtes, weißes Haar stand nach allen Seiten ab, und seine verquollenen Augen waren schlafverklebt. Er hatte eigentlich erst um acht aufstehen wollen, und jetzt war es Viertel nach sechs. Daeng war nach unten gegangen, um Nudelwasser für den Frühstücksansturm aufzusetzen, und hatte auf das laute Klopfen hin die Tür geöffnet. Sie hatte sich den Ausweis des Mannes zeigen lassen, bevor sie ihn hereingebeten und ihren verkaterten Gatten aus dem Schlaf gerissen hatte. Obwohl Siri in Sandalen nur etwa einen Meter fünfundfünfzig maß, überragte er den Eindringling im schiefergrauen Safarianzug um einen halben Kopf.

»Wer sind Sie?«, fragte Siri.

»Ist dies Ihr ständiger Wohnsitz?«

»Hat Ihnen eigentlich niemand beigebracht, dass man eine Frage nicht mit einer Gegenfrage beantwortet, weil das äußerst unangenehme Folgen für Ihre …?«

»Siri!«, fiel Madame Daeng ihm gerade noch rechtzeitig ins Wort. Es war unklug, einen Beamten zu reizen, selbst einen so kleinen wie diesen. Die beiden Männer sahen auf, als sie die Fensterläden öffnete, um dem Mekong einen tiefen Einblick in das Innere ihrer Küche zu gewähren. Die Morgensonne verwandelte das Wasser in ein funkelndes Sternenmeer. Ein einsamer Fischer ruderte gegen die Strömung an und schien rückwärtszufahren – oder trog der Schein, und er fuhr tatsächlich rückwärts?

»Wie ich Ihrer … wie ich der Genossin bereits mitgeteilt habe«, sagte der Mann, »ist mein Name Koomki, und ich komme vom Wohnungsamt.«

Siris Magen machte einen Satz. Insgeheim hatte er diesen Besuch erwartet. Er wich zwei Schritte zurück und sank auf den nackten Dielenboden. Im Hinterzimmer der Garküche machte Daeng sich daran, das Gemüse für die feu-Nudeln zu putzen.

»Dr. Siri«, fuhr Koomki fort, »wir sind in unseren Akten auf eine Unregelmäßigkeit gestoßen.«

»Nämlich welche?« Siri beschloss, den Ahnungslosen zu spielen.

»Sie, Genosse.«

»Madame Daeng«, rief Siri, »hast du das gehört? Ich bin eine Unregelmäßigkeit.«

»Genau deshalb habe ich dich geheiratet, mein Schatz.«

Der Mann vom Wohnungsamt errötete.

»Wie Sie gleich feststellen werden, gibt es da nicht allzu viel zu lachen«, sagte Koomki. »Ist dies Ihr ständiger Wohnsitz oder nicht?«

Siri missfiel Koomkis Ton. »Nein.«

»Sie stehen in Unterhosen vor mir, und diese Dame ist eindeutig Ihre Frau …«

»Bin ich nicht«, fuhr Daeng dazwischen.

»Was, seine Frau?«

»Nein, eine Dame.«

Der Mann war diesem Pärchen offensichtlich nicht gewachsen. Er starrte mit feuchten Glubschaugen auf sein Klemmbrett und las: »Dr. Siri, Sie sind der eingetragene Haushaltsvorstand der Ihnen staatlicherseits zugewiesenen Wohneinheit 22B742 in That Luang.«

»Dann werde ich dort wohl auch wohnen«, versicherte Siri.

»Also, laut den uns vorliegenden Informationen wohnen in fraglichem Bungalow zwar mehrere Personen, aber Sie sind definitiv nicht darunter.«

»Und was, bitte, verstehen Sie unter einer ›Wohnung‹?«, wollte Siri wissen.

»Ich … äh …«

»Irgendetwas wird Ihnen dazu doch wohl einfallen?«

»Äh … eine Wohnung ist der Ort, wo man schläft.«

»Ach ja? Und wer an Schlaflosigkeit leidet, hat demzufolge kein Anrecht auf ein Dach über dem Kopf?«

»Was?«

»Sie werden zugeben müssen, dass uns die Regierung jede Menge schlaflose Nächte bereitet. Ich wette, die meisten Leute machen die ganze Nacht kein Auge zu. In meinem Haus steht zwar ein Bett für mich bereit, aber wenn ich um zwei Uhr morgens wieder einmal keinen Schlaf finde, setze ich mich auf mein Motorrad und fahre hierher, um ein wenig Ruhe und Erholung zu suchen.«

»Oder zu einer seiner zahlreichen Geliebten«, setzte Madame Daeng hinzu.

»Ganz recht.« Siri nickte.

Koomki wandte sich an Daeng, die breit grinsend am Kessel stand. Der Dampf, der ihrer Brühe entstieg, legte sich wie ein Schleier über ihr Gesicht und erfüllte die beiden Männer mit einem unbändigen Hungergefühl. Der Magen des Wohnungsbeamten knurrte.

»Genossin«, sagte er zu Madame Daeng, »ich warne Sie. Einen Regierungskader zu belügen ist ein schwerwiegendes Vergehen.«

»Ehrlich, ich bekomme ihn kaum zu sehen«, sagte sie mit ernstem Blick. »Wie Sie unseren Akten entnommen haben dürfen, wohne ich hier ganz allein. Ich habe natürlich andere Liebhaber, die von Zeit zu Zeit vorbeischauen.«

Siri lächelte und kratzte sich geistesabwesend an seinem fehlenden Ohrläppchen.

Koomki schwante allmählich, dass sie sich über ihn lustig machten. Da er keinen Humor besaß, auf den er hätte zurückgreifen können, klammerte er sich an die Vorschriften.

»Genossen, den gesetzlichen Bestimmungen zufolge ist es streng verboten, Sozialwohnungen unterzuvermieten. Dank der Mildtätigkeit unserer geliebten Republik ist es Ihnen gestattet, Ihr Haus mietfrei zu bewohnen. Sobald Sie jedoch ausziehen, haben Sie Ihr Wohnrecht verwirkt. Und vermieten dürfen Sie Ihr Haus schon gar nicht.«

Siri nickte. »Na, dann ist ja alles in bester Ordnung.«

»Warum?«

»Weil wir erstens festgestellt haben, dass ich durchaus dort wohne, und die Leute unter meinem Dach zweitens keine Miete zahlen. Sie sind nämlich meine Freunde.«

»Ihre Freunde?« Der Mann lachte zum ersten Mal. »Dann scheinen Sie ja recht beliebt zu sein, Dr. Siri.«

»Vielen Dank.«

»Gestern sind in Ihrem Haus in That Luang nach meiner Zählung sage und schreibe neunzehn Personen ein und aus gegangen. Acht von ihnen sind dort offiziell gemeldet. Dann war da noch ein Mönch, der in unseren Unterlagen nirgends auftaucht. Was macht ein Mönch in Ihrem Haus, Genosse?«

»Er ist mein geistlicher Berater. Die Frau des Premierministers schleicht schließlich auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit in den Tempel, um den günstigsten Termin für das nächste nationale Großereignis zu erfragen.«

»Dann berät er Sie vermutlich per Telepathie, denn er ist offenbar nicht nur taub, sondern auch stumm. Jedenfalls schien er weder willens noch in der Lage, mir mitzuteilen, welchem Tempel er angehört. Und Sie wissen genauso gut wie ich, dass es Mönchen grundsätzlich untersagt ist, in Privatwohnungen Quartier zu nehmen. Womit wir beim Thema Prostitution wären.«

Siri zog seine buschigen weißen Augenbrauen hoch und wandte sich an seine Frau. »Was fällt uns zum Thema Prostitution ein, mein Herz?«

»Eigentlich nur eine Frage, und die lautet ›Wie viel?‹«, antwortete sie.

