Dr. Siri und die Tränen der Madame Daeng - Colin Cotterill - E-Book
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Dr. Siri und die Tränen der Madame Daeng E-Book

Colin Cotterill

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Beschreibung

Dr. Siri Paiboun, der rüstige Pathologe, der eigentlich seinen wohlverdienten Ruhestand genießen möchte, erhält ein anonymes Paket. Darin findet sich ein handgewebter pha sin, ein farbenfroher Rock, der vor allem im Norden Laos getragen wird. Ein wunderschönes Geschenk – wäre da nicht ein abgetrennter Finger in den Saum des Kleidungsstücks genäht. Siri ist sicher, dass ihm jemand eine Nachricht übermitteln wollte, und er wird nicht ruhen, bis er herausgefunden hat wer. Also organisiert er eine Reise in den Norden. Doch an der laotischen Grenze droht ein blutiger Konflikt auszubrechen – und Siri und seine Entourage halten geradewegs darauf zu ...

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Seitenzahl: 389

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Buch

Laos 1979: Dr. Siri Paiboun, der rüstige Pathologe, sollte eigentlich seinen wohlverdienten Ruhestand in vollen Zügen genießen. In Wahrheit aber langweilt er sich fürchterlich und wünscht sich insgeheim die Abenteuer zurück, die sein Beruf so mit sich brachte. Da kommt ihm das anonyme Paket, das er eines Tages mit der Post erhält, gerade recht. Darin findet sich ein handgewebter phasin, ein farbenfroher Rock, der vor allem im Norden von Laos getragen wird. Ein wunderschönes Geschenk – wäre da nicht ein abgetrennter Finger in den Saum des Kleidungsstücks genäht. Siri ist sicher, dass ihm jemand eine Nachricht übermitteln will, und er wird nicht ruhen, bis er herausgefunden hat, wer. Also organisiert er für sich und seine Frau Madame Daeng eine Reise in den Norden, wo er den Absender des Pakets vermutet. Doch an der laotischen Grenze droht ein blutiger Konflikt auszubrechen – und Siri steuert geradewegs darauf zu …

Weitere Informationen zu Colin Cotterill sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Colin Cotterill

Dr. Siri und die Tränen der Madame Daeng

Kriminalroman

Aus dem Englischenvon Thomas Mohr

Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Six and a Half Deadly Sins« bei Soho Press, Inc., New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2018

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Colin Cotterill

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München

Redaktion: Brigitte Helbling

em · Herstellung: Han

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-20367-2V002

www.goldmann-verlag.de

Inhalt

1

ZWEI SCHLIMME FINGER

2

DIE HÜHNEROBDUKTION

3

DISCO INFERNO

4

DEM TRANK SEI DANK

5

SCHNITZELJAGD

6

DAS BRITISH MEDICAL JOURNAL VOM JUNI 1877

7

WEBFEHLER

8

EIN KLEINER KRIEG

9

GANZ IN SCHWARZ UND OHNE BLUMENSTRAUSS

10

GECKOS TRAGEN KEINE HOSEN

11

FEST GEMAUERT IN DER ERDEN

12

DER SIEBTE SIN

13

DIE BITTEREN TRÄNEN DER MADAME DAENG

14

DRUNTER UND DRÜBER

15

NEBENWIRKUNGEN

DANKSAGUNG

1 ZWEI SCHLIMME FINGER

Am 25. Dezember 1978 flog der Lautsprechermast in Abschnitt sechs im Süden That Luangs unversehens in die Luft, ein laotischer Rock, in dessen Saum ein abgetrennter Finger eingenäht war, passierte unbeanstandet das staatliche Postbeförderungssystem, und Vietnam marschierte in Kambodscha ein. Seitdem waren ein paar Wochen vergangen, aber die beiden alten Männer, die am Ufer des schokoladenbraunen Mekong auf einem Baumstamm saßen, hatten ihre Ansichten zu diesen drei Ereignissen noch längst nicht hinreichend erörtert. Dr. Siri Paiboun – ehemals amtlicher Leichenbeschauer der Demokratischen Volksrepublik Laos – hatte Ersteres mit eigener Hand herbeigeführt. Genosse Civilai Songsawat – ehemals Mitglied des Politbüros – hatte Letzteres vorhergesagt, doch seine Mahnungen waren, wie üblich, ungehört verhallt. Aber der Finger? Tja, darauf konnte sich keiner der beiden einen Reim machen.

»Vielleicht gehörte er ja der Weberin«, gab Civilai zu bedenken. »Und es war ein schnöder Arbeitsunfall.«

»Was?«, sagte Siri. »Du meinst, sie war so sehr in Kette und Schuss vertieft, dass sie ihren eigenen Finger in den Saum einnähte, ohne es zu merken? Und als sie abends nach Hause kommt und ihr Mann fragt: ›Wo ist denn dein Finger geblieben?‹, senkt sie versonnen den Blick, stellt fest, dass ihr der Finger abhandengekommen ist, und sagt: ›Hm. Ich muss ihn wohl versehentlich in einen der Röcke eingenäht haben?‹«

Eine Zeitlang herrschte Schweigen, während die beiden alten Knaben sich über ihr Mittagessen hermachten. Seit sie die Mitte der siebzig überschritten hatten, bissen sie sich an den kross gebackenen Baguettes buchstäblich die Zähne aus. Ebenso wie die Schnapsbrenner ihrem Whisky inzwischen Ingredienzien beimischten, welche die Wahrscheinlichkeit eines massiven Katers um ein Vielfaches erhöhten, und die Fahrradhersteller genau die Gänge abgeschafft hatten, die es einem ermöglichten, einen Hügel zu erklimmen, ohne aus der Puste zu geraten, schien der Bäcker sich auf die Fertigung von Schuhsohlen verlegt zu haben. Alles untrügliche Indizien für den Verfall zivilisatorischer Errungenschaften, da gab es für Siri keinen Zweifel.

Civilai nahm einen Schluck Tamarindensaft und spülte sich damit den Mund, bevor er schluckte. »Sarkasmus«, sagte er, »heißt mit Stöcken nach dem Gegner werfen, wenn einem die Munition ausgeht.«

Siri nickte und bedachte seinen ältesten Freund mit einem Lächeln. »Lenin?«

»Civilai.«

»Was du nicht sagst. Nun ja, für deine traurigen Verhältnisse gar nicht so übel.«

»Die Firma dankt. Und ich bleibe bei meiner Hypothese. Eine des Lesens und Schreibens unkundige junge Frau, die für einen Hungerlohn in einem Sweatshop schuftet, schneidet sich einen Finger ab und schickt ihn, als verzweifelten Hilfeschrei, mit der abendlichen Phasin-Lieferung in die weite Welt hinaus.«

Wieder nickte Siri. Eine Geste, die bei ihm nur selten Zustimmung signalisierte. »Deine Theorien werden ja immer grauer, großer Bruder«, sagte er. »Wie, bitte, sollen wir mittels eines abgehackten Fingers die Identität der Frau feststellen?«

»Fingerabdrücke.«

»Fingerabdrücke? Oha. Darin zeigt sich, wie schon so oft, der fundamentale Unterschied zwischen einem Mediziner und einem Politiker.«

»Inwiefern?«

»Der Mediziner – ein Mann der Wissenschaft – würde den relativen Wert eines Fingerabdrucks ermessen. Und die zu Gebote stehenden Möglichkeiten sondieren. Soll er die zentrale Fingerabdruckkartei zu Rate ziehen, die es in Laos bekanntlich nicht gibt? Soll er ihn mit ähnlichen Abdrücken vom nicht vorhandenen Tatort vergleichen? Oder soll er von Haus zu Haus ziehen wie der Prinz im Märchen, bis er ein Aschenputtel gefunden hat, dessen Gliederstumpf perfekt zu dem ausrangierten Finger passt?«

Civilai grinste. »Und der Politiker?«

»Würde vor Kameras und Mikrofone treten, hehre Versprechungen machen, gewählt werden und den Wissenschaftlern die Schuld in die Sandalen schieben, wenn sie nicht die gewünschten Ergebnisse liefern.«

Sie widmeten sich wieder ihren Baguettes.

