Totentanz für Dr. Siri - Colin Cotterill - E-Book
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Totentanz für Dr. Siri E-Book

Colin Cotterill

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Beschreibung

Exotisches Laos, rätselhafte Todesfälle und die außergewöhnlichste Ermittlerfigur des Krimigenres

Dr. Siri, der so dickköpfige wie brillante Leichenbeschauer von Laos, muss in die Provinz: Ein bizarrer Fund sorgt für Unruhe in Houaphan, einer abgelegenen Bergregion. Nach einem Erdrutsch ragt ein mumifizierter Arm aus einem frisch verlegten Betonpfad. Da der fragliche Weg zum neuen Domizil des Präsidenten führt, ist er geradezu ein Nationaldenkmal. Folglich soll Siri schnell und diskret herausfinden, warum hier offenbar ein Mann lebendig begraben wurde. Zusammen mit seiner Assistentin Dtui kommt er einer Geschichte von Liebe, Magie und Rache auf die Spur. Allerdings ist es nicht dieser Mordfall, der Siri um den Schlaf bringt. Es ist die infernalisch laute Discomusik, die jede Nacht an sein Ohr dringt. Woher kommt sie? Und warum scheint sie außer ihm niemand zu hören? Auch dieses Rätsel wird er schließlich lösen - und sogar selbst ein mitternächtliches Tänzchen wagen.

Der dritte Roman aus der einzigartigen Krimiserie mit unwiderstehlichem Charme und Witz. Die Romane der Serie wurden bereits mit dem »Dagger in the Library« und dem »Dilys Award« ausgezeichnet.

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Seitenzahl: 378

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Inhaltsverzeichnis
Widmung
Kapitel 1 - GÄSTEHAUS NR. 1
Kapitel 2 - DER HERR DER ROTEN KAMMER
Copyright
Für Siri und Soun, die trotz aller Schicksalsschläge überlebten, erwachsen wurden und heute zwei wunderschöne Töchter haben. Und für Poki und Panoy, von Loong C.
1
GÄSTEHAUS NR. 1
Dr. Siri lag unter dem speckigen Moskitonetz und beobachtete die Eidechse bei ihrem dritten Versuch. Zwei Mal schon war das kleine graue Tier die Wand hinaufgeflitzt und hatte sich bis an die Decke vorgewagt. Beide Male war das Undenkbare geschehen. Das Reptil hatte den Halt verloren und war auf den nackten Betonfußboden des Gästehauses geklatscht. Was fast ebenso widernatürlich schien, als wenn ein Mensch der Erdenhaftung verlustig gehen und mit Schmackes an die Zimmerdecke krachen würde. Siri sah den verdatterten Ausdruck in dem runzligen kleinen Gesicht. Die Echse blickte einen Moment lang verwirrt um sich und steuerte dann von Neuem auf die Wand zu.
Seit gut vier Wochen fragte sich der staatliche Leichenbeschauer Dr. Siri Paiboun, ob sein neues Ich die Tiere womöglich in ihrem natürlichen Verhalten störte. Zwar mochte es schon vorher zu Unregelmäßigkeiten gekommen sein, doch erst seit die Promenadenmischung aus der Eisfabrik damit begonnen hatte, in seinem Vorgarten ein Nest zu bauen, nahm er davon bewusst Notiz. Irgendwie war es der Hündin gelungen, sich aus alten Autositzen und Zementsäcken, die sie durch das Gartentor geschleift hatte, ein recht unbehaglich anmutendes Heim zu schaffen. Und da saß sie nun tagaus, tagein und wartete geduldig auf ein Ei, das niemals kommen würde. Eine Woche später dann hatten sich die Mäuse aus den Reisfeldern hinter der Siedlung plötzlich zu einer regelrechten Bande zusammengerottet und angefangen, die Katze seines Nachbarn zu terrorisieren. Und als Siri heute Morgen zu seiner Reise ins Landesinnere aufgebrochen war, hatte er auf dem Dachfirst seines Hauses in Vientiane allen Ernstes eine Henne sitzen sehen. Da es weit und breit keine Leiter gab, ließ das nur einen Schluss zu: Das Federvieh musste aufs Dach geflogen sein. Und nun auch noch die Eidechse. Selbst wenn all das bloßer Zufall war, kam es ihm doch reichlich seltsam vor. Seit Siri um seine schamanische Herkunft wusste, widerfuhren ihm die merkwürdigsten Dinge.
Wieder einmal schob er sich den kleinen Finger in den Mund und zählte seine Zähne. Eine Gewohnheit, von der er nur schwer lassen konnte, nachdem er vor einigen Monaten erfahren hatte, dass er etwas Besonderes war. Sie waren vollzählig vorhanden - alle dreiunddreißig. Damit hatte er genauso viele Zähne wie der Magier Prinz Phetsarat; genauso viele wie einige der angesehensten Schamanen; genauso viele wie der leibhaftige Buddha. Siri befand sich also in erlauchter Gesellschaft. Doch obwohl er über die erforderliche Anzahl von Zähnen verfügte, hatte er seine Fähigkeiten noch immer nicht so recht im Griff.
Vor Kurzem erst war Siri dahintergekommen, dass der Geist eines alten Hmong-Schamanen namens Yeh Ming in seinem Körper wohnte. Bis dahin hatte er die Begegnung mit den Seelen der Verstorbenen, die ihn bisweilen im Traum heimsuchten, für eine Art Geisteskrankheit gehalten. Er hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, ihre Botschaften zu deuten. Und folglich auch nicht bemerkt, dass die Geister ihm im Traum Hinweise auf die Ursache ihres Todes gaben. All das hatte sich im letzten Jahr grundlegend geändert. Yeh Ming war aktiver geworden - oder, anders ausgedrückt: erwacht - und hatte den Unmut der bösen Waldgeister auf sich gezogen. Fragliche Geister, die sogenannten Phibob, hatten es auf Siris Urahn abgesehen, und da dieser in Siris Körper wohnte, war Siri unversehens in die Schusslinie geraten. Das Feuer des Übernatürlichen hatte ihn erfasst.