Der Wohnungsbeamte wurde von Minute zu Minute nervöser, und Daengs Nudeln dufteten ungemein verführerisch.

»Die Frage bezieht sich auf zwei junge Frauen, die ebenfalls bei Ihnen wohnen und wegen Prostitution aktenkundig sind.«

»Ts, ts, und sie gehen in meinem Haus ihrem Gewerbe nach?«

»Nicht direkt.«

»Mit anderen Worten, nein?«

»Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Unter anderem deshalb sollen Sie ja mit mir kommen. Wir haben für halb acht eine Anhörung in dieser Sache anberaumt.«

»Dann bin ich verhaftet?« Siri stand auf und streckte ihm die Handgelenke hin.

»Äh, nein. Ich bin schließlich kein …«

»Denn wenn ich nicht verhaftet bin und draußen keine vier baumlangen Schläger stehen, um mich gebührend in Empfang zu nehmen, sieht es ganz so aus, als ob Ihre kleine Anhörung ohne mich stattfinden müsste.«

»Da muss ich Sie leider enttäuschen, Genosse.« Die Stimme des Beamten überschlug sich. Er wühlte in den Papieren an seinem Klemmbrett. »Hier ist die offizielle Vorladung, unterzeichnet vom Amtsdirektor höchstpersönlich.«

»Ach, das ist natürlich etwas ganz anderes.« Siri nickte. »Kann ich mal sehen?«

Koomki hielt ihm das Schriftstück hin, und mit einer Gewandtheit, die man einem Mann seines Alters gar nicht zugetraut hätte, schnappte Siri sich den Wisch, und ehe sich’s der Beamte versah, war er damit auch schon quer durch den Raum geflitzt. Daeng trat einen Schritt zurück. Siri faltete das Blatt Papier sorgfältig zusammen und legte es auf den Lehmherd, in dem ein prasselndes Feuer loderte. Binnen Sekunden war es zu einem schwarzen Aschehäufchen verkohlt. Wo eben noch der Mund des Wohnungsbeamten gewesen war, gähnte jetzt ein großes Loch.

»Wenn Sie mich entschuldigen würden«, sagte Siri und wischte sich die Hände ab, »ich würde gern in Ruhe frühstücken, bevor ich zur Arbeit fahre.«

Der Mann stand da wie angewurzelt. »Das war Eigentum des Staates«, stieß er mühsam hervor.

Siri trat neben Koomki, legte ihm den Arm um die Schulter und eskortierte ihn zur Tür.

»Sie haben mutwillig Staatseigentum zerstört«, stammelte der Mann für den Fall, dass Siri ihn beim ersten Mal nicht verstanden hatte.

»Auge um Auge, Zahn um Zahn. Sehen Sie, ich bin nämlich der amtliche Leichenbeschauer und in dieser Funktion ebenfalls Eigentum des Staates. Genauer gesagt, des Justizministeriums. Trotzdem kommen Sie hierher und wollen meinen guten Ruf zerstören. Dagegen ist ein verbranntes Stück Papier doch bestenfalls ein schlechter Witz, meinen Sie nicht auch?«

Siri und Koomki standen auf dem holprigen Gehsteig, doch bevor er ihn ziehen ließ, beugte Siri sich zu dem Mann hinunter und blickte ihm tief in die feuchten Augen: »Richten Sie Ihren Kollegen aus, wenn etwas gegen mich vorliegt, mögen sie mich doch bitte gleich von der Polizei abholen und vor Gericht stellen lassen. Andernfalls möchte ich nicht weiter behelligt werden. Ich lasse mich doch nicht von ein paar kleinen Paragrafenreitern schikanieren, die sich in ihren muffigen Amtsstuben den Hintern breitsitzen und aus lauter Langeweile Taschen-Politbüro spielen. Und sollten Sie auf die abstruse Idee verfallen, mein Haus zu konfiszieren, garantiere ich Ihnen, dass Sie sich schneller vor dem Parteiausschuss wiederfinden werden, als Sie die erste Strophe der ›Roten Fahne‹ singen können. Ich bin schon länger eingetragenes Parteimitglied als der Premierminister. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren.«

Er schickte Koomki seiner Wege und trat einen Schritt zurück. Ein wenig Gymnastik vor dem Frühstück tat doch immer wieder gut. Siri lachte und atmete die Morgenluft tief ein. In Vientiane war es friedlich wie noch nie. Die einzigen Störgeräusche drangen vom anderen Flussufer herüber: Motorräder und Kassettenrekorder, Lautsprecherwagen, die für Plastikeimer und Süßkartoffeln die Werbetrommel rührten. Irgendwo brüllte ein Mann seine Frau an und ließ seine laotischen Brüder und Schwestern bereitwillig an seinen häuslichen Zwistigkeiten teilhaben. Ruhe und Frieden waren so ziemlich das Letzte, was man den Thais nachsagen konnte. Ihre Radios und Fernseher kannten nur zwei Einstellungen: aus und laut.

Madame Daeng schob ihren Karren auf den Gehsteig, trat neben Siri und schlang ihm den Arm um die Hüften. Ein Weilchen sonnten sie sich schweigend in ihrem gemeinsamen Triumph.

»Armer Kerl«, sagte sie schließlich.

»Er oder ich?«

»Genosse Koomki. Ich brauche dir wohl kaum zu erklären, dass es wahrscheinlich keine gute Idee war, so mit ihm umzuspringen.«

»Gute Idee? Der Knabe kreuzt samstagmorgens um sechs hier auf und spioniert mir nach, um herauszukriegen, ob ich einen Pyjama trage oder nicht …?«

»Ich weiß.«

»Wozu ist dieses Land verkommen? Wir haben im Dschungel doch nicht dreißig Jahre lang gekreißt, um am Ende einen solchen Wechselbalg zur Welt zu bringen.«

»Ich weiß.«

»Dieser verfluchte kleine Bürokrat mit seinem Klemmbrett und seinen Listen. Wenn er einen halben Meter größer wäre, hätte ich ihm einen rechten Haken verpasst, der sich gewaschen hat.« Er demonstrierte ihr seinen rechten Haken, und sie befühlte seine Muskeln. »Wenn nicht sogar eine klassische Eins-zwei-Kombination.«

»Mein Held.«

Sie sahen dem strömungsresistenten Fischer zu, bis dieser den Kopf wandte und ihnen winkte. Sie winkten zurück.

