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Klopfende Herzen, feste Umarmungen und knatternde Trabis – das kommt all denen bekannt vor, die am 9. November 1989 den Fall der Mauer hautnah miterlebten oder in den Medien verfolgten. Auch 25 Jahre später hat der historische Tag nichts an Bedeutung und Emotionalität eingebüßt. Wir sind der Meinung, dass jede einzelne Erinnerung an diese Zeit wichtig ist und riefen anlässlich des Jubiläums im Jahr 2014 dazu auf, persönliche Geschichten und Momente mit uns zu teilen. So wurden viele Menschen unverhofft, schnell und ganz unkompliziert zu Autorinnen und Autoren in diesem Buch, ganz im Sinne des Self-Publishings. Die Beiträge bieten einen spannenden und emotionalen Rückblick auf die Geschichte der deutschen Teilung, der vielfältige Denkanstöße liefert. Wir reisten mir unserem Projekt zur Frankfurter Buchmesse 2014 und waren am Jubiläumswochenende im Berlin Story Bunker vor Ort. Nach diesen anstrengenden und vor allem schönen Wochen freuen wir uns sehr über das einmalige Ergebnis, das Ihnen nun vorliegt: das Buch "Brücken bauen. Mauern einreißen." Wir danken allen Teilnehmern ganz herzlich dafür, dass sie ihre Erinnerungen und Gedanken mit uns und der Öffentlichkeit geteilt haben. Die Projektkoordinatorinnen Deborah Schmidt und Carolin Reif
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Seitenzahl: 306
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Impressum
Copyright: © 2014 epubli
Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN: 978-3-7375-1880-2
Brücken bauen.
Mauern einreißen.
Vorwort
epubli
Klopfende Herzen, feste Umarmungen und knatternde Trabis – das kommt all denen bekannt vor, die am 9. November 1989 den Fall der Mauer hautnah miterlebten oder in den Medien verfolgten. Auch 25 Jahre später hat der historische Tag nichts an Bedeutung und Emotionalität eingebüßt. Wir sind der Meinung, dass jede einzelne Erinnerung an diese Zeit wichtig ist und riefen anlässlich des Jubiläums im Jahr 2014 dazu auf, persönliche Geschichten und Momente mit uns zu teilen. So wurden viele Menschen unverhofft, schnell und ganz unkompliziert zu Autorinnen und Autoren in diesem Buch, ganz im Sinne des Self-Publishings. Die Beiträge bieten einen spannenden und emotionalen Rückblick auf die Geschichte der deutschen Teilung, der vielfältige Denkanstöße liefert.
Wir reisten mir unserem Projekt zur Frankfurter Buchmesse 2014 und waren am Jubiläumswochenende im Berlin Story Bunker vor Ort. Nach diesen anstrengenden und vor allem schönen Wochen freuen wir uns sehr über das einmalige Ergebnis, das Ihnen nun vorliegt: das Buch „Brücken bauen. Mauern einreißen.“
Wir danken allen Teilnehmern ganz herzlich dafür, dass sie ihre Erinnerungen und Gedanken mit uns und der Öffentlichkeit geteilt haben. Die Projektkoordinatorinnen
Trennung, Ohnmacht,
Entdeckungen
Frau Ilona Rose war eine rothaarige, hübsch aussehende Frau im mittleren Alter. Anna vermutete, in ihr eine interessante Persönlichkeit zu finden, und meinte, es müsse sich lohnen, mehr über diese Frau zu erfahren. Sie begann Frau Ilona Rose, die ehelos lebte, drei Kinder hatte und hin und wieder Herrenbesuch bekam, zu beobachten.
Annas Mutter lebte auch mit vier Kindern alleine und zu ihr kam hin und wieder ein Mann zu Besuch. Zu ihm sollte Anna »Onkel« sagen. Aber das war etwas anderes, denn diesen Mann kannte Anna und er gehörte irgendwie zur Mutter.
Frau Ilona Rose und Annas Mutter plauderten oft stundenlang im Treppenhaus. Das hörte sich zuweilen an, als ständen mehrere Frauen zusammen, so eilig gingen Worte und Gelächter hin und her. Frau Ilona Rose sprach schrill und schnell, Annas Mutter sanft und gedämpft; sie tuschelten oft, so, als gäbe es etwas zu verheimlichen. Dabei fiel Anna auf, dass ihre Mutter im Gesicht viel jünger aussah, obwohl sie die Ältere von beiden war. Doch was die Kleidung betraf, da sah Frau Ilona Rose jünger aus, und das erschien Anna recht sonderbar.
Die beiden Frauen lachten viel und zankten sich manchmal. Waren sie zerstritten, dann hörte Anna komische Worte wie: »Die Hure da oben...« Das verstand Anna nicht und sie wollte herausfinden, was eine Hure war. Also saß sie bald öfter und länger am Fenster und beobachtete Frau Ilona Rose und ihre Kinder noch genauer. Sie erkannte bald: Die vier dort oben schienen recht sonderbar zu sein! Dagmar war schüchtern und konnte niemandem in die Augen sehen. Sie war rundlich, wirkte langweilig, hatte dunkle Haare und traurige braune Augen. Elke war hibbelig, dünn, rothaarig, mit trotzigen grünen Augen. Und Michael, der Jüngste, war blondgelockt mit träumerischen blauen Augen. Ein niedliches Kerlchen, das aber furchtbar stotterte. Er sei vom Wickeltisch gefallen, hieß es. Im Gegensatz zur Mutter wirkten alle drei vernachlässigt, äußerlich wie auch innerlich.