Da den alten Chirurgen so leicht nichts mehr schrecken konnte, fand er die mysteriösen Vorfälle über die Maßen amüsant. Sein Leben schien von Tag zu Tag aufregender zu werden. Während andere Leute seines Alters sich in ihr Los ergeben hatten und wie ein abgelaufenes Uhrwerk dem letzten Pendelschlag entgegenkrauchten, war Siri wiedergeboren worden, hinein in eine Welt zwischen Wirklichkeit und Fantasie. Jeder neue Tag hatte es in sich. Er fühlte sich lebendiger denn je. Wenn es sich denn tatsächlich um eine Form der Altersdemenz handelte, so genoss er sie insgeheim in vollen Zügen und hatte es nicht besonders eilig, sich davon zu erholen.
Obwohl Siri im Mai seinen dreiundsiebzigsten Geburtstag gefeiert hatte, war er robust und kräftig wie ein Dschungelwildschwein. Zwar ließ seine Lunge ihn von Zeit zu Zeit im Stich, doch seine Muskeln und sein Verstand funktionierten noch genau so tadellos wie vor vierzig Jahren. Ein üppiger weißer Haarschopf schmückte sein Haupt, und sein sympathisches Gesicht mit den stechend grünen Augen entlockte selbst Frauen, die halb so alt waren wie er, nicht selten ein kokettes Lächeln. Seine Freunde waren sich einig, dass Dr. Siri Paiboun noch lange nicht die Puste ausgehen würde.
Die Pritsche mit dem Moskitonetz, unter dem Siri lag und die Eidechse beobachtete, stand im Parteigästehaus Nr. 1 der Demokratischen Volksrepublik Laos; man schrieb das Jahr 1977. »Gästehaus« war nicht unbedingt die treffendste Bezeichnung für das zweistöckige Gebäude, das vietnamesische Schuhkartonfetischisten vor ein paar Jahren errichtet hatten. Es hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Haus, und wer hier einsaß, war alles andere als ein Gast. Die meisten Bewohner hatten sich ideologisch gegen das Parteidiktat versündigt. Hier wiegte man die Dorfvorsteher, Staatsbeamten und Armeeoffiziere des alten royalistischen Regimes in dem Glauben, man habe sie zu einem Ferienaufenthalt in den Bergen der Provinz Houaphan geladen, zu einem Bildungsurlaub im revolutionären Hauptquartier.
Am frühen Abend hatten Siri und Schwester Dtui mit ein paar Männern aus dem Süden - ehemals hochrangigen Polizisten des royalistischen Regimes - Kaffee getrunken. Die Gendarmen waren nach wie vor davon überzeugt, dass sie hier ein politisches Seminar besuchten und nach einem Grundkurs in Marxismus-Leninismus in Kürze nach Vientiane zurückkehren würden. In ausgelassener Stimmung hatten sie auf der Veranda im Parterre auf unbequemen roten Plastikstühlen beisammengesessen. Da die Männer ihren ersten Nachmittag mit »Kennenlern«-Aktivitäten verbracht hatten, trugen sie immer noch papierne Namensschildchen, die mit Heftklammern an ihren Brusttaschen befestigt waren. Hinter dem Namen jedes Mannes stand das Wörtchen »Offizier«, gefolgt von einer Zahl. Um nicht gegen die Rangordnung zu verstoßen, saßen sie in numerischer Reihenfolge.
Sie hatten getönt, wie glücklich sie sich schätzten, einen Teil des Landes kennenlernen zu dürfen, der diesen Stadtmenschen so fremd war wie ein ferner Kontinent. Sie sprachen über die Einheimischen wie ein Tourist von Afrikanern oder wunderlichen Europäern. Noch ahnten sie nicht, dass ihr Abstecher in die Provinz vermutlich Monate, wenn nicht gar Jahre dauern würde. Sie ahnten nicht, dass man sie aus dem vergleichsweise komfortablen Gästehaus in ein gut achtzig Kilometer entfernt gelegenes Lager bei Sop Hao an der vietnamesischen Grenze verschleppen würde. Dort würden sie Bautrupps zugeteilt, die Straßen ausbessern, zerbombte Brücken wiederaufbauen und den einheimischen Bauern dabei helfen mussten, das verminte Land von Blindgängern zu räumen. Abends würden sie im gelblichen Schein von Bienenwachslampen in Arbeitskreisen rings um eine große Schiefertafel sitzen. Sie würden die Daten der bedeutendsten Schlachten, die Anzahl der Gefallenen und die Namen der großen Revolutionsführer auswendig lernen. So, wenn nicht schlimmer, sah laotische Umerziehung aus.
Zu guter Letzt würden sie, entweder aus persönlicher Überzeugung oder aber schierer Verzweiflung, feierlich ewige Hingabe an die Sache schwören. Wenn sie dabei halbwegs überzeugend wirkten, durften sie eines Tages eventuell zu ihren Familien zurückkehren. Wenn nicht, würde man ihren Familien einen Ortswechsel ans Herz legen. Nur Frauen, die ihre Männer wirklich liebten und bereit waren, auf den Luxus des Stadtlebens zu verzichten, nahmen solch ein Angebot an. Die meisten flohen über den Mekong, um in Thailand ihr Glück zu suchen.