»Aber du hast recht. Es war vermutlich keine gute Idee«, räumte Siri ein und dachte an seine zahllosen Auseinandersetzungen mit Staatsbeamten.

»Vermutlich nicht. Wusstest du, dass du unter deinem Dach Damen von zweifelhaftem Ruf beherbergst?«

»Er meint wahrscheinlich Frau Fahs Nichten.«

»Hat sie denn nicht erwähnt, in welchem Gewerbe sie früher tätig waren?«

»Sie hat nur gesagt, die beiden seien vor Kurzem von den Inseln zurückgekehrt. Ich dachte, sie wären in Urlaub gewesen.«

»Sie meinte wohl eher die Gefangenenlager im Stausee. Aber wenn sie entlassen wurden, heißt das, sie haben ihre Strafe abgesessen. Und wenn sie tatsächlich mit lauter Schwerverbrechern auf Dan Nong eingepfercht gewesen sind, war das mit Sicherheit kein Zuckerschlecken. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen können, ist ein naseweiser Funktionär, der ihnen das Leben schwer macht.«

»Wer braucht das schon? Wenn man Frau Fah glauben darf, haben die beiden ihre Männer an den Krieg und ihre Kinder an Krankheiten verloren. Sie haben sich ein Quäntchen Glück redlich verdient.«

»Na, immerhin sind sie einem netten älteren Herrn begegnet, der sie von der Straße geholt hat. Und was ist mit deinem Mönch?«

»Genosse Noo? Er hat gut daran getan, den Mund zu halten. Wenn sie dahintergekommen wären, dass er ein Thai ist, hätte die Einwanderungsbehörde sich ihn umgehend geschnappt, und wir hätten ihn nie wiedergesehen.«

»In deinem Haus scheint es ja drunter und drüber zu gehen.«

»Sieht ganz so aus. Seit Schwester Dtui und ich in unsere jeweiligen Liebesnester entfleucht sind, habe ich ein wenig den Überblick verloren. Vielleicht sollte ich morgen mal vorbeischauen und eine kleine Volkszählung vornehmen.«

»Nimmst du mich mit? Bei dir zu Hause gibt es immer was zu lachen. Da komme ich mir ausnahmsweise einmal vor wie ein normaler Mensch.«

Phan konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er »alles« hatte, wovon andere Männer träumten: einen festen Job, der es ihm ermöglichte, kreuz und quer durchs Land zu reisen, diverse Ausweispapiere, die auf verschiedene Namen lauteten, und nicht zuletzt eine äußere Erscheinung, die naive Bauernmädchen interessant fanden. Den Lastwagen nicht zu vergessen. Wer in Laos einen Lastwagen besaß, der machte etwas her. Mit seinem doppelt verstärkten Chassis und dem grollenden chinesischen Motor strahlte der Laster Macht und Einfluss aus. Er gehörte ihm zwar nicht, aber das brauchte niemand zu wissen. Ein Dienstwagen war schließlich auch nicht zu verachten. Es gefiel ihm, wie sie ihm nachsahen, wenn er vorbeifuhr, die dummen Landpomeranzen, die auf ihren Veranden saßen und darauf warteten, dass das Leben des Weges kam und sie zum Einsteigen aufforderte. Wenn er denn tatsächlich einmal anhielt, drehten sie vor lauter Glück fast Pirouetten, sodass sie um ein Haar mit dem Gesicht voran im Dreck gelandet wären.

Macht und Einfluss waren ihm zu Kopf gestiegen. Es ging ihm nicht nur darum, sie ins Bett zu kriegen; das war kein Problem. Manchmal dienten die Mütter ihm ihre Töchter sogar an, damit er sie auf eine »Probefahrt« mitnahm. Nein, ihm ging es um die Gewissheit, dass er ein anständiges Mädchen – rein, unbefleckt und für den Richtigen bestimmt – mühelos umgarnen, ihre Familie bezirzen, seine scheinbare Zuneigung zur Schau stellen und sich als gute Partie verkaufen konnte.

Sein Rekord lag bei fünf Tagen: die platonische Verführung, Abendessen mit den Eltern, Vorlage von Bankauszügen und Referenzen, ein Abstecher aufs Standesamt in der nahe gelegenen Kreisstadt – und all das in nicht einmal einer Woche. Es erstaunte ihn nach wie vor, wie schnell er sie um den Finger gewickelt hatte. Die Heiratsurkunde bestätigte, dass sie ihm gehörte. Jetzt brauchte er ihr nur noch die Jungfräulichkeit zu nehmen – und dann das Leben. Konnte man irgendwo sonst auf der Welt einen Menschen in so kurzer Zeit zu seinem Privateigentum machen? Wer weiß? Vielleicht gab es ja irgendein gottverlassenes Kaff in Afrika oder Südamerika, wo die Eltern so versessen darauf waren, ihr Töchterlein unter die Haube zu bringen, dass sie bereitwillig über kleine Ungereimtheiten hinwegsahen. Die Zeiten waren hart. »Die Gelegenheit war günstig«, pflegten sie zu sagen. »Ein netter Bursche aus der Stadt hat sich in sie verliebt. Aber er war nur vier Wochen in der Gegend, dann war seine Arbeit hier beendet. So eine Chance konnten wir uns doch nicht entgehen lassen, oder?« Alles, was sie sich für ihre Tochter wünschten, war ein rechtschaffener, finanziell gesicherter Verehrer, der über feine Manieren, ein halbwegs ansprechendes Äußeres und gute Kontakte zur Partei verfügte … ach, und ein Lastwagen konnte natürlich auch nicht schaden.

Alles, was er brauchte, war Schönheit, Unschuld … und ein langer, schlanker Hals, um den er seine Hände schließen konnte.

Er kam aus dem Haus des Dorfvorstehers, der ihm eine Matratze für die Nacht überlassen hatte. Die Sonne versank hinter den rötlich-grauen Bergen, die Insekten feierten ihre abendliche Messe, und ihr monotoner Singsang hallte durchs Tal. Ein Pinienhain drängte sich um die kleine Ansammlung wellblechbedachter Baracken aus Bambus und Elefantengras. Die meisten Hütten waren von einem aus Zweigen gefertigten Zaun umsäumt, um den sich prächtige Bougainvilleen und zartblaue Winden rankten. Es gab dem Ort etwas Pittoreskes, das Phan abscheulich fand.