Oft wurde es oben in der Wohnung laut, und zumeist waren es die Stimmen der Herrenbesuche. Aufgrund dessen hörte Anna einmal ein Streitgespräch zwischen ihrer Mutter und den Großeltern, in dem die Mutter die zornige Frage stellte: »Warum schmeißt ihr sie nicht raus, wenn ihr euch so aufregt?« Sie hörte die Oma antworten: »Wer nimmt sie, wer weiß, wo sie bleibt. Sieh, die Kinder, ist das nicht schlimm genug? Wie oft sind sie alleine. Hier guckt wenigstens mal einer nach ihnen. Michael, der arme Tropf, ist schon verstört genug!« Dann wurde leiser gesprochen, was Anna neugieriger machte. Sie musste das Ohr an die Tür legen, um besser verstehen zu können. Aber das mochte sie eigentlich nicht, darum entschied sie, einfach wie gewohnt in Omas Wohnung zu gehen, um den Dreien ein bisschen näher zu sein. Leider ohne Erfolg; das Gespräch wurde abrupt beendet. Wenn sie noch mehr erfahren wollte, musste ein Plan her und sie beschloss, sich mit Elke anzufreunden.
Elkes verrücktes Wesen war leider extrem anstrengend. Sobald sich Anna ihr näherte, lief diese wie ein aufgescheuchtes Huhn davon. Also begann Anna, Elke weniger zu beachten und suchte den Kontakt zu Dagmar. Ihre Gedanken dabei waren, Elke aus den Augenwinkeln zu beobachten, um zu sehen, wie sie reagieren würde. Dagi zögerte, sie wollte sich auf Anna einlassen, blieb aber durch Elkes Gegenwart gehemmt. Elke hielt Abstand und musterte Anna, was Anna genoss, aber nicht so recht verstand, schon gar nicht die drohenden Blicke Dagi gegenüber.
Anna bat ihre ältere Schwester Lina um Rat. Lina meinte mit ablehnender Handbewegung: »Wenn du mit Elke spielen willst, gehst du am besten morgens nach oben. Die Alte schläft dann. Die ist nachts auf Ritt und kommt erst morgens, so gegen fünf, nach Hause. Elke kann dann nicht abhauen, sie muss auf Mike aufpassen. Der hat einen ganz schönen Knall, der rastet oft aus, und Dagi ist ein Angsthase. Da muss Elke hinhalten, damit die Alte pennen kann!« Anna erschrak über diese Art von Erklärungen nicht mehr. Sie bekam immer häufiger mit, wie mal schlecht, mal gut über Frau Ilona Rose gesprochen wurde, je nach Stimmung im Haus.
Eines Morgens schlich Anna mit starkem Herzklopfen die steile Holztreppe nach oben. Sie wusste genau, welche Stufen knarrten. Mühevoll überstieg sie diese; niemand durfte vorgewarnt werden. Doch dann verließ sie der Mut und sie rannte wieder nach unten in die elterliche Wohnung. Dort warf sie sich aufgeregt in den Wohnzimmersessel. Glücklicherweise war niemand da, denn sie schämte sich fürchterlich für ihre Feigheit. Den Kopf in beide Händen versteckt, schrie es in ihr: »Nein, ich bin nicht feige, nein, nein, nein!«
Am nächsten Morgen startete sie den zweiten Versuch. Sie schlich, mit etwas weniger Herzklopfen als am Vortag, die steile Holztreppe nach oben. Zaghaft klopfte sie an die Tür. Keine Reaktion. Mutig klopfte sie das zweite Mal fester. Die Tür wurde geradezu aufgerissen. Michael stand direkt vor ihr und sechs weit aufgespannte Augen starrten sie an.
Jetzt gibt es kein Zurück, dachte Anna panisch und rief schnell ein freundliches »Guten Morgen« über Michaels Kopf in die Stube hinein. Sogleich wurden die Blicke eine Spur ängstlicher und bohrender. Anna sah schnell ablenkend zu Michael hinunter. Ein plötzliches und liebenswürdiges »Komm doch rein« erinnerte Anna, warum sie überhaupt an diese Tür klopfte.
»Ich, ich wollte mal gucken, wie, wie es euch, äh, Ihnen geht«, stotterte Anna und fühlte sich ertappt. Die Frau und Mutter, die eigentlich schlief, bot ihr schlaftrunken einen Platz am Tisch an: »Magst du ein Brötchen? Hier ist Wurst, da Käse. Möchtest du Milch oder Kaffee?« Anna lehnte dankend ab.
Frau Rose schwankte im Morgenmantel, den sie über der Brust zusammenhielt, ungekämmt, mit einer Zigarette zwischen den Lippen, plump auf ihren Stuhl zu. Neben ihrer Kaffeetasse standen ein Schnapsglas und eine fast leere Schnapsflasche. Gutmütige, müde Augen musterten den Gast; hängende Mundwinkel bliesen den Zigarettenqualm an ihm vorbei. Das Gesicht der Frau sah jetzt noch älter aus.
Der Frühstückstisch war maßlos vollgepackt. Nur der Duft von frischen Brötchen verbreitete einen Hauch Gemütlichkeit. Etwas verstört lehnte Anna nochmals das Angebot ab, etwas zu essen. Jetzt saß auch sie, wie die anderen, stumm auf dem Stuhl und wagte sich kaum zu rühren. Elke und Dagmar wichen wie gewohnt zurück, guckten ins Leere. Michael legte seinen Kopf auf den Schoß der Mutter. Anna fühlte sich wie ein Eindringling. Verlegen sah sie in die Runde, sah die Frau hilflos an, die mit heiserer Stimme versuchte, diese seltsame Situation zu erklären, wobei sie Anna immer wieder Schnaps und Zigaretten anbot. Doch Anna lehnte wiederholt freundlich ab. Frau Rose stutzte dann für einen Augenblick, wohl flüchtig erkennend, dass sie doch keine erwachsene Person vor sich hatte.
Nach solchen Unterbrechungen erzählte die Frau verzweifelt vom Schmerz, vom Zorn über die DDR und die damit verbundenen Ungerechtigkeiten. Dabei liefen ihr erneut ein paar Tränen über die Wangen, und die Zigarettenzüge wurden hastiger. Sie erwähnte Heidrun, ihr erstes Kind, das sie seit dem Mauerbau nicht mehr gesehen hatte, und nach dem sie sich schrecklich sehnte. Als die Mauer von einem Tag zum anderen gebaut wurde, war sie im Westen auf Arbeitssuche, Heidrun im Osten bei den Großeltern. Sie konnte nicht zurück, hatte aber versucht, die Tochter zu sich herüberzuholen. Doch plötzlich brach der Kontakt ab, zu den Eltern, zu dem Kind; ihrer aller Leben war in Gefahr geraten. Später habe sie nichts mehr über sie in Erfahrung bringen können. Der ganze Schmerz, diese schreckliche Ungewissheit, was warum geschah, brachte sie fast um. Letztlich scheiterte ihre Ehe daran.
