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Laos, 1981: Als Dr. Siri Paiboun ein Tagebuch zugesandt bekommt, das während des Zweiten Weltkriegs verfasst worden zu sein scheint, ist er fasziniert. Die angeheftete Notiz "Dr. Siri, wir brauchen dringend Ihre Hilfe" stellt ihn jedoch vor ein Rätsel: Wer ist "wir"? Siri beginnt umgehend, Nachforschungen anzustellen. Das Tagebuch stammt offenbar von einem Kamikaze-Piloten, ist dafür aber erstaunlich langweilig. Nur das abrupte Ende macht Siri Sorgen: Hat der Pilot seine Mission abgebrochen und ist noch am Leben? Und wobei soll Dr. Siri eigentlich helfen? Um das herauszufinden, müssen er und seine Gattin Madame Daeng einige dunkle Geheimnisse aus der Vergangenheit lüften.
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Seitenzahl: 352
Veröffentlichungsjahr: 2025
Colin Cotterill
Dr. Siri und der verschollene Bruchpilot
Dr. Siri ermittelt – Band 15
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Thomas Mohr
Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Delightful Life of a Suicide Pilot« bei Soho Press, Inc., New York.
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Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2025
Copyright © 2020 by Colin Cotterill
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München
Covermotive: FinePic®, München
Redaktion: Brigitte Helbling
LK · Herstellung: ik
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-30937-4V002
www.goldmann-verlag.de
Für ihren unschätzbaren Beitrag zur Recherche für diesen letzten Band der Dr. Siri-Reihe möchte ich meiner Frau und besten Freundin Kyoko danken, deren Quiche, nebenbei gesagt, unübertroffen ist. Für ihre Last-Minute-Lektüre der Rohfassung des Manuskripts danke ich Kirk, Robert, Lizzie, David, Rachel, Kate, Bob, Leila und Steve. Dank auch an Margaret und Charlie, deren Anregungen dieses Buch zu einem besseren gemacht haben. Wer sich eingehender mit der Welt der Yōkai befassen möchte, dem sei die fantastische Website yokai.com empfohlen. Und zum Dank für ihr jahrelanges Vertrauen in Dr. Siri und ihren grenzenlosen Enthusiasmus möchte ich dieses Buch der wunderbaren Belegschaft von Soho Press widmen, die mir stets das Gefühl gegeben hat, etwas Besonderes zu sein. Sayonara.
FORMULAR A223 – 79Q
AN:
Richter Haeng Sombounp. A. JustizministeriumDemokratische Volksrepublik Laos
VON:
Dr. Siri Paiboun
BETR.:
Amtlicher Leichenbeschauer
DATUM:
13.06.1976
LEBENSLAUF:
1904
Plus/minus ein Jahr – das nahm man seinerzeit nicht so genau. Geboren in der Provinz Khammouan, angeblich als Sohn Hmong-stämmiger Eltern. Ich selbst kann mich nicht daran erinnern.
1908
Ich werde zu einer bösen Tante abgeschoben, die mich …
1914
… der Obhut eines Tempels in Savannaketh und damit dem Wohlwollen des weisen Buddha überlässt.
1920
Abschluss der Tempelschule. Keine Glanzleistung.
1921
Die Buddha-Investition zahlt sich aus: Eine überaus großzügige französische Gönnerin schickt mich nach Paris, auf dass etwas aus mir werde. In Frankreich muss ich von Neuem die Schulbank drücken, um zu beweisen, dass ich mir meine Zensuren nicht ergaunert habe.
1928
Besuch der Ancienne faculté de médecine.
1931
In Paris eheliche ich Bouasawan und trete spaßeshalber in die Kommunistische Partei ein.
1934
Praktikum am Hôtel-Dieu-Krankenhaus. Ich beschließe, doch noch Arzt zu werden.
1939
Rückkehr nach Laos.
1940
Spiel, Spaß und Spannung im Dschungel von Laos und Vietnam. Ich flicke kaputte Soldaten wieder zusammen und versuche, dem Bombenhagel zu entgehen.
1975
Ich komme in der Hoffnung auf einen friedlichen Lebensabend nach Vientiane.
1976
Ich werde von der Partei zwangsrekrutiert und zum amtlichen Leichenbeschauer ernannt. (Bei dem Gedanken an die mir zuteilgewordene große Ehre vergieße ich nicht selten heiße Tränen.)
Hochachtungsvoll,Dr. Siri Paiboun
1 Jede Leiche hat eine Geschichte zu erzählen
2 Meine Freunde nennen mich Toshi
3 Kreatives Schreiben
4 Abenteuer Am Flussufer
5 Der Polinnenbeschäler
6 Wie riecht Sie?
7 Makin’ Woophi
8 Totalabsturz mit Orang-Utan
9 Das Kyoko-Protokoll
10 Geheuchelte Begeisterung
11 Lieber Genosse Pilot
12 Empirie
13 Ein liebenswerter Säufer
14 Füße lügen nicht
15 Der Liebestunnel
16 Wer wird denn gleich in die Luft gehen?
17 Yōkai
18 Major-Depressionen
19 Gegürtete Lenden
20 Die Beer-Krise
21 Eine Niederlage kann verwirrend sein
22 Grüße aus Ägypten
23 Schweigen ist Gold
1. Epilog:
2. Epilog:
Es gab einen Mythos. Keine schaurige Großstadtlegende, die kleine Kinder vor Angst das Bett einnässen ließ, aber etwas Verstörendes hatte er durchaus. Seine zweifelhafte Existenz verdankte er vermutlich der schelmischen Erzählkunst eines Arztes wie Siri Paiboun, des ehemaligen staatlichen Leichenbeschauers der Demokratischen Volksrepublik Laos, der dafür bekannt war, dass er die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit oft und gern verwischte. Der Mythos lautete in etwa so: Nach dem Tod eines Menschen wachsen seine Haare und Nägel auf rätselhafte Weise weiter. Jeder auch nur halbwegs kompetente Mediziner würde derlei mit einem Kichern abtun, doch so abseitig diese Geschichte auch sein mochte: Es gab Leute, die Stein und Bein schworen, dieses Phänomen mit eigenen Augen beobachtet zu haben. Und all die Zweifler und »Experten« hätten nur einmal den Schlüssel unter der Fußmatte der Pathologie der Mahosot-Klinik in Vientiane hervorholen, sich Zugang zum Schneideraum verschaffen, das einzige belegte Fach der Kühlkammer herausziehen und das Tuch zurückschlagen müssen. Dann hätten sie schon gesehen …
Das Haupthaar des Genossen Thinh war noch immer voll und kräftig, wenn auch für laotische Moralverhältnisse ein klein wenig zu lang. Seine Nasenhaare hingegen waren in eindrucksvollem Maß gewachsen, seit er das Zeitliche gesegnet hatte. Sie waren aktuell gut sechs Zentimeter lang. Herr Geung, der Laborassistent, hatte sie zu einem ordentlichen Schnäuzer gekämmt und nicht den geringsten Zweifel, dass über kurz oder lang ein Kinnbart daraus werden würde.