Auf seinem Dienstplan war dieses Nest als Stadt verzeichnet. Er war herumgekommen in der Welt und wusste, wie eine Stadt auszusehen hatte. Dass der Ort an einer Provinzhauptstraße lag, spielte in seinen Augen nicht die geringste Rolle. Dorf blieb Dorf. Selbst einige Provinzhauptstädte waren im Grunde wenig mehr als Dörfer: riesige, verstreut liegende, heruntergekommene Dörfer, mit dem einen oder anderen Betonblock dazwischen. Dörfer voller ignoranter, unangenehmer Menschen, die die schönen Dinge des Lebens nicht zu schätzen wussten.

Er nickte den Bewohnern freundlich zu, blieb hin und wieder stehen, um ein wenig zu plaudern und beiläufig zu erwähnen, weshalb er hier war. In einem Nest wie diesem würde die Nachricht noch vor dem Abendessen die Runde machen. Nachdem er zwanzig Minuten lang mit den Händen in den Taschen umhergeschlendert war, hatte er den Ortsrand erreicht. Hier gab es weiter nichts als einen Trampelpfad, der in den Wald führte. Er setzte sich an einen uringelben Teich, wo ein spindeldürrer Kranich auf einem Bein balancierte und ihn unverwandt anstarrte. Im Gras zu seinen Füßen hockte eine Kröte. Er schob ihr die Schuhspitze unter den aufgeblähten Bauch und katapultierte sie in hohem Bogen ins Wasser.

Wie jeder geduldige Jäger weiß, braucht man nur eine Weile still zu sitzen, und die Beute kommt von ganz allein. Phan war noch keine zehn Minuten auf seinem Posten, als er plötzlich die Stimmen von Kindern hörte, die den Trampelpfad heraufkamen. Durch das Schilf erkannte er etwa ein Dutzend Hemden in verschiedenen Weißtönen. Die Kinder verschwanden im langen Schatten des Berges, tauchten kurz darauf wieder auf und tollten lachend im letzten Sonnenlicht umher. Begleitet wurden sie von der perfekten Frau. Sie hatte einen Stapel Bücher auf dem Arm: vermutlich eine Lehrerin, die mit ihren Schäfchen aus der Schule kam. Sie war schlank und hatte dennoch volle Brüste. Ihre Hinterbacken waren so prall und rund, dass ihr phasin unterhalb der Gürtellinie einen Spaltbreit auseinanderklaffte. Es gab nichts Schlimmeres als eine Frau ohne Arsch. Und ihr Gesicht erst! Ah, ihr Gesicht war makellos, weder Pigmentflecken noch Muttermale, Aknenarben oder gar strähnige Koteletten. Genau seine Kragenweite. Obwohl seine letzten Flitterwochen noch nicht allzu lange zurücklagen, hatte er nicht die Absicht, eine Pause einzulegen. Er war unersättlich.

Als ein kleines Mädchen ihn allein am Teich sitzen sah, knuffte es seine Spielkameradin in die Seite. Bald waren aller Augen auf ihn gerichtet, auch die der jungen Lehrerin. Fremde bekam man hier nur selten zu Gesicht, und ein gepflegter, gut gekleideter Fremder war wie ein Wesen von einem anderen Stern. Die Kinder blieben stehen, starrten ihn an und wurden von ihrer Lehrerin dafür getadelt.

»Benehmt euch, Kinder. Wir sind hier nicht im Zoo«, sagte sie.

Sie bedachte den Fremden mit einem entschuldigenden Nicken und trieb ihre Herde zusammen. Er wusste, dass sie sich noch einmal umsehen würde. Und ihr Blick würde ihm verraten, ob sie ledig oder verheiratet war. Eine verheiratete Frau strotzte im Allgemeinen vor Selbstbewusstsein, weil es ihr gelungen war, sich einen Mann zu angeln und ihn unter ihre Knute zu zwingen. War eine Frau erst einmal defloriert, wurde sie automatisch zur Schlampe, befleckt, unrein, leichte Beute. Eine gemeine Ehehure hätte sich mit einem schamlosen, auffordernden Lächeln zu ihm umgedreht.

Er wartete. In letzter Sekunde wandte sie sich um. Es war ein flüchtiger, fast zufälliger Blick. Als er ihn erwiderte, lief sie vor Scham rot an. Sie beschleunigte ihre Schritte, bis die Vegetation links und rechts des Trampelpfades sie verschlungen hatte. Aber das war genug. Mehr als genug. Sie gehörte ihm.

Unersättlich und unwiderstehlich.

Als Dr. Siri um Viertel nach acht in der Mahosot-Klinik eintraf, lag ein schlafender Hund auf seinem Parkplatz. Musste sich das Vieh denn ausgerechnet heute ausgerechnet hier breitmachen? Es war der einzige Platz, dem ein Baum des Schüchternen Verlangens zur heißesten Tageszeit ein wenig Schatten spendete, und Siri hatte sein Revier mit einer entschärften Landmine markiert, die seine Initialen trug. Ringsum gab es zwanzig andere leere Parkplätze, auf denen er hätte schlafen können, doch der Hund ging offenbar nach denselben Kriterien vor wie der Doktor. Siri hupte. Nichts. Er rückte dem Köter mit dem Vorderreifen auf den Pelz. Keine Reaktion. Er spielte mit dem Gedanken, das Tier einfach zu überfahren, als der Hund plötzlich den Kopf hob und ihn ansah. Seine Augen waren hepatitisgelb, ohne sichtbare Iris.

»Saloop?«

Zu Lebzeiten war Saloop Siris Hund gewesen. Oder, besser: war Siri Saloops Mensch gewesen. Der Hund hatte Siri nicht nur adoptiert, sondern ihm obendrein das Leben gerettet. Er hatte zum festen Inventar des Bungalows in That Luang gehört, bis ein Nachbar ihm mit einer Gartenschaufel kaltblütig den Schädel eingeschlagen hatte.

Der Doktor war erstaunt, aber keineswegs erschrocken, ihm hier zu begegnen. Er hatte schon Schlimmeres gesehen. Er unterhielt eine zwiespältige Beziehung zur Geisterwelt. Zu Siris Verdruss beherbergte sein greiser Körper die Seele von Yeh Ming, einem tausendjährigen Hmong-Schamanen. Wie es schien, hatte sich der Geist nach zähen Verhandlungen mit Siris Vater in ihm eingenistet. Siri war damals noch zu klein gewesen, um sich dessen entsinnen zu können. Sein Vater hatte offenbar wenig Wert darauf gelegt, in Siris Kindheitserinnerungen eine tragende Rolle zu spielen. Solange Siri denken konnte, hatten seine verstorbenen Patienten ihn im Traum besucht. Im Lauf der vergangenen zwei Jahre waren diese Geister seinem Unbewussten entschlüpft und suchten ihn auch im Wachzustand heim. Doch davon ließ er sich nicht schrecken.