Anna war vollständig überfordert: Osten, Westen, DDR, Gewalt, Mauerbau, Flucht, Todesangst, Heidrun, noch ein Kind, Scheidung, Unrecht, alles Worte, die in ihrer Kinderseele Schmerz hervorriefen. Sie verstand nichts, sah die Tränenflut der Frau, der Mutter, die Menge an hastig gerauchten Zigaretten und die immer wieder angebotenen Schnäpse.
Irgendwann stand Frau Rose auf, bedankte sich für das Zuhören, sagte, dass sie jetzt schlafen müsse und schleppte sich ins Zimmer nebenan. Anna blieb allein zurück. Die anderen hatten sich längst davongeschlichen. Bestürzt, aber leise, verließ Anna den Raum. Das gerade Erlebte wollte sie nicht stören. Tiefes Mitgefühl überfiel sie. Sie nahm es mit, ebenso den Zorn und die Wut über ein Land, das in sich gespalten schien, Familien zerstörte, unsagbares Leid hervorrief.
Anna war gerade zwölf Jahre alt, als sie zum ersten Mal von einem geteilten Deutschland hörte, und sie erfuhr soeben, was eine durch Gewalt bewirkte Trennung auslösen konnte.
Am nächsten Tag erlebte Anna, wie eine Frau nicht die Frau ist, die sie wirklich war, als sich beide im Treppenhaus begegneten. Frau Rose war wieder Frau Ilona Rose, hübsch gekleidet und geschminkt, die Haare flott frisiert, ein Lächeln im Gesicht mit der stets wiederkehrenden Frage: »Wo ist deine Schwester? Ich höre sie so gerne lachen.«
Ein Grenzfall
Wir sind das Volk! ruft das Volk laut
Dass es Mielke im Innersten graut
Die Prager Botschaft schon übervoll
Hegt das Politbüro nun großen Groll
Honecker, erster Staatsrat ist ratlos
Er tritt zurück und schaut tatlos
Zu, wie Krenz die Grenze fallen lässt
Hat Angst, dass er verurteilt zu Arrest
Landet doch mancher Mauerwerker
Zuvor auch schnell in diesem Kerker
Wenn er ein Loch im Steine ließ
Das ihm den Weg nach draußen wies
Die »SEDDR« in sich zusammenfällt
Die Grenzen offen - in die weite Welt
Die Menschen weinen, lachen, lallen
Sich überglücklich in die Arme fallen
»Flüchtende« gab es dann noch viele
Honecker selbst flüchtete nach Chile
Wusst er denn nicht - der arme Tropf
Die dickste Mauer war in seinem Kopf
Der Mauerstachel
Wir sind das Volk…
Honecker
Überschlauer Mauerbauer
Keift
Verrat am Stacheldraht
Doch
Was die Menschen
Erhoffen
Wie lange schon…
Grenzen
Gibt es nicht mehr
Offen
Ist die DDR
Schabowski
Liest keinen Schabernack
Übernacht
Wurd quasi Staat und Stasi
Abgeschafft
Wir sind ein Volk.
Ich und der Kohl können nix dafür…
Was kann der Kohl denn schon dafür
Dass wir ein Volk sind
Was kann der Kohl denn schon dafür
Dass der »Osten« blüht…
Die Leute tun, als wäre Kohl ein Held
Dabei tat er das, mit unser aller Geld
Die Ostverträge hatte Brandt gemacht
Die Perestroika ist von Gorbatschow
Die Große Freiheit kam, hurra, juchhei
Vom Leipz’ger Volk* und Kirche Nikolei
Was kann der Kohl denn schon dafür
Dass wir so schön sind…
Was kann der Kohl denn schon dafür
Dass wir ein Volk sind
Was können Wessis schon dafür
Dass »es« elegant gelang
Die Ossis haben das allein gewendet
Ein wenig haben wir dafür gespendet
Die Volksarmee wollte nicht schießen
Auch die Russen hatten keine Lust
So kam die Freiheit - welch ein Glück
Nach Sozialismus-Urlaub gern zurück
Was kann der Kohl denn schon dafür
Dass wir so schön sind…
*Stellvertretend genannt für Alle.
Wir hatten das Jahr 1978 und ich war ein junges Ding, gerade mal 20 Jahre alt. Endlich hatte ich ein eigenes Auto, einen uralten VW Käfer. Damit wollten meine Schwester und ich gemeinsam auf große Reise gehen. Und das erste und beste Ziel, das uns einfiel, war West-Berlin. Denn dort lebte ein Großteil unserer Familie: Tanten, Onkel, Cousins etc.
Es war schon eine Strecke vom Ruhrgebiet, die wir zu bewältigen hatten, aber wir fühlten uns sehr erwachsen. Mit unserer »Lebenserfahrung« und diesem tollen Auto stand uns quasi die Welt offen – aber nicht die DDR. Egal, Berlin war für uns der Inbegriff des Lebens – groß, wild, gefährlich, bedrückend, befreiend – es war also klar, dass kein anderes Ziel in Frage kam.
Am Grenzübergang Marienborn ordnete ich mich, ganz die Erwachsene, die ich ja nun laut Führerschein war, in die Spur Richtung »Berlin« ein.
Mit der Beschilderung »Transitstrecke« konnte ich jedoch überhaupt nichts anfangen. Das klang für mich nach »Transsibirien« oder »Transsylvanien«, auf jeden Fall sehr, sehr suspekt. Denn ich wollte ja nach Berlin, und so stand es auch auf den Hinweisschildern geschrieben.