Ein paar Schritte weiter warf eine zierliche Frau in gelben Gummistiefeln ein großes Netz in den Fluss. Die Gewichte versanken im schmutzigen Wasser, und die Fischersfrau zerrte an den Seilen. Es war bereits der siebte Versuch, und wie schon bei den vorangegangenen sechs war der Ertrag gleich null.

»Ebenso gut könnte sie versuchen, mit einem Lasso eine Fliege zu fangen«, sagte Siri. »Dabei müsste sie doch bloß …«

»Und wie denkst du über den Finger?«, fragte Civilai, den Fische nur interessierten, wenn sie in Zitronensaft gedünstet waren.

»Ich denke, er könnte ein Hinweis sein.«

»Ah. Daher der Name Fingerzeig.«

»Ich vermute, er ist nur ein Teil des Puzzles. Es lag kein Brief bei, und auf dem Paket stand kein Absender. Es wäre natürlich durchaus möglich, dass die Zensoren im Ministerium für Misstrauen und Paranoia den Schrieb konfisziert haben. Aber ich glaube, der Rock selbst will uns etwas sagen.«

»Ein sprechender Rock?«

»In der Tat. Die Webart des phasin ist sehr ungewöhnlich, äußerst farbenfroh. Madame Daeng zufolge stammt er wahrscheinlich aus dem Norden. Sie hat ihn den Frauen auf dem Morgenmarkt gezeigt, die sich mit solchen Dingen auskennen. Will man seine Herkunft ermitteln, ist ein laotischer sin nicht minder aufschlussreich als ein Fingerabdruck.«

»Der Freistempel war in dieser Hinsicht wohl keine große Hilfe?«

»Er war so schwach, dass er sich nicht mehr entziffern ließ.«

»Mich wundert, dass den Finger bei der Post niemand bemerkt hat.«

»Er war ziemlich dürr. Mir ist er anfangs auch nicht aufgefallen. Erst als Köter den Rock immer öfter sabbernd beäugte, habe ich ihn genauer unter die Lupe genommen. Der Gute hat ein Näschen für abgetrennte Körperteile.«

»Und wie ist es um seine Kletterfähigkeiten bestellt?«

»Recht mäßig, wie bei Hunden üblich. Aber was spielt das für eine Rolle?«

»Ich habe mich nur gerade gefragt, ob du ihm womöglich beigebracht hast, einen Lautsprechermast hinaufzukraxeln.«

»Ach, Civilai. Jetzt fängst du auch noch damit an. Warum muss ich eigentlich jedes Mal als Sündenbock herhalten, wenn ein sowjetischer Haufen Elektroschrott in Rauch aufgeht?«

»Keine Ahnung. Vielleicht weil du schon zwei Mal wegen Fällens hölzerner Lautsprechermasten festgenommen worden bist?«

»Ich wurde beide Male freigesprochen.«

Gebannt verfolgten sie ein Luftscharmützel. An die hundert Schwalben jagten über dem Wasser hin und her und pflückten knusprige Mistkäfer aus der warmen Brise.

»Ich bin ziemlich sicher, dass sie nur deinetwegen auf Beton umgestiegen sind«, sagte Civilai.

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ein hinfälliger Greis von vierundsiebzig Jahren mit angegriffener Lunge, einer halb verkrüppelten Hand und einem fehlenden linken Ohrläppchen in der Lage ist, vier Meter hoch zu klettern, den Schaltkasten zu knacken, eine Handgranate darin zu deponieren und sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, bevor sie explodiert? … Gesetzt den Fall, es war eine Handgranate. Ich muss allerdings gestehen, dass ich eine gewisse Bewunderung für den Täter hege. Wer lässt sich schon gern in aller Herrgottsfrühe von zackigen Parteigesängen oder Ratgebereien à la ›Mit welchem Urin-Wasser-Mix muss ich mein Gärtlein düngen, um die dicksten Papayas zu ernten?‹ aus dem wohlverdienten Schlummer reißen? Von der Hitparade der Werktätigen des Monats und den Ernteberichten unserer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften nicht zu reden. Und das mit der Dezibelstärke eines Düsenjets direkt vor meinem, äh, seinem Schlafzimmerfenster. Ja, ich muss zugeben, dass mir der Halunke irgendwie sympathisch ist.«

»Früher oder später werden sie dich kriegen.«

»Noch gilt die Unschuldsvermutung, Bruder Civilai. Und was soll das ganze Theater überhaupt? Wegen einer geschmolzenen Lötstelle? Du tust ja gerade so, als wäre ich in Kambodscha einmarschiert.«

»Wie du wohl weißt, lassen die geringsten Vergehen sich am leichtesten bestrafen. Aber nach deiner unrühmlichen Begegnung mit Bruder Nummer Eins ist die Befreiung dessen, was von Kambodscha noch übrig ist, in deinen Augen vermutlich gar kein Verbrechen.«

»Nein, du hast ganz recht. Ein Hoch auf die heldenhaften Vietnamesen. Erst haben sie Pol Pot auf den Thron gehievt, und dann haben sie vier Jahre seelenruhig mit angesehen, wie er zwei Millionen Menschen ermordet hat. Nicht, dass sie in Kambodscha einmarschieren, ist ein Verbrechen, sondern dass es vier Jahre zu spät geschieht.«

Der achte Fischzug der Frau in den gelben Gummistiefeln bescherte ihr so reiche Beute, dass ihre Familie eine Woche davon leben konnte. Das Netz war derart schwer, dass sie Mühe hatte, es an Land zu ziehen. Die alten Knaben kamen ihr zu Hilfe. Am Ufer verlor Siri den Halt und stürzte in den Fluss. Er schluckte Wasser und lachte prustend.

»Das wird den Chinesen gar nicht gefallen«, meinte Civilai.

»Was? Die Fischerei?«

»Vietnam. China hat die Roten Khmer auch während des Völkermordes unterstützt. Selbst jetzt pumpen sie noch Unmengen von Hilfsgeldern ins Land.«

Als sie die steile Uferböschung schließlich erklommen hatten, fielen alle drei ins Gras und rangen nach Luft. Husten- und Lachanfälle folgten. Die Fischersfrau reichte ihnen je eine Silberbarbe als Belohnung und hievte ihren Fang in den Beiwagen ihres Fahrrads.

»Das werden sie nicht ungestraft durchgehen lassen«, sagte Civilai und ließ sich der Länge nach ins Gras sinken.

»Wer? Die Fische?«

»Die Chinesen.«

»Was sollen sie denn machen?«, fragte Siri. »Vietnam den Krieg erklären?«

Während chinesische Truppen auf die Nordgrenze Vietnams vorrückten, saß Siri an dem Tisch auf der Terrasse seines Hauses unweit des That-Luang-Tempels, das ihm von der Regierung zugewiesen worden war. Ihm gegenüber saßen seine verhältnismäßig frisch angetraute Gattin Madame Daeng und eine dürre, aber nicht unattraktive alte Dame in Kleidern, die wohl manch einer für zu groß gehalten hätte. Siri hingegen wusste, dass Madame Chanta vom Laotischen Frauenverband lediglich zu schrumpfen begonnen hatte. Auch er besaß Hosen, deren Beine ihm auf rätselhafte Weise zu lang geworden waren. Madame Chanta hatte ein herrliches Gebiss, weitaus schöner als die chinesischen Kunststoffprothesen, die es hinter dem Morgenmarkt zu kaufen gab. Ihr Haar war, bis auf eine kleine weiße Krone, die ihren Scheitel bekränzte, schwarz gefärbt. Sie habe den Kampf endgültig aufgegeben, sagte sie. Wenn ihr Haar denn unbedingt weiß werden wolle, werde sie ihm diesen Willen lassen.