Aber davon wussten die gut gelaunten Männer auf der Veranda des Gästehauses noch nichts. Sie glaubten, ihre Reise diene einzig und allein dem Zweck, sie zu bekehren, sie sozusagen umzurüsten wie einen Benzinmotor auf Diesel. Sie bildeten sich ein, sie würden ein wenig über den Kommunismus lernen, danach die Höhlen besichtigen und schließlich mit Schnappschüssen fürs heimische Fotoalbum nach Hause fahren. Jedenfalls hatten sie sich Siri und Dtui gegenüber entsprechend geäußert.
»Sagen Sie, was macht ein hübsches Ding wie Sie eigentlich so fern der Heimat?«, hatte Offizier Nummer Drei die dralle Krankenschwester gefragt, deren Spitzname Dtui »Dickerchen« bedeutete. Der korpulente, rotgesichtige Mann hatte die Kunst des Flirtens offenbar in zwielichtigen Nachtclubs erlernt. Er starrte die ganze Zeit schon unverhohlen auf Dtuis Brüste.
»Ich begleite meinen Chef«, antwortete sie und wies mit einem Nicken zu Siri.
»Aha, ein heißes Liebeswochenende«, sagte Offizier Nummer Vier und knuffte seinen Nebenmann zwischen die Rippen. Dtui und Siri erröteten im Duett, was die Männer mit brüllendem Gelächter quittierten.
»Schön wär’s«, entgegnete Dtui mit dem typisch laotischen Pflasterlächeln, das allerlei emotionale Wunden und Blessuren kaschierte. »Leider ist es rein geschäftlich.«
»Soso. Geschäftlich. Das habe ich meiner Alten auch immer erzählt, wenn ich mal ein Wochenende ausspannen wollte«, gestand Offizier Nummer Eins stolz. »Und mit was für Geschäften verdienen Sie Ihre Brötchen, wenn ich fragen darf?«
Dtui runzelte die Stirn, wahrte aber die Contenance. Siri bewunderte ihre Gelassenheit.
»Ich bin Krankenschwester. Und mein Chef ist Chirurg.« Dass Siri sie zur Pathologin ausbildete und er der staatliche Leichenbeschauer war, behielt sie wohlweislich für sich.
»Doktorspiele, hä?«, fragte Offizier Nummer Zwei, was zu noch größeren Heiterkeitsausbrüchen führte.
Siri hatte den Eindruck, dass die Männer sich die größte Mühe gaben, leutselig und kumpelhaft zu wirken, und er wusste auch, warum. Sie hatten Angst. Trotz ihrer Prahlereien und unrealistischen Erwartungen war ihnen wohl klar, dass sie sich auf feindlichem Gebiet befanden, und ihre einzige Waffe war diese falsche Kameraderie.
Siri sorgte sich um ihre Familien. Er fragte sich, wie ihre Frauen und Kinder überleben sollten, während ihre Ernährer wacker Steine klopften. »Sorgt das Justizministerium für Ihre Angehörigen, solange Sie hier sind?«, erkundigte er sich.
Offizier Nummer Zwei fand diese Frage äußerst komisch. »Seit der Machtübernahme haben sie uns keinen blanken Kip bezahlt.« Da es in Laos keine Münzen gab, wäre ein Kip aus Metall noch weniger wert gewesen als einer aus Papier. Für den man derzeit etwa ein Sechstel US-Cent bekam. So denn überhaupt Geld vorhanden war, verdiente ein Polizist unter der neuen Regierung monatlich siebentausend Kip zuzüglich einer kleiner Reisration.
»Und wovon leben Sie?«
»Ach, wir haben unsere Quellen. Einige von uns konnten unter dem alten Regime einen Notgroschen beiseitelegen. Wir haben Geld außer Landes geschafft. Schließlich ahnten wir, dass eines Tages die Roten kommen und alles über den Haufen werfen würden.«
»Ich möchte Ihnen weder Angst noch Bange machen, aber Ihnen ist hoffentlich klar, dass ich einer dieser gar garstigen Roten bin, die Ihnen die Suppe versalzen haben«, sagte Siri.
Offizier Nummer Zwei errötete. »Ach wirklich? Tut mir leid. Aber Sie sehen gar nicht aus wie … Und was machen Sie dann hier? Ich meine …«
Um den Schaden wiedergutzumachen, erkundigte Offizier Nummer Eins sich eilends, wo Dtui und der Doktor arbeiteten.
»An der Mahosot-Klinik.«
»Dann haben Sie ja eine ziemlich weite Reise hinter sich.«
»Das kann man wohl sagen«, meinte Dtui. »Ich bin seit zwanzig Jahren nicht aus Vientiane herausgekommen. Es ist so exotisch hier oben.« Sie warf Siri einen verstohlenen Blick zu. »Ich freue mich schon auf meinen ersten Schwund.«
»Ihren ersten was?«
»Schwund. Meine Mutter hat mir davon erzählt, als ich ein kleines Mädchen war.«
Siri wandte den Kopf, damit die Polizisten sein Grinsen nicht bemerkten.
»Davon habe ich noch nie gehört«, gestand der Offizier. »Was, bitte, ist ein Schwund?«
»Das ist nicht Ihr Ernst. Sie wissen nicht, was ein Schwund ist? Zugegeben, sie sind recht selten, aber hier oben im Norden werden Tiere nicht eingepfercht, sondern ziehen in gemischten Rudeln frei umher - Hühner, Hunde, Ziegen, Schweine. Und da Tiere nun einmal so sind, wie sie sind, geht es da fröhlich drunter und drüber, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Siri konnte sich nicht länger beherrschen. Er stand auf, ging zur Treppe und betrachtete den Vollmond, der sich trüb in einem Tümpel spiegelte. Um sein Kichern zu überspielen, simulierte er einen Hustenanfall.