Wäre er etwas intelligenter oder ein besserer Detektiv gewesen, hätte er sicherlich deuten können, was sie ihn schauen ließen, davon war Siri überzeugt. Oftmals kam ihm die Erleuchtung erst, lange nachdem er das Rätsel mit Hilfe weitaus konventionellerer, weltlicher Methoden entschlüsselt hatte. Seine inzwischen leicht deformierte Denkerstirn war permanent mit blauen Flecken übersät, weil er sich ständig vor den Kopf schlug, wenn er endlich begriff, was ihm die Geister hatten sagen wollen. Vielleicht lag es an seiner Unzulänglichkeit als Seelenwirt, dass er bislang mit nur drei Personen über dieses sein Gebrechen gesprochen hatte: mit seiner Laborassistentin Schwester Dtui, seinem besten Freund Civilai und seiner Frau Madame Daeng. Alles in allem hatten sie es eigentlich recht gut aufgenommen. Inspektor Phosy vom Zentralen Nachrichtendienst hingegen war allein kraft seines polizeilichen Spürsinns zu dem Schluss gelangt, dass bei Siri ein paar Schrauben locker saßen. Einer guten Geistergeschichte war allerdings auch er nicht abgeneigt.

Siri hatte gelernt, sich von diesen nächtlichen Besuchern nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Bisweilen trotzte er Albträumen wie ein erfahrener Schwimmer, der wusste, dass er wohlbehalten ans Ufer gelangen würde. Es gab bösartige Geister wie die Phibob aus dem Wald, die es auf Yeh Mings Seele abgesehen hatten. Sie umschwirrten ihn wie rachsüchtige Wespen, die auf einen schwachen Moment lauerten, in dem sie zustechen konnten. Ohne das heilige Amulett um seinen Hals wäre Siri wohl kein zweites Eheglück beschieden gewesen. Aber die meisten Geister waren harmlos.

Siri setzte sich auf den Sattel seiner Triumph und sah Saloop kopfschüttelnd dabei zu, wie er die toten Beine ausstreckte und sich schwerfällig hochhievte. Der Wissenschaftler in ihm fragte sich, was aus seinem inneren Zyniker geworden war. Er hatte sich lästernd durch die Tempelschule laviert, der Jungfrau Maria während seines Studiums in Paris eine philosophische Nase gedreht und sich nach der Rückkehr in seine asiatische Heimat über Schamanen und Wahrsager lustig gemacht. Vielleicht wollten sie auf diese Weise Vergeltung üben: indem sie ihm einen toten Köter sandten, der sich nach seiner Gesundheit erkundigte.

»Na, wie geht’s, alter Junge?«, fragte er.

Wie nicht anders zu erwarten, hatte Saloop bei seinem Dahinscheiden auch sein sprühendes, schwanzwedelndes Temperament eingebüßt. Er scharrte lustlos mit den Pfoten und sabberte giftgrüne Galle. Dann kletterte er über die bröcklige Backsteinmauer in den Gemüsegarten und begann zu graben. Ein Filmemacher hätte seine liebe Mühe gehabt, diese Szene mit der Kamera einzufangen, dachte Siri. Zwar buddelte Saloop zweifellos ein tiefes Loch, doch blieb die Erde unversehrt. Schließlich verschwand der Hund in der imaginären Grube, tauchte mit einem Knochen im Maul wieder auf und kam auf Siri zu.

Hinter dem Doktor schrillte eine Fahrradklingel, und als Siri den Kopf wandte, sah er Dr. Mut, den Urologen, der zu seinem Parkplatz zu gelangen versuchte. Als er sich wieder umdrehte, waren der Hund, der Knochen und das nicht vorhandene Loch verschwunden.

Siri betrat die Pathologie und stellte mit Erstaunen fest, dass Schwester Dtui und sein Sektionsassistent Herr Geung schon bei der Arbeit waren. Ihre Stimmen drangen aus dem Schneideraum, und so warf Siri seine Umhängetasche auf den Schreibtisch und gesellte sich zu ihnen. Die beiden standen links und rechts von einer Leiche. Sie war vermutlich eingeliefert worden, während er sich mit dem Hund beschäftigt hatte. Er war bis acht Uhr abends hier gewesen, und da es gegen das Gesetz verstieß, in Vientiane außerhalb der Bürozeiten das Zeitliche zu segnen, konnte diese Leiche frühestens heute Morgen um acht gekommen sein. Die Tabakblätter, in die sie gehüllt gewesen war, lagen auf dem Boden unter dem Tisch.

»Hallo, werte Kollegen«, sagte Siri lächelnd.

»G… gu… guten Morgen, Genosse Doktor«, stammelte Geung. Obwohl er es unzählige Male versucht hatte, war es ihm noch nie gelungen, den Gruß in einem Atemzug herauszubringen. Das Down-Syndrom war eine Qual.

»Herr Geung, was haben Sie denn mit Ihren Haaren angestellt?«, fragte er. »Sie sehen ja aus wie …«

»Wie Elvis?«, fiel Dtui ihm ins Wort. Ihre erste Schwangerschaft hatte die ohnehin recht voluminöse junge Frau auf den doppelten Umfang anschwellen lassen. Sie war ein Mädchen vom Lande; sie hatte im unruhigen Nordosten das Licht der Welt erblickt und ihr Lebtag noch keinen Ozean überquert. Dafür hatte sie die Nase jahrelang in thailändische Pop-Magazine gesteckt und war mit der Welt vertraut – oder doch wenigstens mit deren relevanten Teilen. Der Doktor wiederum war ein ausgesprochener Filmliebhaber und kannte Elvis aus Jailhouse Rock und G. I. Blues.

»Ich dachte eigentlich eher an eine Bergziege«, gestand er. »Was haben Sie mit ihm gemacht?«

»Das ist eine Schmalzstul… stul… Wie heißt das, Dtui?«, fragte Geung.

»Schmalztolle, Schätzchen«, half sie ihm auf die Sprünge. »Das ist unser neuer Look. Ich war es leid, ständig auf seinen fettigen Mittelscheitel starren zu müssen, also habe ich ihn modisch ein bisschen aufgepeppt. Ich bin extra etwas früher gekommen und habe ihm die Haare gewaschen und geschnitten. Ich finde, er sieht super aus.«

»Ein B… B… Bild von einem Mann«, verkündete Geung.

»Unwiderstehlich. Da kann man nur hoffen, dass keine liebestolle Geiß des Weges kommt«, sagte Siri. »Also, wer liegt an?« Erst als er einen Schritt zurücktrat, fiel ihm auf, wie wunderschön der nackte Leichnam war. Die Geschmäcker waren natürlich verschieden, dennoch konnten die meisten Mädchen von der Figur dieser jungen Frau nur träumen. Sie musste etwa siebzehn sein und hatte kein Gramm Fett zu viel auf den nahezu perfekt geformten Knochen.