Als ich dann endlich an den Kontrollschalter heran rollen durfte, stürzte ein VoPo auf unser Käferchen zu, wie immer, mit geschulterter MP, tief in die Stirn gezogener Mütze und äußerst finsterem Blick. Meine Schwester und ich zitterten vor Angst. Wir wussten ja, dass es immer so war. Man kam sich wie ein Verbrecher vor, aber ohne elterlichen Schutz war die Situation schon bedrohlich.
Der VoPo schnauzte mich in diesem typisch humorlos-militärischen Ton an, der wahrscheinlich für diese Berufsgruppe erfunden worden war. Vielleicht gab es sogar Sprachkurse, um die hohe Kunst dieses arroganten, zutiefst verächtlichen Tons zu lernen. Er blaffte: »Wohin?« Ich antwortete zitternd und stotternd: »Äh, nach Berlin«, und setzte vorsichtshalber noch nach, damit auch keine Missverständnisse aufkamen: »zu meinem Onkel…«. Beinahe hätte ich noch »Hans« hinzugefügt, aber mein Gehirn konnte noch gerade signalisieren, dass dieser Herr Onkel Hans sehr wahrscheinlich nicht kannte.
»Hauptstadt oder West?« Ich schluckte und überlegte fieberhaft, was dieser Kerl damit meinen konnte. Wieso Hauptstadt? Berlin war alles, aber doch keine Hauptstadt. Es war eine Insel, ein Abenteuerspielplatz, eine Zeitbombe, ein Käfig, ein Paradies. Aber eine Hauptstadt?
Also meinte ich, vor Naivität und Aufrichtigkeit strotzend, diesen Mann aufklären zu müssen und stellte richtig: »Aber das ist doch Bonn!« Meine Schwester kicherte los, sie kugelte sich zusammen und ihr liefen Tränen über die Wangen, um nicht lauthals loszulachen.
Der VoPo verzog keine Miene, wedelte mit seiner Waffe herum und knurrte dann fatalistisch:
»Zurücksetzen, richtig einordnen und ab nach WEST-Berlin. Für so was wurde die Transitstrecke gebaut«. Also setzte ich brav zurück, ordnete mich richtig ein und fuhr, immer noch mit schlotternden Knien, über die berühmt-berüchtigte Transitstrecke in die vorher-und-jetzt-endlich-wieder-aber-damals-auf-gar-keinen-Fall-Hauptstadt, die mit keiner anderen Stadt der Welt zu vergleichen war und ist und die ich über alles liebe.
Auszug aus »Jenseits der blauen Grenze« (Magellan Verlag)
Unsere Taschen liegen vergraben unter einem Hagebuttenstrauch. Findet sie jemand, ist alles vorbei. Die Feldflasche habe ich mit Muttis Gürtel am Körper befestigt. Er hat eine goldene Schnalle und ist so hässlich, dass sie ihn nicht vermissen wird.
Nachher müssen wir im richtigen Moment loslaufen und kriechen, so wie wir es beim Pioniermanöver gelernt haben.
Bloß nicht ins Licht der Scheinwerfer geraten, das kilometerweit über den Strand wandert. Die Stelle, die wir uns ausgesucht haben, ist gut, weit weg vom Grenzturm.
Es ist viel NVA um uns herum. Direkt hinter uns steht ein Schild.
Sperrzone. Betreten und Befahren verboten.
Opa hat mir gesagt, dass ich auf die Posten aufpassen soll. Die werden an uns vorbeilaufen, außerdem werden Autos mit gleißenden Scheinwerfern herumfahren. Er hat mir auch gesagt, dass die Suchscheinwerfer nach einer Stunde zum Kühlen ausgeschaltet werden müssen. So einen Moment werden wir nutzen, um runter an die Ostsee zu laufen.
Am Wasser liegt ein Findling, hinter dem wir uns verstecken können. Wir werden rasch unten sein. Der Sandstrand ist hier nicht so breit wie in Warnemünde. Später in der Ostsee tauchen wir einfach unter, wenn das Scheinwerferlicht auf uns zukommt.
Mutti habe ich einen Zettel unter die Bettdecke gelegt. Sie soll sich keine Sorgen machen. Wird sie wohl trotzdem. Sie wird mich nicht in Kühlungsborn vermuten, sondern an der Neptunschwimmhalle auf mich warten. Gestern habe ich mich beinah verraten, weil ich ihr beim Wetterbericht über den Mund gefahren bin. Normalerweise interessiere ich mich dafür nicht.
Fünfzig Kilometer bis nach Fehmarn. Das ist echt weit.
Wenn die Strömung mitspielt, schaffen wir die Strecke in fünfundzwanzig Stunden. Momentan herrscht ablandiger Wind. Hoffentlich bleibt es dabei. Wenn es dunkel ist, werden wir losschwimmen, dann sind wir schon ein Stück vom Land entfernt, wenn die Boote in der Morgendämmerung nach Flüchtlingen suchen. Kommt eine Patrouille, tauchen wir unter und atmen durch unsere Schnorchel, die ich gestern im Keller mit Plastikschläuchen verlängert habe. Als Nachbarin Lewandowski mich damit hantieren sah, wollte sie wissen, wozu das gut sei. Ich habe ihr von den Karpfen im Dobbertiner See erzählt, die ich beobachten wollte.
Neunzehn Grad Wassertemperatur, das ist gut. Weiter draußen wird es kälter sein. Das wird hart. So viel trainieren kann man gar nicht. Doch wir werden es schaffen. Endlich ist es so weit! Ich bin aufgewühlt und gleichzeitig ruhig, auf unser Vorhaben konzentriert.
Andreas sieht blass aus. Zum Glück ist er dabei, ohne ihn könnte ich es nicht. Gerade hat er mir zugelächelt.
Er hat Angst. Ich auch, aber darüber darf man nicht nachdenken. Andreas hält Die schwarze Feluke in der Hand. Für Sachsen-Jensi, in Folie eingeschweißt. Das einzige Mosaik-Heft, das ihm in seiner Sammlung noch fehlt, erschienen im November 1982. Im Westen bekommt er das nicht, wir müssen es ihm mitbringen. Das haben wir ihm versprochen.