Dtui fuhr unbeirrt fort. »Und es mag an der Höhenluft oder auch an dem schwefelreichen Wasser liegen, aber hier in Houaphan geht aus der Paarung eines lüsternen Rüden mit einer ebensolchen Sau zuweilen …«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Ich schwör’s beim Leben meines Bruders. Ich habe Fotos gesehen. Sie sehen aus wie ein Schwein mit dem Schwanz und den Pfoten eines Hundes. Nicht zu fassen, dass Sie davon noch nie gehört haben.«
»Also, ich habe schon davon gehört«, sagte Offizier Nummer Vier.
»Unsinn«, sagte Offizier Nummer Zwei.
»Da fällt mir ein. Ich meine, mich erinnern zu können, auf einem Bauernhof bei Tha Heua einen gesehen zu haben. Damals wusste ich allerdings noch nicht, worum es sich handelte. Ulkiges Vieh«, sinnierte Offizier Nummer Eins.
»Stimmt«, sagte Dtui, »und hier oben gibt es sie in rauen Mengen. Falls Ihnen einer begegnet, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie ihn fangen könnten. Ich würde meiner Mutter gern ein Exemplar als Souvenir mitbringen.«
»Kein Problem«, meinte Offizier Nummer Vier. »So schwierig kann das ja nicht sein.«
»Leider müssen wir morgen sehr früh raus«, sagte Offizier Nummer Zwei, der wohl merkte, dass man ihm einen kolossalen Bären aufzubinden versuchte. Er stand auf und streckte seine schmerzenden Glieder, als habe er soeben seinen ersten 1000-Meter-Lauf hinter sich gebracht. Auch die anderen erhoben sich. »Wir sind schon um sechs Uhr zur Feldarbeit eingeteilt.«
Siri trat wieder zu ihnen. »Passen Sie auf, wo Sie graben. Diese Gegend ist mit Blindgängern förmlich gespickt.«
Der Offizier kicherte. »Mit Verlaub, aber ich bezweifle, dass man uns wissentlich in ein Minenfeld schicken würde.«
»Trotzdem. Seien Sie vorsichtig. Ich habe keine Lust, den morgigen Tag damit zu verbringen, allzu leichtsinnigen Polizisten die Beine wieder anzunähen.« Siri verstummte. Dabei konnte er sich kaum eine effektivere Minenräummethode vorstellen als einen Trupp korrupter royalistischer Gendarmen, die wie mit Schaufeln bewaffnete Revuegirls im Stechschritt über ein Feld marschierten.
»Wünsche eine geruhsame Nacht, ihr beiden Turteltäubchen«, sagte Offizier Nummer Eins mit einem vieldeutigen Augenzwinkern. Die anderen machten sich lachend in ihren Schlafsaal auf und ließen Siri und Dtui allein auf der Veranda zurück. Kaum waren sie verschwunden, streckte Dtui ihnen die Zunge heraus.
»Widerliche Kerle«, sagte sie.
»Opfer ihrer Geldgier, weiter nichts«, meinte Siri. »Aber sie werden sich ändern. Nimmt man einem Menschen seine komfortable Existenz, so ist er buchstäblich auf sich selbst und sein bloßes, nacktes Ich zurückgeworfen. Von einem Augenblick zum anderen mit leeren Händen dazustehen eröffnet zuweilen neue Horizonte. Sollten diese Männer die Kälte, den Hunger und die Krankheiten hier oben halbwegs lebendig überstehen, wird sie das zu besseren, demütigeren Menschen machen.«
»Sie finden aber auch wirklich im letzten Misthaufen noch eine Perle, Dr. Siri. Trotzdem, Sie irren sich. Die ändern sich nicht mehr.«
»Warum so pessimistisch, Dtui?«
»Schwein bleibt Schwein.«
Siri zog seine buschigen Augenbrauen hoch. »Und Schwund bleibt Schwund.«
Als ihr Gelächter verklungen war, blickten sie schweigend zu den schroffen Felsspitzen empor, die mit dem Nachthimmel verschmolzen.
»Meinen Sie, wir können uns wenigstens ein paar Sehenswürdigkeiten anschauen?«, fragte Dtui schließlich.
»Wer weiß? Wir wissen ja noch nicht einmal, was wir hier sollen. Womöglich schickt man uns kreuz und quer durch den Nordosten. Warum, was möchten Sie sich denn ansehen?«
»Meine Mutter hat mir von einem Tempel bei Xieng Keuang erzählt, in dem man eine Buddha-Reliquie besichtigen kann.« Siri verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Was ist?«
»Was für eine Reliquie ist es denn diesmal, Schwester Dtui? Ein Zahn? Ein abgetrennter Zeh? Ein Augapfel?«
»Sie sind ein unverbesserlicher Zyniker«, ereiferte sie sich. »Das verrate ich Ihnen nicht.«
»Mit Zynismus hat das nichts zu tun, meine Teure. Wohl aber mit Mathematik und Physiologie. Zählen Sie doch nur einmal die Tempel in Asien, die angeblich mit einem Körperteil oder doch wenigstens einem Fußabdruck Buddhas aufwarten können. Würde auch nur die Hälfte dieser Behauptungen stimmen, dürfte Seine Heiligkeit in der Tat einen bemerkenswerten Anblick geboten haben. Wie es scheint, tapste er auf Füßen groß wie Zisternendeckel durch die Lande, im Mund nicht nur dreiunddreißig, sondern mehrere tausend Zähne, während ihm Fuß- und Fingernägel ausgingen wie einem tollwütigen Hund das Fell. Nicht auszudenken! Kein Wunder, dass ihm die Leute in Scharen hinterherliefen.«
Dtui rückte ans andere Ende des Tisches. »Wo wollen Sie denn hin?«, fragte er.