Der Genosse Thinh lag seit fast einer Woche in der Pathologie und kultivierte seine struppige Nasenpracht, während seine Frau und seine Geliebte sich darum stritten, wer seinen Leichnam mit nach Hause nehmen durfte. Zu seinem Glück war Thinh nicht mehr am Leben, denn die beiden Frauen waren verabscheuungswürdige Gestalten. Er hatte sich das Genick vermutlich nur gebrochen, um sie endgültig loszuwerden. Die Entscheidung lag gegenwärtig in den Händen eines eilig einberufenen Rates, bestehend aus Mitgliedern des vietnamesischen Zentralkomitees, selbstverständlich alles Männer. Dass die Frage von einem so hohen Gremium erörtert wurde, verdankte sich dem Rang und Ansehen des Verstorbenen und nicht zuletzt den potenziellen Folgen, die drohten, wenn er auf dem falschen Scheiterhaufen verbrannt wurde.
Offiziell hatte Dr. Siri mit der Pathologie nichts mehr zu tun. Er fristete sein Los inzwischen hinter dem Eingang der Nudelküche seiner Frau, wo er zwischen den Schichten an einem der hinteren Tische saß, Kaffee trank und die Nase in jedes Buch steckte, dessen er habhaft werden konnte. Seine illegale Bibliothek existierte schon seit Jahren nicht mehr, und 1981 war Laos auf der literarischen Weltkarte ein weißer Fleck. In der einzigen Buchhandlung des Landes gab es fünf laotische Übersetzungen von sowjetkommunistischem Blabla, ein Regal mit amtlichen Berichten und die letzten drei Jahrgänge des wöchentlich erscheinenden Parteiorgans Pasason Lao. Den Rest der Verkaufsfläche nahmen verstaubte Sportgeräte ein und ausgestopfte Exemplare vom Aussterben bedrohter Arten mit Murmeln statt Augen, denen der Schrecken jener letzten Jagd auf ewig ins Gesicht geschrieben stand.
Doch hat einen die Lesesucht erst einmal befallen, wird man sie so leicht nicht wieder los. Da weder Geld noch gute Worte einen Proust oder Victor Hugo nach Vientiane zu holen vermochten, las Siri das Protokoll der jüngsten ZK-Tagung und die Vorschläge für den nächsten Dreijahresplan zur Entwicklung und zum Aufbau der Nation. Und natürlich las er – zum x-ten Mal – das Drehbuch seines Filmes, der es niemals auf die große Leinwand schaffen würde. Er sehnte sich nach etwas Anregendem und Kreativem, das ihm die öden Tage erträglich machte. Und ist so ein Sehnen stark genug, reicht es manchmal schon aus, um das Schicksal auf Trab zu bringen.
Er hatte sich geschworen, nie wieder einen Fuß in die Pathologie zu setzen, aber wer konnte bei postmortalem Nasenhaarwuchs schon Nein sagen? Kaum war Herr Geung zu seiner abendlichen Nudelschicht eingetroffen und hatte ihm die frohe Kunde von der Leiche in der Kühlkammer überbracht, saß Siri auch schon auf seinem Fahrrad und radelte gen Mahosot, und Köter, die Promenadenmischung, die dem Tod dreimal nur knapp entronnen war, trottete ihm hinterdrein. Es fuhren keine Autos. Eine Zählung hatte jüngst ergeben, dass in Laos insgesamt rund vierzehntausend Kraftfahrzeuge gemeldet waren. Elftausend davon hatten keinerlei Zugang zu Benzin, weil die spärlichen Vorräte allein der Regierung vorbehalten blieben. Viele Kinder fragten sich verwundert, was es wohl mit den moosbewachsenen Denkmälern in den Vorgärten ihrer Eltern auf sich hatte.
Es war der laue Abend eines lauen Tages am Ende eines lauen Monats. Die Hitzesaison lauerte hinter den Bergen Vietnams und wartete nur auf ihr Stichwort, um die laotische Hauptstadt in einen Glutofen zu verwandeln, doch bis zu ihrem großen Auftritt lockten die milden Abende Rudel von Jungen und Mädchen aus dem Haus, die im Schneckentempo auf Fahrrädern ihre Runden drehten, in der Hoffnung, mit einem Lächeln oder Nicken belohnt zu werden. Obwohl sie so langsam fuhren, hielten sie sich, allen Gesetzen der Physik zum Trotz, scheinbar mühelos im Sattel. Siri hatte das Wort »Illstand« erfunden, das nur eine Winzigkeit über absolutem »Stillstand« lag und deshalb für die Beschreibung des Flirtradelns wie geschaffen war. Schamlos schäkerte er mit den Mädchen, die ihm entgegenkamen, und sie taten so, als hätten sie ihn nicht gehört. Doch das leichte Schürzen der Lippen, das Flattern der Lider ließ sich nicht verhehlen. Keine Frau ist taub für Komplimente.
Die Tür der Pathologie stand einen Spaltbreit offen. Siri parkte das Fahrrad und Köter im Schatten einer Tamarinde und schleuderte im Vorraum seine alten Ledersandalen von den Füßen. Er kam an dem Büro vorbei, in dem er ungezählte Stunden mit dem Entziffern antiker französischer Forensik-Lehrbücher verbracht hatte, und betrat den sogenannten Schneideraum, wo Chefinspektor Phosy und seine Frau, Schwester Dtui, sich über den Leichnam des Genossen Thinh beugten. Kichernd blickten sie auf.
»Ah, Siri«, sagte Phosy. »Ich wusste doch, dass Sie der Versuchung nicht würden widerstehen können.«
»Ich habe zu viele glückliche Stunden damit zugebracht, Aas unter die Lupe zu nehmen, um die OP-Schürze endgültig an den Nagel zu hängen«, sagte Siri.
»Haben Sie das gesehen?«, fragte Dtui. Sie war bildhübsch und etwas rundlicher als sonst. Er enthielt sich der Frage, ob sie schwanger sei, man konnte schließlich nie wissen.
»Ich hoffe, Sie machen sich nicht über die Toten lustig?«, sagte Siri.
Er trat zu ihnen und konnte sich seinerseits ein Glucksen nicht verkneifen, als er die Leiche erblickte. Herr Geung hatte einen prächtigen Schnurrbart modelliert, der über einen Poirot längst hinausgewachsen war und sich nun den Dimensionen eines Fu Manchu annäherte. Siri zog daran, um sich zu vergewissern, dass es sich nicht um einen Streich handelte. Der Bart hielt stand.
»Also, ich habe ja schon vieles gesehen«, sagte Siri, »aber das übertrifft alles.«
»Meinen Sie, es besteht ein Zusammenhang zwischen seinem Nasenhaar und seinem Tod?«, erkundigte Phosy sich scherzhaft.
»Da fragen Sie den Falschen«, sagte Siri. »Wer ist für den Fall zuständig?«
»Dr. Mot hat die Todesursache festgestellt«, sagte Dtui.