»Name unbekannt«, sagte Dtui.

»Wer hat sie eingeliefert?«, fragte er.

»Ein Dorfvorsteher und ein Mann vom Zentralkomitee in Vang Vieng. Sie haben gesagt, die Leiche wäre gestern Morgen gefunden worden. Sie schienen es sehr eilig zu haben, sie hierherzubringen. Sie sind die ganze Nacht durchgefahren.«

»Wie und wo wurde sie entdeckt?«

»Das wollten sie mir nicht verraten. Sie wirkten regelrecht schockiert, als ich sie danach fragte. Der Kader hat mir einen versiegelten Umschlag für Sie gegeben. Er liegt auf Ihrem Schreibtisch. Der Inhalt ist offenbar nichts für höhere Töchter.«

»Ich mache mich jetzt fertig und werfe dann einen Blick darauf. Wo sind die Kleider der Frau?«

»Sie ist so hereingekommen. Um den Geruch zu kaschieren, hatten die beiden sie in Tabakblätter gewickelt.«

Sofort läuteten bei Siri sämtliche Alarmglocken. Wenn eine junge Frau nackt aufgefunden wurde, deutete das auf eine Vergewaltigung hin. Das war Männern vom Land Grund genug, Dtui diese Information vorzuenthalten. Doch nachdem er den Brief gelesen hatte, wurde ihm klar, dass dies kein gewöhnlicher Todesfall war. Ein Jäger hatte im Wald kampiert und spätnachts einen Lastwagen gehört. Bei Sonnenaufgang war er dem nachgegangen und dabei auf das Opfer gestoßen. Sie war mit einem Band an einen Baum gebunden. Ihre Arme und Beine schlangen sich um den Stamm. Dahinter steckte weit mehr als bloßes Gewaltverbrechen. Als Siri in den Sektionssaal zurückkam, hatten Dtui und Geung Schürze und Maske angelegt. Die launische Klimaanlage am anderen Ende des Schneideraums fauchte wütend vor sich hin. Siri reichte Dtui den Brief. In der Pathologie der Mahosot-Klinik gab es keine Geheimnisse. Er sah ihr an, dass die Lektüre sie beunruhigte.

»Meine Vorfreude hält sich in Grenzen«, gestand sie.

Hätte Inspektor Phosy sie nicht geschwängert, hätte Dtui jetzt im Ostblock Medizin studiert, damit sie eines Tages Siris Nachfolge antreten konnte. Darum überließ Siri ihr wie üblich die äußere Leichenschau.

»Ich wollt’, er wäre mein«, zitierte sie mit einem neidvollen Blick auf den nackten Leib der jungen Frau.

Geung machte eine wegwerfende Handbewegung. »P… P… Papperlapapp. Männer mögen d… d… dicke Frauen«, sagte er.

»Können wir jetzt anfangen?«, sagte Siri unwirsch, obgleich er wusste, dass sie mit ihrer Bemerkung nur ihr Unbehagen hatte überspielen wollen.

»’tschuldigung, Doc.«

Siri setzte sich mit verschränkten Armen auf einen Hocker. »Gut. Was sehen Sie?«, fragte er.

»Da der Leichnam keine Spuren von Insekten- oder postmortalem Tierfraß aufweist, kann die Frau noch nicht allzu lange tot gewesen sein, als sie gefunden wurde.« Dtui trat an den Tisch und berührte den Hals des Opfers. »Die Todesursache war Erdrosseln.«

»Woran erkennen Sie das?«, fragte Siri.

»An den Blutunterlaufungen im Halsbereich.« Sie machte die Fingerprobe. »Wahrscheinlich ist das Zungenbein gebrochen.«

»Ganz Ihrer Meinung.« Siri nickte. »Der Täter?«

»Ein Mann. Mit riesigen Händen. Der Daumenabdruck ist doppelt so groß wie meiner.«

»Irgendwelche Abwehrverletzungen?«

»Eigentlich nicht. Aber sie hatte ja auch praktisch keine Fingernägel. Sie sind bis aufs Nagelbett heruntergeschnitten. Selbst wenn sie versucht hätte, sich aus der Umklammerung zu befreien, hätten sie keine Kratzspuren hinterlassen. Abgesehen von den Würgemalen, sehe ich weiter keine Quetschungen oder dergleichen.«

»Ganz Ihrer Meinung«, sagte Herr Geung und strich sich die Haare aus den Augen.

Siri lächelte. »Danke, Dr. Geung.« Geungs Gelächter hellte die düstere Stimmung im Saal ein wenig auf.

Dtui zog das dichte Haar des Mädchens nach hinten und inspizierte die Kopfhaut. »Keine Kopfverletzungen, ein kleines Muttermal unterhalb des Haaransatzes über dem Ohr.« Sie nahm den Rest des Körpers in Augenschein. »Einer ihrer Finger ist gebrochen«, fuhr sie fort, »aber da kein Bluterguss vorliegt, ist die Fraktur vermutlich erst nach Eintritt des Todes entstanden. Eventuell beim Transport der Leiche.« Sie beugte sich über die dicht mit dunklem Haar bewachsene Scham und bat die Tote mit einem höflichen nop um Verzeihung, bevor sie die Untersuchung fortsetzte. »Keine äußeren Anzeichen einer Blutung oder Blutergüsse im Vaginalbereich. Dem Himmel sei Dank.«

Sie trat ans Fußende des Tisches und betrachtete die Füße des Mädchens. »Eins kapiere ich nicht«, sagte sie. »Sehen Sie sich ihre blasse Haut an. Sie ist wunderschön. Keine Pigmentflecken, keine Schönheitsfehler. Sie ist ganz weiß, fast opak, gerade so als hätte sie an Vitaminmangel gelitten. Sie sieht aus wie eine Reklame für Camay-Seife. Und dann das.«

Die Füße und Fesseln des Mädchens waren verfärbt und zerschunden. Es sah aus, als trüge sie schmutzig-braune Socken. Die Haut war von der Sonne rostrot verbrannt, die Zehennägel hingegen sahen aus wie gebleicht, fast rosig, und die Fußsohlen waren runzlig und weich wie Tofu. Siri stand auf, um sie sich aus der Nähe anzusehen.

»Sie haben recht«, sagte er. »Höchst sonderbar.«

»Irgendeine Ahnung, wie es dazu gekommen sein könnte?«

»Keinen Schimmer. Sehen Sie sonst noch etwas?«

»Nun ja« – Dtui wandte sich wieder den Händen des Mädchens zu –, »es ist nicht ganz so spektakulär wie die Füße, aber schauen Sie sich das an.«

Sie hob einen Arm des Mädchens an. Der Handrücken war ebenso makellos wie der Rest ihres Körpers, doch der Handteller war eine einzige Ansammlung von Schwielen und Blasen. Die Haut war dick und rau wie die Schale einer Pomelo.