»Und beten«, setzte sie hinzu, »dass ich damit ebenso umwerfend aussehe wie Sie, Madame Daeng.«

Siris Frau – die vor kurzem siebenundsechzig geworden war – trug das Haar grau, struppig und kurz, eine Frisur, die ihr liebreizendes Gesicht hervorragend zur Geltung brachte. Und heute zierte dieses Gesicht ein Lächeln so hell und strahlend wie die Venus. Siri ertappte sich immer wieder dabei, wie er seine Frau voller Stolz betrachtete, selbst wenn er wusste, dass sie dieses Lächeln allein ihrem Opiumtee verdankte. Es war Jahre her, dass Madame Daeng sich zuletzt mit Anmut und Grazie bewegt hatte, ehe das Rheuma ihr erst die Fußgelenke verknotet und dann die Muskeln und Nerven in den Beinen zu einem quälenden Makramee verschlungen hatte. Anders als Morphium dämpfte Opium die Schmerzen nicht; vielmehr gab es dem Kranken die Möglichkeit, ihnen die Stirn zu bieten und sie in einem entspannten Duell zu bezwingen, sich aus der Opferrolle zu befreien. In jüngster Zeit waren die Triumphe allerdings von immer kürzerer Dauer und immer geringerer Wirkung.

»Thai Lu«, sagte Chanta. »Eindeutig.«

»Woran erkennen Sie das?«, fragte Siri und starrte auf den alten phasin, der zwischen ihnen über den Tisch gebreitet lag.

»Nun, zum einen sind die meisten laotischen sin am Saum mit einem gemusterten Zierband, dem sogenannten tin sin, versehen. Die Lu hingegen setzen den Brokat etwas höher und lassen den Saum unverziert. Das ist der erste Anhaltspunkt. Obwohl jede Lu-Gruppe ihren eigenen Stil hat, gibt es die eine oder andere regionale Besonderheit. Sie haben vielleicht bemerkt, dass der Schuss hier vertikal verläuft. Die Lu weben Vorder- und Hinterteil häufig horizontal, schneiden sie dem Muster entsprechend zurecht und nähen sie an den Seiten zusammen. Außerdem ist er länger als die meisten anderen sin. Die Lu tragen ihre Röcke traditionell direkt unterhalb der Brust; wir nennen das die Empiretaille. Das hier …«

Während Chanta sich in immer neuen Details verlor, sah Daeng ihrem Gatten in die Augen und bemerkte einen vertrauten, leicht glasigen Blick. »Schwester«, sagte sie, »das haben Sie mir alles schon erklärt. Ich glaube, dem Doktor wäre es am liebsten, wenn Sie ihm einfach sagen würden, woher dieser phasin Ihrer Ansicht nach stammt. Seine Aufmerksamkeit ist schnell erschöpft.«

»Doktor«, sagte Chanta, »dies ist eine sehr schwere, handgesponnene Baumwolle, speziell für kaltes Wetter, wie wir es im Norden haben. Wie Sie sicher wissen, haben die Lu sich in mehreren nördlichen Provinzen angesiedelt, ohne jedoch ihre chinesischen Wurzeln zu kappen. Die Röcke der Lu haben meist einen schwarzen oder blauen Saum. Aber auch die Farbe Grün ist im Norden recht verbreitet. Darum bin ich ziemlich sicher, dass dieser sin aus Luang Nam Tha stammt.«

»Luang Nam Tha?«, fragte Siri.

»Ich glaube schon.«

»Dann sehen wir uns dort doch einmal um.«

Siri fuhr Madame Chanta auf seiner Triumph nach Hause. Die naheliegende Frage, ob ein abgetrennter Finger zur Grundausstattung eines sin aus Luang Nam Tha gehöre, hatte er sich wohlweislich verkniffen. Da seine Beifahrerin auf Grund ihrer zierlichen Gestalt und ihrer weiten Kleider zwei Mal fast vom Sattel geweht wurde, drosselte er das Tempo des Motorrades auf Schrittgeschwindigkeit. Worauf sie von den Auspuffgasen prompt einen Hustenanfall bekam. Sie dankte ihm und drohte, das Schicksal werde sie schon bald wieder zusammenführen.

Bei Siris Rückkehr saß Madame Daeng noch immer an dem Tisch auf der Terrasse, wo vier ihrer Mitbewohner ihr Gesellschaft leisteten: Genosse Noo, der thailändische Waldmönch, geschickt getarnt in Turnhemd und Bermuda-Shorts, Herr Inthanet, der Puppenspieler, die stumme Vagabundin, deren Namen und Vorgeschichte sie auch nach drei Monaten des Zusammenlebens noch nicht kannten, und der Verrückte Rajid, der indische Stadtstreicher. Rajid hatte sich der Hausgemeinschaft, der inzwischen elf Streuner und Exilanten angehörten, erst vor einer Woche angeschlossen. Er war mit einem tadellosen Koffer vor ihrer stets offenen Tür erschienen und hatte in tadellosem Laotisch gefragt: »Wo schlafe ich?«

Und das, nachdem er zwei Jahre kein Wort über die Lippen gebracht hatte. Umso größer war ihr Schock, als sie ihn nun sprechen hörten. Siri und Daeng wiesen auf eine Ecke des großen Wohnzimmers, wo er mit Kreide einen Umriss seiner selbst auf die grünen Zierfliesen malte, ehe er von neuem verstummte. Streng genommen bedeutete dies, dass Rajid nun kein Obdachloser mehr war. Siri und Daeng hätten einem Menschen in Not zwar nie die Hilfe verweigert, konnten sich, ehrlich gesagt, jedoch durchaus Angenehmeres vorstellen, als auf ihre alten Tage mit diesem bunten Haufen von Vaganten und Herumtreibern unter einem Dach zu hausen.

Bis vor wenigen Monaten hatte das Pärchen über Daengs berühmter Nudelküche am Flussufer gewohnt. Siri hatte die Ruhe und die traute Zweisamkeit genossen, ein seltener Luxus in einer Stadt, wo sich in den winzigen Zimmern der alten französischen Kolonialvillen nicht selten vielköpfige Familien drängten. Über dem Restaurant hatte er in seiner illegalen Bibliothek gesessen und die Klassiker gelesen oder sich stundenlang ungestört mit seiner Gattin unterhalten. Dort hatten sie sich nach Lust und Laune in ihr Ehebett zurückziehen können, ohne über Schlafende hinwegsteigen oder gar befürchten zu müssen, dass verängstigte Kinder es sich auf der Besucherritze gemütlich machten.

All diese Privilegien hatte ihnen ein mordlüsterner Irrer mit zwei Kanistern Benzol und einem Einwegfeuerzeug genommen. Die Mauern standen noch, doch die Bücher und die Zweisamkeit waren nur noch verkohlte Erinnerungen. Siris vorheriger Unterkunft war es kaum besser ergangen – Granaten hatten sie dem Erdboden gleichgemacht –, weshalb ihm der Ruf vorauseilte, ein eher glückloser Eigenheimbesitzer zu sein. Nicht wenige waren der Ansicht, es geschehe ihm ganz recht – er ziehe Katastrophen an wie ein Magnet. Männer seines Alters sollten sich tunlichst nicht so weit aus dem sprichwörtlichen Fenster lehnen und ihr Temperament ein wenig zügeln. Er brauche sich lediglich zu fügen und an die Spielregeln zu halten, dann könne er seinen Ruhestand in Frieden genießen. Doch er langweilte sich schier zu Tode. Ohne seine Bücher blieb ihm nur die schnöde Realität. Ohne seine Pathologie drohten seine grauen Zellen zu verkümmern. Und ohne ein freies Zimmer konnte er seiner Frau nicht mehr beweisen, dass er in vielerlei Hinsicht ein bemerkenswerter Mann war. Er hatte begonnen, an sich selbst zu zweifeln.