»Aha, dann wird sie ein ewiges Geheimnis bleiben«, sagte Siri. Er war kein großer Freund des derzeitigen Leichenbeschauers, der erst vor Kurzem aus dem Ostblock zurückgekehrt war. Siri fragte sich, wie der Mann ein Medizinstudium in einer Sprache hatte absolvieren können, die er nicht einmal in Ansätzen beherrschte. Und doch besaß er eine Urkunde, der zufolge er über die erforderliche Qualifikation zur Durchführung einer Obduktion verfügte. Sie hing gerahmt an seiner Bürowand, neben einer ähnlichen Urkunde, die ihn als Fachmann für Porzellanglasuren auswies.
»Und was führt Sie beide hierher, abgesehen von dem albernen Jahrmarktsspektakel?«, fragte Siri.
»Ich wurde gebeten, in diesem Fall persönlich zu ermitteln«, sagte Phosy.
»Ich dächte, man hätte Sie an Ihren Schreibtisch gekettet.«
»Wenn es um so delikate Angelegenheiten wie diese geht, bekomme ich hin und wieder Freigang«, sagte der Polizist.
»Was ist denn daran so delikat?«, fragte Siri. »Wie ich von meiner internen Quelle höre, ist der Mann im Suff eine Felswand hinabgestürzt. Leider konnte Herr Geung mir nicht verraten, warum dieser schnöde Umstand auf so lebhaftes Interesse stößt.«
»Das hängt einzig und allein damit zusammen, wer er ist«, sagte Phosy.
»Und wer ist er?«
»Sagt Ihnen der Name Bui Sok Thinh etwas?«
»Nicht das Geringste.«
»Er war der Sohn von Bui Kieu.«
»Bei mir klingelt noch immer nichts.«
»Dann ist er vermutlich erst nach Ihrer Zeit auf der Bildfläche erschienen«, sagte Phosy. »Er ist einer der reichsten Männer Vietnams.«
»Ich dachte, wir hätten Reichtum abgeschafft«, sagte Siri. »Gilt die kommunistische Lehre noch, oder habe ich da etwas verschlafen?«
»Es ist gekommen, wie es kommen musste, Doc«, sagte Dtui. »Bei uns ist es nicht anders. Viele gute Vorsätze, aber kein Geld. Ein paar zusammengebrochene Kooperativen, ein paar Naturkatastrophen, und das Budget für Infrastruktur ist dahin. Und schon regiert wieder die gute alte Vetternwirtschaft. Wir holen die Reichen aus ihrem lebenslangen Exil im Ausland zurück, borgen uns hier ein paar Milliönchen und machen da ein paar schmutzige Deals.«
»Hui«, machte Siri. »Ihrer Frau sind Hörner gewachsen.«
»Ich glaube, Sie hat es einfach satt, arm zu sein«, sagte Phosy. »Sie wartet nur darauf, dass ich mein erstes Schmiergeld annehme, damit sie davon einen Kühlschrank kaufen kann.«
»Ich fürchte, auf den Kühlschrank kann sie lange warten.«
»Meine Rede.«
»Halb so schlimm, Dtui«, sagte Siri. »Sie sind noch verhältnismäßig jung. Und haben genug Zeit, sich einen Sugardaddy zu suchen.«
»Aussichtslos«, sagte Dtui. »Sugardaddys stehen auf lange Dürre mit Silikonbrüsten.«
»Wie schrecklich«, sagte Siri. »Da lob ich mir ein altmodisches Naturweib mit den richtigen Rundungen an den richtigen Stellen. Aber zurück zu unserem Nasenhaarer. Hat er einen Teil vom Reichtum seines Vaters geerbt?«
»Während des Krieges haben sie ihn zum Studieren nach Italien geschickt. Die Familie hatte eine Menge chinesisches Geld, das sie in Europa investieren wollte. Thinh hat mit Kriegsschiebereien ein Vermögen verdient. Nachdem Onkel Ho in Vietnam die Macht an sich gerissen hatte, mussten die Viet Minh feststellen, dass in den Kassen Ebbe herrschte, also begannen sie, den Bui-Clan zu hofieren. Thinh handelte für die Italiener einen Deal aus, der es ihnen erlaubte, im Golf von Tonkin nach Öl zu bohren. Die Ölgesellschaft gehörte Thinh. Die Einnahmen aus dem Geschäft machten einen erheblichen Teil des vietnamesischen Bruttosozialproduktes aus.«
»Und wie kommt man vom Chefsessel eines Ölkonzerns auf eine laotische Totenbank?«, fragte Siri.
»Er war in Hanoi sehr prominent und nutzte jede sich bietende Gelegenheit, um zu verreisen und ein wenig auszuspannen. Er hatte ein Faible für unser schönes Vang Vieng; dort war es friedlich, die Landschaft ist herrlich, und es kannte ihn kein Mensch. Er ließ sich mit dem Hubschrauber der Familie einfliegen. Er hatte ein Chalet in den Hügeln und tat nichts lieber, als mit ein paar Fläschchen sündteurem Wein im Rucksack durch das Karstgebirge zu wandern, sich auf einen Felsvorsprung zu setzen und auf den Fluss hinabzuschauen. Die einfachen Freuden. Anfangs nahm er immer noch seine Frau mit. Ein echter Drachen, wie man hört, und obendrein die Tochter eines vietnamesischen Politbürokraten. Sie verlor rasch das Interesse an diesen Wanderungen und er das Interesse an ihr. Er suchte sich eine Jüngere als Nebenfrau. Sie war besser in Form und hatte nichts gegen ein wenig Bewegung. Sie ließen sich auf dem Felsvorsprung nieder, stießen auf Mutter Natur an …«
»… und spielten vermutlich ein paar Runden Schere, Stein, Papier«, sagte Dtui.
»Madame Daeng und ich können gar nicht genug davon bekommen«, sagte Siri.