»Auch das ist sonderbar«, bekräftigte Siri. »Bislang ist diese junge Dame quasi ein Kompendium von Widersprüchen. Fallen Ihnen irgendwelche Unstimmigkeiten auf, wenn Sie die Leiche mit dem Bericht des Kaders vergleichen?«

Dtui warf einen zweiten Blick auf den Brief, aber ihr sprang nichts ins Auge.

»Nein«, gestand sie.

»Das Band?«, half Siri ihr auf die Sprünge.

»Nein, ich … Moment!« Wieder nahm sie die Hand des Mädchens. Sie ärgerte sich über sich selbst, weil es ihr nicht gleich aufgefallen war. »Keine Striemen an den Handgelenken«, sagte sie.

»Woraus folgt …?«

»Dass sie gefesselt wurde, als sie bewusstlos war oder nachdem sie den Widerstand aufgegeben hatte.«

»Oder?«

»Oder dass er sie erst gefesselt hat, als sie schon tot war.«

»Dann wollen wir doch mal sehen, ob sie nicht noch mehr Geheimnisse birgt.«

Die Obduktion verlief wie immer, auch wenn Siri wenig Neigung verspürte, eine so schöne junge Frau mit dem Skalpell zu schänden. Sie hatte sich bester Gesundheit erfreut. Siri schloss auf eine zucker- beziehungsweise stärkearme Ernährung mit reichlich Obst. Fotos ihrer Lunge und ihrer Leber hätten ohne Weiteres ein Lehrbuch zieren können.

Bis hierher hatte es sich um einen Fall von Strangulation gehandelt, ein ebenso schlichtes wie grausames Verbrechen, das nicht besonders schwer zu diagnostizieren war. Nur: Morde durch Erdrosseln waren in Laos fast gänzlich unbekannt. Die wenigsten Laoten hätten es über sich gebracht, mit bloßen Händen einen Menschen zu töten. Sie vermieden die Berührung mit einem Körper, aus dem das Leben wich, aus Angst, dass der Geist des Verstorbenen in sie fahren und sie bis ans Ende ihrer Tage quälen könnte. Siri und seine beiden Assistenten waren in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Um einem anderen Menschen buchstäblich das Leben aus dem Leib zu quetschen, musste der Täter ein besonders abscheuliches Monstrum sein. Doch noch ahnte Siri nicht, wie böse der Mörder des Mädchens wirklich war.

Da sie einen sexuellen Übergriff zwar vermutet, im Schambereich aber keinerlei Blut gefunden hatten, waren sie diesem Verdacht zunächst nicht weiter nachgegangen. Leider verfügten sie nicht über die nötigen Gerätschaften, um die Leiche auf Samenspuren zu untersuchen, trotzdem musste Siri selbstverständlich Proben nehmen. Schon beim ersten Blick auf die Vagina bemerkte er, dass Vorhof und Öffnung sorgfältig gereinigt worden waren. Er hob den Kopf und schaute Dtui an, die unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Im Scheidenkanal entdeckte er Spuren eines schweren Traumas, Anzeichen dafür, dass das Hymen vor Kurzem gewaltsam zerrissen worden war, und dann …

Siri hörte sich nach Luft schnappen. Als er aufblickte, sah er, wie Dtui sich die Hand vor den Mund schlug und panisch die Flucht ergriff. Herr Geung war standhaft geblieben, doch er hatte Tränen in den Augen. Ungläubig starrten Siri und er auf das tote Mädchen. Tief in ihrer Vagina steckte ein Stößel aus schwarzem Stein. Als der Täter ihn eingeführt hatte, war das Mädchen vermutlich noch am Leben gewesen. Geung brach das Schweigen in der Pathologie und fing hemmungslos an zu schluchzen. »Das ist g… g… gar nicht gut.«

»Ja, Geung. Das ist in der Tat nicht gut.«

Weder seine Stimme noch seine hellgrünen Augen verrieten, was in Siri vorging, doch in seinen Eingeweiden rumorte ohnmächtige Wut. Er gelobte feierlich, diese Erde nicht eher zu verlassen, als bis das Scheusal, das dieses schreckliche Verbrechen begangen hatte, gefasst und seiner gerechten Strafe zugeführt war. Dieser Tod war nicht die unvermeidliche Folge einer kriegerischen Handlung, die der Auslöschung des Feindes diente. Nein, hier handelte es sich um die grausame, sadistische Schändung einer schönen jungen Frau, aus Gründen, die ein ehemaliger Soldat, eine Krankenschwester oder ein Pathologe wider Willen nicht einmal ansatzweise nachvollziehen konnten.

Als Dtui zurückkam, waren ihre zornigen Augen blutunterlaufen und ihre Wangen feucht. Es hatte ihr die Sprache verschlagen. Sie setzte eine frische OP-Maske auf und trat an den Sektionstisch. Siri hatte den Stößel entfernt und legte ihn auf ein Tablett aus rostfreiem Stahl.

»Wir müssen uns den Mageninhalt ansehen«, sagte er. »Der Täter muss das Mädchen irgendwie betäubt haben. Da sich weder an den Schenkeln noch an den Schamlippen Blutergüsse oder Abschürfungen befinden, hat sie vermutlich keinen Widerstand geleistet. Das heißt, sie war entweder bewusstlos oder gelähmt und somit außerstande, sich zur Wehr zu setzen. In Anbetracht der Umstände des Verbrechens würde ich …«

Dtui schleuderte das Skalpell zu Boden.

»Wie können Sie nur so ruhig bleiben?«, brüllte sie.

Geung schrak zusammen. Dtui ging auf den Doktor los und versetzte ihm einen Stoß gegen die Brust. »Kennen Sie eigentlich überhaupt keine Gefühle? Hören Sie gefälligst auf, sie zu behandeln wie …« Ein Schluchzen blieb ihr im Halse stecken. »Wie ein Stück Fleisch.«

Die Tränen überwältigten sie. Siri wollte sie trösten, doch Geung trat dazwischen und streckte die Hand nach seiner Freundin aus. Sie schlug auf ihn ein, und obwohl sie sich mit Händen und Füßen dagegen sträubte, gelang es ihm, seine starken Arme um sie zu schlingen und sie an sich zu drücken, bis ihr Kampfeswille erloschen war und ihr Schluchzen schließlich verebbte.