Piraten auf dem Cover, Fischerboote, hochschlagende Wellen, Leuchtfeuer und Männer mit Turbanen. Andreas betrachtet das Bild, das so blau ist wie die Dämmerung, die uns umhüllt. Bestimmt möchte er durch das Heft blättern, doch das geht wegen der Folie nicht.
Ins Heft habe ich einen Zettel gelegt, da steht die Telefonnummer meiner Eltern drauf. Falls etwas passiert und jemand das Heft findet, weiß er, wo er anrufen muss.
Was würde Sachsen-Jensi sagen, wenn er uns sehen könnte, hier in den Dünen, wartend, mit Blick auf die Ostsee? Hitze in meinem Magen, vor Aufregung! Ein angenehmes Gefühl. Ich bin glücklich, dass wir aufbrechen werden, fühle mich das erste Mal seit Monaten wieder leicht, fast unbeschwert. Ich schließe die Augen und atme tief ein. Es riecht nach Salzwasser und nach Algen. Ich öffne die Augen wieder. Hagebuttenfrüchte baumeln zwischen mir und dem spiegelglatten Wasser, einige Meter entfernt wächst Strandhafer.
Sachsen-Jensi würde uns davon abhalten, weil er ein Angsthase ist. Ich lächle. Vor vielen Jahren hab ich ihm im Matheunterricht mal Hagebuttensamen in den Kragen geschmissen und darauf herumgerieben. Er hat sich so affig gekratzt, dass Frau Bauermeister ihn aus der Klasse warf.
Andreas öffnet den Reißverschluss seines Neoprenanzugs und schiebt das Mosaik-Heft zu seinen Dokumenten: Personalausweis, Geburtsurkunde, Abschlusszeugnis der zehnten Klasse. Das Päckchen mit meinen Dokumenten habe ich zwischen Neoprenanzug und Badeanzug geschoben. Im Westen müssen wir schließlich beweisen können, wer wir sind.
Andreas hat wohl meinen Blick bemerkt. Er öffnet den Reißverschluss wieder und holt Die schwarze Feluke heraus.
»Nimm du es«, sagt er leise. »Kannst besser schwimmen.«
Das stimmt. Sofort habe ich wieder Angst. Ich will nicht darüber nachdenken, kann die Hand nicht ausstrecken.
»Nun mach«, sagt er drängend.
Unsere Finger berühren sich, als ich das Heft an mich nehme. Ich schlucke schwer, kann ihn nicht ansehen, schaue hinüber zur Ostsee.
»Wir werden es schaffen«, sage ich.
Wir müssen uns das immer wieder sagen, das ist ganz wichtig. Es wird hart werden. Wir müssen daran glauben, sonst halten wir nicht durch.
Um einundzwanzig Uhr werden wir losschwimmen, sobald der Mond untergegangen ist. Er ist kaum zu sehen, es ist fast noch Neumond, zwischen den Baumwipfeln ist die schmale Sichel zu erkennen. Sie spendet wenig Licht, trotzdem ist es besser, wenn sie nicht mehr da ist. Hat Opa gesagt.
Leichter Wind von Südost, genau richtig.
Der Tag ist schön gewesen, heiß und schwer. Wir sind schon früh angereist. Um keinen Verdacht zu erregen, wollten wir nicht erst mit der Dämmerung ankommen. Nachdem wir baden waren, haben wir ein Softeis auf der Promenade gegessen, umgeben von FDGB-Urlaubern. Ich kam mir wie eine Lügnerin vor. Für alle anderen war es ein normaler Tag an der Ostsee, aber nicht für uns. Wir schauten auf das blaue Wasser hinaus und wussten, was in der Nacht geschehen würde. Einmal jedoch vergaß ich es völlig, aß mein Eis und schaute einem Kind zu, das mit seinem Wasserball spielte, fühlte die Sonne, roch den Sommer. Einen Moment lang war ich glücklich. Dann fiel es mir wieder ein und ich hatte ein Kribbeln im Bauch wie beim Karussellfahren.
Am Nachmittag haben wir versucht, am Strand vorzuschlafen, weil wir in der Nacht nicht dazu kommen würden. Es hat aber nicht geklappt, wir waren viel zu aufgeregt. Ich bin nur einmal kurz weggedöst. Andreas zappelte in den Dünen neben mir herum und konnte nicht zur Ruhe kommen.
Später haben wir in einer Speisegaststätte Nudeln mit Tomatensoße gegessen, als Grundlage. Sportler essen immer Nudeln. Und viel getrunken haben wir auch, weil wir kaum Wasser mitnehmen können.
Andreas berührt meinen Arm.
Zwei Lichter, unten am Strand. Sie kommen!
Ich kauere mich tiefer ins Gebüsch, Andreas ist dicht neben mir. Ich merke, wie er den Atem anhält, auch ich erstarre völlig, ziehe den Kopf ein und wage kaum, in die Richtung zu schauen, aus der die Männerstimmen näher kommen. Es sind die Grenzposten, die regelmäßig den Strand kontrollieren und nach verdächtigen Dingen suchen. Wenn sie einen Hund dabeihaben, werden sie uns finden, dann ist alles bereits hier zu Ende.
Die Männer sprechen leise, verstehen kann ich sie nicht. Ein unruhiges, flackerndes Licht huscht durch die Zweige, kommt auf uns zu. Sie durchsuchen mit Taschenlampen das Gebüsch am Strand. Andreas drückt sich an mich. Das Licht tanzt vor unseren Augen, streift uns beinahe.
Dann erlischt es wieder. Die Männer bleiben stehen. Kein Hund, ein Glück.
Ich höre ein Räuspern. Wieso gehen sie nicht weiter? Mein Herz rast so stark, dass ich fürchte, sie könnten es hören. Wie in der Geschichte von Edgar Allan Poe.
Ein Licht glimmt auf, der Ausschnitt eines Gesichts im schwachen Lichtschein, dann ein zweites Licht. Zigaretten. Geruch nach Rauch, ganz leicht nur. Die beiden Posten gehen langsam weiter den Strand hinunter.