»Thinh hätte sich ein wunderschönes leichtes Mädchen als Geliebte nehmen können«, sagte Phosy, »aber er hatte offenbar eine masochistische Ader, denn er entschied sich für eine wenig attraktive, starrsinnige Frau, die Tochter eines Kriegshelden der Viet Minh. Wie man hört, hat sie das Temperament eines tollwütigen Chihuahuas. Sie behauptet, die Hauptfrau hätte ihn auf seiner letzten Reise nach Vang Vieng begleitet und ihn von einem Felsvorsprung gestoßen, als er betrunken war. Die Hauptfrau konnte über diese Anschuldigung nur lachen und entgegnete, dann müsse es ja wohl die Geliebte gewesen sein, die Thinh auf den Berg begleitet und umgebracht hat.«
»Wie kommen Sie überhaupt darauf, dass eine der beiden am Tatort war?«
»Ein Ziegenhirte hat voriges Wochenende einen Vietnamesen durch den Wald stapfen sehen. In Begleitung einer Frau. Aber er war zu weit weg, um sie eindeutig zu identifizieren.«
»Und worin besteht Ihrer Meinung nach das Mordmotiv?«
»Die Hauptfrau würde ein Vermögen erben«, sagte Phosy. »Und wenn sie wegen Mordes verurteilt wird, geht das Geld an die Nebenfrau. Wie es der Zufall will, sitzt der Vater der Konkubine im Vorstand des Ölbohrunternehmens. Er wird mit Sicherheit auf eine Untersuchung drängen.«
»Kinder?«
»Nein.«
»Geschwister?«
»Nicht dass ich wüsste.«
Siri ließ den Blick durch die Pathologie schweifen, in der er fünf Jahre gearbeitet hatte. In dieser Zeit war sie zweimal renoviert worden, erst von den Chinesen, dann von den Sowjets, trotzdem sah sie ziemlich heruntergekommen aus. Die Klimaanlage ächzte und keuchte. Die Rolltragen lahmten wie alte Einkaufswagen. Nicht einmal Herrn Geungs Wandkalender (»Zwölf lustige Hundebabys«) konnten dem alten Gemäuer einen Funken Leidenschaft einhauchen. Siri trat vor das Kühlfach, in dem Thinh nicht gelegen hatte, und kämpfte, wie immer, ein paar Sekunden mit dem Griff. Darin standen eine Flasche Wasser und vier Gläser. Herr Geung hatte sie dort bereitgestellt, falls sich Besucher in die Pathologie verirrten. Sie gelangten nur selten zum Einsatz. Eis gab es natürlich keines. Seit es einen Kurzschluss erlitten hatte, woraufhin Schwester Dtui und Daeng mit Hilfe eines dampfenden Wasserkessels und eines Zweirippenheizkörpers eine gefrostete Leiche hatten auftauen müssen, gefror das Gerät nichts mehr. Siri schenkte jedem seiner Gäste ein Glas kühles Wasser ein und kehrte zum vorliegenden Fall zurück.
»Na schön«, sagte er, »selbst wenn eine der beiden Frauen bei ihm war, wäre es doch durchaus möglich, dass er sie einfach nicht mehr ertragen konnte und von der Felskante gesprungen ist, um sie endlich los zu sein. Oder?«
»Alle, die ihn kannten, schwören hoch und heilig, dass er unter keinen Umständen Selbstmord begangen hätte, dafür war er wohl einfach nicht der Typ: lebensfroh, überglücklich mit seinem Italien-Projekt. Auf seine Art scheint er die beiden Frauen sogar gemocht zu haben. Kein geschäftlicher Druck. Keine politische Schikane. Er liebte sein Leben.«
»Trotzdem liegt er hier«, sagte Siri. »Dtui, was halten Sie davon, wenn Sie die Obduktion vornehmen?«
»Ich bin doch nur eine einfache Krankenschwester«, sagte sie.
»Eine Krankenschwester mit umfassenden Kenntnissen in forensischer Pathologie«, entgegnete Siri.
»Aber ohne Urkunde an der Wand«, sagte Dtui. »Nicht einmal zur Porzellanglaseuse hat es gereicht.«
»Ich lasse Ihnen eine drucken«, sagte Siri. »Dazu braucht es heutzutage offensichtlich wenig mehr als ein Blatt Papier mit einer unleserlichen Unterschrift unten rechts.«
Er schlug das Tuch zurück, unter dem die Leiche lag.
»Sieh an«, sagte er. »Dr. Mot hat sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, unseren Freund hier aufzuschneiden.«
»Er meinte, das wäre nicht nötig«, sagte Phosy. »Er meinte, es liegt doch auf der Hand, dass das Opfer an den multiplen Verletzungen gestorben ist, die es sich beim Sturz von dem Felsvorsprung zugezogen hat. Und den leeren Flaschen nach zu urteilen, war er so betrunken, dass er es vermutlich nicht einmal gespürt hat.«
»Darf ich?«, fragte Siri.
»Nur zu«, sagte Phosy.
Siri drehte die Leiche auf die Seite und nahm den Rücken in Augenschein.
»Keine Handabdrücke, keine Hämatome, keinerlei Anzeichen für eine Stoß- oder Schlageinwirkung«, sagte er. »Gut möglich, dass er an die Felskante getreten ist, um einem dringenden Bedürfnis nachzukommen, dabei einen Schritt zu viel getan und sich buchstäblich totgepinkelt hat.«
»Und warum würden die Frauen dann so vehement bestreiten, dass sie dort waren?«, fragte Dtui. »Sie hätten auch einfach erklären können, was passiert ist, schließlich gibt es keine gegenteiligen Indizien.«
»Es sei denn, es war eine andere Frau dabei«, sagte Phosy.
»Kompliment«, sagte Siri.
»Ich frage mich, ob er letztes Wochenende nicht vielleicht allein in Vang Vieng war und ein Mädchen aus dem Ort auf seine Bergtour mitgenommen hat«, fuhr Phosy fort. »Womöglich ist sie in Panik geraten, als er zudringlich wurde, und hat ihn von sich gestoßen.«
»Selbst wenn es ein Unfall gewesen wäre, hätte sie vor Schreck vermutlich einen Büffel gekreißt«, sagte Siri.
»Sie würde auf keinen Fall zugeben, dass sie am Tatort war«, sagte Dtui.
»Und Vang Vieng ist ein kleiner Ort«, sagte Phosy. »Die Bewohner würden sie vermutlich hermetisch abschirmen.«
»Die würden Sie wahrscheinlich noch nicht einmal mit ihr sprechen lassen«, sagte Dtui.
»Es sei denn, wir könnten ihr vermitteln: Gutes Kind, wir wissen, dass es ein Unfall war«, sagte Siri, und ließ den Toten wieder auf den Rücken sinken.
»Und wie sollen wir das anstellen?«, fragte Phosy.
»Das weiß ich noch nicht, aber jede Leiche hat eine Geschichte zu erzählen, es braucht nur ein klein wenig Geduld. Meinen Sie, unser tollkühner Porzellanglasierer hat seine gesamte Obduktions-Trickkiste ausgeschöpft?«
»Er meinte, es gebe nichts mehr zu erfahren«, sagte Phosy.
»Dann hat er doch bestimmt nichts dagegen, wenn ich mich an dem Mann versuche.«
»Ich bezweifle, dass er das überhaupt bemerken würde.«
»Ausgezeichnet. Dann komme ich morgen bei Sonnenaufgang mit meinem Werkzeugkasten und meinem getreuen Laborassistenten wieder.«
Als Dr. Siri in der Nudelküche eintraf, war das Abendgeschäft noch im vollen Gange. Das kleine, zum Fluss hin offene Restaurant hatte sich mit Gästen gefüllt, die jedoch nicht etwa des Ausblicks auf den Mekong wegen gekommen waren, sondern um die besten Nudeln der Hauptstadt zu genießen. Regierungsangestellte in khakifarbenen oder weißen Hemden aßen sich den Frust eines weiteren erfolglosen Tages voller Papierkram von der Seele. Lehrerinnen in steifen phasin-Baumwollröcken entledigten sich unter dem Tisch seufzend ihrer unbequemen Schuhe und versuchten, einen weiteren Schultag zu vergessen, an dem sie den Kindern den Einfluss des Marxismus-Leninismus auf die Plattentektonik hatten erklären müssen. Karl und Wladimir hatten seit 1975 alle Hände voll zu tun.