Und aus ebendiesem Grund empfand er den in den phasin eingenähten Finger als einen veritablen Segen.

Er setzte sich neben Daeng auf die Bank und schob sie mit dem Hinterteil ein wenig beiseite, um sich den nötigen Platz zu verschaffen. Er drückte ihr Knie und fragte sich, ob sie es spürte.

»Also, wann fahren wir?«, wollte er wissen.

»Wohin?«, fragte seine Frau.

»Nach Luang Nam Tha«, sagte Siri. »Malerische Landschaft. Kühles Wetter …«

»Drogenbarone und Gewalt«, setzte Inthanet hinzu, der das hausinterne Monopol für Pessimismus innehatte. Der alte Puppenspieler besaß eine mehr als nur flüchtige Ähnlichkeit mit Dr. Siri und hatte den Arzt bei der einen oder anderen Gelegenheit gedoubelt, um ihm aus der Bredouille zu helfen. Was ihm seiner Meinung nach das Recht gab, den Miesepeter zu spielen.

»Ah, mein Freund, Sie denken an die schlechte alte Zeit«, sagte Siri. »An die chinesischen Ho-Banditen und den schwunghaften Opiumhandel der Franzosen. Aber wir sind jetzt ein sozialistischer Staat. Der hohe Norden ist so sicher wie ein Bummel über die Samsenthai Avenue an einem lauen Frühlingsabend. Was meinst du, holde Gemahlin?«

»Meinetwegen gern …«, begann sie.

»Sturm und Drang, das lob ich mir«, sagte Siri.

»… aber wie sollen wir dorthin kommen? Wir haben kein funktionierendes Verkehrsnetz. Wir können nicht einfach zum Flughafen fahren, ein Ticket kaufen und uns in die nächste Maschine setzen. Ganz abgesehen davon, dass wir uns das ohnehin nicht leisten könnten. Allein die Bewilligung der laissez-passers könnte ein halbes Jahr in Anspruch nehmen.«

»Ich weiß«, sagte Siri. »Nur scheinst du zu vergessen, dass ich eine Menge einflussreicher Leute kenne.«

»Stimmt«, bekräftigte Inthanet, »aber die zählen nicht gerade zu Ihren glühendsten Verehrern.«

»Erpressung«, gab Noo, der Waldmönch, zu bedenken.

»Siehst du?«, sagte Siri. »Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.«

»Ich fürchte, deine Mittel zur unlauteren Einflussnahme sind erschöpft«, meinte Daeng.

»Unsinn«, entgegnete Siri. »Wenn alle Stricke reißen, bleibt immer noch Richter Haeng. Darf ich dich daran erinnern, dass ich den schäbigen kleinen Mann fest in der Tasche habe? Und wir dürfen mit Recht annehmen, dass er vor kaum einem Unrecht dieser Welt zurückschreckt.«

Er lächelte bei dem Gedanken an den Brief, der zusammengerollt im Schaft seines burmesischen Jagdstocks steckte. Hätten die Verantwortlichen im Justizministerium ihn zu Gesicht bekommen, wäre nicht nur die Karriere, sondern mit ziemlicher Sicherheit auch das Leben des jungen Richters beendet gewesen. Erpressung? Aber ja doch. Der Gipfel aller Überredungskunst.

»Hmm, da werden Sie nicht viel Glück haben«, sagte Inthanet.

»Warum?«

»Weil er nicht mehr beim Justizministerium ist. Er leitet einen Schulungskurs im Auswärtigen Amt, solange gegen ihn ermittelt wird.«

»Was hat er denn ausgefressen?«, fragte Daeng. »Als ich ihm das letzte Mal begegnet bin, war er Chef der Staatsanwaltschaft.«

»Es gab Gerüchte«, sagte Inthanet.

»Welcher Art?«

»Angeblich hielt er sich einen Privatharem, einen Stall junger Frauen, über ganz Vientiane verteilt.«

»Das ist doch nichts Neues«, meinte Siri.

»Wie es scheint, hat er zwei von ihnen verprügelt, worauf sie sich an den Frauenverband wandten. Der drängte die Justizbehörde, eine Untersuchung einzuleiten. Dem Ministerium blieb nichts anderes übrig, als den Richter auf einen inaktiven Posten zu versetzen.«

»Und wen schult der werte Herr?«, fragte Daeng.

»Haus- und Dienstpersonal.«

Siri und Daeng lachten. Die Stumme blinzelte.

»Seit wann ist Haeng Hauswirtschaftsexperte?«, fragte Siri. »Und was hat das mit dem Auswärtigen Amt zu tun?«

»Es ist eine Spionageschule«, sagte Inthanet. »Und jeder, der für Ausländer in Vientiane arbeitet, muss sie besuchen. Ob Dienstmädchen, Gärtner oder Koch – alles hochqualifizierte Undercoveragenten.«

»Unfug«, meinte Siri.

»Gut, sie haben vielleicht keine Mikrokameras, Telefonabhörsysteme oder Rucksäcke mit Düsenantrieb wie James Bond, dafür wird ihnen beigebracht, wie man Gespräche belauscht oder persönliche Unterlagen durchforstet. Und sie müssen einen wöchentlichen Bericht über sämtliche Besucher des Hauses einreichen, Namen, Autokennzeichen und so weiter.«

»Meine Güte«, seufzte Siri. »Wie weit ist es mit dieser Welt gekommen? Woher wissen Sie das alles?«

»Von meiner Verlobten«, sagte Inthanet. »Sie ist Köchin. Um ihre Zulassung zu erhalten, musste sie den Kurs absolvieren.«

»Ich dachte, Ihre Verlobte sei Korbflechterin«, warf Daeng ein.

»Aber das war doch nur ein Abenteuer. Diesmal ist es ernst.«

»Sie wissen schon, dass Sie nicht jeder Frau, mit der Sie einmal ausgegangen sind, gleich einen Heiratsantrag machen müssen?«

»Madame Daeng, Sie würden sich wundern, wie dankbar Frauen sein können, wenn ein Mann das Wort ›heiraten‹ auch nur in den Mund nimmt. Sie entwickeln die staunenswerte Fähigkeit, über seine schlaffen Muskeln und sein zerknittertes Äußeres geflissentlich hinwegzusehen.«

»Sie sind ein elender Lustgreis, Genosse Inthanet.«

Der elende Lustgreis lächelte der Stummen zu, die sein Lächeln knapp erwiderte.

»Wir müssen Richter Haeng retten«, sagte Siri. »Und ihn ins Justizministerium zurückbringen, denn da gehört er hin.«

»Der Mann schlägt Frauen«, rief Daeng ihm ins Gedächtnis.

»Er ist weiß Gott nicht ohne Fehl und Tadel«, sagte Siri, »aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er eine Frau verprügelt. Ich traue ihm zwar durchaus zu, dass er jemanden dafür bezahlt, aber er würde sich niemals selbst die Hände schmutzig machen.«

»Gehe ich recht in der Annahme, dass diese Aktion wenig mit deiner Wertschätzung für den Richter, geschweige denn dem Ringen um Gerechtigkeit zu schaffen hat?«, fragte Daeng.

»Du gehst. Wir müssen nach Luang Nam Tha, und er ist der Einzige, der uns dabei helfen kann.«

Tags darauf radelte Siri auf seinem alten Pigeon über staubige Straßen zum Frauenverband. Sein Hund Köter trottete neben ihm her. Das schöne Wetter, das im August Einzug gehalten hatte, ging nun schon in den siebten Monat, und das schmeckte den Herren an der Regierung gar nicht. Die Überschwemmungen und Dürren der vergangenen drei Jahre hatten ihnen als willkommene Entschuldigung gedient für alles, was faul war im Staate Laos. Nun mussten sie für die von ihnen verursachten Katastrophen selber geradestehen. Derzeit schoben die Behörden den Versorgungsmangel in und um Vientiane auf die Invasion Kambodschas und die humanitäre Hilfe, die Laos seinen Nachbarn angedeihen ließ. In Wahrheit belief sich ihr erstes und einziges Hilfspaket auf eine lumpige Million Dollar, die sie sich obendrein in Vietnam geliehen hatten. Die Märkte waren wie leergefegt, weil die Bauern nur noch das produzierten, was sie zum Leben brauchten.