»Nirgends. Ich möchte nur nicht neben Ihnen sitzen, wenn Sie der Blitzstrahl trifft.«
Siri lachte. »Sie haben bei Ihren politischen Schulungen offenbar tief und fest geschlafen, Genossin. Vom Politbüro abgesehen gibt es keine Götter. Und selbst wenn es einem veritablen Gott gelänge, den Stacheldrahtzaun der Partei zu überwinden, würde er unverzüglich unter Hausarrest gestellt. Hölle und Verdammnis sind ein für alle Mal vom Tisch.«
»Kein Gott? Dann hat diese grandiose Landschaft wohl der alte Marx erschaffen?«
»Sie sind ja eine richtige kleine Dissidentin.«
»Trotzdem. Es ist wunderschön hier oben, Doc.«
»Wohl wahr, wenn man die Zeit hat, die herrliche Natur zu genießen.«
»Sie meinen, wenn man nicht gerade damit beschäftigt ist, dem nächsten Bombenhagel zu entgehen?«
»Zehn lange Jahre habe ich wenig anderes getan als das. Und die armen Schweine zusammengeflickt, die nicht so viel Glück hatten wie ich.«
»Wann wir wohl erfahren werden, warum wir eigentlich hier sind?«
Sie waren kurzfristig samt ihrer Ausrüstung zum Flughafen Wattay beordert worden. Richter Haeng hatte sie über Sinn und Zweck ihrer Mission im Unklaren gelassen und ihnen lediglich den Namen ihres Kontaktmannes genannt.
»Genosse Lit müsste morgen früh um neun Uhr hier sein.«
»Wer war das gleich noch mal?«
»Bezirkskommandeur, Staatssicherheit.«
»Ah ja. Kennen Sie ihn noch von früher?«
»Der Name sagt mir nichts. Aber als Partei- und Armeeführung nach Vientiane umzogen, wurden hier oben zahllose Grünschnäbel in Windeseile auf wichtige Posten gehievt. Manche Jungkader machten derart rasant Karriere, dass der hiesige Quartiermeister dem Vernehmen nach noch in den Windeln lag, als er in Amt und Würden gelangte. Man musste erst einmal seine Rassel konfiszieren, um ihn zur Arbeit zu bewegen.« Dtui kicherte. »Ich weiß nicht. Gut möglich, dass mir dieser Lit schon einmal über den Weg gelaufen ist«, fuhr Siri fort.
»Ob er weiß, dass Sie Ihre knuddelige, bildschöne Assistentin mitgebracht haben?«
»Er wird zweifellos entzückt sein.«
Wieder verführte die Ruhe ringsum die beiden zu friedvollem Schweigen. Ein Hobbyfischer warf in dem tintenschwarzen Tümpel seine Netze aus. Die Eichhörnchen zwitscherten wie heisere Spatzen. Dtui blickte zu der Treppe hinter Siri.
»Doc.«
»Ja?«
»Da oben an der Treppe …«
»Keine Ahnung.«
»Woher wissen Sie, was ich fragen wollte?«
»Sie wollten fragen, warum vor der Sperrholzwand dort oben ein bewaffneter Wachposten sitzt.«
»Hmmm. Nicht übel. Haben Ihre Geister Ihnen eingeflüstert, was ich denke?«
»Nicht nötig. Es war nicht allzu schwer, Ihre Gedanken zu erraten. Erstens ist Ihre Neugier nachgerade unersättlich, darum war es nur eine Frage der Zeit, bis Sie sich danach erkundigen würden. Und zweitens ist mir keineswegs entgangen, dass Sie mit dem Wachposten geflirtet haben.«
»Er war nicht sonderlich gesprächig.«
»Sie meinen, er wollte Ihnen nicht verraten, was sich hinter der Wand verbirgt?«
»Mit keiner Silbe. Geheimnisse kann ich auf den Tod nicht ausstehen.«
»Wir werden vor unserer Abreise schon noch dahinterkommen.«
Doch als er jetzt dösend auf seiner klumpigen Kapokmatratze lag und den Mücken dabei zusah, wie sie die nackte Glühbirne umschwirrten, sann auch er über das Geheimnis hinter der Sperrholzwand nach. Sie blockierte den Zugang zu einem Teil des ersten Stockwerks. Dem Grundriss des Erdgeschosses nach zu urteilen, musste es dort oben vier oder fünf Zimmer geben. Er überlegte, was an ihnen so besonders war. Seufzend fuhr er sich mit den Fingern durch das dichte weiße Haar. Es war schon nach elf, und er hatte das ungute Gefühl, dass er die ganze Nacht kein Auge würde zutun können. Dafür ging ihm zu viel durch den Kopf. Und wenn es nicht gerade seine Gedanken waren, die ihm den wohlverdienten Schlaf raubten, gönnten sie ihm keine Ruhe. Er tastete nach dem antiken weißen Amulett, das an einem fest geflochtenen weißen Zopf aus Frauenhaar um seinen Hals hing. Als seine Finger es berührten, durchzuckte ein Stromstoß jede Faser seines Körpers. Plötzlich hörte er sie noch deutlicher, ihr unentwegtes Schwatzen und Schnattern in der Ferne. Die Geister, die ihm früher nur im Traum begegnet waren, wurden allmählich dreister. Bisweilen erschienen sie sogar am helllichten Tag, oft im unpassendsten Moment. Noch bevor der klapprige russische Mi-14-Hubschrauber am Nachmittag gelandet war, hatte er sie gespürt, die Seelen der vielen tausend Menschen, die im Krieg ums Leben gekommen waren. Sie nahmen ihn gründlich in Augenschein, erkundeten ihn wie Touristen einen historischen Palast, um herauszufinden, ob er ein Schamane war, der ihr Vertrauen verdiente.