»Oh Mann«, flüstert Andreas neben mir. »Schwein gehabt.«
Der Wind ist kühl, ich friere. Wie soll es erst im Wasser sein? Vorhin haben wir uns mit Vaseline eingerieben und über zehn Tuben verbraucht. Ulrich hat mir den Tipp gegeben, so viel wie möglich aufzutragen. Im Wasser verliert der Körper viermal so schnell Wärme wie an der Luft. Wir müssen schnell schwimmen, um warm zu bleiben. Wir müssen das Gleichgewicht halten zwischen Wärmeerzeugung und Wärmeverlust, würde unser Physiklehrer Herr Kowalski sagen.
Die Vaselinetuben habe ich in der Drogerie gekauft, immer nur zwei auf einmal, damit es nicht auffiel. Doch beim letzten Mal hat die Verkäuferin so komisch geguckt, dass ich Schiss bekommen habe. Noch mal bin ich nicht hin. Durch die Vaseline wird die Wärme in unserem Körper bleiben. Unter dem Neoprenanzug kann man nicht viel anziehen, er ist so eng. Ich habe meinen Badeanzug, ein kurzes Shirt und eine Damenstrumpfhose an. Sie hat schon Laufmaschen, daher wird Mutti nicht sauer sein, dass ich sie einfach aus ihrem Schrank genommen habe.
Was Ulrich wohl sagen würde, wenn er mich jetzt sehen könnte? Hoffentlich hat er uns nicht verraten.
Die leeren Vaselinetuben sind nun mit unseren Taschen und unseren Klamotten vergraben. Irgendwann wird sie jemand finden und Alarm auslösen, aber nicht heute Nacht. Und morgen um diese Zeit sind wir vielleicht schon auf Fehmarn.
Die Suchscheinwerfer streifen uns immer wieder und tauchen den Strand in helles Licht. Zwischendurch ist es dunkel, auch der Mond ist nicht mehr zu sehen.
Andreas raschelt neben mir. Ein letztes Mal kontrolliert er, ob alles gut verpackt ist. Er hat eine Tasche dabei, die er an seinem Körper befestigt. Vier Tafeln Blockschokolade, Sachsen-Jensi wäre sicher neidisch. Mit dem Röhrchen Schmerztabletten könnte er weniger anfangen, auch das wasserfeste Klebeband würde ihn nicht interessieren. Und er würde niemals darauf kommen, wofür wir die Nylonschnur brauchen.
»Wickle die Tüte fester um die Schokolade und das Klebeband«, sage ich leise. Das Salzwasser darf nicht eindringen, sonst geht alles kaputt.
»Ja, klar«, murmelt Andreas und zieht den Reißverschluss der Tasche zu. Er tastet über die Halsmanschette und über die schwarze Kapuze seines Neoprenanzugs, unter der seine blonden Locken verschwunden sind. Er bindet sich den Bleigürtel um. Die Taucherbrille hängt um seinen Hals, Schnorchel und Flossen hat er in der Hand. Er wirkt unheimlich, düster und entschlossen, wie aus einem James-Bond-Film.
Abgesehen von meiner dunkelblauen Badekappe, die ich mir nun überstreife, sehe ich kaum anders aus. An meinem Neoprenanzug gibt es keine Kapuze, deswegen brauche ich eine Kappe. Sie reduziert den Wasserwiderstand und schützt vor Kälte. Den Anzug habe ich mir von Frank geborgt. Er hat mir auch seinen Kompass geliehen, den ich mir an mein linkes Handgelenk gebunden habe.
»Pass auf, dass deine Ohren richtig bedeckt sind«, sage ich leise.
Andreas weiß das, aber es schadet nicht, es noch mal zu sagen. Wasser in den Ohren kann schlimme Folgen haben. »Und deine Stirn muss bis zur Brille bedeckt sein, sie ist sehr kälteempfindlich.«
Ich streife mir die schwarzen Handschuhe über. Meine Hände müssen beim Schwimmen dunkel und unauffällig sein. Dann greife ich nach Schnorchel und Flossen. Wir werden sie erst im Wasser anziehen, über unsere Socken. Die Socken sollen laut Ulrich gegen das Scheuern helfen. Und die schwarzen Handschuhe sollen verhindern, dass meine Hände im Wasser gesehen werden.
Das grelle Scheinwerferlicht wandert über den Strand, wir warten darauf, dass es endlich ausgeschaltet wird.
»Hoffentlich hat dein Opa recht«, flüstert Andreas. Unter meiner Badekappe höre ich kaum, was er sagt.
Opa hat mir geholfen, die richtige Stelle zu finden. Er hat sich überhaupt nichts dabei gedacht, als ich ihn fragte, von wo aus er über die Ostsee flüchten würde, wenn er es noch könnte. Für ihn sind solche Themen völlig normal, er freute sich richtig über die Frage und erzählte vom Sandstrand, der nicht zu breit und nicht zu schmal sein darf, vom dichten Gestrüpp an der Küste und von Findlingen am Wasser. Wir sind mit dem Bus nach Kühlungsborn gefahren und an den Strand gegangen, Opa lief zwischen den Urlaubern umher, fuchtelte mit dem Stock und rief: »Genau richtig hier! Und bloß nicht weiter nach Westen gehen, an der Bukspitze ist überall NVA!«
Was würde Opa sagen, wenn er jetzt hier wäre? Würde er mich bestärken? Hätte er noch mehr Tipps für mich?
Ich schaue dem wandernden Licht nach und sehe Opa unten am Strand mit seinem Stock herumlaufen. Das war vor weniger als sechs Wochen.
Schlagartig ist schwarze Nacht um uns, das Scheinwerferlicht verschwunden. Jetzt ist es so weit. Unsere Chance.
»Opa hatte recht«, sage ich leise.
Andreas räuspert sich. »Woher wusste er das?«
Von Genosse Johnson, Offizier der Grenzbrigade Küste. Mit ihm kegelt Opa einmal im Monat, füllt ihn mit Goldbrand ab und horcht ihn über die seeseitige Grenzsicherung aus. Wir haben die Informationen sozusagen aus erster Hand, falls Opa nichts hinzugesponnen hat. Was allerdings wahrscheinlich ist, er spinnt leider oft.