Die kühlen, sonnigen Januartage taten dem Garten sichtlich gut. Ungeachtet eines Parteidekrets, wonach sämtliche verfügbaren Flächen für den Anbau von Obst und Gemüse zu nutzen seien, wetteiferten Tantensehne, Abrisselefant und Furzgeistgarbe in den Rabatten um Gunst und Beifall des Betrachters; die Jungfernbrüstchen standen in strahlend gelber Pracht. Den Verbandsfrauen war offenbar bewusst, dass dem Anblick eines schönen Gartens eine belebende Wirkung innewohnte. Auf dem Weg ins Foyer atmete Siri den betörenden Duft tief ein.

»Hallo, Dr. Siri«, sagte die quirlige, quietschvergnügte junge Frau, die ihn in Empfang nahm. Wie ein Springball kam sie auf ihn zugehüpft und streckte ihm die Hand entgegen. Der Handschlag war mit den Franzosen eingereist und von den Kommunisten eingebürgert worden, doch dass nun auch Frauen einem die Hand zur Begrüßung boten, an diese neue Mode konnte sich ein alter Mann nur schwer gewöhnen. Er wusste nie so recht, wie er darauf reagieren sollte. Er kitzelte ihre Fingerspitzen.

»Hallo, Boun«, sagte er. »Ist Ihre Chefin zu sprechen?«

»Die ist in einer Konferenz«, sagte das Mädchen.

»Wenn einem dieses Land zwischen all den Sitzungen und Konferenzen nur ein, zwei Stündchen Zeit ließe, könnten wir vielleicht endlich einmal etwas Sinnvolles auf die Beine stellen.«

»Immer noch der alte Griesgram, Dr. Siri?«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Er drehte sich um und erblickte Dr. Porn, die mit einem kleinen Aufgebot von Frauen im Gefolge aus dem Konferenzraum kam. Sie wirkte, wie immer, wie aus dem Ei gepellt, und doch schien sie nervös. Schweiß glänzte auf ihrer haarlosen Stirn.

»Immer noch kein Glück mit den Augenbrauen?«, fragte Siri lächelnd.

»Ich habe daran gedacht, mir Steroidinjektionen verabreichen zu lassen«, sagte sie. »Aber ein Bart würde mir, glaube ich, nicht stehen. Hier hinein.«

Sie nahm ihn am Arm und führte ihn in ihr Büro. Es hatte keine Tür. Im Lauf der nächsten Viertelstunde schilderte sie ihm, bei einer Tasse Tee, Richter Haengs gewalttätige Angriffe auf zwei junge Frauen in allen Einzelheiten. Die Beweislage gegen den Richter war erdrückend. Er war im Dunkeln, während sie schliefen, in die Räumlichkeiten der jungen Damen eingedrungen. Erst hatte er mit ihnen gesprochen; dann, ohne die geringste Provokation, hatte er zugeschlagen. Sie zeigte dem Doktor die Fotos, die sie von den beiden Opfern gemacht hatten. Auch zwei Tage nach der Attacke waren die Prellungen und blauen Flecken deutlich zu erkennen.

»Was hat der Richter gesagt?«, fragte Siri.

»Er hat natürlich alles abgestritten. Und behauptet, man wolle ihm etwas in die Schuhe schieben.«

»Hat er so etwas früher schon einmal gemacht?«

»Nein, laut Aussage der Mädchen nicht. Wie es scheint, war das ein einmaliger Gewaltausbruch. Wir konnten ihn zwar nicht auf Alkohol oder andere Betäubungsmittel untersuchen lassen, aber alles deutet darauf hin, dass er unter Drogeneinfluss stand.«

Siri radelte auf seinem alten Pigeon über den Hügel zum Auswärtigen Amt. Köter trottete weiter frohgemut neben ihm her. Es wurde abwechselnd heiß und kalt, da widrige Winde um die Vorherrschaft in der staubigen Metropole rangen. Die Sonne glitt von Wolke zu Wolke, und die einen Vögel flogen gen Süden, die anderen gen Norden. Es waren ungewisse Zeiten.

Der Wachposten am torlosen Eingang des Ministeriums hatte Übergewicht. Siri musste an ein internes Schreiben der Gesundheitsabteilung denken, das in seinem ersten Jahr in der Hauptstadt die Runde gemacht hatte. Demnach war übergewichtigen Menschen grundsätzlich nicht zu trauen, da sie Zügellosigkeit und Völlerei symbolisierten, beides beklagenswerte Wesenszüge des Kapitalismus. In den Augen des Doktors war der junge Mann in seiner zusammengewürfelten Arbeitsuniform eher ein Symbol für Drüsenkrankheit und Kleingeisterei.

Die Wache brüllte Siri an. »He, Sie! Was fällt Ihnen ein, das Fahrrad gegen den Torpfosten zu lehnen? Und wo wollen Sie mit der räudigen Töle hin? Damit kommen Sie hier nicht rein.«

Ein mutiger Vorstoß für einen unbewaffneten Mann, dessen Schenkelinnenseiten beim Gehen aneinanderscheuerten, doch Siri und Köter ignorierten ihn. Der Posten trat einen Schritt auf sie zu, und Köter knurrte ihn an. Der Posten trat einen Schritt zurück. »Das werde ich melden«, schrie er.

Siri nickte.

Der Kurs für Domestiken fand in einem bunkerähnlichen Raum im Seitenflügel des schmuddeligen zweistöckigen Ministeriums statt. Links und rechts der Tür befand sich je ein kleines scheibenloses Fenster, und beide Fensterläden und die Tür standen sperrangelweit offen, als schnappten sie gierig nach Luft. Gut vierzig Dienstboten und Dienstbotinnen sämtlicher Gewichts- und Altersklassen saßen auf schmalen Bänken an klobigen Tischen. Jeder von ihnen hatte ein Blatt Papier vor sich liegen und einen Bleistift in der Hand, doch niemand schrieb, und soweit Siri sehen konnte, waren alle Blätter jungfräulich und leer. Richter Haeng trug ein graues Safarihemd mit noch graueren Schweißflecken unter den Achseln, und rings um seine Nase blühte eine stark entzündete, eitrige Akne. Er versuchte seinen Schülern beizubringen, wie man ausländischen Brotherren wichtige Informationen ablauschte. Auf Französisch wäre diese Lektion vielleicht sinnvoll gewesen, denn viele ehemalige Gouvernanten französischer Kinder standen nach wie vor als Hausmädchen in Diensten. Und vom Englischen hätten wenigstens die Ex-Angestellten der Amerikaner bei Kilometer 6 profitiert. Doch die überwiegende Mehrzahl der ausländischen Experten kam inzwischen aus dem Ostblock, darunter fast zweitausend Russen, und die Sowjets knauserten mit ihrem ohnehin kärglichen Salär und stellten daher nur ungern einheimisches Personal ein. Und wenn sie es doch einmal taten, wie der Botschafter und der Leiter des Kulturzentrums, so sprachen sie mit ihren Dienstboten entweder Französisch oder Englisch. Weshalb Siri die Verständnisübung – den russischen, ins Laotische transkribierten und übersetzten Satz WIR WOLLEN DIE LAOTISCHE REGIERUNG STÜRZEN, den Haeng mit Kreide an die Tafel geschrieben hatte – etwas überambitioniert fand.

Siri und Köter ließen sich auf der Bank vor dem Seminarraum nieder und ergötzten sich weitere zwanzig Minuten an Qual und Leid des Richters.