Ihre Stimmen waren rings um das Gästehaus zu hören: Mütter, die ihre Kinder von den offenen Feldern heimriefen, alte Frauen, die um die alten Männer weinten, die sie zurückgelassen hatten, gickelnde Babys - die in ihrer Unschuld noch nicht ahnen konnten, dass sie seit vielen Jahren tot waren. Wie sollte Siri dabei schlafen? Und zu allem Übel dröhnte Punkt zwölf auch noch diese grässliche Discomusik los und machte jede Hoffnung auf eine gesegnete Nachtruhe zunichte. Er fragte sich, wem um diese Uhrzeit noch nach Tanzen zumute war und wie man diesen widerlichen Westlärm ernstlich goutieren konnte. Aber vielleicht handelte es sich ja auch um eine besonders perfide Foltertechnik, mit der die Partei die Funktionäre aus Vientiane peinigen wollte. Etwas Grausameres konnte er sich schwerlich vorstellen.
2
DER HERR DER ROTEN KAMMER
Geung Watajak war im Oktober 1952 in einem Dorf namens Thangon unweit von Vientiane zur Welt gekommen, einer winzigen Ansammlung einfacher Holzhütten, die sich um einen Tempel scharten und in der Regenzeit regelmäßig vom Monsun hinweggespült wurden. Auf Karten war es nur deshalb verzeichnet, weil es dort eine altersschwache Fähre gab, die Reisende auf dem Weg zum großen Stausee über den Nam-Ngum-Fluss setzte. Obwohl kaum ein Tourist je aus anderen Gründen nach Thangon fand, war rings um die Anlegestelle ein kleines Dorf entstanden. Doch trotz der Nähe zur Hauptstadt und des regen Durchgangsverkehrs war es kaum mehr als ein Provinzkaff.
Die Einheimischen pflegten ein simples Weltbild. In ihren Augen gab es nur zwei Kategorien von Geistesschwäche: schwerfällig wie ein satter Panda und verrückt wie ein betrunkener Weißhandgibbon. In Thangon gab es je ein Exemplar dieser beiden Spezies. Die alte Tante Soun hatte kurzzeitig als Schamanin praktiziert, bis sie vergaß, wie man die bösen Geister wieder in den Wald entließ. Sie rumorten und brodelten in ihr wie in einem Kessel, bis dieser schließlich platzte und ihr die Sicherung durchbrannte. Seitdem war sie berühmt für ihre wirren Schimpftiraden und ihre gelegentlichen Anfälle von Exhibitionismus.
Geung hingegen war ein sehr stilles Baby gewesen, eines von sieben Kindern. Da er alle körperlichen Merkmale des Down-Syndroms aufwies, war man sich einig, dass es wenig Sinn hatte, den Jungen zur Schule zu schicken. Zwar tat er sich mit dem Lernen in der Tat recht schwer, was jedoch nicht zuletzt daran lag, dass niemand sich die Mühe machte, ihm etwas beizubringen. Allein seine Mutter rief ihn bei seinem Namen. Für seinen Vater und seine Geschwister hieß er nur der »Dummkopf«. Und da sie es nicht böse meinten, glaubte Geung noch im reifen Alter von achtzehn Jahren, dass der Irrtum bei seiner Mutter lag.
Die Watajaks waren Bauern, und so gestaltete sich ihr Tagesablauf einfach und monoton, was dem fröhlichen Jungen sehr entgegenkam. Dank der harten Arbeit wuchs er zu einem kräftigen Burschen heran, und das Leben im Kreise der Familie gab ihm ein Gefühl der Nestwärme und der Geborgenheit. Damit war es allerdings von heute auf morgen vorbei, als sein Vater mit ihm und zweien seiner Geschwister eines Tages nach Vientiane fuhr, um ihnen eine Arbeit zu besorgen. Sie waren alt genug, und sie durchzufüttern kostete die Familie ein Vermögen. Es war an der Zeit, dass sie sich dem Faulpelz gegenüber erkenntlich zeigten, der sich immerhin die Mühe gemacht hatte, sie zu zeugen. Ihre Mutter wurde gar nicht erst gefragt.
Die Schwester fand eine Anstellung in einem aus Bambus und Wellblech zusammengezimmerten »Nachtclub« in der Hanoi Road unweit des Marktes. Leider würde sie ihr Geld hauptsächlich in der Horizontalen verdienen, aber ein vierzehnjähriges Bauernmädchen ohne Schulbildung durfte sich glücklich schätzen, wenn es überhaupt Arbeit fand. Geungs jüngerer Bruder ergatterte einen Job am Busbahnhof, wo er Fahrgäste warb, Billets einsammelte und lauthals verkündete, wohin die Reise ging, während er sich bei voller Fahrt aus der offenen Tür des Busses lehnte.
Doch sein Vater wusste, dass ihm das Schwierigste noch bevorstand: Arbeit für Geung zu finden. Denn welcher normale Mensch stellte schon einen Dummkopf ein? Aber der Alte war nicht nur stinkfaul, sondern kannte auch nicht den geringsten Skrupel. Und so schleppte er seinen achtzehn Jahre alten Sohn zur Mahosot-Klinik, wo er die Dienste des Jungen gratis feilbot, im Tausch gegen eine Handvoll Essensreste und einen Schlafplatz auf dem nackten Boden. Hospitäler seien schließlich für Kranke da, rief er der Personalchefin der Klinik ins Gedächtnis, worauf diese den fatalen Fehler beging, einen Augenblick zu zögern, bevor sie Nein sagte. Als sie nach getaner Arbeit aus ihrem Büro kam, sah sie Geung allein auf einer Holzbank sitzen, auf dem Schoß ein in Zeitungspapier gewickeltes Paket.