Auf dem holprigen Gehsteig stand ein dürrer Mann, der wie ein Bauer gekleidet war und einen prächtigen Posthelm aus den Zeiten des alten Regimes auf dem Kopf trug. Er betrat das Restaurant grundsätzlich nur, wenn Siri ihn höchstselbst hereinbat.
»Genosse Ging«, sagte Siri. »Ich habe es Ihnen doch hundert Mal gesagt: Sie brauchen keine Genehmigung, um hereinzukommen.«
»Aber ich bin ja nicht zum Essen hier«, sagte Ging wie immer. »Ich tue nur meine Pflicht und trage die Post aus. Die Angestellten der laotischen Post erbitten oder erwarten keinerlei Vergütung für den stolzen Dienst, den wir verrichten.«
In Laos gab es keine Postboten. Briefe wurden entweder an Postfächer geschickt oder landeten in einem großen Sack mit der Aufschrift poste restante, dessen Inhalt seine Empfänger jedoch meistens nicht erreichte. Es gab mindestens ebenso viele Postangestellte, die Briefe aufschlitzten und zensierten, wie es Kollegen gab, die Briefmarken verkauften, und die Kunden erfuhren nie genau, was für subversives Material ihre Post denn nun enthalten hatte. Genosse Ging verkaufte Briefmarken. Doch in den Pausen und nach Feierabend setzte er seinen Helm auf, schlang sich ein selbst gemachtes Postarmband um den knochigen Bizeps und brachte braven Bürgern, die sich für seine Mühe stets erkenntlich zeigten, ihre ungeöffnete Post. Madame Daengs Nudelküche war eine dieser Adressen.
»Haben Sie etwas für uns?«, fragte Siri.
»Jawohl.« Er griff in seinen Rucksack und zog ein Paket von der Größe eines Omo-Waschmittelkartons daraus hervor. Er überreichte es Siri und nickte. »Und das war’s auch schon. Schönen Abend noch.«
Siri war versucht, ihn ziehen zu lassen, doch er wusste, dass seine Frau ihn dafür schelten würde. Und es war schön, Post zu bekommen.
»Würden Sie uns vielleicht die Freude machen, bei uns einen kleinen Imbiss einzunehmen?«, fragte Siri.
»Ich … Ich glaube, dafür habe ich keine Zeit.«
»Madame Daeng wäre entzückt, wenn Sie ein paar Minuten erübrigen könnten.«
»Also, ich … Na schön. Ich will Madame Daeng ja nicht enttäuschen«, sagte der Mann und schritt triumphierend in das Restaurant. Er setzte seinen Helm ab und suchte sich einen leeren Hocker. Herr Geung begrüßte ihn mit Namen, und Geungs Frau Tukta bediente ihn, ohne zu fragen, was er wollte. Denn nach vierzig Jahren im Postdienst wollte er eigentlich nur ein wenig Anerkennung und Respekt.
»Was ist denn das?«, fragte Daeng ihren Mann. Sie stand über den Nudelkessel gebeugt. Obwohl der heiße Dampf sie umwehte wie in einer Traumsequenz, schien sie nie ins Schwitzen zu geraten.
»Ein Paket«, sagte Siri und hielt auf die Treppe zu.
Daeng hätte ihre Frage wiederholen können, doch ein einfaches Heben der Augenbrauen genügte, und er blieb schlagartig stehen.
»Fühlt sich an wie ein Buch«, sagte Siri. »Schwer. Hat Ging eben vorbeigebracht.«
»Wie schön für dich«, sagte Daeng und füllte mit der Gewandtheit eines Zauberkünstlers vier Schüsseln mit Nudeln. »Aber meinst du nicht, unsere Gäste könnten ein wenig Ansprache vertragen?«
»Mein Herz, deine Nudeln verkaufen sich von selbst. Sie brauchen keine Reklame.«
»Nachdem sie sich den ganzen Tag mit der Bürokratie herumgeschlagen haben, sind unsere Gäste allemal dankbar für ein wenig Zuspruch und ein paar Lacher. Wir sind nicht nur eine Nudelküche. Wir sind eine Wohlfühlagentur, und du bist der Doktor mit dem offenen Ohr.«
»Aber ich …«
»Das Buch kann warten.«
Das Buch wartete bis acht Uhr abends, als die Gäste in ihre überbelegten Häuser und Wohnungen zurückgekehrt und die Tische abgeräumt und gereinigt waren. Herr Geung und Tukta hatten sich in ihr Hinterzimmer zurückgezogen, wo sie mit dem Baby sprachen, das erst in einem halben Jahr zur Welt kommen sollte. Die Chancen, dass eine Frau mit Down-Syndrom ein gesundes Kind gebar, standen ohnehin schon schlecht. Und wenn auch der Vater am Down-Syndrom litt, fielen sie ins Bodenlose. Das war allen wohlbewusst, doch wie Dr. Siri hatte Geung Freunde in anderen Dimensionen, und ihren Bemühungen sei Dank war seine Tochter ihm im Traum erschienen. Wenn man Geung glauben durfte, sah sie ein wenig aus wie Sarinthip Siriwan. Das werde aber eine äußerst komplizierte Geburt, hatte Siri entgegnet, die thailändische Schauspielerin sei schließlich ziemlich groß. Darüber hatten die werdenden Eltern eine Woche lang gelacht.
»Willst du es nicht aufmachen?«, fragte Daeng.
»Ich habe mich gefragt, ob es nicht vielleicht doch eine Bombe ist«, sagte Siri.
Sie saßen am Flussufer und begossen den Feierabend mit einem Reiswhisky-Cocktail. Sri Chiang Mai am thailändischen Ufer lag im Dunkeln; vermutlich einer der ungezählten Stromausfälle. Die Thais waren berühmt für ihre kreative Verkabelungstechnik. Und da der Mond noch auf sich warten ließ, war die Dunkelheit pechschwarz: als würde man auf eine Teerlandschaft blicken. Daeng stand auf.
»Wo willst du hin?«, fragte Siri.
»Du erwartest doch wohl nicht, dass ich treu und brav neben dir sitzen bleibe, wenn es eine Bombe ist«, sagte Daeng.