»Geschieht ihm recht«, sagte eine Stimme in Siris Kopf, die allein er hören konnte. Nur wenige lebende Menschen wussten um die geheimen Vorgänge zwischen seinen Ohren. Die Sache lag ein klein wenig kompliziert. Dr. Siri bewohnte seinen altersschwachen Körper nämlich nicht allein. Sein Hauptmieter war Yeh Ming, ein tausendjähriger Hmong-Schamane. Yeh Ming hatte sich in der Geisterwelt eine Reihe erbitterter Feinde gemacht und in der sterblichen Hülle des Doktors vor ihnen Zuflucht gesucht. Er ließ nie etwas von sich hören, und Siri stand mit ihm in keinerlei persönlichem Kontakt, doch wer über die entsprechenden Fähigkeiten verfügte, konnte die Gegenwart des Schamanen spüren. Dann waren da noch diverse private Geister, wie die Mutter, an die er sich nicht erinnern konnte, sowie sein ehemaliger Haus- und Hofhund Saloop. Und, irgendwo in weiter Ferne, die gedämpften Atemzüge mehrerer tausend notgeplagter Khmer, die als blinde Passagiere mit ihm aus Kambodscha geflohen waren.

Doch als sei es im Jenseits noch nicht eng genug, hörte er nun auch noch die Stimme von Tante Bpoo, dem Wahrsager in Frauenkleidern. Bpoo hatte vor ein paar Monaten das Zeitliche gesegnet und sich ungefragt in Siris Unbewusstem eingenistet. Der Doktor hatte gehofft, sie werde ihn gleichsam bei der Hand nehmen und ihm helfen, das Chaos in seinem Kopf in eine sinnvolle Ordnung zu bringen, aber obgleich er ihre Stimme hören konnte, hatten sie bislang keine Möglichkeit zur wechselseitigen Verständigung gefunden. Es war, als ob jemand vergessen hätte, das Mikro auszuschalten, sodass im Hintergrund ständig ein leises Rauschen zu vernehmen war. Von Zeit zu Zeit trat Bpoo ans Mikrofon und machte eine Bemerkung wie »Geschieht ihm recht«. Siri glaubte zwar immer noch, dass so gut wie alles erlernbar sei, doch vorerst musste er mit den Toten in seinem Schädel leben, ohne den geringsten Einfluss darauf, wann oder wie sie mit ihm kommunizierten.

Schließlich entließ der Richter seine Eleven mit der Losung: »Ein guter Sozialist ist wie ein Automobil. An der Zapfsäule des Lebens tankt er wertvolles Wissen, das ihm hilft, sicher an sein Ziel zu gelangen. Und alle widersprüchlichen oder gar antikommunistischen Informationen bläst er einfach durch den Auspuff.« Die Schüler ergriffen panisch die Flucht, als hätte eine Luftschutzsirene sie aus ihrer Lethargie gerissen. Als Siri den Seminarraum betrat, saß der Richter am Lehrerpult und stützte den Kopf in die Hände. Er sah aus, als würde er weinen.

»Und? Schon eine Schwäche für eines Ihrer Hausmädchen entwickelt?«, fragte Siri.

Der Richter hob den Blick. Seine Miene glich der eines Ertrinkenden, der einen Betonquader gereicht bekommt. »Siri«, seufzte er und vergrub das Gesicht wieder in den Händen.

»Sie haben eine wirklich wunderschöne Handschrift«, sagte Siri. Es war vermutlich das erste Mal, dass er Haeng ein Kompliment gemacht hatte. Und ohne Zweifel auch das letzte.

»Was wollen Sie?«, fragte der Richter durch die gespreizten Finger.

»Meine Frau und ich würden gern nach Luang Nam Tha reisen.«

Wieder blickte der Richter auf und lachte. »Siri, sehen Sie denn nicht, wo ich gelandet bin?«

»Doch, meine Augen funktionieren tadellos.«

»Und?«

»Ich kann Sie hier herausholen.«

»Wenn ich, als Chef der Anklagebehörde, mich schon nicht aus diesem Höllenpfuhl befreien kann, wird Ihnen das erst recht nicht gelingen.«

»Aber, aber, mein verehrter Richter, Sie dürfen nicht vergessen, dass ich weitaus klüger und gerissener bin als Sie. Ich dachte, das hätten Sie inzwischen begriffen. Was halten Sie davon, wenn wir eine kleine Abmachung treffen? Ich sorge dafür, dass Sie auf Ihren alten Posten zurückkehren können, und Sie schicken Daeng und mich in den Norden.«

Der Richter trommelte mit seinen überlangen Fingernägeln auf die Tischplatte. Er sah an Siri vorbei, als spräche er mit jemandem, der hinter dem Doktor stand. »Was, in drei Teufels Namen, wollen Sie in Luang Nam Tha?«, fragte er.

»Ein paar Tage Urlaub machen. Sind wir uns einig?«

»Sie werden es nie im Leben …«

»Sind wir uns einig?«

Der Richter durchforstete seinen Vorrat an widerwärtigen Gesichtsausdrücken und entschied sich für ein hämisches Grinsen. »Sollten Sie tatsächlich dafür sorgen können, dass ich meine alte Stellung zurückbekomme, ja. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.«

»Gut, aber da ich in Ihr Ehrenwort nicht allzu viel Vertrauen setze, habe ich vorsichtshalber das hier mitgebracht.« Siri griff in seine Umhängetasche und zog ein Blatt Papier daraus hervor.

»Was ist das?«, wollte der Richter wissen.

»Die Kopie eines Briefes, in dem Sie die USA um Immunität ersuchen.«

Der Richter wurde kreidebleich. »Sie haben mir versichert … Sie haben gesagt, Sie hätten ihn vernichtet.«

»Ja, nicht wahr?« Siri lächelte. »Wie es scheint, ist mein Manneswort wenig mehr wert als das Ihre.«

»Siri, Sie müssen mir glauben. Man will mir etwas anhängen«, sagte der Richter mit einem ehrlichen Ausdruck in seinem unehrlichen Gesicht.

»Sie meinen, die Frauen haben die Liebesnester selber angemietet und Sie quasi gezwungen, mit ihnen zu schlafen?«

»Nein. Daran war ich durchaus beteiligt.«

»Nur beteiligt?«

»Na schön. Ich hab’s getan. Ich gebe es zu. Ich bitte Sie, Siri. Sie sind ein Mann. Sie wissen, wie das ist. Bei manchen Frauen kann man einfach nicht Nein sagen. Ich sehe schließlich verdammt gut aus.«

Zu Siris Erstaunen brachte der Mann diese Worte über die Lippen, ohne seine pockennarbige Visage zu verziehen.

»Außerdem bin ich unverheiratet«, fuhr der Richter fort. »Unverheiratete Männer haben Liebschaften. Das ist der Lauf der Natur. Und bei anderen Lebewesen nicht anders.«

»Es dürfte nicht allzu viele Schildkröten geben, die staatseigene Wohnungen zweckentfremden und mit aus Thailand eingeschmuggelten Federkernmatratzen ausstaffieren«, sagte Siri, eine Information, die Tante Bpoo ihm kurz vor ihrem Ableben anvertraut hatte. Der alte Transvestit war nicht nur eine überaus verlässliche Wahrsagerin, sondern auch maßlos neugierig gewesen. Und hatte der Versuchung, die Gedanken der Reichen und Einflussreichen auszuforschen, nur selten widerstehen können.