»Wo ist Ihr Vater?«
»Zu Hause«, lautete die nüchterne Antwort.
»Also, hier können Sie aber nicht bleiben. Das ist Ihnen hoffentlich klar.«
Sein Lächeln entblößte ein Gebiss, das aussah, als stamme jeder Zahn aus einem anderen Mund. Als sie am nächsten Morgen zum Dienst erschien, saß Herr Geung noch immer an derselben Stelle. Ebenso am nächsten und am übernächsten Tag. Und immer lächelte er, entblößte seine schiefen Zähne und wünschte ihr Wohlsein. Sein Zeitungspaket schrumpfte von Tag zu Tag, bis er seinen Trockenfisch schließlich verspeist hatte. Und so wurde Geung Watajak zum ersten unbezahlten Mitarbeiter des modernsten Krankenhauses in Vientiane.
Wie sich herausstellte, gab es einen Arbeitsplatz, der für normale Menschen gänzlich ungeeignet war. Er befand sich in der Rumpelkammer hinter der Klinikwäscherei und hatte binnen zwei Monaten vier Bewerber vergrault. Hier kamen die mit roten Etiketten versehenen Plastiksäcke aus den Kranken- und Operationssälen an. Das Etikett bezeichnete stark verschmutzte Wäsche. Bei den Verschmutzungen handelte es sich im Allgemeinen um Blut und Exkremente, oft jedoch auch um andere kleine Überraschungen, die man eilig in Decken und Laken geschlagen hatte. Aus all den Fundstücken, die er im Lauf der folgenden fünf Jahre sammelte, hätte Herr Geung vermutlich ohne Weiteres diverse menschliche Leichname zusammensetzen können.
Seine Aufgabe war es, die rot etikettierte Wäsche und die Gummischürzen der Chirurgen auszuspülen und von Fremdkörpern zu befreien, bevor sie in der Wäscherei gekocht wurden. Dafür bekam er eine kleine Schlafkammer und Essensbons für die Personalkantine zugeteilt. Er beschwerte sich nie über seine grausige Arbeit oder seine mangelnde Bezahlung, sondern fügte sich klaglos in sein Schicksal. Wenn sein Vater den Lohn seiner Sprösslinge »eintrieb«, schaute er hin und wieder rasch bei seinem Sohn vorbei. Obwohl Geung ihm kein Geld geben konnte, brachte der Alte stets ein wenig Obst mit oder ein mit Klebreis gefülltes Bambusrohr sowie den neuesten Klatsch und Tratsch von Leuten, an die Geung so gut wie keine Erinnerung mehr hatte. Der junge Mann fragte nie, ob er wieder nach Hause kommen dürfe.
Dank seines unkomplizierten, aufrichtigen Wesens war Geung bei Schwestern und Klinikpersonal sehr gern gesehen. Bald war er so beliebt, dass einer der Ärzte, Dr. Pongruk, beschloss, es sei an der Zeit, ihn aus der Roten Kammer zu befreien. Geung hatte seine Stellung in der Mahosot-Klinik angetreten, als die Amerikaner Laos gepachtet hatten - und die meisten seiner Bewohner gleich mit. Mit ihrem Geld finanzierten die Besatzer die Gehälter der Regierung, die Aufrüstung des Militärs und den Ausbau der Infrastruktur, in der Hoffnung, dem Vormarsch der Kommunisten auf diese Weise Einhalt gebieten zu können. Das amerikanische Entwicklungshilfeministerium hatte Dr. Pongruk in Bangkok und Washington zum Forensiker ausbilden lassen. Bei seiner Rückkehr sollte er auf dem Klinikgelände eine neue Pathologie aufbauen.
Neben Dr. Pongruks Gehalt stellten die Amerikaner auch ein kleines Halbtagssalär bereit, mit dem die laotischen Behörden die Dienste einer Teilzeitkrankenschwester zu finanzieren gedachten. Als der Arzt ihnen erklärte, er habe einen überaus kompetenten Mitarbeiter ausfindig gemacht, der gern bereit sei, sich mit halbem Lohn für eine volle Stelle zu begnügen, kannte ihr Entzücken keine Grenzen - bis sie dahinterkamen, wen der Doktor im Sinn hatte. Wie so viele war auch Dr. Pongruk entsetzt gewesen, als er erfuhr, dass Geung all die Jahre keinen Lohn erhalten hatte. Ihm war klar, dass die Klinik Geung auf Grund seiner Krankheit und seiner fehlenden Ausbildung unmöglich einstellen konnte. Aber mit dem Untergang des Lane-Xang-Königreiches war in Laos auch die Sklaverei ausgestorben, und er wollte sich Geung gegenüber irgendwie erkenntlich zeigen.
Die amerikanische Übergangsregierung erteilte ihm seinen Segen, und der Doktor machte sich daran, Herrn Geung zu seinem Assistenten auszubilden. Er bewies unendliche Geduld und opferte zahllose Überstunden, um Geung auf seine Pflichten in der Pathologie vorzubereiten. Und der junge Mann ging mit großer Begeisterung ans Werk. Bald konnte er eine Schädeldecke entfernen, ohne das Gehirn auch nur zu streifen, und mit seiner langen Schere durchtrennte er Rippen, als seien sie aus Kreide. Er schleppte Leichen und verstreute Leichenteile durch den Sektionssaal wie ein fürsorgliches Mitglied der Familie des Verstorbenen.