»Ich weiß nicht. Ist doch vielleicht ganz romantisch, zusammen auf den Mekong hinausgepustet zu werden. Stell dir vor: Unsere abgerissenen Gliedmaßen treiben Seit’ an Seit’ Richtung Kambodscha.«
»Es gibt durchaus Romantischeres, als in Stücke gerissen zu werden, Siri. Ich muss mal eben für ältere Damen. Du kannst es ja aufmachen, während ich weg bin. Ich horche derweil auf den Knall.«
Im Schein der einzigen Lampe in der Nudelküche kraxelte sie die Uferböschung hinauf. Nicht schlecht für eine Einundsiebzigjährige. Siri zog seine Stiftlampe aus der Brusttasche und klemmte sie sich zwischen die Zähne – stolze dreiunddreißig an der Zahl, und alle echt, wie zu betonen er nicht müde wurde. Aus derselben Tasche holte er ein sowjetisches Armeemesser und klappte eine Klinge aus. Damit arbeitete er sich durch zentimeterdickes Paketband und entfernte eine Innenhaut aus braunem Packpapier. Darunter kam eine Plastiktüte zum Vorschein, gefolgt von mehreren Schichten thailändischer Zeitungen und einer zweiten Plastiktüte, alles fest mit Klebeband umwickelt.
Als Daeng zurückkam, war Siri von allerlei Verpackungsmaterialien umgeben und hielt ein etwas kleineres Paket in Händen.
»Das haben wir als Kinder auch gespielt«, sagte sie.
»Was?«
»Man überreicht jemandem ein Geschenk, und wenn er es dann ausgepackt hat, ist nichts darin.«
»Wie gemein«, sagte Siri. »Nein, ich habe das Gefühl, ich bin gleich am Ziel. Nur noch eine Lage Seidenpapier und … da.«
Es schien sich um so etwas wie ein Buch zu handeln. Der Einband war geschmeidig und glatt, vermutlich Leder. Er war mit dunklen Schimmelflecken übersät und roch ranzig. Siri schlug den Band vorsichtig auf, fand jedoch nichts als leere Seiten.
»Hmmm«, machte er. »Merkwürdig.«
Er drehte das Buch auf die Rückseite, und dort waren zwei chinesisch aussehende Initialen in das Leder eingebrannt. Wieder schlug er es auf, und diesmal standen dort viele Zeilen Text in gestochen scharfer Handschrift.
»Chinesisch?«, fragte Daeng.
»Japanisch.«
»Kannst du es lesen?«
»Leider nicht. Ich habe die Zahlen gelernt, als wir im Untergrund waren und die Japaner uns zu überfallen drohten. Ich dachte, das wäre nützlich, um Zeit- und Datumsangaben in erbeuteten Schriftstücken zu erkennen. Aber zu den Schriftzeichen bin ich nie gekommen. Sie haben ein anderes Datumssystem als wir. Es beginnt mit der Thronbesteigung des aktuellen Tennō, und das war … 1926. Diese Zahl ist vermutlich Schōwa, elf. Dann ist das hier wohl ein Tagebuch, und es beginnt im Jahre 1937.«
»Und ich dachte, ich hätte dich nur wegen deines Körpers geheiratet.«
»Ich bin ein 2-in-1-Paket, Daeng. Das Genie kostet dich keinen Kip extra.«
»1937? Da führte Japan Krieg gegen China«, sagte Daeng.
»Der begann am 7. Juli.«
»Gib nicht so an.«
Siri überflog die Seiten, von rechts nach links.
»Es ist wunderschön geschrieben«, sagte er. »Da hat jemand offenbar eine Menge Herzblut investiert. Jede Seite säuberlich und akkurat. Nichts ist durchgestrichen oder verschmiert; nicht einmal ein Weinfleck. Zwischen den einzelnen Einträgen liegen jeweils ein bis zwei Wochen. Und es sieht ganz so aus, als sei der Verfasser im Lauf der Zeit selbstbewusster geworden, stärker. Als hätte er die Tinte regelrecht ins Papier gepresst. Und ich …«
»Was?«
»Daeng. Sieh dir das an.«
Sie beugte sich über das Buch.
»Mich laust der Affe«, sagte sie.
Nach der Hälfte der Seite endete der japanische Text, und stattdessen standen dort, in westlichen Ziffern, das Datum 30.12.1940 und der laotische Satz Mein Name ist Kangen Toshimado (咸元利圓). Die laotischen Schriftzeichen sahen aus wie von Kinderhand gemalt, aber sie waren lesbar und brachten für Siris Geschmack eine geballte Ladung Spaß ins Spiel: wie ein Hibiskus, der urplötzlich aus einem Kohlbeet sprießt.
»Unser Genosse Toshimado lernt Laotisch«, sagte Daeng.
Siri blätterte um, und schon bestätigte Toshimado ihren Verdacht.
Ich lerne Laotisch, stand da.
Im Tagebuch waren ein oder zwei Wochen vergangen, doch er hatte augenscheinlich Schreiben geübt. Daeng blätterte um und las den Eintrag vom 6.1.1941.
Ich bin Japaner. Ich bin Major in der Kaiserlich Japanischen Armee. Ich bin vierunddreißig Jahre alt. Meine Freunde nennen mich Toshi.
Mit jeder neuen Seite schien sich das Laotische auf dem Papier immer weiter auszubreiten, wie ein Virus. Am 24.1.1941 wagte er sich an seine erste ganze Seite. Zwar unterlief ihm der eine oder andere Fehler, doch seine Reise durch diese neue Sprache schien ihm Spaß zu machen. Er schrieb darüber, wie er mit einem Freund quer durch Laos gereist war und einheimische Köstlichkeiten gegessen und getrunken hatte. Er warf es einfach aufs Papier, ungeachtet der möglichen Folgen. Nach drei Jahren wunderschöner, aber doch formal eher strenger Texte hatten seine Worte plötzlich Kraft und Schwung.
Die Stiftlampe stammte aus chinesischer Produktion, und so waren die beiden nicht sonderlich verwundert, als ihr schwacher Strahl den Geist aufgab. Es war ein Zeichen der Zeit. Die sowjetischen Spenden waren zwar hässlich, aber kaum kaputtzukriegen. Die chinesischen Spenden hingegen sahen aus wie das Original, funktionierten aber nicht, trotzdem waren die edlen Spender nach wie vor der Meinung, dass die dritte Welt ihnen Dank und Lobpreis schuldete.
»Komm, wir lesen drinnen weiter«, sagte Daeng.
»Erst ein Rätsel«, sagte Siri. »Warum, glaubst du, schickt mir jemand das Tagebuch eines japanischen Soldaten?«
»Weil er oder sie wusste, dass du nach Lesestoff lechzt?«
»Zugegeben, die Lektüre ist bestimmt ein Genuss, aber der Absender hat weder Kosten noch Mühen gescheut, damit das Buch heil bei mir ankommt. Das muss einen Grund haben.«
»Lag denn kein Brief bei?«
»Darauf habe ich nicht geachtet.«
Er hielt den Band am Buchrücken hoch und strich mit den Fingern durch die Seiten. Erst passierte nichts. Dann löste sich eine einzelne Seite. Das Licht aus der Nudelküche streifte es kurz, als es mit der lauen Brise davonsegelte. Es war schwer, seinem Weg zu folgen, doch die beiden hatten keinen Zweifel, dass es auf den Fluss zusteuerte. Bevor es im Wasser landen konnte, war es auch schon verschwunden.