»Woher …?«

»Ich habe meine Quellen.«

»Siri, ich habe weiter nichts getan, als ein paar armen, obdachlosen Mädchen zu einer Bleibe zu verhelfen. Die Räumlichkeiten waren ungenutzt. Bei dem ganzen Papierkram dauert es mindestens ein Jahr, wenn nicht zwei, bis einer Familie eine geeignete Unterkunft zugewiesen wird. Und so lange stehen die Wohnungen leer. Ich habe lediglich auf brachliegende Ressourcen zurückgegriffen. Unser Präsident hat uns ausdrücklich dazu angehalten. Ein guter Sozialist kann …«

»Unterstehen Sie sich!«

»Ich schwöre Ihnen, ich habe diese Frauen nicht angerührt … jedenfalls nicht in gewalttätiger Absicht.«

»Warum behaupten sie dann steif und fest das Gegenteil? Und nicht nur eine, sondern gleich zwei.«

»Ich kann mir das beim besten Willen nicht erklären. Eine der beiden hatte ich seit vier Wochen nicht gesehen, und plötzlich kreuzt sie beim Frauenverband auf, von Kopf bis Fuß mit blauen Flecken übersät.«

Siri war dem Richter, wohlgemerkt, in keiner Weise zugetan. Die beiden Männer verband im wahrsten Wortsinn nichts. Aus Erfahrung wusste er, dass Haeng ein Lügner und Betrüger war. Wenn auch kein besonders guter, und diese Nummer überstieg die schauspielerischen Fähigkeiten des kleinen Mannes bei weitem. Nur: Was hatten die Mädchen davon, so eine Geschichte zu erfinden? Wenn der Richter seinen Posten verlor oder, schlimmer, im Gefängnis landete, war ihr kleines, vergleichsweise luxuriöses Leben passé, und es hieß zurück aufs Feld.

Siri notierte die Adressen der richterlichen Konkubinen und versprach, ihnen beizeiten seine Aufwartung zu machen.

2 DIE HÜHNEROBDUKTION

Auf der nächsten Etappe seiner Radtour durch Vientiane lehnte Siri das Pigeon gegen einen kürzlich enthaupteten Baum vor der Pathologie. Obwohl in seiner Abwesenheit verschiedene andere Bäume auf gleiche Art und Weise verstümmelt worden waren, wirkte das Klinikgelände traurig und verwahrlost wie eh und je. Auf den Fußwegen wuchs Gras, nicht jedoch auf den verdorrten Rasenflächen. Die Laborziegen, die einmal wöchentlich zum Wohl der Wissenschaft ihr Blut hingaben, waren abgezehrt und sahen aus, als könnten sie selbst eine Transfusion vertragen.

Siri und Köter traten sich die Füße respektive Pfoten an dem neuen Plastiktürvorleger ab, der Siris alte WELCOME-Matte abgelöst hatte, und gingen hinein. Die Pathologie schien bar jeglichen Lebens. Herr Geung war nicht mehr da. Der Mann, der Siri während dessen gesamter Amtszeit als Sektionsassistent zur Seite gestanden hatte, war mit der Unschuld des Down-Syndroms gesegnet. Jahrelang hatte er gefegt und gewischt, kaputte Jalousien repariert und durchgebrannte Glühbirnen gewechselt. Aber kaum war Siri in den Ruhestand getreten, hatte die Mahosot-Klinik Herrn Geung entlassen. Bis zu dem Brand hatte er in Daengs Restaurant als Oberkellner Dienst getan. Dann, zum zweiten Mal arbeitslos geworden, hatte er sich ins Dorf seiner Verlobten Tukta aufgemacht, um einige Zeit auf dem Hof ihrer Familie zu verbringen – der inzwischen zu einer der vielen Katastrophen-Kooperativen gehörte.

Die Pathologie lag zumeist brach, doch heute hatte Siri sich mit Schwester Dtui im Gedenken an alte Zeiten zu einer kleinen Obduktion verabredet. Dtui war die Dritte in ihrem höchst erfolgreichen Bund gewesen. Zusammen hatten sie Fälle gelöst, an denen die Polizei krachend gescheitert war. Zwar hatte man sie für ihren Einsatz nie offiziell gewürdigt, aber im Laos des Jahres 1979 war für Lob und Lorbeer nun einmal kein Platz.

Als Siri in den Sektionssaal kam, war Dtui eben dabei, mit einem 7er-Beil auf ein gerupftes Hühnchen einzuhacken. Ihr massiger Leib wogte im Takt einer unhörbaren Melodie. Ihr Töchterchen Malee baumelte derweil in einer Hängematte, die sie zwischen der Tür der Kühlkammer und einem Betonpfeiler aufgespannt hatte.

Siri trat neben Dtui hin und bewunderte ihre Arbeit. »Unfall?«, fragte er.

»Mord«, sagte Dtui. »Umgedrehte Gurgel. Sehen Sie die Unterblutung der Clavicula und die lateralen Abschürfungen und Quetschungen im Halsbereich?«

»Reichen die forensischen Beweise aus, um den Täter zu überführen?«

»Nicht nötig. Ich war’s. Ich gestehe.«

»Motiv?«

»Abendessen.«

»Das dürfte sich strafmindernd auswirken. Sie würden mich wohl nicht zufällig einen kleinen Y-Schnitt setzen lassen, nur damit ich nicht völlig aus der Übung komme?«

»Langweilen Sie sich, Doktor?«

»Zu Tode. Was macht das Lehrerinnendasein?«

»Es ist eine Qual. Blutjunge Schwesternschülerinnen aus der Provinz, die bei der leisesten Erwähnung eines Geschlechtsorgans zu gackern anfangen. Das Wörtchen ›Penis‹ vermag regelrechte Lachstürme zu entfesseln. Und das Ministerium hat uns Lehrern seit Oktober kein Gehalt mehr ausbezahlt. Die denken wahrscheinlich, ich mache das alles nur aus Jux und Tollerei. Das hier war unser letztes Huhn. Wenn das verputzt ist, werden wir uns wohl oder übel von Yamswurzeln und Erdkrumen ernähren müssen. Sein Polizeisparschwein hat Phosy schon Ende letzten Jahres geschlachtet, sprich auch mit Bratwurst ist es Essig. Die Märkte sind wie leergefegt. Die Bauern haben aus Protest gegen den ganzen Kooperativen-Wahnsinn die Tierzucht eingestellt und treiben stattdessen Unzucht miteinander.«

»Ich habe davon gelesen.«

»Ich kann es ihnen nicht verdenken. Wer will seinen stinkfaulen Nachbarn schon die Hälfte seines Viehbestands abtreten? Die Regierung bezahlt ihnen so wenig, dass die Züchter es vorziehen, ihre Tiere im Wald zu verstecken, wenn die Hühnerzähler zu Besuch kommen.« Dtui registrierte den glasigen Blick des Doktors.

»Das Lehrerinnendasein?«, sagte sie. »Ist selbstredend das reinste Zuckerschlecken.«

»Das freut mich«, sagte er. »Finden Sie nicht auch, dass dieses Hühnchen recht eindeutige Anzeichen für Tabaksucht aufweist? Die Lunge ist leicht geschwärzt. Nikotinflecken an den Klauen. Ich würde sagen, wenn Sie es nicht erwürgt hätten, wäre es binnen einer Woche an Lungenkrebs verendet.«

»Dann kann ich es wenigstens reinen Gewissens braten«, erwiderte sie. »Warum haben sie mich hierherzitiert, Doc?«

»Ich dachte schon, Sie fragen nicht mehr.«

Hustend zog er eine Plastiktüte aus seiner Umhängetasche. Er legte sie auf den Sektionstisch, entnahm ihr den phasin und erzählte Dtui, wie er in seinen Besitz gelangt war. Dann griff er mit großer Geste in den aufgetrennten Saum und förderte den abgeschnittenen Finger zutage.

»Igitt«, stieß Dtui hervor.