»Hanna.« Andreas berührt mich am Unterarm. Er will starten.
Ich hocke mich sprungbereit in den Sand, Andreas ist direkt neben mir.
»Denk dran, nicht mit den Armen kraulen«, sage ich. »Leichter Kraulbeinschlag und Brustschwimmzug.«
Wir dürfen nicht auffallen, das bedeutet auch, dass wir beim Schwimmen im Grenzbereich so wenige Geräusche wie möglich machen.
Hoffentlich kommt Andreas mit dem stärkeren Auftrieb klar. Es ist das erste Mal, dass er mit einem Neoprenanzug schwimmt, seine Westverwandten konnten ihn und den Bleigürtel erst vor zwei Wochen über die Grenze schmuggeln.
Meinen Bleigürtel habe ich von Ulrich bekommen.
Eine Amsel singt oben in den Bäumen. Hell dringt ihr Ruf durch die Dunkelheit und begleitet das Blätterrauschen, manchmal überschlägt sich ihre Stimme, wird laut und wieder leiser. Auch morgen wird sie hier singen.
Ich schaue zum Wasser, sehe die samtige Schwärze sich kräuselnder Wellen, höre die leise Brandung.
»Jetzt«, flüstert Andreas.
Ich laufe auf Socken durch den Sand. Oben an den Dünen sinke ich knöcheltief ein und falle fast hin, Andreas ist dicht hinter mir, berührt mich aus Versehen. Er bleibt auch irgendwo hängen, muss sich mit den Händen abstoßen. Während ich renne, fliegt mir Sand in die Augen.
Endlich sind wir hinter dem Findling. Wir bewegen uns nicht, lauschen in die Nacht und atmen schwer. Ich spüre den Rand einer Muschel unter dem Knie, rieche Seetang. Hier unten weht der Wind stärker, auch die Geräusche haben sich verändert, ein Rauschen umgibt uns, obwohl kaum Wellengang ist.
Ich bilde mir ein, noch immer die Amsel singen zu hören.
Mein Herz schlägt wild, obwohl ich bisher keinen Meter geschwommen bin.
Noch könnten wir zurück, noch hat uns niemand bemerkt.
»Los. Weiter.«
Wir waten durchs Wasser. Es ist wärmer als die Luft, die nach Sonnenuntergang stark abgekühlt ist. Wir gehen leicht gebückt. Trotz der Aufregung muss ich lachen. Wenn ein Licht auf uns gerichtet wird, sieht man uns, ob wir nun gebückt laufen oder nicht. Zum Glück bleibt es dunkel um uns.
Als mir das Wasser an die Hüfte reicht, höre ich auf zu waten. Auch Andreas bleibt stehen. Ich ziehe mir die Handschuhe aus, halte sie mit den Zähnen fest und streife mir die Flossen über die Füße. Es ist nicht leicht, ich bekomme das Ende der Flossen nicht über meine Hacken. Vermutlich wäre es besser gewesen, das bereits an Land zu tun. Aber dann wäre das Waten anstrengend gewesen. Ich lasse mich nach hinten ins Wasser fallen, um besser an den Flossen ziehen zu können. Sofort dringt kaltes Wasser in meinen Neoprenanzug, füllt die Zwischenräume meiner Kleidung und der Gummihaut. Es ist unangenehm. Doch das Wasser wird sich rasch auf Körpertemperatur erwärmen und isolierend wirken.
Dann habe ich es geschafft, die Flossen sind dran. Ich stelle mich wieder auf den Meeresboden. Er ist von der Strömung stark gewellt, das spüre ich sogar durch die Flossen.
Ich setze mir die Taucherbrille auf und schiebe das Schnorchelende durch den Riemen der Brille, damit der Schnorchel stabil bleibt.
Andreas holt die Nylonschnur heraus, reicht sie mir. Ich binde die Schnur um sein linkes Handgelenk und ziehe den Knoten fest. Das andere Ende kommt an mein rechtes Handgelenk. Nun können wir uns im Wasser nicht verlieren und uns über die Schnur Zeichen geben.
Noch immer habe ich die Handschuhe zwischen den Zähnen. Die Wolle juckt an meiner Lippe. Ich ziehe sie über meine Hände. Sie zittern vor Aufregung. Gleich geht es los.
Ich stecke mir das Schnorchelmundstück zwischen die Zähne, es drückt am Zahnfleisch, doch das ist normal und wird nach einer Weile vergehen, zumindest war es beim Training immer so. Allerdings bin ich nie länger als acht Stunden mit Schnorchel geschwommen.
»Ich bin so weit«, flüstert Andreas.
Ich justiere die Feldflasche. Muttis Gürtel hält sie fest an meinem Bauch, hoffentlich ist sie beim Schwimmen nicht zu sehr im Weg. Trainieren konnte ich damit nicht, weder im Schwimmbad noch in der Ostsee. Hätte mich jemand gesehen, wäre ich sofort verhaftet worden.
Ich schaue zurück zum Land.
Das letzte Mal für eine lange Zeit habe ich Boden unter den Füßen.
Ich stoße mich vom Meeresboden ab und schwimme los. Nach einigen Metern dringt kaltes Salzwasser in meine Taucherbrille. Ich fluche leise. Nie halten die Dinger dicht. Ich muss die Brille richten, suche unter mir den Meeresboden, kann ihn gerade noch mit den Flossenspitzen berühren, finde dadurch ein wenig Halt.
»Meine Tasche ist nicht richtig fest«, flüstert Andreas. Er muss sich nach den wenigen Schwimmstößen auch noch einmal sortieren.
Ich löse die Brille und lasse das Wasser herauslaufen. Mit dem Finger drücke ich auf das Sichtfenster und presse Luft heraus, erzeuge einen Unterdruck. Dadurch tun mir ein wenig die Augen weh, aber immerhin kann nun kein Salzwasser mehr eindringen. Das würde auf jeden Fall mehr Schaden anrichten.