*
Dr. Siri und Herr Geung kamen kurz vor Sonnenaufgang in der Pathologie an. Den Schlüssel hatten sie als Andenken behalten. Es kam nur noch selten jemand hierher. Nicht etwa, weil nicht mehr gestorben wurde, sondern weil man auf höherer Ebene beschlossen hatte, dass eigentlich niemand zu wissen brauchte, wie und warum jemand starb. Wie in jedem anständigen sozialistischen Staat war der Mechanismus der Geheimhaltung der bestgeölte. Herr Geung zog das Kühlkammerfach heraus und stellte beglückt fest, dass der Nasenschnäuzer des Genossen Thinh seit seinem letzten Besuch um gut zwei Zentimeter gewachsen war. Doch zu ihrem maßlosen Erstaunen war auch Thinhs Haupthaar erheblich länger, und seine Finger- und Zehennägel hatten sich zu Klauen gekrümmt. All das widersprach jeglicher Logik, aber das Rätsel musste warten. Ihr Besuch in der Pathologie galt der Beantwortung weit irdischerer Fragen. Sie hievten den Leichnam auf den Schneidetisch und schlugen das Tuch zurück. Es diente keinem anderen Zweck als dem des Anstands, und der Genosse Thinh hatte eigentlich nichts, woran man hätte Anstoß nehmen können.
»Sehen Sie, mein Junge«, sagte Siri. »Wer genug Geld hat, dem verzeihen die Frauen auch die kleinsten Sünden.«
Geung prustete.
»Vielleicht w-w-war es in der Kühlkammer zu kalt«, gab er zu bedenken.
»Ein Hühnchen ist nach einer Nacht im Eisschrank doch auch nicht zum Spatzen geschrumpft«, sagte Siri.
»Sie sprechen schlecht von-von den T-t-toten.«
»Ich weiß. Und dafür wird er mir in der Anderwelt mit Sicherheit die Hölle heißmachen. Aber jetzt frisch ans Werk. Was sehen Sie hier?«
»Knochenbrüche.«
»Viele?«
»Linker Arm an drei Stellen, Schhhhulter, beide Beine, Knöchel, Rippen, und wahrscheinlich noch mehr.«
»Gut. Passt das zum Sturz von einem hohen Felsen? Kommt Ihnen irgendetwas seltsam vor?«
Geung sah den Doktor verdrossen an.
»Ich …«
»Ja?«
»Ich habe D-d-down-Syndrom.«
»Na und?«, sagte Siri. »Deswegen sind Sie doch nicht dumm.«
»Ich weiß … ich-ich-ich kenne mich damit nicht aus.«
»Unsinn. Bei wie vielen Obduktionen haben Sie assistiert?«
»Siebenundvierzig.«
»Exakt. Und ich dachte, das sei eine rhetorische Frage. Werfen Sie einfach einen Blick auf unseren Freund hier, und verraten Sie mir, was Ihr Bauch Ihnen sagt.«
»Manchmal sagt er ›Grrr‹.«
Geung lachte. Siri schlug seinem Freund scherzhaft die Hand vor die Stirn.
»Zum Schießen«, sagte Siri. »Bedauerlicherweise haben wir für Witze keine Zeit. Die Sicherheitsleute können jeden Augenblick hier sein und uns vor die Tür setzen. Sagen Sie mir, was Sie sehen.«
Herr Geung ließ den Blick über den Leichnam gleiten wie ein Scanner, der ein Dokument erfasst. Er drehte die Leiche um und inspizierte die B-Seite, wie Schwester Dtui zu sagen pflegte. Dann sah er Siri an und schüttelte den Kopf. Siri bedeutete ihm, fortzufahren. Geung hob den Arm des Toten an. Der beugte sich an Stellen, wo Arme sich nicht beugen durften. Er ergriff die Hand, kehrte die Handfläche nach unten und machte ein verblüfftes Gesicht. Er trat auf die andere Seite des Tisches und nahm den rechten Handrücken in Augenschein.
»Sehen Sie’s?«, fragt Siri.
»Ja.«
»Ich höre.«
»Kratzer. An beiden Handrücken.«
»Aber nicht an den Handflächen«, sagte Siri. »Dabei streckt man instinktiv die Hände von sich, wenn man einen Angriff abwehrt oder stürzt. Bei einem Sturz aus zweihundert Metern Höhe nützt einem das zwar wenig, aber wir sind eben nicht von Geburt an darauf programmiert, von einem hohen Felsen zu fallen. Und selbst wenn man im Gebüsch landet, ist man vermutlich bereits tot und hat keine Möglichkeit mehr zu bluten. Diese Kratzer sind mit geronnenem Blut verkrustet. Ich würde sagen, sie sind vor dem Sturz entstanden.«
»Aber wie?«
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht, Geung. Unser Mann ist ein erfahrener Wanderer. Er war schon viele Male im Gebirge. Ein glücklicher Mensch. Er führt ein hübsches Mädchen zu einem lauschigen Plätzchen. Sie trinken ein Glas Wein. Kein Stress. Und hast du nicht gesehen, stürzt der Mann auch schon die Felswand hinab. Dafür habe ich nur eine Erklärung.«
Siri trat ans Kopfende des Tisches und fuhr mit den Fingern durch das dichte Haar des Opfers.
»Dachte ich’s mir doch«, sagte er. »Geung, kommen Sie mal her und fühlen Sie.«
Geung beeilte sich, die ihm gestellte Aufgabe zu erfüllen. Auch er fuhr mit den Fingern über die Kopfhaut. Zunächst spürte er nichts, doch dann …
»Ja«, sagte er.
Und als Geung seine Finger wieder herauszog, blickte er auf seine Hand und teilte einen Heureka-Moment mit dem Doktor. Seine Miene wechselte von Schwarz-Weiß zu Breitwand-Technicolor. Unter dem Nagel seines Zeigefingers steckte ein winziges Beweisstück, das für alles die Erklärung lieferte.
*
2.10.1943
Hallo, Liebling. Wie geht es Dir? Du und die Kinder fehlen mir. Ich habe mir einen kleinen Bart stehen lassen, seit Du mich zuletzt gesehen hast, und ich sehe aus wie eine Ziege. Aber erwarte keine Milch von mir. Ich bin wieder im Einsatz, an der chinesischen Grenze in Lang Son. Ich habe mich vergewissert, dass unser Schatz sicher ist. Es wundert mich nicht, dass sie ihn nicht gefunden haben. Er lag unter einem Berg von Unterlagen verborgen. Ich werde ihn Dir durch den Liebestunnel zukommen lassen. Wundere Dich nicht, wenn Du ihn siehst. Ich bin bald wieder zu Hause. Mach dir meinetwegen keine Sorgen.
*
»Wie haben Sie es aus dem Fluss geborgen?«, fragte Phosy.