»Sie sagen es«, bekräftigte Siri. »Darum habe ich Sie hierherzitiert.«

»Um meinen Magen auf die Probe zu stellen?«

»Um dahinterzukommen, warum mir jemand einen Finger geschickt hat. Wie ich inzwischen weiß, stammt der Rock selbst aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem Norden. Nun müssen wir nur noch herausfinden, was aus dem rechtmäßigen Besitzer des Fingers geworden ist.«

»Sie sind der Leichenbeschauer.«

»Ich war der Leichenbeschauer.Und Sie sind meine designierte Nachfolgerin.«

»Dazu fehlt mir die Qualifikation.«

»Aber keineswegs die Kompetenz. Sie haben mir noch den letzten Milliliter Wissen aus dem Leib gepresst, zahllose Bücher verdaut, in Sprachen, die ich nicht einmal lesen kann, und Sie besitzen einen untrüglichen Instinkt. Sie sind nur deshalb noch nicht staatliche Leichenbeschauerin, weil diese Geizhälse in der Nationalversammlung es sich nicht leisten wollen, Sie in die Sowjetunion zu schicken, damit Sie endlich Ihren Doktor machen können.«

»Außerdem habe ich eine einjährige Tochter und einen Mann, der von mir erwartet, dass etwas zu essen auf dem Tisch steht, wenn er nach einem anstrengenden Polizeiarbeitstag nach Hause kommt.«

»Und wo treibt sich unser wackerer Phosy derzeit so herum?«

»Luang Nam Tha.«

»Nein! Ha! Sehen Sie?« Siri schlurfte mit erhobenen Armen um den Sektionstisch.

»Sehe ich was?«, fragte Dtui.

»Es gibt keine Zufälle im Leben, Schwester Dtui. Ich bekomme ein Paket aus Luang Nam Tha, und er ist in Luang Nam Tha. Äußerst verdächtig, wenn Sie mich fragen. Und was macht er dort?«

»Das ist streng geheim.«

»Raus mit der Sprache.«

»Woher soll ich das wissen? Es ist streng geheim.« Errötend wandte sie sich ab.

»Dtui, Ihr Mann bespricht all seine Fälle mit Ihnen. Er wäre dumm, wenn er es nicht täte. Und wenn mich meine reichhaltige Erfahrung nicht täuscht, wären Sie noch dümmer, wenn Sie es mir vorenthalten würden.«

»Ich darf nicht darüber sprechen.«

»Natürlich nicht.«

Sie verdrehte die Augen. »Zwei Dorfvorsteher haben im Abstand von wenigen Minuten auf mysteriöse Weise das Zeitliche gesegnet. Er soll verhindern, dass es zu einem internationalen Eklat kommt.«

»Faszinierend. Und welches Land müssen wir diesmal versöhnlich stimmen?«

»China. Sie wissen ja, dass die Lage dort im Augenblick ein wenig verzwickt ist.«

»Wie immer.«

»Die beiden Dörfer liegen an der Strecke der chinesischen Straße Nummer zwei. Die chinesischen Bauarbeiter haben ganz in der Nähe ihre Zelte aufgeschlagen. Es geht das Gerücht, dass die Dorfvorsteher von den Arbeitern ermordet wurden.«

»Todesursache?«

»Multiple Stichwunden.«

»Waffe?«

»Angespitzte Bambusstäbe.«

»Autsch.«

»Sollte sich herausstellen, dass tatsächlich die Chinesen dahinterstecken, würde Hanoi auf den sofortigen Abbruch des Straßenbauprojekts drängen. Die Chinesen bauen da oben nun schon seit zwölf Jahren Straßen. Die Thais und die Vietnamesen sind überzeugt, dass es dabei um weit mehr geht als um internationale Hilfsmaßnahmen. Einige dieser Straßen kommen ihren Grenzen gefährlich nahe.«

»Das klingt mir aber nach einer sehr gemächlichen Invasion.«

»An ihrer Mauer haben sie zweitausend Jahre gebaut.«

»Touché. Aber wie dem auch sei, diese Leute benötigen dringend einen forensischen Ermittler nebst Gemahlin.«

»Vergessen Sie’s. Phosy hat das bereits angeregt. Aber die örtliche Polizei wünscht keine eingehende Untersuchung des Falles. Sondern einen hochrangigen Polizeibeamten, der öffentlich erklärt, dass die Morde unmöglich von den Chinesen verübt worden sein können. Die Regierung möchte das Straßenbauprojekt am Laufen halten, solange es irgend geht.«

»Ich fürchte, dafür haben sie sich den Falschen ausgesucht. Phosy wird wohl kaum einen Ermittlungsbericht frisieren, nur um der Regierung einen Liebesdienst zu erweisen. Das könnte er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren.«

»Phosy ist Phosy. Er wird die Wahrheit herausfinden und seinen Bericht einreichen, und wenn er ihnen in den Kram passt, werden sie ihn der Öffentlichkeit präsentieren. Und wenn nicht, bearbeiten sie ihn entsprechend. Er braucht lediglich sein Gesicht in die Kameras zu halten.«

»Er braucht mich.«

»Dann müssen Sie selbst zusehen, wie Sie dorthin kommen. Die Polizei wird Sie jedenfalls nicht hinfliegen. Haben Sie es mal beim Justizministerium versucht?«

»Ich arbeite daran. Aber der Finger geht vor. In Luang Nam Tha werde ich ihn schwerlich analysieren können.«

Dtui nahm das Labor in Augenschein. Die abblätternde Farbe und die brummende Klimaanlage. Die offenen Schränke, die einst medizinische Gerätschaften beherbergt hatten. Die flackernde Neonröhre und den staubbedeckten Fußboden. »Hier allerdings auch nicht.«

»Wir haben unsere Bücher. Wir haben Lehrerin Oum mit ihrem Chemiebaukasten im lycée. Und wir haben Erfahrung. Wir sind ein hochprofessionelles Team.«

»Dann wissen Sie doch bestimmt auch, dass die Kontamination von Beweisen unter allen Umständen zu vermeiden ist?«

»Das ist mir durchaus bekannt. Warum?«

»Sie haben den Finger soeben zu dem Kugelschreiber in Ihrer Brusttasche gesteckt.«

Eilig zog er das abgetrennte Greifwerkzeug heraus und hielt es mit Daumen und Zeigefinger, wie eine Zigarre, in die Höhe. An einer Seite befand sich ein Tintenfleck. Da sein Bauernhemd ebenso blau war wie die Tinte, hatte er nicht bemerkt, dass der Kugelschreiber ausgelaufen war.

»Wäre die biologische Spurenanalyse in Laos als Mittel der Beweisaufnahme zugelassen«, sagte Dtui, »würden wir mit unserem Finger hochkant aus dem Gerichtssaal geworfen.«

»Mein Finger wird nicht geworfen, und hochkant schon gleich gar nicht. Dafür hänge ich zu sehr an ihm. In den vergangenen vier Wochen ist er mir regelrecht ans Herz gewachsen.«

»Sie haben ihn schon seit vier Wochen?«

»Entdeckt habe ich ihn erst vor kurzem.«

»Komisch …« Sie nahm Siri den Finger aus der Hand und hielt ihn sich unter die Nase.

»Ah, ein Geistesblitz«, sagte Siri.

»Er weist kaum Verwesungsspuren auf«, sagte Dtui. »Sie haben ihn doch nicht in Formaldehyd aufbewahrt, oder?«

»Die letzte Woche hat er neben der Sojamilch im Kühlschrank zugebracht«, antwortete Siri. »Das Gefrierfach ist leider kaputt.«

»Und wenn er obendrein die üblichen vierzehn Tage auf dem Postamt herumgegammelt hat, müsste er eigentlich bestialisch stinken.«

»Seltsam, nicht wahr?«

»Ich rieche keine Konservierungsmittel, dafür verströmt er einen sonderbaren, stechenden Geruch, der mir irgendwie bekannt vorkommt.« Sie beugte sich über den phasin und schnupperte am Saum. »Hier ist er noch intensiver … irgendetwas Chemisches«, befand sie, »wie ein Gemisch aus verschiedenen Gerüchen.«

»Vielleicht kann Lehrerin Oum die einzelnen Bestandteile isolieren«, sagte Siri.

»Ich bringe ihn ihr gleich anschließend vorbei.«

»Und der Finger selbst?«

»Da er erstaunlich gut erhalten ist, dürfte er kaum geschrumpft sein. Er gehörte einem Mann.«

»Wie kommen Sie darauf?«