Langsam bewege ich meine Beine, fühle den Druck der Flossen, vergrößere die Beinschlagamplitude, aber nicht zu sehr, damit ich nicht durch die Wasseroberfläche stoße. Die Feldflasche bremst meine Bewegung ein wenig, doch das fällt nicht zu sehr ins Gewicht.
Ich höre den leichten Wellenschlag, der von meinen Atemgeräuschen überlagert wird. Weil ich durch den Schnorchel atme, erscheinen sie mir lauter als sonst.
Ich mache einen Brustschwimmzug mit den Armen, was nicht so einfach ist, wenn man mit den Beinen krault. Allmählich finde ich meinen Rhythmus, fühle den Widerstand des Wassers an meinen Händen. Wegen des höheren Salzgehaltes ist es fester als im Schwimmbad.
Immer wieder ist die Wasserlinie direkt vor meinen Augen. Die Grenze zwischen Luft und Wasser. Ich tauche mit der Vorwärtsbewegung unter, atme aus, lasse mich vom Wasser tragen, komme wieder an die Oberfläche.
Andreas’ Flossen klatschen aufs Wasser. Er merkt es, korrigiert seine Bewegungen. Wir dürfen hier draußen keine lauten Geräusche machen.
Ich atme durch den Schnorchel, damit der Kopf unter Wasser bleiben kann, ich ihn nicht drehen muss. Jede Bewegung kostet Energie.
Nach wenigen Metern merke ich, was ich schon lange weiß. Es ist alles ganz anders als im Schwimmbad. Ulrich ist nicht hier, keiner gibt Anweisungen. Wir sind auf uns allein gestellt.
Ich höre nur das Glucksen der Wellen, die sich an meinem Körper brechen. Aus der dunklen Tiefe steigen Blasen auf.
Leise schwimmen wir hinaus auf die Ostsee, nach Norden.
»Welche Rekorde willst du eigentlich brechen?«
Ulrich zwinkerte mir vom Beckenrand aus zu. Er trug seinen orangefarbenen Trainingsanzug und rote Badelatschen.
Ich zog mir die Schwimmbrille vom Kopf. »Für heute reicht es.«
»Glaub ich. Drei Stunden. Hast du die Bahnen gezählt?«
»179.«
Ulrich kniff die Augen zusammen. »179 mal 50 Meter macht 8 950 Meter. Mein lieber Scholli. Ab jetzt. Duschen.«
Ich zog mich aus dem kalten Wasser. Der Nacken und die rechte Schulter taten weh. Wenn ich sie bewegte, knackte es komisch.
»Frank und ich spielen nachher in der Konsum-Klause eine Runde Rommé. Willst du mitmachen?«
Ich nickte und nahm mein Handtuch. Auf dem Gang zu den Duschen zog es wie immer heftig. Einige Minuten lang ließ ich heißes Wasser über mich laufen, trocknete mich hastig ab und zog mich an. Dann lief ich nach draußen.
Vor der Schwimmhalle standen einige Sportler und unterhielten sich.
»Tschüss«, rief ich, bog nach rechts ab und ging die wenigen Meter zur Klause.
Ulrich und Frank saßen bereits an einem der Tische und hatten Karten vor sich liegen.
Ulrich drehte sich zur Bar. »Cola für die Kinnings und für mich ein Pils«, rief er dem Wirt zu. Dann teilte er die Karten aus, noch bevor ich überhaupt saß.
Die Luft war stickig vom Zigarettenrauch. In einer Ecke saßen drei Männer und spielten vermutlich Skat, an der Bar trank eine Frau, die so alt war wie Mutti, ein großes Glas Bier. Sie war stark geschminkt und hatte hochtoupierte Haare. Sie starrte Ulrich an, doch der merkte das nicht. Im Hintergrund lief leise The Power of Love von Jennifer Rush.
»Du hast dich nicht geföhnt«, sagte Ulrich vorwurfsvoll.
»Ist doch warm hier drin.«
Er schüttelte den Kopf. »Ihr holt euch alle noch was weg. Du auch, Frank!«
Der war auch nicht geföhnt und machte sich sofort einen Kopf kleiner, versteckte sich hinter den Karten. Mein Blatt sah gut aus. Kreuzkönig, Kreuzbube, Kreuzzehn.
»Wieso trainierst du überhaupt so viel?« Frank schaute hinter den Karten hervor. Er hatte einen leichten Silberblick und sah knapp an mir vorbei.
»Keine Ahnung.«
»Ist es nicht langweilig, immer nur hin- und herzuschwimmen, ohne irgendein Programm?«
Um auslegen zu können, fehlte mir die Kreuzdame. Ich warf eine Herzsieben weg.
»Ich denke einfach an was anderes.«
Der Wirt brachte die Getränke. Er trug eine ASV-Sportjacke und sagte keinen Ton.
Ulrich blinzelte mir über seine Karten zu. »Woran denn?«
Frank warf eine Karte weg. Kreuzdame. Ich drosch auf den Tisch, doch Ulrich war schneller und grinste gehässig, als er die Karte aufnahm.
»An ein Gedicht«, sagte ich abwesend. »Oder an ein Buch.«
»Aha.« Nachdenklich kratzte Frank sich am Kopf. Seine aschblonden Haare wirbelten herum.
Ulrich ordnete die Karten. »Wahrscheinlich besser, als an deine Dosenöffner zu denken, was?«
Frank schaute verlegen auf den Tisch. Das Thema war ihm unangenehm, denn er durfte sein Abitur machen, im Gegensatz zu mir. Ich lehnte mich zurück und senkte feierlich die Stimme, wie der Ansager bei der Ersten-Mai-Demonstration. »Jeden Tag erfülle ich die Norm. Wenn ich weiter so fleißig bin, kann ich eine Lehre zum Industriedesigner anfangen. Vielleicht in zwei Jahren.«
Frank legte alle seine Karten auf einmal ab. »Rommé!«
Wir starrten auf sein Blatt.
Frank trank seine Cola in einem Zug leer, stand auf und ging aufs Klo.
»Du hast geschummelt«, rief Ulrich ihm nach. Die Dame an der Bar bekam vom Wirt ein neues Bier hingestellt. Der Schaum lief über den Glasrand.