»So weit ist es gar nicht erst gekommen«, sagte Daeng. »Sie dürfen nicht vergessen, wir haben einen Schutzengel.«
»Der Verrückte Rajid?«, sagte Dtui.
Daeng lächelte. Rajid, der bisweilen wahnsinnige Inder, lebte am Flussufer, wo er auf Bäume kletterte, Frösche nachahmte und nackt badete, hauptsächlich nachts.
»Hier hat man wirklich nie seine Ruhe«, sagte Siri. »Madame Daeng und ich gehen oft ans Flussufer hinunter …«
»Muscheln suchen«, sagte Daeng und lächelte.
»Aber wir sind nie für uns, denn er ist immer da«, sagte Siri. »Allein die Tatsache, dass er da sein könnte, verdirbt uns jede Freude.«
»Er hat uns mehr als einmal das Leben gerettet«, rief Daeng ihm ins Gedächtnis.
»Sonst hätte ich ihn auch längst erschossen«, sagte Siri.
»Und er hat ihre lose Tagebuchseite gerettet«, sagte Dtui. »Was halten sie davon?«
Schwester Dtui lief mit ihrer kleinen Tochter Malee durch das Restaurant. Die Tische waren Wolkenkratzer, und die Gänge waren Straßen. Bei diesem Spiel war Malee aus irgendeinem Grunde blind, und ihre Mutter war ein Leithund. Dtui hatte nicht den geringsten Zweifel, dass ihre Tochter Romane schreiben würde, wenn sie groß war.
»Wir haben es noch nicht ganz gelesen«, sagte Daeng.
»Und die Hälfte ist auf Japanisch«, sagte Siri. »Aber wir arbeiten uns durch die laotischen Passagen. Und gleichen die Ereignisse im Tagebuch mit Ereignissen während der japanischen Besatzung ab.«
»Die Seite, die Sie gerade gelesen haben, wurde offenbar mit einer scharfen Klinge aus dem Tagebuch herausgeschnitten«, sagte Daeng. »Sie muss folglich aus irgendeinem Grunde von Bedeutung sein. Es war eine kurze Nachricht angeheftet. Sie lautete: ›Dr. Siri, wir brauchen dringend Ihre Hilfe.‹ Grammatisch korrekt, aber unsauber, vermutlich nicht von einem gebürtigen Laoten geschrieben.«
»Was wollen Sie unternehmen?«, fragte Phosy.
»Nichts, bevor wir das Tagebuch nicht ganz gelesen haben«, sagte Siri.
»Er ist furchtbar langsam«, sagte Daeng.
»Guten Wein trinkt man in kleinen Schlucken«, sagte Siri.
»Und bis dahin werden wir weder erfahren, wer uns das Tagebuch geschickt hat, noch wer unsere Hilfe braucht oder welche Art von Hilfe er oder sie benötigt«, sagte Daeng.
»Wenn es von Toshi selbst kommt, müsste er inzwischen etwa so alt sein wie Sie, Siri«, sagte Phosy. »Vielleicht ist er einer dieser fanatischen japanischen Soldaten, die noch dreißig Jahre nach Kriegsende durch den Dschungel streifen, weil sie sich nicht geschlagen geben wollen. Von wann datiert der letzte Tagebucheintrag?«
»Vom 14. August 1954«, sagte Daeng. »Ein Tag bevor die Kapitulationserklärung des japanischen Tennō über den Sender ging.«
»Und was hat er an diesem Tag geschrieben?«, fragte Dtui, schon ganz schwindlig von ihren Leithund-Runden.
»Dtui, ich bin wirklich enttäuscht von Ihnen«, sagte Siri. »Ich habe die Seite selbstverständlich nur umgeknickt, um einen Blick auf das Datum werfen zu können. Sehe ich aus wie jemand, der zum Ende blättert, um zu erfahren, wie die Geschichte ausgeht?«
»Ja, genau so sehen Sie aus, besonders wenn es uns des Rätsels Lösung liefert, sprich, die Antwort auf die Frage, warum er Ihnen schreibt.«
»Sehen Sie?«, sagte Daeng. »Manchmal möchte ich ihn am liebsten zum Mond schießen!«
»Wozu dann überhaupt ein Rätsel?«, sagte Siri. »Warum springen wir nicht einfach zum letzten Tag unseres Lebens und sehen, was so alles passiert ist. Ein Buch ist wie ein Orgasmus.«
»Siri, ich glaube nicht …«, begann Phosy.
»Man möchte so viel wie möglich herausholen, bevor es vorbei ist«, fuhr Siri fort.
»Und wieder ein Familiengeheimnis dahin«, sagte Daeng.
»Nur ein goldener Rat an ein junges Paar, welches sich anschickt, den Weg ins Eheglück zu beschreiten«, sagte Siri.
»Was dagegen, wenn wir das Thema wechseln?«, fragte Phosy. »Ich schicke Hauptmann Sihot heute Nachmittag nach Vang Vieng.«
»Ah, dann haben Sie das Konzept des Delegierens also endlich verstanden«, sagte Daeng und schenkte allen Tee nach.
»Mit dem Konzept war ich durchaus vertraut, aber bis jetzt war ich einfach der Beste für den Job.«
»Da kannst du mal sehen, wie bescheiden dein Papa ist«, sagte Dtui zu ihrer Tochter.
»Ich kann nicht sehen«, sagte Malee.
»Ach, stimmt ja. Tut mir leid, hatte ich vergessen.«
»Vielleicht sollte ich die Sache doch lieber selbst in die Hand nehmen«, fuhr Phosy fort. »Wenn etwas schiefgeht, müssen wir uns vor den Vietnamesen verantworten.«
»Und wenn alles glattgeht, werden sie uns sehr verbunden sein«, sagte Siri.
»Sind Sie sicher?«, fragte Phosy.
»Sehr sicher sogar, es sei denn, wir finden einen Augenzeugen«, sagte Siri.
»Es wäre unmöglich gewesen, die Region unbemerkt zu verlassen«, sagte Phosy. »Es muss also eine Einheimische gewesen sein.«
»Meinst du, sie ist zu einer Aussage bereit?«, fragte Dtui.
»Sihot muss sie erst einmal finden« sagte Phosy. »Er kommt aus der Gegend, deshalb hoffe ich, dass die Einheimischen mit ihm reden werden. Wenn er das Mädchen findet und ihr darlegt, was unserer Meinung nach passiert ist, sehe ich keinen Grund, weshalb sie schweigen sollte. Sie ist keine Verdächtige.«
»Aber sie ist eine Einheimische, die willens war, mit ihm auf Wanderschaft zu gehen – wenn Sie verstehen, was ich meine«, sagte Daeng.
»Sihot kann gut mit Menschen umgehen«, sagte Phosy. »Ich bin sicher, dass der Ruf des Mädchens auch nach seiner Abreise noch intakt sein wird.«
»Vorausgesetzt, er ist nicht schon bei seiner Ankunft ruiniert«, sagte Siri.
30.2.1941