2Bo Ben Nyang

Trotz der Hitze nahmen sie ihr samstägliches Mittagessen unter freiem Himmel ein, am Ufer des träge dahinfließenden Mekong. Genosse Civilai hatte selbstgebackene Baguettes mitgebracht. Seit seiner Pensionierung verbrachte Civilai einen Großteil seiner Freizeit in der Küche. Als ehemaliges Politbüromitglied hatte er sein Haus in dem alten amerikanischen Militärkomplex bei Kilometer 6 behalten dürfen, samt dem darin befindlichen Gasofen. Civilai buk mit derselben Begeisterung, mit der ein Schwein sich im Schlamm suhlt. Sein wachsender Bauchumfang legte anschaulich Zeugnis ab von seinen kulinarischen Experimenten. Während das gemeine Volk morgens nicht selten einen leeren Markt vorfand, mangelte es hochrangigen Parteigenossen mitnichten an den nötigen Zutaten. Selbst Civilais großer, kahler Schädel schien zugenommen zu haben. Er gab freimütig zu, dass seine Baguettes sich im Vergleich mit denen der alten Tante Lah hinter der Moschee bescheiden ausnahmen, doch allmählich hatte er den Bogen heraus, und Siri diente ihm als offizieller Vorkoster.

»Na, wie schmeckt’s?«, fragte Civilai, während er zusah, wie sein bester Freund sich an der krossen Kruste fast die Zähne ausbiss.

»Nicht ganz so sehr nach Baumrinde wie sonst«, lobte Siri.

Siri hatte mit dem Gedanken gespielt, seine Essensverabredung abzusagen. Die Obduktion des heutigen Vormittags steckte ihm noch immer in den Knochen. Seine Wut war keineswegs verflogen, aber er hatte gelernt, seine Gefühle für sich zu behalten, es sei denn, es diente der Aufklärung eines Falles. Die meisten Leute ließen sich problemlos täuschen, doch einem gerissenen Burschen wie Civilai konnte er so leicht nichts vormachen. Und vielleicht wusste sein Freund zu den gestrigen Vorfällen in Vang Vieng ja sogar den einen oder anderen klugen Gedanken beizusteuern.

»Also bitte, kleiner Bruder«, verteidigte sich Civilai. »Ich habe mich streng an Lahs Rezept gehalten. Ich musste sie mit einer halben Flasche Rum bestechen, um es ihr abzuluchsen.«

»Und das Ergebnis ist aller Ehren wert. Aber ein Rezept allein genügt nicht. Da spielen viele andere Faktoren eine Rolle: die Patina des Ofens, der Schweiß des Bäckers, die Erfahrung. Ein echtes Baguette ist gewissermaßen eine Zeitkapsel, in der jeder einzelne Schritt der Zubereitung enthalten ist.«

»Mit anderen Worten, es mundet dir nicht.«

»Das habe ich nicht gesagt. Ich finde es durchaus genießbar.«

»Du bist ein harter Brocken, Siri. Ich werde mich hüten, dich noch einmal nach deiner Meinung zu fragen, wenn du einen schlechten Tag hast.«

»Wie kommst du darauf, dass ich einen schlechten Tag habe?«

»Dein Gesicht ist ungefähr so lang wie der da.«

Er wies mit einem Nicken zum Mekong. Im März bot der Fluss einen jämmerlichen Anblick, wie eine große dreckige Pfütze, der ihr Bett ein paar Nummern zu groß war. Wie jedes Jahr hatten die Trockenzeitgärtner an den Ufern ihr Gemüse gepflanzt und ihre Parzellen mit Schnur und Papierstreifen markiert, die ihren Namen oder ihr Zeichen trugen. Weitere Sicherheitsvorkehrungen gab es nicht. Wenn jemand solchen Hunger litt, dass er gezwungen war, einen Kopf Salat zu stehlen, dann hatte er ihn redlich verdient.

»Du hast nicht zufällig etwas zu trinken in der Tasche?«

»Deinem Tonfall entnehme ich, dass du dabei nicht unbedingt an Chrysanthemensaft dachtest?«

»Etwas stärker darf’s schon sein.«

Civilai fischte einen Flachmann aus den Tiefen seines alten grünen Seesacks. Er schraubte den Verschluss ab, schnupperte daran und reichte Siri die Flasche.

»Das Zeug rinnt dir wahrscheinlich besser durch die Kehle, wenn du nicht weißt, was es ist.«

Siri trank einen Schluck und spürte, wie sich eine Handvoll brennender Reißzwecken in seine Leber bohrte.

»Autsch! Heiliger Vater des großen Buddha«, sagte er.

»Recht gehaltvoll, nicht?«

»Mit so etwas haben wir früher den Lack von den Panzern gebeizt.«

»Dann gib sie wieder her.«

»Kommt nicht in Frage.« Siri nahm einen zweiten Schluck.

So saßen sie ein Weilchen beieinander, beschworen die Fliegen, sie in Ruhe zu lassen, und bewunderten den Eifer einer Wasserratte, die fleißig Pilze in ihr Loch beförderte.

»Wie geht’s Dtui?«, fragte Civilai und überließ es Siri, ihm zu verraten, was er auf dem Herzen hatte.

»Ihrem Leibesumfang nach zu urteilen bringt sie in vier Wochen einen keinen Bulldozer zur Welt«, sagte Siri.

»Und die Ehe?«

»Die beiden machen einen zufriedenen Eindruck.«

»Ich meinte deine.«

»Meine?« Endlich ein beglückender Gedanke. »Ich hätte es gar nicht besser treffen können, großer Bruder. Ich hatte ganz vergessen, wie schön es ist, einer Frau beim Schlafen zuzusehen … wie sich ihre Brust bei jedem Atemzug sanft hebt und senkt.«

»Gemach, sonst schreibst du demnächst noch Gedichte.« Siri schwieg. »Oder hast du etwa …?«

»Nur ein ganz kurzes.«

»Du bist wie ich, Siri. Du kannst ohne eine Frau nicht sein. Schade nur, dass du dich mit der einen wirst begnügen müssen.«

»Der einen was?«

»Frau. Unsere Freunde oben am Kreisverkehr haben ein Gesetz gegen Polygamie verabschiedet. Da der gemeine Flachlandlaote bekanntlich schon mit einem Ehegespons heillos überfordert ist, geht es ihnen offenbar einzig und allein darum, den Bergvölkern einen neuerlichen Tritt in die Testikel zu verpassen.«

»Woher weißt du das alles?«

»Sie halten mich auf dem Laufenden. Einmal die Woche schicken sie mir einen Boten mit den neuesten Nachrichten aus dem Politbüro, einem Exemplar der Lao Huksat und einer langen Liste von Besprechungen und Konferenzen, die ich regelmäßig mit meiner Abwesenheit beehre. Möchtest du die Höhepunkte dieser Woche hören?«

»Nur zu, bring mich zum Lachen.«

»Am besten gefällt mir der Beschluss, dass künftig alle Geisterhäuser registriert werden müssen.«

»Von ihren Bewohnern?«

Civilai lachte. »Ach, und Verhütungsmittel sind ab sofort verboten … nicht, dass sich jemand welche leisten könnte. Wie es scheint, wollen sie für Familien mit mehr als drei Kindern die Reissteuer senken. Damit das Proletariat nicht ausstirbt.«