»Es ist, als würde man ein Boot mit kee-see-Harz versiegeln«, erklärte der Doktor eines Abends seiner Frau. »Es dauert eine Weile, bis das Harz getrocknet ist, aber dann könnte man die Planken nicht einmal mehr mit Hammer und Meißel auseinanderstemmen.« Als Dr. Pongruk und seine Frau eines Nachts über den Mekong schwammen, um dem zu entgehen, was die Kommunisten mit Akademikern wie ihnen anstellen würden, ließen sie einen Pathologieassistenten zurück, dem in Sachen Labor- und Obduktionsverfahren in ganz Laos niemand das Wasser reichen konnte. Leider hatte er jetzt keinen Chef mehr. Die Pathologie war geschlossen. Wieder musste Geung ein halbes Jahr lang in der Roten Kammer Dienst tun. Doch weder beklagte er sich, noch empfand er die Versetzung als Degradierung. Für ihn war es schlicht und einfach Schicksal.
Eines Tages dann erschien Dr. Siri auf der Bildfläche, erlöste Dtui aus ihrer Fron auf der Station und brachte frischen Wind und neues Leben in die Pathologie. Die beiden konnten und mochten auf Geungs Sachkenntnis nicht verzichten, und so wuchsen sie schon bald zu einem echten Team zusammen. Auch wenn man sie schwerlich als Profis bezeichnen konnte. Siri war zwar sein Leben lang Chirurg gewesen, hatte aber noch nie einen Leichnam obduziert und in dieser Hinsicht eigentlich auch keine Ambitionen. Er harrte der Pension, die er sich verdient zu haben glaubte, und stand einem beruflichen Neuanfang zunächst äußerst skeptisch gegenüber. Im ersten Jahr forschten und studierten sie am leblosen Objekt. Und da sie weder über ein Labor noch über moderne Instrumente, geschweige denn aktuelle Lehrbücher verfügten, war die Pathologie der Mahosot-Klinik manchmal noch heute Schauplatz wildester Experimente. Wäre Siris Gabe - sprich seine Fähigkeit, mit den Geistern der Toten in Kontakt zu treten - nicht gewesen, wäre ihnen zweifellos der eine oder andere schwere Fehler unterlaufen.
Ihre gemeinsamen Erfahrungen hatten die drei Kollegen eng zusammengeschweißt. Für Geung war Dtui eine Schwester und Siri ein Großvater. Obwohl er seine Gefühle nicht erklären konnte, liebte er die beiden über alles. Selbst wenn er nicht recht begriff, was los war, litt er mit ihnen. Er freute sich über ihre Siege, er beweinte ihre Niederlagen - und registrierte mit der Präzision eines Luftschiffbarometers, wie es um die beiden bestellt war. Sie vertrauten ihm, und seine Ehrlichkeit bewahrte ihn davor, leere Versprechungen zu machen. Auf Geung war bisher immer Verlass gewesen: Wenn er eine Verpflichtung einging, war es ihm oberstes Gebot, sie auch zu erfüllen. Darum hatte Genosse Dr. Siri ihm vor ihrer Abreise das Versprechen abgenommen, die Pathologie bis zu ihrer Rückkehr sorgsam zu hüten.
Während der Abwesenheit des Doktors gab es für ihn nicht allzu viel zu tun. Das Krankenhaus konnte höchstens zwei Leichen auf einmal aufnehmen. Geungs Aufgabe bestand darin, sie in der einzigen vorhandenen Kühlkammer wie in einem Etagenbett übereinanderzustapeln. Mit einem plötzlichen Massenandrang von obduktionsbedürftigen Leichen war kaum zu rechnen. Zwar grassierte im Vientiane-Becken eine Dengue-Epidemie, doch wie die ihr todbringendes Werk vollbrachte, war kein Geheimnis: Fieber, Erschöpfung, Blutungen, Exitus. Die Pathologie war lediglich für rätselhafte Todesfälle an den staatlichen Krankenhäusern zuständig sowie für die Mordopfer, die ihr bisweilen von der Polizei überstellt wurden.
Wenn sie einen Fall hereinbekamen, war Herr Geung unentbehrlich. Aber da er nicht über die erforderliche Qualifikation verfügte, durfte er seine Arbeit nur im Beisein eines Arztes verrichten. Und so beschränkte sich seine Tätigkeit derzeit darauf, zu fegen, Staub zu wischen, Schaben zu verscheuchen und das Büro zu bewachen. Er nahm seine Aufgabe ernst; er hatte sogar Decken und Kissen aus seiner Kammer mitgebracht und war fest entschlossen, im Seziersaal Posten zu beziehen.
Er war die Friedfertigkeit in Person. Gefühle wie Wut und Zorn waren ihm fremd, und er konnte sie auch nicht heucheln. Er wirkte in etwa so furchteinflößend wie ein chinesischer Teigkloß. Und so war es nicht weiter verwunderlich, dass er die beiden Uniformierten, die mit einem Mal in die Pathologie platzten und unwirsch seinen Namen brüllten, mit einem Lächeln begrüßte, das in dem Moment verflog, als er ihre Waffen erblickte.
»Wa… wa… was kann ich für Sie tun, G… Genossen?«, fragte er.
Sie richteten ihre Pistolen auf ihn und drückten ab. Herr Geung machte ein verdutztes Gesicht. Dann fiel er zu Boden wie eine reife Jackfrucht vom gleichnamigen Baum.
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Disco for the Departed« bei Soho Press, New York
Manhattan Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH
1. Auflage Deutsche Erstveröffentlichung Mai 2010 Copyright © der Originalausgabe 2006 by Colin Cotterill
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010
by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Published in agreement with the author, c/o Baror International Inc., Armonk, New York, U.S.A. Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München
eISBN : 978-3-641-03895-3
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